Christine Meyer Altern und Zeit
Christine Meyer
Altern und Zeit Der Einfluss des demographischen Wandels auf Zeitstr...
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Christine Meyer Altern und Zeit
Christine Meyer
Altern und Zeit Der Einfluss des demographischen Wandels auf Zeitstrukturen
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Lüneburg, Univ., Habilitation, 2007; Die vorliegende Arbeit wurde 2007 unter dem Titel: „Zeit fliegt. Zeit kriecht. Zeit bleibt stehen. Lieber (noch) nicht. Ein gutes Leben im Alter(n) – Der Einfluss des demographischen Wandels auf individuelle und gesellschaftliche Zeitstrukturen" von der Fakultät für Bildungs-, Kultur- und Sozialwissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg als Habilitationsschrift angenommen.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Monika Mülhausen / Bettina Endres Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15794-8
„(…) im Grunde kann keiner im Leben dem anderen helfen; das erfährt man immer wieder in jedem Konflikt und jeder Verwirrung: dass man allein ist. Das ist nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick scheinen mag; es ist auch wieder das Beste im Leben, dass jeder alles in sich selbst hat: sein Schicksal, seine Zukunft, seine ganze Weite und Welt (…)“ (Rilke Briefe 1904).
Inhaltsverzeichnis Einleitung............................................................................................................... 11 Teil I: Altern und Zeit .......................................................................................... 17 1 Altern ist eine Erscheinung der Zeit .............................................................. 18 1.1 1.2 1.3
Die Entstehung der Zeit zur Synchronisierung (vor-)industrieller Lebensformen – Altern als Nebenprodukt der Ökonomisierung .....................................18 Lebensgestaltung ohne Erwerbsarbeit in einer Erwerbsarbeitsgesellschaft .........26 Die Zeit ist älter als das Altern – Altern verändert die (Zeit-)ordnung der Gesellschaft ..........................................................................................................43
2 Alter liegt immer in der Zukunft – Das Alter ist nie eigene Erfahrung, sondern Antizipation ....................................................................................... 47 2.1 2.2 2.3
Der Prozess des Alterns benötigt einen Ausgangspunkt ......................................51 Alternsprozesse beginnen in der Gegenwart ........................................................53 Die Vergangenheit entscheidet mit über das Alter(n) in der Zukunft...................56
3 Die Lebenszeit in Zeitnot – ein langes Leben ist auch zu kurz.................... 60 3.1 3.2 3.3
Die Bedeutung der Jugend für das Alter...............................................................61 Im Alter liegt die Endlichkeit näher als die Unendlichkeit oder sind beide gleich weit entfernt? .............................................................................................65 Die Frage nach der Vollständigkeit des Lebens: Die Alternative zum Altern ist der Tod.............................................................................................................67
4 Koordinaten der Mehrperspektivität: Zeit – Geschwindigkeit – Richtung der Zeit – Altern – Endlichkeit...................................................... 71 Zwischen Teil I und Teil II: Zeit im Übergang – Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft und ihre Auswirkungen auf die Zeitordnung der Gesellschaft ...................................................................................................... 77
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Teil II: Die Bedeutung des Alterns in der Zeit – Veränderung der Zeit.......... 85 5 Qualität der Zeit: Zeit kommt – Zeit vergeht – Zeit entsteht...................... 86 5.1 Lebensqualität hängt von der Zeit ab: Zeit vergeht nicht – sie entsteht ...............88 5.2 Die Qualität der Zeit bedingt die Lebensqualität im Alter ...................................95 5.2.1 Zeit-Bewegungen und ihre Bedeutung für die Veränderung der Zeitstrukturen im Alter ...............................................................................101 5.2.2 Zeit-Bewegung für ältere Menschen heißt: Zeitstrukturen von der Bedeutung des Sozialen aus gestalten ........................................................109
6 Altersweisheit oder Starrheit – Entscheidung für ein gutes Leben im Alter........................................................................................................... 116 6.1
Das autobiographische Gedächtnis – Gedächtnisformen und ihre Bedeutung für das Alter........................................................................................................117 6.1.1 Entwicklung und Bedeutung eines autobiographischen Gedächtnisses für Menschen ..............................................................................................118 6.1.2 Formen des Gedächtnisses .........................................................................120 6.1.3 Temporalität – Emotionen – Erinnerung oder: subjektive Zeit – Selbst – autonoetisches Bewusstsein ..........................................................123 6.2 „Weisheit“ als Ziel und Aufgabe des Lebens im Alter.......................................128 6.3 Aktives Alter zwischen Kompensation und Weisheit – Bewertung zwischen Teilzeit-Erwerbsarbeit und Produktivität im Alter .............................................135
7 Ein neues Generationenverhältnis verändert den Alternsprozess ............ 142 7.1 7.2
Das Konzept des Lebenslangen Lernens als Wegbereiter neuer Generationenverhältnisse ...................................................................................143 Generationenverhältnisse liegen außerhalb der Lebensalter – Neuorientierung im aktiven Zusammenleben ...........................................................145
8 Weder Optimierung noch Kompensation allein führen zu Weisheit........ 153
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Teil III: Ein „gutes Leben“ zu jeder Zeit im Alternsprozess. Emotionen und Erinnerung als Garanten einer guten Entwicklung im Alternsprozess – Veränderung und Kontinuität der Bedeutung des Alterns in der Lebenszeit........................................................................ 157 9 Emotionen im Lebensverlauf entscheiden über die Qualität des Alterns ............................................................................................................ 158 9.1 9.2
Die Entdeckung der Emotionen für ein gutes Leben im Alter............................159 Emotionen und ihre Verlässlichkeit für eine aktive Lebensgestaltung im Alter ..............................................................................................................163
10 Erinnerungen des Lebensverlaufs bestimmen die Qualität des Alterns... 172 10.1 Entwicklung eines gemeinsamen Lebens über die soziale Konstruktion gemeinsamer Erinnerungen ................................................................................174 10.2 Alte Menschen sind Träger der Weitergabe kulturell benötigten Wissens.........182 10.3 Im Alter werden „Zeitreisen“ in die eigene Vergangenheit zur Unternehmung .............................................................................................................189
11 Die Bedeutung der Emotionen als Werturteile in der Erinnerungskonstruktion ............................................................................. 195 Teil IV: Aussichten auf ein „gutes Leben“ im Alter ........................................ 199 12 Bedingungen für ein lebenslang „gutes und erfülltes Leben“ liegen in der Bereitstellung gesellschaftlicher Möglichkeiten zur Kompetenz – die Gesellschaft gestaltet optimale Bedingungen für Mitglieder jeden Lebensalters ................................................................................................... 200 Literaturverzeichnis ........................................................................................... 216 Tabellenverzeichnis: Zeittagebücher Marienthaler Arbeitsloser ....................................................29 Tabelle 1: Tabelle 2: Zeitverwendung im RentnerInnenhaushalt...................................................33 Tabelle 3: Zeitverwendung nach Aktivitätsbereichen Montag bis Freitag ....................35 Tabelle 4: Zeitverwendung nach Aktivitätsbereichen Samstag bis Sonntag .................36 Tabelle 5: SOK-Konzept nach Baltes..........................................................................129 Tabelle 6: Grundfähigkeiten des Menschen und zentrale menschliche funktionale Kompetenzen nach Nussbaum.................................................206
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Einleitung Der bereits begonnene, sich allmählich deutlich sichtbar vollziehende Wandel der Gesellschaft zu einer insgesamt kleiner werdenden in ihrer Gesamtbevölkerungszahl und mit zunehmend höheren Anteilen älterer Menschen, wird die gegenwärtig geltenden und durchgesetzten, faktisch über Erwerbsarbeitsstrukturen dominierten Zeitstrukturen funktional umbauen. Darin liegen Chancen zur bewussten aktiven Veränderung tradierten Zeitempfindens, Zeitverständnisses und Zeitgebrauchs über reflektierte, sinngebende Gestaltung. Gleichzeitig bietet das Phänomen „Zeit“ dem Menschen eine tiefreichende, weitvernetzte Ansatzmöglichkeit für existenzielles Nachdenken und Auseinandersetzung, die zum Thema Zeit in jeglicher Hinsicht und jeder historischen Phase in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen und kulturellen Zusammenhängen wie Musik, Literatur, Theater Tradition hat. Die Fülle aktueller Publikationen zum Phänomen Zeit, von der Ratgeberebene bis politischen wie zu philosophischen Abhandlungen erweist sich als kaum überschaubar, allerdings auch als redundant. Zeit an sich besitzt die besondere Eigenschaft bereits im Moment der Auseinandersetzung über den Versuch, ihr näher zu kommen oder sie begreifbar zu machen, zugleich im Schwinden begriffen zu sein. Zeit wird mit jedem Moment unsichtbarer, indem ihr jemand über reflektierende Bestimmung näher kommen möchte. Und dennoch wird jeder Mensch im Laufe seines Lebens zum Philosophen im Sinne des Nachdenkens über seine Stellung im Universum oder des Zusammenhangs seines Lebens und der Dinge in der Welt. Vorherrschendes Thema des Alltagsphilosophierens ist die Zeit. Gerade das Phänomen Zeit hat in besonderer Weise dazu herausgefordert, sich mit dem Subjekt-Objekt-Verhältnis auseinanderzusetzen und damit die Unauflösbarkeit über dieses nur wieder und wieder zu reproduzieren. Das inflationär scheinende Beschäftigen von Individuen mit der Zeit hat dennoch nicht dazu geführt, das Verhältnis zwischen subjektiver und objektiver Zeit oder Naturzeit und Geschichtszeit, zwischen linearer, zyklischer, organischer oder Ereignis- und Uhrzeit zu rationalisieren oder fühlbar zu machen. Das erklärte Ziel ist dabei offenbar jeweils nur ein kurzes Innehalten der Zeit und jeder Mensch erhofft sich dadurch einen kurzen Moment zur Orientierung in der Zeit. Dieses gelingt jeweilig nur begrenzt und Menschen fühlen sich weiterhin herausgefordert, Zeit zu reflektieren und dadurch begreifbarer zu machen. Die Besonderheit in der in dieser Arbeit verfolgten vorliegenden Vorgehensweise besteht in der Übernahme des Grundgedankens, den Nussbaum als zentrale Erkenntnis in philosophisches Denken einführte: Bestimmte Wahrheiten („certain truths“) über Menschen und ihr Sein können nur in Rückbezug auf alle möglichen kulturellen Überlegungen oder Äußerungen wie z.B. im Rückgriff auf Kunst oder Literatur erzählt und begriffen werden. Die Einbeziehung möglichst einer Gesamtheit unterschiedlicher Betrachtungen führe erst zu einem möglichst vollständigem Bild und Verständnis des zu untersuchenden Phänomens. „Once again: an account of human reasoning based only upon abstract texts such as are conventional in moral philosophy is likely to prove too simple to offer us the type of self-understanding we need” (Nussbaum 2001, S. 3). Der Ausgangspunkt der Überlegung, im wissenschaftlichen Reflektieren eine Offenheit für eine Vielzahl an bereits hergestelltem Wissen vor allem auch aus anderen gesellschaftlichen Bereichen heranzuziehen, bietet sich vor allem für die Auseinandersetzung mit der „Zeit“ an, da menschliches Sein in der Zeit stattfindet und hierin wiederkehrend durch alle Formen des Denken und Handelns bearbei11
tet und reflektiert wird. Dies ist insbesondere für die Auseinandersetzung mit Zeit und im Zusammenhang der Betrachtung der Zeit mit dem Altern von Bedeutung. Neben dem Themenkreis „Zeit“ und zugleich in enger Verflechtung mit ihm brachte der als dramatisch prognostizierte demographische Wandel in Deutschland und vielen anderen westlichen Ländern ein Ansteigen wissenschaftlicher Auseinandersetzungen und ein Anschwellen populärer Literatur. Es ist zu analysieren und zu bewerten, inwieweit die lange Tradition zeitphilosophischer Reflexion in der relativ jungen, breit angelegten, Altersdiskussion bereits rezipiert ist und wie weit gesellschaftliche Relevanz bereits gesichert werden konnte. Für einige Disziplinen – dies ein Anlass auch der hier vorgenommenen Überlegungen – erscheinen durchaus defizitäre Diskussionsstile in Bereichen feststellbar, die ihrem eigenen Selbstverständnis nach Zeit und Alter durchaus zu ihren Leitbegriffen zählen müssten. Mit der Identifizierung des Alterns verhält es sich genau anders als mit Zeit: Für Alternsprozesse scheint es gewöhnlich, trotz ihrer offensiven Sichtbarkeit nicht bestimmbar zu sein, obwohl allgegenwärtig ältere Menschen in der Öffentlichkeit und im menschlichen Beziehungsraum vorhanden sind. Das Alter hat keinen genau bestimmten Wiedererkennungswert und es ist kaum identifizierbar, schon gar nicht aus subjektiver Perspektive. Dennoch wird das Alter überhaupt erst in der Verbindung mit Zeit zu einem Prozess und darin erkennbar, wenn die Spuren der Zeit als Merkmale des Alter(n)s unübersehbar werden, die jedoch wiederum nicht unbedingt subjektiv identifizierbar sind. „Alt sind immer die anderen“ ist das Motto, das den demographischen Wandel beinahe selbstverständlich begleitet. Zeit und Alter betreffen gleichermaßen alltägliche und abstrakte Dimensionen, die das Leben jedes Menschen individuell und gesellschaftlich maßgeblich bedingen und die wiederkehrend im Lebensverlauf aktiv zu balancieren sind. Beschleunigung und Geschwindigkeit der Zeit gelten wiederkehrend als alltägliche Themen, in denen Zeit für jeden Lebenszusammenhang öffentlich thematisiert werden, während die andere Seite vor allem die Verdrängung bei gleichzeitigem Aufdrängen über die zunehmend sichtbarere Anzahl älterer Menschen in der Gesellschaft betrifft. Zeit und Alter stellen zwei Seiten ein und desselben Phänomens im Leben von Menschen dar, da ohne eine zeitliche Perspektive von Zeit Altern nicht als Prozess identifiziert werden könnte. Über die reflektierende Verbindung dieser Dimensionen wird es möglich, den überwiegend quantitativen Umgang mit Zeit zu qualifizieren, so dass Zeit nicht mehr nur über ihre Produktivität vermessen wird, sondern Zeit eine Lebensqualitätsdimensionierung erfährt. Altern der Gesellschaft verändert die Geschwindigkeit und damit die Qualität des Lebens in temporeichen Gesellschaften. Mit dem demographischen Wandel entsteht Notwendigkeit und ebenso Chance, die Zeitstruktur der Gesellschaft zu verändern. Bisher stellt sich die dominante Zeitstruktur aktueller Gesellschaften als ökonomisch durchdrungen dar, dies bedeutet, die Strukturierung der Zeit erfolgt über ihre Produktivität und Zeit ohne Produktivität gilt als verlorene Zeit. Indes verändert sich faktisch die industriegesellschaftlich strukturierte lineare Zeitordnung mit der bereits entstandenen Dienstleistungs-, Wissens- und Informationsgesellschaft, in der zu jeder Zeit gearbeitet werden kann. Arbeitszeitstrukturen, die sich an einer 40Stunden-Woche orientierten, besitzen nun de facto nur noch eine formale Bedeutung. Mit der allmählichen Zunahme des Anteils Älterer, die bisher noch aus dem Erwerbsarbeitsprozess formal über Verrentungsprozesse ausgegliedert werden, wird in den nächsten 40 Jahren ein langsamer Zeitzerfall bestehender Zeitstrukturen stattfinden, deren Richtung und Tiefe bisher ungewiss erscheint. Es können weder vorhandene Arbeitszeitstrukturen in 12
einer vom Altern bestimmten Gesellschaft entsprechend gegenwärtiger Geschwindigkeiten aufrechterhalten werden noch werden die Älteren trotz ihrer industrie- bzw. dienstleistungsgesellschaftlich sozialisierten Zeitstrukturen ein weiterhin beschleunigtes und hohes Tempo mitmachen und aufrechterhalten wollen und können, vor allem dann nicht, wenn sie selber nicht mehr aktiv am Erwerbsarbeitsprozess beteiligt sind. Zeit ist pluralisiert – jeder kann zu jeder Zeit produktiv sein, die industriegesellschaftliche Produktivität verliert sich zunehmend, die Linearität der Zeit bleibt vorerst noch dominant, weil sie sich über die Entstehung industriegesellschaftlicher Strukturen verselbstständigte. Die Zeitstruktur der Gesellschaft verändert sich erst mit dem langsamen Realisieren zukünftiger Bedingungen, wie z.B. veränderter Erwerbsarbeitsstrukturen, in denen kaum mehr Vollbeschäftigung oder Lebenszeitjobs erwartet werden. Die äußeren Bedingungen erscheinen günstig, darüber nachzudenken, wie Zeitstrukturen aufgrund zentraler gesellschaftlicher Veränderungen aktiv verändert werden können zugunsten eines herzustellenden Prozesses vom „guten Leben im Alter“. Mit dem demographischen Wandel wird mindestens ein Drittel der Gesellschaft nicht mehr am Erwerbsarbeitsrhythmus beteiligt sein, gleichzeitig jedoch noch dem linearen und ökonomisierten Denken verhaftet bleiben und im alltäglichen Leben danach ausgerichtet sein. Mit der Verrentung verbindet sich der Beginn eines „neuen“ Lebens, von dem aufgrund mangelnder Vorbilder, keiner einschätzen kann, wie und in welcher Art es aktiv zu leben ist, um ein zufriedenes und gutes drittes sowie viertes Lebensalter zu gestalten. Das gesamte Leben war bisher am Rhythmus und Takt der Erwerbsarbeit ausgerichtet und mit dem Eintritt in einen erwerbsarbeitsfreien Raum findet eine potenzierte Benachteiligung für den Neurentner und die Neurentnerin statt: Mit der Rente ist sofort das Alter da. Das Alter ist in der aktuellen Gesellschaft nicht sehr populär, nicht zuletzt aufgrund der aktiv verordneten Nutzlosigkeit. Ein alter Mensch kann sich noch so sehr ehrenamtlich engagieren und auch viele Stunden im Haushalt arbeiten, die gesellschaftliche Bewertung erkennt nur Arbeit als Arbeit und Produktivität an, die auch als Erwerbsarbeit entlohnt wird. Ein Mensch im Alterungsprozess wird aufgrund seines formal verordneten Verrentungszeitpunktes als nutzlos eingeschätzt. Damit beginnt gleichzeitig die Altersphase, weil nur die Beteiligung am Erwerbsarbeitsprozess zu der Einschätzung führt, nicht zu den Alten einer Gesellschaft zu gehören. Für einen alternden, aus dem Erwerbarbeitsprozess regulär ausgeschiedenen Menschen geht es somit um eine Neubestimmung des Lebens in der Zeit, das mit seinem Tod beendet sein wird. Für jeden einzelnen Menschen bedeutet der Eintritt in die Altersphase einen Wendepunkt im eigenen Leben, in dem für einen Zeitraum, der ca. 30 Jahre umfasst, neue sinnhafte Zusammenhänge entwickelt werden müssten. Altern heißt in vielfacher Hinsicht herausgefordert zu werden, vor allem jedoch für sich individuell neue Wege in der Zeit zu finden und zu beschreiten, da der ausgetretene Pfad der Erwerbsarbeit in einer erwerbsarbeitszentrierten Gesellschaft hinter dem alten Menschen liegt und die Altersphase sowohl individuell als auch gesellschaftlich bisher eher als in der Erprobungsphase einzuschätzen ist. Der Zeitpunkt der Verrentung ist der Ausgangspunkt neuer Herausforderungen für jeden Menschen, da es um eine Neubestimmung des Lebens in der Zeit geht mit der Aufgabe, Leben ohne Festlegung oder Begrenzungen in der alltäglichen Zeit zu gestalten, die jedoch vom Lebensende, begrenzt ist. Das Paradoxe am Alternsprozess ist das Wissen darum, zum
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ersten Mal im Leben über beinahe unendlich Zeit verfügen zu können und gleichzeitig auch dem eigenen Ende noch nie zuvor so nahe gekommen zu sein. Die vorliegende Arbeit hat die Herausforderung der (Neu-)Gestaltung des Alternsprozesses mit den Bedingungen angenommen, die Zeit und vorhandene Zeitstrukturen vorgeben – jedoch nicht deren traditionelle Bewertungen. Dabei ist eine zentrale Überlegung, sowohl Zeit als auch Altern über bereits vorhandenes Wissen verändern zu wollen, indem neue Verknüpfungen zu neuem Wissen geführt werden sollen. Dies neue entstandene Wissen erscheint als Bedingung Alternsprozesse zu verändern, weil nur neue Perspektiven Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten initiieren können. Im ersten Teil der Arbeit werden elementare Verbindungen von Zeit und Alter bzw. Alternsprozessen hergestellt. Dies vor allem vor dem Hintergrund der Entstehung ökonomisch geprägter Zeitstrukturen, die zunächst industriegesellschaftlich Alter hervorbringen und beeinflussen. Darüber hinaus werden besondere Elemente des Alternsprozesses mit Zeit bzw. der eigenen Lebenszeit in Verbindung gebracht. Altern liegt in der Zukunft und die Frage nach der Ausgestaltung der Altersphase, die durch die Endlichkeit noch spezieller wird, verstärkt die besondere Herausforderung des Alterns insgesamt. In diesem Zusammenhang werden Fragen nach dem Sinn des Lebens im Alter bedeutsam, die jenseits von Erwerbsarbeit zu reflektieren sind. In einem Zwischenstück werden die Veränderung der Zeitordnung vom industriegesellschaftlichen Zeitverstehen zu einem dienstleistungs- und wissensbasierten Zeitverständnis sowie die Auswirkungen auf das alltägliche Leben und Verstehen der Zeit vorgestellt. Jede Zeitordnung bringt ihre eigenen Zeitstrukturen hervor, die in einem kaum wahrnehmbaren Prozess alte Zeitregeln überformen und in Form, Geschwindigkeit und Beschleunigung variieren und kaum Zeit zu aktiver Gestaltung lassen. Der zweite Teil bearbeitet als zentrales Thema die Bedeutung des Alterns in der Zeit. Die Herstellung von Lebensqualität im Alter ist durch die bestehende Zeitstruktur bedingt und führt zu einem Zeitempfinden, in dem die Zeit vergeht und nicht als Zukunftsperspektive entsteht. So wird eine Sichtweise verstellt, die jedoch entscheidende Gestaltungsperspektiven eröffnen würde. Als weiteres Element werden die Intentionen der Zeitpioniere und die Zeit-Bewegungen und ihr Nutzen für einen guten Alternsprozess eingeschätzt. ZeitBewegung bedeutet, gesellschaftlich etwas darüber herauszufinden, welche Zeit für nicht monetär einschätzbare Beziehungsgestaltung ältere Menschen überhaupt benötigt wird, um als zufriedenstellend eingeschätzt zu werden. Aktives Altern, Produktivität und Weisheit sind weitere Elemente, die im Sinne einer guten Lebensgestaltung im Alter von Bedeutung werden könnten und die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses bis ins hohe Alter fördern, da inzwischen die von der Forschung verifizierte lebenslange Plastizität des Gehirns stetig neu herausgefordert wird und werden muss. Im generationenübergreifenden Miteinander liegt eine weitere Möglichkeit, die Lebensqualität im Alternsprozess zu erhöhen, vor allem wenn Überlegungen zum Lebenslangen Lernen, zu neuen Lernarrangements und zu neuen positiven Abhängigkeiten zwischen den Generationen in den Blick geraten. Jeder kann von jedem in jedem Lebensalter etwas lernen und so werden die Generationenverhältnisse außerhalb der Verantwortlichkeit der Lebensalter gestellt und befördern generationenunabhängiges Miteinander. Der vorliegende Gesamtzusammenhang beschäftigt sich mit dem Leben im Alter über die Frage nach den Zielen und Entwicklungen, die mit fortschreitendem Lebensalter von Bedeutung werden könnten. Die Herausforderung für die Gestaltung eines „guten“ Lebens 14
im Alter liegt in den Reflexionen dazu, wie und welche Elemente hierfür von Bedeutung werden könnten. Und eines ist sehr deutlich: Aktives Altern ist nur „gut“, wenn es über das Beschäftigt-sein hinausreicht und neue Sinnzusammenhänge zum eigenen Leben hergestellt werden können. Im dritten Teil geht es um die Konkretisierung einer individuellen Perspektive auf Basis gemachter Erfahrungen und Bedeutungszuweisungen im Lebensverlauf. Der Hintergrund der Auseinandersetzung bietet dabei die Inwertsetzung und Hervorhebung der Emotionen als Werturteile in einem kontinuierlich lebensumspannenden Zusammenhang. Darüber hinaus werden die Erinnerungen eines jeden Menschen für seinen Alternsprozess in einen neuen Zusammenhang gestellt. Die Erinnerungen werden nicht nur als etwas Vergangenes betrachtet, sondern als Impulsgeber für den Lebenszusammenhang im Alter in Form sozialer Erinnerungskonstruktion, die alten Menschen die Rolle eines Trägers zuweist, der verantwortlich ist für die Weitergabe kulturell benötigten Wissens. Das Leben wird in seiner Ausgestrecktheit in die Vergangenheit in Betracht gezogen, gedanklich an längst vergangene Orte zu „reisen“ und damit Zusammenhänge zu erkennen und gegenwärtig eigenes Leben neuen Impulsen gegenüber zu öffnen. Im vierten Teil werden zentrale Ergebnisse gebündelt und konkretisiert, wie gesellschaftlich Möglichkeiten für die Herstellung guter Lebensbedingungen entwickelt werden könnten, die Kompetenzen und Fähigkeiten für die jeweils individuelle Entwicklung bieten und somit zu einer hohen Lebensqualität über das Leben hinaus führen und prinzipiell für jeden Menschen erreichbar und erstrebenswert erscheinen. Insgesamt zeigt sich, unterschiedliche Elemente bieten, zusammen betrachtet, eingeschätzt und weiterentwickelt, eine Fülle an Qualitäten, die für Alternsprozesse Perspektiven einer „guten“ Lebensgestaltung darstellen.
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Teil I: Altern und Zeit
1 Altern ist eine Erscheinung der Zeit
Die gegenwärtige demographische Entwicklung ist eine bemerkenswert lineare Aufwärtsentwicklung, deren Ende bisher nicht abzusehen ist. Es gibt keine Indizien, dass sich der Anstieg der Lebenserwartung abflacht, so jüngste Aussagen des Demografie-Forschers Vaupel. Die durchschnittliche Lebenserwartung gilt als Maß der gegenwärtigen Lebensbedingungen und ist nicht aussagekräftig im Hinblick auf die Länge eines menschlichen Lebens. Es lässt sich jedoch die Aussage wagen, dass die Hälfte aller im Jahr 2005 in Deutschland Neugeborenen ihren 100. Geburtstag erlebt. Die biologische Grenze dieser Entwicklung und damit das (einschätzbare) Ende des Lebens liegt in der Ferne (vgl. Vaupel 2005). Diese prognostizierte Entwicklung, deren Ausmaß und Veränderung für zukünftige Lebensgestaltung in der Gesellschaft bisher noch nicht umfassend im Denken und Handeln der Gesellschaft angekommen ist, bedeutet ganz allgemein formuliert, dass nichts mehr so sein wird wie vorher. Diese Entwicklung vollzieht sich langsam und absehbar, so dass die Gesellschaft einerseits die Möglichkeit hat, sie weitgehend zu ignorieren oder andererseits anfangen kann, sich mit der bereits begonnenen Zukunft auseinanderzusetzen. Ausgangspunkt der hier folgender Überlegungen ist genau diese Herausforderung, die Verantwortung für die alternde Gesellschaft zu sehen und anzunehmen, indem darüber reflektiert wird, wie und in welcher Weise die „unendliche“ Zukunft für alte Menschen der Gesellschaft gelebt werden könnte. 1.1 Die Entstehung der Zeit zur Synchronisierung (vor-)industrieller Lebensformen – Altern als Nebenprodukt der Ökonomisierung Es ist bisher viel zu wenig öffentlich überlegt und diskutiert worden, somit weitgehend unklar und unbekannt, was Frauen und Männer, die aus der Erwerbsarbeit regulär über Verrentungsprozesse ausgegliedert werden, mit ihrer verbleibenden Zeit in kurz- und langfristiger Perspektive tun können oder wollen. Dabei ist zwischen den heutigen Unklarheiten über Zeitverwendung und Zeitempfinden älterer Menschen zu unterscheiden, die sich in ihren Auswirkungen des demographischen Wandels durch die zunehmend höheren Zahlen älterer Menschen verstärken, die aus dem Erwerbsarbeitsprozess ausscheiden werden. Vorschläge, die darauf abzielen, älter werdende Menschen zunehmend weniger Wochen- und Tagesstunden, dafür jedoch länger in Bezug auf ihre Lebensjahre arbeiten zu lassen, werden dabei als mögliche Lösungen für die wirtschaftliche sowie die gesellschaftliche Entwicklung angesprochen, da die deutsche Bevölkerung nicht nur vergreise, sondern auch schrumpfe und schon deswegen auf weiter arbeitende ältere Menschen angewiesen sei (vgl. Vaupel 2005, Klie 2001). Diese Ideen werden sich in naher Zukunft nur für wenige Betroffene verwirklichen lassen und als erstrebenswert gelten für diejenigen, die gerne und viel arbeiten und entsprechende Wertschätzung ihrer Arbeit auch in höherem Lebensalter erhalten. Gesellschaftlich betrachtet, ist es weiterhin eine Errungenschaft, Menschen aus dem Erwerbsarbeitsprozess in eine erwerbslose Lebensphase zu entlassen, in der sie nicht 18
mehr für die Gesellschaft relevant produktiv sein müssen. Diese sich nun anschließende „Ruhephase“ wird als durch jahrzehntelange überwiegend kontinuierliche Erwerbsarbeitsphasen „verdient“ angesehen. Es hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass das Altern mit dem Ruhestand oder dem Verrentungszeitpunkt anfängt. Mit diesem Alter ist Vitalität und Aktivität, also junges Altern assoziiert. Ältere Alte, die sukzessive hilfe- und pflegebedürftiger werden, gehören zu der Gruppe alter Menschen, deren Entwicklung für niemanden erstrebenswert erscheint und möglichst weit nach hinten verschoben werden sollte. Mit dem Übergang in den Ruhestand beginnt das Alter und bisher hat sich für diese Phase gesellschaftlich nicht durchgesetzt, Alter und Alternsprozesse kompetenzorientiert zu denken, um individuelles sowie gesellschaftliches Altern aktiv zu gestalten. Als Pragmatiker schlägt der Demografie-Forscher Vaupel vor, die vorhandene Arbeitslast auf die Älteren mit zu verteilen und somit das mittlere Alter zu entlasten. Gleichzeitig müssten die Alten dann nicht ein Leben ohne Arbeit gestalten. „Reformen am Arbeitsmarkt sollten die Leute mittleren Alters entlasten und die Alten mehr arbeiten lassen. Die können doch eine ganze Menge. Denken Sie an den neuen Papst. Der ist 78!“ (Vaupel 2005). In den skandinavischen Ländern sind derzeit über 60% der 55-64Jährigen erwerbstätig, in Deutschland sind es nur noch 39%. Es zeigt sich, dass ein großer Anteil derjenigen, die noch nicht das offizielle Rentenalter erreicht haben, nicht mehr im Erwerbsarbeitsleben steht und darin eingebunden ist. 41% der Betriebe in Deutschland haben in ihren Belegschaften niemanden beschäftigt, der älter als 50 Jahre ist (BmFSfJ 2005). Die OECD hat in einer Studie herausgefunden, dass das tatsächliche durchschnittliche Renteneintrittsalter aufgrund von Frühverrentungen in Deutschland bei 60,5 Jahren liegt. Japaner, die in ihrer Einstellung zur Erwerbsarbeit noch vollständig dem industriegesellschaftlichen ökonomisierten Denken und Arbeiten verhaftet sind, arbeiten als einzige Nation in der Welt 4,1 Jahre über das Renteneintrittsalter hinaus. Die japanischen älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten durchschnittlich bis 69,1 Jahre und gehen nicht vor dem gesetzlich vereinbarten Zeitpunkt, mit 65 Jahren in Rente (vgl. OECD 2005). Dieses wäre auch gesellschaftlich nicht erwünscht und sogar nach der Verrentung unterstützen japanische Rentnerinnen und Rentner junge Familien im Hinblick auf Kinderbetreuung. Die Daten des Alterssurveys des Deutschen Zentrums für Altersfragen zeigen dabei deutlich, dass die Übergänge von der Erwerbsarbeit in die Rentenphase gleichzeitig brüchiger werden. Nur 53% der 1938-1942 Geborenen werden direkt aus der Erwerbstätigkeit nahtlos in die Rentenphase einmünden, 23% kommen aus der Arbeitslosigkeit oder dem Vorruhestand, 12% haben einen sonstigen Status und weitere 12% sind als Hausfrau/Hausmann direkt vor ihrer Einmündung in die Rentenphase tätig gewesen (vgl. DZA in Zeit 45/2005). Der älter werdende, weiterhin im Erwerbsarbeitsprozess verbleibende Mensch als Entlastung für die nachfolgenden Generationen wird sich erst einmal nicht durchsetzen, zumindest nicht so lange, wie einerseits die Verrentung mit 65 Jahren noch als gesellschaftliche Errungenschaft angesehen wird und andererseits die Erfahrungen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als zu wenig zukunftsfähig und kompetent für die Betriebe eingeschätzt werden. Die dabei verunsichernde und zugleich revolutionäre Aussage demographischer Prognosen ist die relative Ungewissheit, wie lange Leben in Zukunft andauern wird und wie genau sich diese Zeit beleben lässt. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass sozialpädagogische Überlegungen seit Beginn des neuen Jahrhunderts viel deutlicher als zuvor aktive Lebensgestaltung fokussie19
ren und dass Sozialpädagogik selbstverständlich zuständig ist für die Gestaltung der Lebensspanne, die mindestens die ersten und die letzten 30 Jahre im Leben von Menschen umfasst. Dabei sind die ersten 30 Lebensjahre als traditionelles Handlungs-, Beschäftigungs- und Weiterentwicklungsfeld von der Sozialpädagogik im letzten Jahrhundert eingenommen und maßgeblich in Bezug auf Inhalte, Angebote, gesetzliche Normierungen, eben das gesamte Feld der Kinder- und Jugendhilfe, mit gestaltet worden. Die mindestens letzten 30 Lebensjahre von Menschen in dieser Gesellschaft wahrzunehmen und zuständig zu werden für eine differenzierte Wissensbildung und somit Mitgestaltung dieser Lebensphase ist bisher zu unentdeckt. Der Anstieg der Anzahl älterer Menschen an der Gesamtzahl der Gesellschaft und die hieraus folgende Wahrnehmung pluraler Alternsprozesse, wie sie sich im Strukturwandel des Alters abzeichnen, werden erst seit Ende der 1980er Jahre verstärkt zur Kenntnis genommen (vgl. Dieck 1984; Dieck/Naegele 1989; Bäcker/Naegele u.a. 1989; Naegele 1990; Naegele/Tews 1993). Während der 1990er Jahre wurde dann eine Vielzahl an Wissen von Politik, Wissenschaft und Praxis in Bezug auf alternde Gesellschaften und individuelles Altern erarbeitet und verbreitet (vgl. Mayer/Baltes 1996; Kruse/Martin 2004). Zu Beginn der 1990er wurde öffentlich allmählich zur Kenntnis genommen, dass ein demographischer Wandel die Verteilung der Bevölkerung betrifft, der mit zunehmenden Anteilen Älterer in der Gesellschaft zugleich auch einen Strukturwandel zur Folge hat. So wurde verstärkt begonnen, Wissen in Bezug auf z.B. Wohnen und Wohnalternativen im Alter, Hilfe- Pflegebedürftigkeit sowie Pflegepotenziale in der Gesellschaft, Mobilität und Selbständigkeit, altersbedingte Krankheiten sowie subjektive und objektive Eingebundenheit Älterer in die Gesellschaft zu bilden. Die seit den 1990ern begonnene Berichterstattung auf Bundesebene, die inzwischen den 5. Altenbericht vorgelegt hat, zeigt die vordringlichen Themen, die mit dem demographischen Wandel für gesellschaftliche Alternsprozesse zentral gehalten werden: Alter und Gesellschaft, Wohnen im Alter, Hochaltrigkeit und demenzielle Erkrankungen sowie Aktivitäten im Alter. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass Alter und Alternsprozesse überwiegend mit einem negativen und defizitorientierten gesellschaftlichen Blick verbunden sind und dass trotz vielfältigen Engagements der letzten 15 Jahre zur Schaffung altengerechter Sozialräume und langfristig einer altengerechten Gesellschaft Maßnahmen schwer durchzusetzen sind. Weiterhin bedeutsam ist, dass eine Vielzahl an pflegewissenschaftlichen und gerontologischen Ausbildungsgängen an Hochschulen gegründet und etabliert wurden, die zur Wissensbildung und Professionalisierung der mit Alternsprozessen befassten Berufe beitragen (vgl. Meyer 2002). In sozialpädagogischen Diskussionen taucht Altern, aufgrund des traditionellen Engagements dieser Disziplin für nachwachsende Generationen, nach wie vor bisher zu wenig auf, dennoch wird es von einigen Vertreterinnen und Vertretern entweder im Schwerpunkt (vgl. Schweppe 1994) oder entlang der Lebensalter mitgedacht und –bearbeitet (vgl. Böhnisch 1989, 1997; Hamburger 1998; Karl 2004). Die alternde Gesellschaft wird zur Besonderheit und besonderen Herausforderung für alle, da bisher für diese sowohl quantitative als auch qualitative Entwicklung einer Gesellschaft gar keine nutzbaren Erfahrungen zur Verfügung stehen. Alle Entwicklungen und Reaktionen geschehen, ohne auf Erfahrungswerte zurückgreifen zu können sowie ohne praktikable Lösungsansätze, die Situation zu bewältigen. Es geht um eine potenzierte Antizipation veränderter Zukunft gegenüber bisherigen Erfahrungen. Einerseits ist es eine gänz20
lich neue Situation, größere Anteile älterer Menschen in der Gesellschaft vorzufinden als Anteile jüngerer Generationen. Andererseits ist jegliches forscherisches und wissenschaftliches Denken im Fokus von Altern in der Regel Vorwegnahme, ohne diese Phase individuell selber schon begonnen zu haben. Jedes Denken und Reflektieren geschieht im Vorlauf auf die je eigene Zukunft und nicht im reflektierenden Rückblick. Das Alter wird zukünftig zu einer neuen sowohl individuellen als auch gesellschaftlichen Lebenserfahrung, dem eine Dauer von mindestens 30 Jahren vorausgesagt wird. Diese Dauer von mindestens 30 Jahren kennzeichnet zudem die freie Verfügbarkeit über die Zeit als weitere Besonderheit. Es gibt weder einen gesellschaftlich noch individuell festgelegten Zeitplan. Alle vorangehenden Lebensphasen im Lebensverlauf haben mehr oder weniger tradierte Sozialisationszeiten im Hinblick auf die Einübung der Erwerbsarbeitszeiten. Erziehung, Bildung und Betreuung sind darauf angelegt, nachwachsende Generationen mittels der Institutionen Schule, Ausbildung und Studium in die Gesellschaft zu sozialisieren und Teilhabe sowie Gestaltung zu garantieren, die vor allem im Erwachsenenalter die Erwerbstätigkeit betrifft. Mit der Erwerbstätigkeit war gesellschaftlich bisher für jeden Einzelnen ein Rhythmus festgelegt, der in den letzten Jahrzehnten Normalerwerbsarbeitsverhältnisse betraf, die 8 Stunden am Tag an 5 Tagen in der Woche festlegten, Sonnabend und Sonntag galten als Wochenende und waren von Erwerbsarbeit ausgenommen (vgl. Levine 1998). Jüngere gesellschaftliche Veränderungen in der westlichen Welt haben dazu geführt, dass es Normalerwerbsarbeitsverhältnisse, die dem sogenannten industriegesellschaftlichen Rhythmus folgen und für die Tagesstruktur der Menschen zentrale Bedeutung hatten, in dieser Regelmäßigkeit nicht mehr gibt. Erwerbsarbeitsverhältnisse erodieren in Bezug auf die Zeit und Zeitverwendung und weiten durch die Entwicklung zu einer überwiegend dienstleistungsorientierten und wissensbasierten Gesellschaft die Erwerbsarbeitszeiten auf unbestimmte Räume und Zeiten aus (vgl. Hochschild 2002). Die Folge ist, dass überall und zu jeder Zeit Erwerbsarbeit stattfindet. Dadurch entsteht eine Verschärfung des Verhältnisses zwischen erwerbsfreier Zeit und erwerbslosen Menschen sowie Erwerbszeit und erwerbstätigen Menschen, zu denen die sich in der Rentenphase befindlichen älteren Menschen definitiv nicht mehr zählen lassen. Dennoch sind die verrenteten älteren Menschen regulär aus einer Erwerbsarbeitsgesellschaft ausgegliedert worden, deren Erwerbsarbeitsverhältnisse sich jedoch nicht mehr in der traditionellen Form vorfinden lassen. Für ältere Menschen wird ihre Nicht-Mehr-Teilhabe an Erwerbsarbeitsprozessen im Hinblick auf Gesellschaft zu einer doppelten Falle, da ihre Verrentung mit einer Gesellschaftsstruktur verbunden war, die in Normarbeitsverhältnissen verrentete und ältere aus dem Arbeitsmarkt entließ. Mit der Erosion der Normalarbeitsverhältnisse werden sich auch die Lebensarbeitszeiten und damit verbunden, die Zuordnung und Teilhabe an der Gesellschaft verändern müssen. Bisher ist offen, wie sich die Entwicklung der Erwerbsarbeitsgesellschaft auf ältere ArbeitnehmerInnen und ältere RentnerInnen auswirken wird sowohl in der Bewertung als auch in ihrem Verbleib entweder weiterhin bei der Arbeit oder der Versetzung in die Rentenphase. Die wissenschaftliche und sozialpolitische Auseinandersetzung mit den veränderten Zeitstrukturen gewinnt an Bedeutung, da zwischen Erwerbsarbeit und der Zeit, die Menschen in diese investieren, ein enger, beinahe unauflöslicher Zusammenhang besteht. Fragen nach der Zeit und Zeitmessung sind erst entstanden, um Handel und Wettbewerb zu ermöglichen. Somit trägt der Faktor Zeit und die Entstehung von Zeit in ihrer sozialen Strukturierung und Bestimmtheit die Logik der Ökonomie und ist in alle Lebensbereiche 21
vorgedrungen (vgl. Rinderspacher 1985; Zeiher 2004; Hochschild 2002). Mit der Durchsetzung des ökonomisierten linearen Zeitverständnis’ war zugleich die Anforderung an die gesellschaftlichen Mitglieder verbunden, für die Gesellschaft produktiv sein zu müssen. Mit dem Eintritt in die Rentenphase, die als gesellschaftlich verordnete Unproduktivität zu betrachten ist, verbindet sich nahezu automatisch die Entstehung eines negativen defizitären Bildes des alten unbrauchbar gewordenen Menschen in einem industrieerwerbsarbeitsgesellschaftlichen Zeitverstehen, -erleben und –verhalten. Zentrale Bedingungsfaktoren und bewegende Momente des Entstehungsprozesses der abstrakten Zeitstruktur sieht Rinderspacher in mehreren gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Städte waren Ausgangspunkte eines dynamischen und beschleunigten Lebens, so Heuwinkel, die Städter leisteten dabei einen wesentlichen Beitrag zum Übergang vom naturorientierten zum städtisch geprägten Kulturzustand. Unter Bezug Virilio stellt Heuwinkel fest, dass Geschwindigkeit nicht primär in der Stadt, sondern zur Überwindung der räumlichen Distanzen zwischen den Städten entstanden ist (vgl. Heuwinkel 2004, S. 33). Rinderspacher hat die enge Verbindung der Entstehung von Zeit und ökonomischer Struktur in mehrfacher Hinsicht bearbeitet. Lineare Zeitstrukturen sieht er als Ausdruck wachsender ökonomischer und sozialer Organisiertheit von Gesellschaften, die auf ein mehr oder weniger hohes Maß an Vorsorge, Planung und Gestaltung der Umwelt zurückzuführen ist. Dazu gehören Merkmale, die sich wechselseitig bedingen und teilweise überschneiden. „Die Entstehung der modernen Zeitordnung ist somit eng gekoppelt an die tief greifenden technischen, ökonomischen und sozialen Wandlungen, die sich im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit vollzogen“ (Rinderspacher 1985, S. 33). Im Folgenden wird Bezug genommen auf die von Rinderspacher 1985 herausgearbeiteten Bedingungsfaktoren für die Durchsetzung der abstrakten linearen ökonomisierten Zeitstruktur, um den tief greifenden und langfristigen Wandel der Gesellschaften und die Verselbständigung dieser Zeitordnung zu verdeutlichen. Nach wie vor ist die lineare Zeitordnung dominant und dennoch nur eine Konstruktion, deren aktive Veränderung eine große gesellschaftliche Herausforderung darstellt (vgl. Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP) 2003; Reheis 2003; Rinderspacher 2000; Mückenberger 2001). Gleichzeitig sind die erwerbsarbeitsgesellschaftlichen Bedingungen mit ihren Entwicklungsdynamiken wieder die Hauptantriebskräfte für die Veränderung gesellschaftlicher Zeitstrukturen: Erwerbsarbeit findet in einer dienstleistungs-, wissens- und informationsgesellschaftlich dominierten Strukturierung zu jeder Zeit und an jedem Ort statt. Als einen nachhaltigen Wegbereiter linearer Zeitstrukturen in der Vergangenheit sieht Rinderspacher u.a. die Lebensweise in den Klöstern der weströmischen Kirche, da schon vor der Jahrtausendwende eine bis dahin unbekannte Regelmäßigkeit und Selbstdisziplin in den Klöstern gelebt wurde, die sich durch festgesetzte Rhythmen, Zwang zu bestimmten Tätigkeiten sowie die Regelung der Wiederholungszyklen auszeichneten. Die „Kanonische Stunde“ ist dabei ein bekannter Markierungspunkt; innerhalb eines Tages wurden zu 7 vorbestimmten Zeitpunkten die Glocken des Klosters zur Orientierung im regelmäßigen Tagesablauf und zur Stabilisierung der mönchischen Selbstdisziplin geläutet. Es entwickelten sich erste Ansätze zu einer Standardisierung und abstrakt-zeitlichen Organisierung des Tagesablaufs (vgl. Rinderspacher 1985). Als weitere Einflussgröße gelten die Entwicklung der Handelskapitäle und Entstehung des Kreditwesens. Die Auflösung der religiösen Steuerung des Arbeits- und Lebensrhythmus, der seinerseits eng an die Notwendigkeiten der agrarischen Produktionsweise gekop22
pelt war und die schrittweise Ersetzung durch rationale, formale, und von konkreten Inhalten abstrahierende Gliederung des Jahres, der Woche, des Tages sind verbunden mit dem Vordringen der Geldwirtschaft und neuer ökonomischer Formen, das expandierende Handels- und Kaufmannskapital. Durch den Fern- und Zwischenhandel gewann der Kredit zunehmend an Bedeutung. Des weiteren ist die Entfaltung des Warenverkehrs und die dafür notwendigen Verkehrswege für den Transport von Waren und Personen eine weitere Entstehungsbedingung linearer Zeitstrukturen. Für Lopez gibt es drei wichtige Faktoren, die entscheidend zur Ablösung der ökonomischen Formen des Mittelalters beitrugen: die Entstehung des Kredits, der Geschäftsvertrag sowie die Entfaltung des Transportwesens, so dass „große Unternehmungen“, auch überseeisch, möglich wurden (vgl. Lopez 1976 in: Rinderspacher 1985). Auf allen genannten Ebenen ist eine zeitliche Bemessung notwendig, die Laufzeit des Kredits ist abhängig von der Höhe der Tilgung, im Vertrag werden Lieferzeiten, Transportdauer, Lagerzeit und die zeitliche Festlegung von Kapital, Menschen und Werkzeugen festgelegt und je schneller die Transport- und Kommunikations-möglichkeiten sind, desto schneller erfolgt der Umschlag der Waren und die Amortisierung des hierin gebundenen Kapitals (vgl. Rinderspacher 1985). Die Steigerung der Warenproduktion und der Handel dehnten sich weiter aus, sowohl quantitativ als auch regional über die vermehrte Nachfrage vor allem nach Luxusgütern durch die europäischen Höfe. Der Ausbau des Militärwesens seit dem 17. Jahrhundert gilt als weiteres Element, das überdies zu zeitlicher Koordination zwang. Ein stärker vernetztes Verkehrswesen entstand im Bemühen, Stillstands- und Lagerzeiten zu vermeiden. Mit der Entfaltung der Warenproduktion und dem Auseinanderfallen von Produzent und Konsument sowie bevölkerungsmäßig anwachsenden Städten entstehen größere Märkte mit größeren Bedürfnissen nach Waren. Die zur Herstellung der Produkte benötigte Arbeitszeit wird Maßstab für die Preise, denn die in kürzerer Zeit hergestellten Produkte können zu niedrigeren Preisen angeboten werden als vergleichbare Produkte mit langer Produktionszeit und teureren Lohnkosten (vgl. Rinderspacher 1985). Die Strategie des Militärs veränderte sich mit der Erfindung neuer Waffentechnologien dahingehend, dass nicht mehr die Masse des eingesetzten Kriegsmaterials über Erfolg oder Misserfolg entschied, sondern vielmehr der planmäßige und sorgsam aufeinander abgestimmte Einsatz. Die Erfindung des Gewehrs mit der Möglichkeit der Treffsicherheit einerseits und die einzelnen Elemente des Gesamtkörpers „Armee“ zeitlich aufeinander abzustimmen andererseits, waren Auslöser dieser Disziplinarentwicklung im Militärwesen (vgl. Rinderspacher 1985). Die Durchsetzung eines neuen Zeitbewusstseins ging, so Rinderspacher, vom Produktions- und Erziehungssektor sowie von der protestantischen bzw. puritanischen Ethik aus. Der Umgang mit der Zeit und Gottwohlgefälligkeit werden in einer Ethik miteinander verknüpft, so Rinderspacher. Ein sinnvolles Leben ist im puritanischen Arbeitsethos beinahe identisch mit der sinnvollen Verwendung von Zeit. Das Verhalten auf dieser Welt ist geknüpft an den Platz im Jenseits, so dass die Menschen zur Betriebsamkeit aufgefordert sind und Reichtum anhäufen sollen, wollen sie einen vernünftigen jenseitigen Platz. Zeitdruck wird zum Bestandteil dieser Theologie, da Reichtum zum Segen Gottes im Prinzip unendlich aufgehäuft werden könnte und müsste (vgl. ebd. 1985, S. 34ff). Erstmals in der Geschichte wurde Zeit selbst im großen Maßstab zum Gegenstand der Ökonomie. Zeit konnte vor diesem Hintergrund als „gewonnene“ oder „verlorene“ Zeit eingeschätzt werden, da sie als solche Berechnungsgrundlage des individuellen und gesell23
schaftlichen Reichtums wurde (vgl. Rinderspacher 1985, S. 38). Somit wird verständlicher, warum Zeit, in der scheinbar nichts produziert, veräußert oder geleistet wird, als vertane oder nutzlose Zeit eine negative Zuordnung bekommen kann. Insbesondere Alterungsprozesse, die außerhalb von Weiterentwicklung und Produktion im Sinne des industriegesellschaftlichen Denkens liegen, können auf Basis dieses Denkens überwiegend defizitäre Zuordnungen erhalten und dementsprechend vernachlässigt werden. Die Entstehung von Zeit, Zeitgebrauch und Zeitverständnis ist also im Horizont ökonomisierter Gesellschaften zu verstehen und diente insbesondere zur Synchronisierung gesellschaftlichen (vor-)industriellen Lebens. Der Zusammenhang von Alter und Zeit konnte bisher nicht wissenschaftlich reflektiert werden, da das Alter eine relativ junge Entwicklung für Gesellschaften darstellt. Über die steigenden Anteile wird das Alter nun auffälliger. Zeit als die andere Dimension wird bisher überwiegend zwischen den Polen Erwerbsarbeitszeit und Freizeit bewegt und diskutiert. Die erfolgte Anpassung gesellschaftlichen Lebens an ökonomische Erfordernisse müsste sich mit der demographischen Entwicklung eigentlich umkehren und vor allem den wenig vorhersehbaren, unsicheren und heterogenen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess berücksichtigen. Es ist die Herausforderung, wiederkehrend und in kürzeren Abständen Zeit- und Lebensverhältnisse neu zu synchronisieren, da sie in heutigen Gesellschaften permanenten Veränderungen unterliegen. Konsequent zu Ende gedacht, könnte dieses bedeuten, die Zeitmuster einer entzeitlichten Gesellschaft zu gestalten. Zeit ist für alle Menschen selbstverständlich und gleichzeitig von hoher Bedeutung, werden doch mit Zeiträumen und Zeitpunkten im Leben von Menschen bestimmte Entwicklungen und Ereignisse vorausgesetzt, festgehalten, eingeschätzt und beurteilt. Zeit ist dabei in Wissenschaft und Öffentlichkeit in vielfacher Weise bearbeitet worden, philosophisch, soziologisch, physikalisch (vgl. Elias 1986). Sandbothe, ein philosophischer Bearbeiter von Zeit, verweist auf eine regelrechte Konjunktur in unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen, die sich mit dem Thema Zeit auseinander setzen, wie z. B: die Natur- und Kognitionswissenschaften, Human-, Sozial-, Geschichts-, Literatur-, Medien- und Sprachwissenschaften sowie die Bereiche der Medizin-, Rechts-, Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften (vgl. Sandbothe 1997). In der Soziologie wurden Zeitforschungen in Bezug auf die Ungleichheit in der Verfügbarkeit der Zeit überwiegend in der Arbeitszeitforschung einerseits (vgl. Rinderspacher 1985-1990; Müller-Wichmann 1984; Garhammer 1996; Wotschack 1997; Hochschild 2002) und der Freizeitforschung andererseits bearbeitet. Lebensstilforschungen (Lüdtke 1995) und Arbeiten zur Allokation von Zeit (Becker 1996) wurden im Zusammenhang mit der Verwendung von freier Zeit, jedoch auch im Hinblick auf die Verteilung freier Zeit vor allem zwischen Familien und Mitgliedern eines Haushalts diskutiert. Zahlreiche Vertiefungen der ungleichen Verteilung von (freier) Zeit zwischen Männern und Frauen folgten (vgl. Müller-Wichmann 1984; Haugg 1990; Mitterauer 1992; Lüdtke 1995; Eckart 1990-2004). Darüber hinaus entstanden Arbeiten zu Zeit im Hinblick auf ökologische und öko-soziale Zusammenhänge (vgl. Hofmeister/Spitzner 1999), Forschungen und Projekte zu Zeiten in der Stadt (vgl. Bremen: Mückenberger 2000 und Hamburg: Eberling/Henckel 2002) sowie Zeit fokussiert im Hinblick auf Kinder (vgl. Zeiher 1994-2004) und Genderfragen (vgl. Kessel 1995; Davis 1999; Schulz 1999; Karsten 2002; Hetzer 2004). Differenzierte Analysen zur Zeit und Zeitverwendung im personenbezogenen sozialen Dienstleistungsbereich wurden von Karsten wiederkehrend thematisiert (1985-2002) und Hetzer (2004) bearbeitet. 24
Zeitbudget- und Zeitverwendungsforschungen, die international eine lange Entwicklung haben (vgl. Blass 1980), führen auf nationaler Ebene bisher sowohl in der empirischen Sozialforschung als auch in der amtlichen Statistik eher ein randständiges Dasein (vgl. Zeitbudgetstudie 1991/92 und Zeitbudgetstudie 2001/02 des Statistischen Bundesamtes; Garhammer Survey zur Zeitverwendung 1991/92: Garhammer 1999; Sozio-ökonomisches Panel (SOEP) als stilisierte Zeitbudgetfrage: Merz 1997; Zeitverwendung und Lebensstile 1987, 1988, 1989 als verfeinerte Analyse von Lebensstilen: Lüdtke u.a. 1995). Die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP; Gründung 2002) hat begonnen, aktiv Zeitrelevanzen, Zeitkulturen, Zeitordnungen der Gesellschaft zu betrachten und für politische Entscheidungen zu berücksichtigen. Die Absicht der GründerInnen ist, eine Politikrelevanz von Zeit herzustellen, da diese bisher in politischen Entscheidungen meist unbeachtet blieb. Eines der wesentlichen Ziele ist es, Fragen, Analysen und Empfehlungen zu einer gerechteren Zeitordnung, zur Förderung von größerem Zeitwohlstand, zu einer Zeitkultur der Toleranz und Vielfalt und zur Berücksichtigung der Naturverträglichkeit in gesellschaftlichen Zeitordnungen vorzulegen (vgl. DGfZP 2003). Die Verwendung, Gestaltung und Bedeutung der Zeit für ältere Menschen ist bisher in all den benannten Forschungen nicht berücksichtigt. Da die älteren Menschen aus dem Erwerbsarbeitsprozess ausgeschieden sind und über den größten Anteil nicht im Tagesverlauf festgelegter und „frei gestaltbarer“ Zeit verfügen, hält die Forschung zunächst keine Kriterien oder Kategorisierungen für diese Form der Zeit vor. Offen blieb die Frage danach, was die Zeit im Alter sei, wie sie näher eingegrenzt sowie eingeschätzt werden könnte. Für die Zeit im Alter gibt es bisher weder brauchbare Definitionen noch eine Begrifflichkeit; Zeit und Zeitempfinden sowie Zeitnutzung wurden bisher im Fokus von Arbeits-, Freibzw. Reproduktionszeit von Menschen und der dazugehörigen forscherischen Denkens nicht hinreichend eingeordnet und entsprechend genutzt, strukturiert und gestaltet. Für die Zeit im Alter gilt zum einen, definitorisch festzulegen, um welche Art Zeit es sich handelt und wie diese als Zeit, jenseits von Arbeits- und Freizeiten, also losgelöst von bisherigen Festlegungen empfunden, eingeschätzt und gelebt wird. Eine zentrale Frage des Alterns wird somit die Frage nach der Zeit, um Leben mit seinen zwar späten, jedoch neuen Herausforderungen zu gestalten, wie Rosenmayr pointiert. „Je mehr der ältere Mensch aus dem Zentrum der Sozialprozesse, sei es durch eigene Entscheidung, sei es dazu gedrängt, heraustritt, desto stärker wird die Herausforderung, sich selbst neu zu verstehen und seine sozialen und ökologischen Umweltbedingungen neu zu ertragen oder zu ändern“ (Rosenmayr 2004). Es bildet sich ein Spannungsbogen zwischen scheinbar unendlicher Zeit, die vor dem älteren Menschen liegt und gleichzeitig der Endlichkeit als unweigerlich nächste Entwicklung nach der Verrentung. Der Tod liegt am Ende der langen Ruhephase, die in nachindustriellen Gesellschaften für Frauen und Männer um die 60 vorgesehen ist. Rosenmayr fordert jedoch in seiner Auseinandersetzung mit einer Philosophie des Alterns, dass das Leben von Menschen verlangt, in der Welt zu stehen, nicht nur aktiv, tätig oder beschäftigt, sondern vor allem auch in ihr handelnd (vgl. Rosenmayr 2004). Diese Erkenntnis hat insbesondere für den alternden Mensch in seinen Zeitzusammenhängen und die zeitlich strukturierte Gesellschaft zu gelten. Der Mensch und sein Alter ist so zu verzeitlichen, dass er sich als handelnd in seiner jeweilig aktuellen Gegenwart, Zukunft, in einer Kontinuität zur Vergangenheit mit dem Blick in seine eigene Endlichkeit wahrnimmt und Verbindungen aktiv balancieren kann.
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Dafür ist neues Denken erforderlich, da die Formen zukünftiger Gestaltung der Lebensphase Alter nur begrenzt mit Erkenntnissen über Zeit und Zeiterfahrungen entwickelt werden können. Diese liegen innerhalb der Erwerbsarbeitssystematik und sind weitgehend unbrauchbar für die Einordnung der Situationen alternder Menschen, die bereits aus der Erwerbsarbeitsgesellschaft regulär ausgegliedert sind. Von Erwerbsarbeit frei gewordene Zeit ist nicht als nun für diese Älteren verfügbare Freizeit anzusehen, sondern es ist eher eine Freisetzung aus eingelebten Zusammenhängen und Strukturen, deren Verlernen notwendig werden könnte. Es gilt, Älteren die Möglichkeit zu eröffnen, ihr Zeitempfinden und ihre Zeitverwendung im Hinblick auf mindestens 30 Jahre ohne Festlegungen von Zeiträumen über den Tag, die Woche und jenseits von Erwerbsarbeit neu zu denken, zu gestalten und zu erlernen. Suchbewegungen werden notwendig, die alternative zeitliche Orientierungen für das Denken und Handeln ermöglichen. Die Kategorien Altern und Zeit miteinander zu verbinden, bedeutet alte Erkenntnisse mit neuen Bedingungen zu denken und danach zu fragen, wie und in welcher Weise neue Zeitstrukturen im alltäglichen Leben zu konstruieren sind, damit Lebensqualität und Lebensgestaltung für einen zunehmenden Anteil in der Bevölkerung zur aktiv gelebten Normalität wird. 1.2 Lebensgestaltung ohne Erwerbsarbeit in einer Erwerbsarbeitsgesellschaft „Hang loose“ bezeichnet im Anglo-amerikanischen als umgangssprachlicher Begriff die Zeit nach der Erwerbsarbeitsphase und umschreibt die „Losgelassenheit“ der Rentenphase, in der Frauen und Männer nicht mehr in feste Erwerbsarbeitsstrukturen eingebunden sind und dennoch nicht vollkommen losgelöst und außerhalb gesellschaftlicher Strukturen stehen sollten (vgl. Die Zeit, 5/2005). Mit dem Übergang in die Rentenphase verändert sich jedoch der gesamte Lebenszusammenhang, da in einer Gesellschaft mit überwiegend linearen Zeitstrukturen das Leben in seiner Ganzheit erwerbsarbeitsstrukturiert ausgerichtet ist. Es gibt also bis zum Verrentungszeitpunkt kaum Zeit, unabhängig dieses Rhythmus Leben aktiv zu gestalten. In Deutschland begann die Rentenphase lange regulär mit der Vollendung des 65. Lebensjahres (Seit 2005 liegt das Renteneintrittsalter beim 67. Lebensjahr), ohne dass bisher viel Wissen über diesen Übergang und die Einmündung in die Rentenphase gebildet wurde oder darüber, wie Rentnerinnen und Rentner aktiv diesen neuen Lebensabschnitt für sich gestalten wollen. Eine Gesellschaft, die überwiegend erwerbsarbeitszentriert strukturiert ist, bietet nicht die Bedingungen, außerhalb aktiver Erwerbsarbeit eine Lebensgestaltung jenseits bestehender Erwerbsarbeitsstrukturen vornehmen zu können. Die linearen ökonomischen Strukturen haben sich verselbstständigt und auf unterschiedliche Lebensbereiche ausgewirkt. Die erstrebenswerte Losgelassenheit eines RentnerInnenlebens ist gefährdet, zu einem Ausschluss aus gesellschaftlichen Zusammenhängen zu führen. Dabei ist insbesondere hervorzuheben, dass viele ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gar nicht erst mit 65 Jahren aus dem Erwerbsarbeitsprozess ausscheiden, sondern schon bedeutend früher aus dem Erwerbsarbeitsprozess sukzessive ausgegliedert werden, verdeckt über Vorruhestands-, Frühverrentungs- bzw. Altersübergangsregelungen oder aufgrund von Langzeitarbeitslosigkeit bzw. krankheitsbedingt. Das durchschnittliche Rentenzugangsalter in Deutschland liegt seit Jahren unterhalb der Altersgrenze von 65 Jahren bei etwa 60 Jahren (vgl. Deutscher Bundestag 2003; DZA 2005; OECD 2005).
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Bis zu dem Verrentungszeitpunkt haben die meisten Menschen in einer von Hewener so bezeichneten „Beschleunigungsgesellschaft“ teilgenommen, die an den Maximen ihrer Ökonomie auszumachen ist. Die gegenwärtig sich weiter entwickelnde Beschleunigungsbzw. Dienstleistungsgesellschaft hat die industriegesellschaftlich dominierte Erwerbsarbeitsgesellschaft nahezu abgelöst. Als besondere Kennzeichen der Dienstleistungsgesellschaft gelten dabei Mobilität, Flexibilität und eine ständige Erreichbarkeit, um erfolgreich ArbeitnehmerIn mit Karrierechancen zu sein (vgl. Hewener 2004, S. 30). Offe/Heinze hingegen konnten für das nun allmählich ablaufende industriegesellschaftlich geprägte Gesellschaftsmodell konkret Stunden benennen, die mit der Berufstätigkeit verbracht wurden: Der Beruf nimmt einschließlich Wegezeiten täglich 9,75 Stunden in Anspruch. Weitere 9,3 Stunden des Tages werden mit reproduktiven Bedürfnissen wie Essen, Körperpflege, Hausarbeit und Schlafen verbracht (vgl. Offe/Heinze 1990). Die übrige Zeit, ca. 4 Stunden, so Opaschowskis Ergebnisse, sind allerdings zusammenhängend nur an Wochenenden oder in Urlaubszeiten verfügbar (vgl. Opaschowski 1995). Für diejenigen, die gegenwärtig in die Rentenphase wechseln, ergeben sich mit dem Zeitpunkt der Verrentung also ca. 9,75 Stunden mit nunmehr 4 weiteren zusammenhängenden Stunden, die jeden Tag neu anfallen und zur Gestaltung zur Verfügung stehen. Diese Ergebnisse verdeutlichen, wie viel Zeit mit dem Übergang in den Ruhestand in einem überwiegend industriegesellschaftlich und männlich geprägten Erwerbsarbeitsverlauf gewonnen wird. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass mit den sich verändernden Arbeitszeiten und Arbeitsverträgen, höheren Erwerbsarbeitsbeteiligungen von Frauen und die sich wandelnde Arbeitsgesellschaft von einer Industriegesellschaft hin zu einer Wissens-, Informations- und Dienstleistungsgesellschaft mit ihren zeitlichen Flexibilisierungen nicht mehr für alle Betroffenen mit dem Zeitpunkt ihrer Verrentung so viel an „freier“ Zeit entsteht. Der Zeitgewinn eines jeden Einzelnen ist differenzierter zu betrachten und diese Entwicklungstrends sind gesamtgesellschaftlich entsprechend zu berücksichtigen. Mit dem Ausscheiden aus der Erwerbsarbeit kann für Frauen und Männer ein deutlicher Bruch in ihrem Zeitempfinden und ihre Zeitverwendung entstehen, da die Gesellschaft, trotz des nahezu vollzogenen Wandel von einer industriegesellschaftlichen zu einer dienstleistungsgesellschaftlichen Organisation weiterhin erwerbsarbeitsgesellschaftlich strukturiert bleibt. Für die Zeitorganisation der Gesellschaft bedeutet dieser Wandel eher eine Verwischung zeitlicher Grenzen industriegesellschaftlicher Erwerbsarbeit und somit eine Potenzierung der Erwerbsarbeitszeiten. Diese Erkenntnis führt dazu, insbesondere Frauen und Männer zu berücksichtigen, die nicht oder nicht mehr an der Arbeitsgesellschaft beteiligt sind. Jeder Mensch ist für die Erwerbsarbeitsgesellschaft und deren Zeitverwendungszusammenhänge sozialisiert und darauf eingestellt, so dass das eigene Leben nahezu automatisiert im Fokus auf Erwerbsarbeit betrachtet und bewertet wird. Gleichzeitig ist über die Zeitverwendung und das Zeitempfinden von Frauen und Männern, die aus der Erwerbsarbeitsgesellschaft für längere Zeit (vorübergehend z.B. durch Arbeitslosigkeit, Kindererziehungszeiten, Verrentung etc.) ausgegliedert waren, bisher eher wenig bekannt. Ein Klassiker der Zeitforschung für die Veränderung des Zeitempfindens und der Zeitverwendung bei Verlust der Erwerbsarbeitsmöglichkeiten ist der soziographische Versuch „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Jahoda/Lazarfeld/Zeisel, deren zentrale Ergebnisse 1933 erstmals veröffentlicht wurden und der die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit auf Frauen und Männer erstmals differenziert erforschte und betrachtete. Die Forschung bezieht sich auf einen Vorgang, in dem eine Fabrikstilllegung die Arbeitslo27
sigkeit eines ganzen Dorfes verursachte. Die Ergebnisse zeigen die Schwierigkeiten, Suchbewegungen und die Ohnmacht derjenigen, die mit ihrer über Erwerbsarbeitslosigkeit unfreiwillig gewonnenen Zeit überfordert sind und überwiegend nichts mit ihrer Zeit anfangen können. Ein zentrales Ergebnis der Marienthaler Untersuchung von Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel ist das sich verändernde Zeiterlebnis einer ganzen Firmenbelegschaft und das langsame Wegbrechen der zuvor gelebten Zeitordnung. Ein weiteres wesentliches Ergebnis ist die Feststellung deutlicher Unterschiede in der Empfindung der Zeit und des Zeitverlaufs für Männer und Frauen. Für die befragten Männer hatte die Zeiteinteilung eines Tages in Stunden ihren Sinn verloren, „Aufstehen – Mittagessen – Schlafengehen sind die Orientierungspunkte im Tag, die übriggeblieben sind. Zwischendurch vergeht die Zeit, ohne dass man recht weiß, was geschehen ist. (...) Es ist immer dasselbe: nur an wenige Ereignisse erinnert sich der Marienthaler Arbeitslose, wenn er den Bogen ausfüllt. Denn was zwischen den drei Orientierungspunkten Aufstehen – Essen – Schlafengehen liegt, die Pausen, das Nichtstun sind selbst für den Beobachter, sicher für den Arbeitslosen schwer beschreibbar. Er weiß nur: Einstweilen wird es Mittag. Und wenn er versucht, dieses ‚einstweilen’ zu beschreiben, dann entstehen die seltsamen Verzeichnungen in dem Zeitbogen: dass Beschäftigungen, die nicht mehr als 5 Minuten gedauert haben, eine ganze Stunde füllen sollen. (...) Der Arbeitslose ist einfach nicht mehr imstande, über alles, was er im Laufe des Tages getan hat, Rechenschaft zu geben“ (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975, S. 85, Original veröffentlicht: 1933). Es zeigt sich, dass für die Männer in Marienthal tagsüber die Zeit mit drei für sie bedeutsamen Orientierungspunkten vergeht. Die dazwischen verbrachte Zeit entzieht sich ihrer bewussten reflexiven Empfindung und ihrem Erleben. Ausgefüllte Zeitbögen, mit dem die Marienthaler Männer ihren Tagesverlauf rekonstruieren bzw. stündlich protokollierten, spiegeln die Schwierigkeiten bei der Beschreibung der Tätigkeiten eines Tages. Die Männer sind nicht in der Lage, ihre gewonnene Zeit aufgrund einer Fabrikstilllegung, also außerhalb von Erwerbsarbeit, zu nutzen und eigenverantwortlich zu gestalten. Zwei exemplarische von Männern ausgefüllte Zeitbögen machen das Zeiterleben und die Zeitgestaltung über einen Tag nachvollziehbar:
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Tabelle 1: Zeittagebücher Marienthaler Arbeitsloser Arbeitsloser (33 Jahre alt) Uhrzeit 6 – ½7 stehe ich auf 7–8 wecke ich die Buben auf, da sie in die Schule gehen müssen, 8–9 wenn sie fort sind, gehe ich in den Schuppen, bringe Holz und Wasser herauf, 9 – 10 wenn ich hinaufkomme, fragt mich immer meine Frau, was sie kochen soll; um dieser Frage zu entgehen, gehe ich in die Au, 10 – 11 einstweilen wird es Mittag, 11 – 12 12 – 13
Arbeitsloser (31 Jahre alt) Uhrzeit 6–7 Geschlafen, 7–8 das Kind in die Schule geführt, 8–9 einen Spaziergang zur Bahn, 9 – 10
Zu Hause gewesen,
10 – 11
An der Ecke des Hauses gestanden, Gegessen, Geschlafen,
(leer) 11 – 12 1 Uhr wird gegessen, da die Kinder 12 – 13 erst aus der Schule kommen, 13 – 14 nach dem Essen wird die Zeitung 13 – 15 Nach der Fischa spazieren, durchgesehen, 14 – 15 bin ich hinunter gegangen, 15 – 16 zum Treer gegangen (Kaufmann) 15 – 16 Beim Treer gewesen, 16 – 17 beim Baumfällen im Park zuge- 16 – 17 Um die Milch gegangen, schaut, schade um den Park, 17 – 18 nach Hause gegangen, 17 – 18 Ich spielte mit dem Kind, 18 – 19 dann nachtmahlten wir, Nudeln in 18 – 19 Habe ich das Nachtmahl Gries geröstet gegessen, 19 – 20 schlafen gehen 19 – 20 Bin ich schlafen gegangen. (Quelle: Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975, S. 84/85, Original veröffentlicht: 1933).
An diesen Aufzeichnungen ist hervorzuheben, dass Tätigkeiten so aufgeschrieben werden, als würden sie tatsächlich so viel Zeit in Anspruch nehmen und keine Tätigkeiten werden benannt, die die Zeit bearbeiten und qualitativ mit „Leben füllen“. In der Zeitverwendung und im Zeitempfinden unterscheiden sich die Marienthaler Frauen vollkommen von den Männern. Sie vermissen ihre Fabrikarbeit trotz der Mehrfachbelastung durch Familie und Arbeit und sie würden nicht nur aus materiellen Gründen wieder in die Fabrik zurück wollen. Die Fabrikarbeit hat ihren Lebensraum erweitert und ihnen soziale Kontaktmöglichkeiten ermöglicht, die sich für sie in dieser Form nun nicht mehr selbstverständlich ergeben. „Ein Zeitzerfall aber, wie wir ihnen bei den Männern gefunden haben, lässt sich bei den Frauen nicht nachweisen. Auf eine Veränderung im größeren Zeitrhythmus stoßen wir, wenn wir zum Schluß noch einmal den Ort als Ganzes ins Auge fassen. Sonn- und Feiertage haben viel von ihrer Bedeutung verloren; (...)“ (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975, Original veröffentlicht: 1933).
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Es zeigt sich im Gesamtverlauf und in den einzelnen Ergebnissen, dass die Marienthaler Arbeiterinnen und Arbeiter zu einem primitiveren, undifferenzierteren Zeiterlebnis zurückgekehrt sind. Die neuen Verhältnisse werden nicht in das gewohnte Zeitschema eingeordnet, sondern es beginnt mit der ärmer gewordenen Ereignis- und Anforderungswelt allmählich eine ärmere Zeitordnung einzuziehen (vgl. Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975, S. 92, Original veröffentlicht: 1933). Der Empfindung von Zeitnot kann Zeitleere in tätigkeits- bzw. erwerbslosen Zeiten entgegenstehen. Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel haben dies in Marienthal so vorgefunden und bewerten die Zeitleere als tragisches Geschenk für die Arbeiterinnen und Arbeiter: „Wer weiß, mit welcher Zähigkeit die Arbeiterschaft seit den Anfängen ihrer Organisation um die Verlängerung der Freizeit gekämpft hat, der könnte meinen, dass in allem Elend der Arbeitslosigkeit die unbegrenzte freie Zeit für den Menschen doch ein Gewinn sei. Aber näherem Zusehen erweist sich diese Freizeit als tragisches Geschenk. Losgelöst von ihrer Arbeit und ohne Kontakt mit der Außenwelt, haben die Arbeiter die materiellen und moralischen Möglichkeiten eingebüßt, die Zeit zu verwenden. Sie, die sich nicht mehr beeilen müssen, beginnen auch nichts mehr und gleiten allmählich ab aus einer geregelten Existenz ins Ungebundene und Leere. Wenn sie Rückschau halten über einen Abschnitt dieser freien Zeit, dann will ihnen nichts einfallen, was der Mühe wert wäre, erzählt zu werden“ (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975, S. 83, Original veröffentlicht: 1933). Die Besonderheit der Marienthaler Ergebnisse liegt in dem Nachweis, wie tief der Umgang mit Zeit erwerbsarbeitsorientiert ausgerichtet sozialisiert und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Lern- und Entwicklungsprozessen erworben wird. Darüber hinaus zeigt sich, wie wenig der Umgang mit Zeit aktiv erlernt, erlebt, empfunden und somit gestaltet wird. Wenn sich der Zeitrhythmus und bisherige Erwartungen an den Arbeits- und Lebensrhythmus für eine Vielzahl von Menschen am gleichen Ort auf unbestimmte Zeit verändern, erfolgt ein Einschnitt unbestimmten Ausmaßes für die Lebensqualität der dort lebenden Menschen. Es ist jedoch einzuschränken, dass die Marienthaler Ergebnisse typisch für die Zeitstruktur und Zeitorganisation der Industriegesellschaft sind, die in dieser Organisationsform heute nicht mehr existiert. Die Dienstleistungs-, Wissens- und Informationsgesellschaft hat sich zunehmend herausgebildet und den erwerbsarbeitsgesellschaftlichen Umgang mit Zeit verändert. Seit 1999 ist nachgewiesen, dass 75% der Erwerbsarbeitsverhältnisse im Dienstleistungsbereich stattfinden (vgl. Karsten u.a. 1999). Mit dem Entstehen der Dienstleistungsgesellschaft kann Erwerbsarbeit praktisch zu jeder Zeit stattfinden und ist nicht mehr auf Kernzeiten angewiesen. Erwerbsarbeit kann durchgehend erbracht werden und ist in ihren Ergebnissen unsichtbar und „umstritten“ (vgl. Karsten 2000; Rabe-Kleberg 1993). Die Marienthaler Ergebnisse sind vor diesem Hintergrund als Erkenntnisse unter anderen erwerbsarbeitsgesellschaftlichen Bedingungen zu verstehen und ihre Besonderheiten liegen in der Einsicht, dass der Verlust der Arbeit in einer erwerbsarbeitsorientierten Gesellschaft in der Regel eine Veränderung der Zeitordnung nach sich zieht, weil Menschen es nicht schaffen, den Verlust auszugleichen und aktiv zu einer neuen Zeitordnung zu kommen. Die gegenwärtige demographische Entwicklung wird in zeitlicher Hinsicht vergleichbar tief greifende, wenn auch inhaltlich andersartige, Auswirkungen auf die Gesellschaft haben, wie es eine Fabrikstilllegung für einen gesamten Ort und seiner Bevölkerung in industriegesellschaftlicher Zeit exemplarisch spiegelt. Im Jahr 2050 wird jeder Dritte 60 Jahre oder älter sein und bei gleich bleibender Entwicklung nicht mehr im Erwerbsarbeits30
prozess stehen. Die Ergebnisse der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung bis zum Jahr 2050 verdeutlichen in der mittleren Variante der 9 unterschiedlichen Vorausberechnungen, dass 2050 die Hälfte der Bevölkerung älter als 48 Jahre sein und der Anteil der 60Jährigen und Älteren auf mehr als 1/3 an der Gesamtgesellschaft ansteigen wird. Die Hochaltrigen (80Jährige und älter), die derzeit einen Anteil von etwa 4% an der Gesellschaft ausmachen, werden im Jahr 2050 einen etwa 12%igen Anteil an der Gesellschaft haben, mit ca. 9,1 Millionen Menschen. 2002 trafen fast 44 Personen im Alter von 60 Jahren und älter auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 60 Jahren. 2050, so die Berechnung, werden 78 alte Menschen (60 und älter) 100 Personen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren gegenüberstehen (vgl. Statistisches Bundesamt 2003/2004). In den Vorausberechnungen sind Unwägbarkeiten nicht mitbedacht und kalkuliert, der Trend jedoch bleibt: Es entstünde bei gleich bleibenden Bedingungen der heutigen Erwerbsarbeitsgesellschaft so gesehen ein „gesamtgesellschaftliches Marienthal“, in dem wenige Menschen noch dem Zeitmuster der Erwerbsarbeitsgesellschaft folgen, während gleichzeitig die Lebenssituationen älterer Frauen und Männer mit der Ausgliederung aus dem Erwerbsarbeitsprozess Gefahr laufen, ebenso ungebunden und leer zu werden wie für die Marienthaler Bevölkerung, da die Verwendung von Zeit außerhalb von Erwerbstätigkeit und Arbeit kaum erlernt und erworben wird. Für eine Gesellschaft, deren demographische Entwicklung im Jahr 2050 voraussichtlich ihren Höhepunkt hat, könnte also Ähnliches formuliert werden: „Die Ansprüche an das Leben werden immer weiter zurückgeschraubt; der Kreis der Dinge und Einrichtungen, an denen noch teilgenommen wird, schränkt sich immer mehr ein; die Energie, die noch bleibt, wird auf die Aufrechterhaltung des immer kleiner werdenden Lebensraumes konzentriert. Als charakteristisches Zeichen für diese Reduktion fanden wir einen deutlichen Zerfall des Zeitbewusstseins, das seinen Sinn als Ordnungsschema im Tagesablauf verliert; nur die menschlichen Beziehungen scheinen im wesentlichen noch intakt. Zwar haben wir verschiedene Haltungstypen unterschieden: eine aktivere, zuversichtlichere als die charakteristische Gruppe der Resignierten, zwei andere darüber hinaus gebrochen und hoffnungslos“ (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975, S. 101, Original veröffentlicht: 1933). Der Zeitordnungsverlust und die folgende Resignation der Marienthaler Einwohnerinnen und Einwohner zeigt – wenn auch in der genannten historischen Relativierung – wie stark sich die Bedeutung der Erwerbsarbeit auswirken kann, wenn es kaum eine Reflexionsebene im Hinblick auf die Verwendung, Gestaltung und Bedeutung der Zeit jenseits industriegesellschaftlicher Erwerbsarbeitsstrukturen gibt. Vor dem Hintergrund ansteigender Anteile älterer aus dem Erwerbsarbeitsprozess aussteigender bzw. ausgeschlossener Frauen und Männer sowie einer Vielzahl an vorübergehend Nicht-Erwerbstätigen, Erwerbsund Arbeitslosen sowie in Reproduktions- und Erziehungszeiten befindlichen Frauen und Männer stünde in Übertragung der Marienthaler Erkenntnisse zu befürchten, dass es für große Teile der Gesellschaft zu einem Zerfall des Zeitbewusstseins kommen müsste. Vielleicht hat jedoch die Entwicklung der Gesellschaft zu überwiegend dienstleistungsorientierten Erwerbsarbeitsverhältnissen bereits dazu geführt, dass es Ansätze eines neuen aktiven Zeitumgangs von den aus erwerbsarbeitsgesellschaftlichen Prozessen Freigestellten gibt. Diese Initiativen sind wenig öffentlich und für überwiegende Anteile der Gesellschaft hat Zeit und Zeitempfinden sowie Zeitnutzung keinen aktiv gestaltbaren Wert, da Zeit, unabhängig ob in industrie- oder dienstleistungsorientierter Hinsicht bisher von der Erwerbsarbeitsdimension gebraucht wird. Von dieser Dimension ausgehend, gibt es noch 31
die Einteilung Freizeit und Reproduktionszeit, so dass Zeit ohne jegliche Festlegung und frei von der Dreiteilung kaum empfunden und eingeschätzt werden kann bzw. als realisierbar gilt. Rinderspacher hat in seinen Analysen zur Entstehung und Durchsetzung der ökonomisierten linearen Zeitstrukturen für alle Menschen bereits seit den 80er Jahren des 20. Jh. auf die Notwendigkeit hingewiesen, „solche Zeitstrukturen gesellschaftlich zu etablieren, die eine verbesserte Anpassung an menschliche Bedürfnisse ermöglichen. Nicht allein die formal-quantitative Verfügung über Zeit, nicht eine Vergrößerung der Zeitguthaben erscheint erforderlich, sondern eine Vergrößerung der zeitlichen Aktionsspielräume“ (Rinderspacher 1985, S. 296). Eine Etablierung der Ökologie der Zeit ist für diesen Autor eine Lösung aus dem Zeitnotstand, der in der ökonomisch strukturierten Industriegesellschaft entstanden ist. „Das Richtige im richtigen Moment tun zu können – darin besteht der Zeitwohlstand in einem System der Ökologie der Zeit. (...) In einem System der Ökologie der Zeit beeinflussen sich die zeitliche Strukturiertheit individueller oder kollektiver Bedürfnisse und Handlungsabläufe und die zeitliche Strukturiertheit des Subsystems, in dem das Individuum sich befindet bzw. auf dessen Zeitmaße es sich bezieht, wechselseitig“ (Rinderspacher 1985, S. 296). Die Rinderspachersche Argumentation von 1985 erweist sich rückblickend als berechtigte Forderung mit wenig Durchsetzungskraft und zu wenig radikal in Bezug auf die Hartnäckigkeit der Ökonomie und deren Zeitmuster. Rinderspacher forderte dieses in Zeiten, in denen industriegesellschaftliche Zeitmuster den Menschen noch relativ klare Erwerbsarbeitszeitstrukturen mit einem hohen Beschleunigungspotenzial vorgegeben waren. Dienstleistungsgesellschaftliche Erwerbsarbeitszeitstrukturen haben industriegesellschaftlichen Zeitstrukturen aufgeweicht und machen Erwerbsarbeit praktisch zu jeder Zeit möglich. Zu der zeitlichen und räumlichen Dimension muss jeweilig auch die virtuelle Dimension (vgl. Pongs 2000) berücksichtigt werden, die nicht zuletzt wiederum auf die Beschleunigung der Zeit in der Erwerbsarbeit einen großen Einfluss nimmt. Die Forderung nach einem Zeitwohlstand, in dem das Richtige im richtigen Moment getan werden kann, ist zwanzig Jahre später notwendiger als je zuvor. Ansonsten wäre die Auswertung und Ergebnispräsentation der Zeitbudgetstudie des Statistischen Bundesamtes 2001/02 deutlich anders ausgefallen und nicht in die gleiche „Zeitfalle“ getappt, in der sich das ökonomisierte Denken, Betrachten und Gestalten von Zeit nach wie vor befindet. Zeit wird überwiegend von der Belastung durch Erwerbsarbeit und Reproduktionsarbeit (Haus- und Familienarbeit) sowie deren Vereinbarkeit aus betrachtet und argumentiert. Zeit ohne Festlegung wird gar nicht erst gedacht, sondern sie trägt von ihrer sozialen Strukturierung und Bestimmtheit die Logik der Ökonomie in sich, die in alle Lebensbereiche vorgedrungen ist (vgl. Zeiher 2004; Hochschild 2002). Zudem zeigt sich, dass Wechsel ökonomischer Strukturen nicht unbedingt dazu beitragen, mehr Zeit für die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft herzustellen, sondern eher zu Beschleunigungen führen. Die Produktivität ist auch in der Dienstleistungsgesellschaft nach wie vor eng an die Zeit gebunden. Zeit wird in der Ergebnispräsentation der Zeitbudgetstudie des Statistischen Bundesamtes 2001/02 überwiegend von der Festlegung des Tages in Arbeitstätigkeiten und demzufolge von der Belastung her betrachtet. Für Rentnerinnen und Rentner wird eingeschätzt, sie seien kaum von Arbeit betroffen. „Rentnerinnen und Rentner (60 Jahre und älter) sind 32
im Vergleich dazu wenig belastet. Knapp 5 Stunden umfaßt ihr tägliches Arbeitsprogramm im Schnitt. Anders als in Haushalten von Alleinerziehenden, die sich durch eine extreme Verdichtung von Arbeit im Laufe eines Tages auszeichnen, werden im RentnerInnenHaushalt die Tätigkeiten über den Tag gestreckt“ (Pinl 2004, S. 21). Tabelle 2: Zeitverwendung im RentnerInnenhaushalt Zeit 11 Minuten 4 Stunden 46 Minuten
Verwendung im RentnerInnen-Haushalt gehören der Erwerbstätigkeit, Bildung und Weiterbildung sind mit unbezahlter Arbeit ausgefüllt, im Wesentlichen mit Hausarbeit. Aber auch nachbarschaftliche Hilfe oder die Betreuung von Enkeln fällt hierunter. Rentnerinnen und Rentner sind den ganzen Tag mit ihrer Hausarbeit beschäftigt, unterbrochen von vielen Pausen. Manches geht im Alter langsamer. Die Erholungszeiten werden länger. verbringen die Älteren täglich mit Schlafen, Essen und KörFast 12 Stunden perpflege – fast anderthalb Stunden länger als in der Vollzeit erwerbstätige Personen. Fast 5 Stunden täglich nimmt das Betätigungsfeld „Sport, Hobbys, Spiele, Mediennutzung“ mit viel Zeit in Anspruch, wobei das Fernsehen die Hauptrolle spielt. Für den Bereich „Kontakte, Unterhaltung, Veranstaltungen“. 2 Stunden 14 Minuten (Pinl 2004, S. 21) Engstler u.a. kommen zu der Erkenntnis, dass ältere Menschen mehr Zeit mit Schlafen, der Körperpflege und dem Essen verbringen. Mit zunehmendem Alter steigt der Anteil der Zeit, die für die physische Regeneration benötigt wird. Einen geringen Anteil nimmt die Erwerbstätigkeit bei den 60-69Jährigen Männern ein, die während der Werktage noch durchschnittlich 1,25 Stunden erwerbstätig sind. Hinter diesem Ergebnis verbirgt sich, dass ein sehr kleiner Anteil einer Erwerbstätigkeit mit einem Zeitaufwand um die 8 Stunden jeweilig an den Werktagen nachgeht (vgl. Engstler u.a. 2004, S. 220). Im Vergleich, so die zusammenfassende Einschätzung von Pinl im Hinblick auf die Zeitverwendung von verrenteten Frauen und Männern in der Gesellschaft, übertrifft die den RentnerInnen zur Verfügung stehende Freizeit noch die der Jugendlichen zwischen zehn und vierzehn Jahren (Pinl 2004, S. 21). Von Bedeutung zur Einordnung der Ergebnisse der Zeitbudgetstudie von 2001/2002 ist, dass die Gruppe der über 80Jährigen relativ klein vertreten ist, da die Auswahl über eine Quotenstichprobe erfolgte. Angesichts der demographischen Entwicklung, mit der Prognose der Zunahme vor allem Hochaltriger ist die Bildung von Erkenntnissen für diese Altersgruppe nun kaum möglich. Die Ergebnisse unterscheiden vor allem die Gruppe der 60-69Jährigen sowie die Gruppe der über 70Jährigen. Für die Einschätzung der Aktivitätsmuster älterer Menschen gehen Engstler u.a. davon aus, dass Unterschiede und Gemeinsamkeiten jüngerer zu älteren Menschen sowie innerhalb des höheren Alters nur festzustellen sind, wenn von vornherein geschlechtsspezifische Unterschiede und unterschiedliche Tagesabläufe angenommen werden, die jedoch weiterhin an der Erwerbsarbeitsstruktur der Bevölkerung im Erwerbsalter orientiert sind. Männer und Frauen werden also getrennt verglichen und in Werk- und Wochenendtage unterteilt (Engstler u.a. 2004, S. 220). Diese Vorgehensweise verbirgt eine Schwierigkeit: ältere 33
Frauen und Männer werden in ihren Tätigkeiten somit entlang der Erwerbsarbeitsmuster eingeschätzt und verglichen, obwohl sie doch genau diejenigen Bevölkerungsanteile sind, die eben nicht mehr am Erwerbsarbeitszeitmuster orientiert sind und ein neues Muster erworben oder eingeübt haben. Rinderspacher forderte bereits 20 Jahre zuvor dazu auf, nach den eigenen Zeitbedürfnissen leben zu dürfen und herauszufinden, welche das sein könnten. Böhnisch sieht für das Alter als Chance, sich wieder in einen zyklischen Lebens- und Zeitrhythmus zu begeben und nicht länger der produktionsfixierten Linearität der Arbeitswelt und der daraus resultierenden Arbeits- und Konsumbiografie verhaftet zu bleiben. In diesem „(...) oft relativ abrupten Übergang vom linearen zum zyklischen Zeitverständnis erwächst eine für das Alter spezifische anomische Konstellation, die sich in Betroffenheiten und Befindlichkeiten niederschlägt“ (Böhnisch 1997, S. 243). Das lineare Zeitverständnis ist für Böhnisch stetiges und beschleunigtes Wachstum, das sich durch fortschreitende Differenzierung von Produktion und Konsum kennzeichnen lässt (vgl. ebd. 1997, S. 242). Mit dem Übergang in die Rentenphase ist also die Herauslösung aus dem Erwerbsarbeitsmuster verbunden und hierin liegt für die Zeitverwendung und das Zeitempfinden älterer Menschen gleichsam eine Chance und Herausforderung. Für die Einschätzung der Erkenntnisse aus der Zeitbudgetstudie ist festzustellen, dass zugunsten einer linearen Vergleichbarkeit in den Zeitmustern der Erwerbsarbeit geblieben wird und somit kein Beitrag zu der Frage geleistet werden kann, wie die Altersphase jenseits der Hauptlinien der Erwerbsarbeitslogik zeitlich gelebt wird. So können keine neuen Aktivitätsbereiche oder Kategorien gebildet werden, die die Besonderheit der Zeit und Zeitverwendung im Alter berücksichtigen. Über die neue aktive Qualität des Lebens im Alter, die durch den Austritt aus der Erwerbsarbeit entsteht, kann in der Kontinuität des erwerbsarbeitszentrierten Denkens kein neues Wissen gebildet werden. Engstler u.a. kommen aus Sicht der Erwerbsarbeitslogik zum Ergebnis, dass die Zeitverwendung in Bezug auf unbezahlte Hausarbeit und Freizeit als Gegenpol bei verrenteten Frauen und Männern unterschiedlich ist. „Frauen übernehmen in stärkerem Maße Hausarbeit und verfügen über weniger Freizeit als Männer“ (Engstler u.a. 2004, S. 218). Männer leisten einen Beitrag zum Alltag und den dort anfallenden Arbeiten und Frauen stellen den Alltag in der Gesamtheit durch Übernahme von Alltagsarbeiten sowie Koordinationstätigkeiten her und diese geschlechtsspezifische Verteilung verändert sich auch durch das Altern nicht (Meyer 2001 in: Engstler u.a. 2004). Eine Partnerschaft bedeutet für Männer, ein mehr an Freizeit zu haben und einen geringeren Aufwand für die Hausarbeit betreiben zu müssen, während für Frauen weniger Freizeit und mehr an Hausarbeit gilt (vgl. Klumb/Baltes 1999 in: Engstler u.a. 2004). Zeit für unbezahlte Arbeit wie z.B. Haushaltsführung, Pflege und Betreuung von Haushaltsmitgliedern, für ehrenamtliche Tätigkeiten und informelle Hilfeleistungen nimmt mit dem Übergang in die Rentenphase deutlich zu. Dieser Bereich der unbezahlten Arbeit bekommt nach Beendigung der Erwerbsphase sogar den zeitlich größten Zuwachs, ca. 1/3 der Tageszeit wird hiermit verbracht. 60-69Jährige Männer verbringen werktags 4,75 Stunden mit diesen Tätigkeiten, 60-69Jährige Frauen wenden noch 2 Stunden täglich mehr für unbezahlte Tätigkeiten auf, also insgesamt gut 6 Stunden. Die in den früheren Lebensphasen bereits vorgefundene geschlechtsspezifische Aufteilung bleibt kontinuierlich erhalten. Deutlich unterscheidet sich auch die Qualität der Arbeit: Männer erledigen außerhäuslichen Tätigkeiten sowie handwerkliche und Bauarbeiten, während die Frauen im häuslichen Bereich Haushaltsplanungen, Zubereitung von Mahlzeiten, Textilpflege, Einkaufen nachge34
hen. Ein weiteres Ergebnis der Zeitbudgetstudie ist die Beibehaltung des Wochenrhythmus älterer Menschen. An den Wochenenden wird weniger Zeit für Haushaltsaktivitäten aufgewendet und die Zeit etwa zu 2/3 für die Pflege sozialer Kontakte, für gesellige, hobbyorientierte, sportliche und kulturelle Unternehmungen genutzt (vgl. Engstler u.a. 2004). In den Bereichen „Mediennutzung/Hobbies/Sport“, soziale Kontakte und Teilnahme an Veranstaltungen verbringen ältere Menschen deutlich mehr Zeit als jüngere, noch im Erwerbsleben aktive Frauen und Männer. Weiterhin auffällig ist die große Bedeutung des Fernsehens, wobei Männer deutlich mehr fernsehen als Frauen. Die nachbarschaftlichen Kontakte im Leben älterer Menschen bekommen werktags einen größeren Stellenwert. Im Tagesverlauf älterer Menschen gibt es feststehende Strukturen, eine davon ist der Mittagsschlaf, der sich als Zeitgipfel zwischen 12.00 Uhr und 13.30 Uhr ausprägt. Engstler u.a. weisen darauf hin, dass die Tagesprofile älterer Menschen insgesamt denen der erwerbstätigen Bevölkerung ähneln, mit Ausnahme der wegfallenden Erwerbstätigkeit. Die Zeitvolumina werden für die übrigen Tätigkeiten über den Tag ausgedehnt (vgl. ebd. 2004, S. 222). Es bleibt unklar, ob Engstler u.a. zu dieser Aussage kommen müssen, da die Auswertung der Daten in Bezug auf die Einschätzung der Zeitverwendung in der Erwerbsarbeitslogik verbleiben und nicht einer neuen Betrachtung und Einschätzung unterzogen werden. Die Aktivitäten aus den Zeittagebüchern der Zeitbudgetstudie von 2001/2002 wurden in 6 Aktivitätsbereiche unterteilt: Sport/Hobbies/Mediennutzung, Kontakte/Unterhaltung/ Veranstaltungen, Unbezahlte Arbeit, Erwerbstätigkeit/Aus- und Fortbildung, Essen/Körperpflege sowie Schlafen. Für die über 60Jährigen ist kennzeichnend, dass der Aktivitätsbereich „Erwerbstätigkeit/Aus- und Fortbildung“ kaum mehr als Aktivität dokumentiert und entsprechend kaum Zeit mit Erwerbsarbeit verbraucht wird. Tabelle 3: Zeitverwendung nach Aktivitätsbereichen Montag bis Freitag Aktivitäten in Stunden, min pro Tag
60-69Jährige
Männer Frauen Männer 1,16 k. A. -Erwerbstätigkeit/Ausund Fortbildung 4,43 6,04 4,38 Unbezahlte Arbeit 2,56 2,59 3,08 Essen/Körperpflege 4,42 3,54 5,21 Sport/Hobbies/Mediennutzung 1,49 2,05 1,49 Kontakte/Unterhaltung/ Veranstaltungen 8,21 8,17 8,44 Schlafen (Engstler u.a. 2004, S. 221/Datenbasis Zeitbudgeterhebung 2001/2002)
70+ Frauen -5,27 3,01 4,23 2,05 8,48
Die Zeitverwendung älterer Menschen unterscheidet ebenfalls wie bei Erwerbstätigenzeitmustern nach Werk- und Wochenendaktivitäten. Die Aktivitäten bei „unbezahlter Arbeit“ werden am Wochenende wesentlich weniger durchgeführt als an den anderen Tagen der Woche. Es wird mehr Zeit aufgewendet in Bezug auf „Essen/Körperpflege“, auch die Bereiche „Sport/Hobbies/Mediennutzung“ sowie „Kontakte/Unterhaltung/Veranstaltungen“ nehmen mehr Zeit ein als während der Woche. Dieses kann unterschiedliche Hintergründe haben: Der Werktage- und Wochenendrhythmus hat sich über Jahrzehnte eingelebt und 35
möglicherweise sind z.B. intergenerative Kontakte wiederum an dem Erwerbsarbeitsrhythmus gebunden und Veranstaltungen werden auf Wochenenden gelegt, um möglichst viele Menschen anzusprechen. Eventuell werden für ältere Menschen an den Werktagen bisher nur wenige Angebote durchgeführt, an denen sie sich beteiligen könnten oder wollten. Tabelle 4: Zeitverwendung nach Aktivitätsbereichen Samstag bis Sonntag Aktivitäten in Stunden, min pro Tag
60-69Jährige
Männer Frauen Männer ---Erwerbstätigkeit/Aus- und Fortbildung 3,19 4,34 2,56 Unbezahlte Arbeit 3,10 3,16 3,18 Essen/Körperpflege 5,32 4,22 5,55 Sport/Hobbies/Mediennutzung 2,46 2,49 2,33 Kontakte/Unterhaltung/ Veranstaltungen 8,33 8,36 8,55 Schlafen (Engstler u.a. 2004, S. 221/Datenbasis Zeitbudgeterhebung 2001/2002)
70+ Frauen -4,05 3,17 4,45 2,38 8,59
‚Mit zunehmenden Alter wird die Wohnung zum zentralen Ort des Alltags’ ist ein weiteres zentrales Ergebnis der Zeitbudgetstudie von 2001/2002, so Engstler u.a. „Der Umfang an Zeit, der außerhalb der Wohnung verbracht wird, kann dabei als Indikator für Partizipationsmöglichkeiten älterer Menschen am sozialen und kulturellen Leben angesehen werden. Neben den individuellen Voraussetzungen für Mobilität im Alter sind die Umfeldfaktoren wesentlich für den Aktionsradius der Älteren“ (vgl. ebd. 2004, S. 236). Das Wohnumfeld mit seiner unmittelbaren Infrastruktur kann also die Teilhabe Älterer an Gesellschaft sicherstellen oder zur Barriere werden, wenn es zur alltäglichen Versorgung nicht ausreichend ausgestattet ist. Ältere Menschen verbringen ca. 19 Stunden zu hause und etwas mehr als 5 Stunden außerhalb ihrer Wohnung. Es ist zu beachten, dass diese Zeiten mit zunehmendem Alter wechseln; im Lebenslauf sinkt die Zeit, die außerhalb der eigenen Häuslichkeit verbracht wird. Ältere Menschen werden mit zunehmendem Alter immobiler. „Etwa 60% aller Freizeitwege legen ältere Menschen zu Fuß zurück, rund 25% mit PKW“ (Kasper/Lubecki 2003 in: Engstler 2004, S. 237). Der Besitz eines PKWs bedeutet für ältere Menschen, so die Ergebnisse der Zeitbudgetstudie, die Sicherung der Mobilität. Ältere Menschen mit PKW sind täglich ca. eine halbe Stunde länger außer Haus unterwegs als diejenigen ohne Auto. Dies gilt sowohl für die über 60Jährigen als auch die über 75Jährigen. Dennoch ist vor allem zu berücksichtigen, dass die Immobilität im Lebenslauf zunimmt. Es gibt insgesamt ca. 11% ab 60 Jahren, die sich täglich nur 20 Minuten außerhalb ihres Hauses oder ihrer Wohnung aufhalten. Bei den über 75Jährigen sind es bis zu ca. 20%, die die eigene Häuslichkeit nicht länger als 20 Minuten verlassen. Außerhäusliche Aktivitäten haben im Tagesverlauf zwei Zeitgipfel: vormittags zwischen 10.00 Uhr und 11.00 Uhr und am Nachmittag zwischen 14.00 Uhr und 16.00 Uhr. Zwei bedeutende Unterschiede gibt es zwischen Männern und Frauen sowie in unterschiedlichen Altersgruppen. Männer sind häufiger vormittags unterwegs, während Frauen häufi36
ger nachmittags außerhäuslich sind. Die ältesten unter den Älteren, die ab 75Jährigen sind weniger am Nachmittag unterwegs, sondern bevorzugen den Vormittag für Aktivitäten und Besorgungen außerhalb der eigenen Häuslichkeit. Darüber hinaus sind die außerhäuslichen Aktivitäten von saisonalen Einflüssen abhängig, wie z.B. früheres Dunkelwerden im Herbst und Winter (vgl. Engstler u.a. 2004, S. 238). Insgesamt lässt sich für die Ergebnisse der Zeitbudgetstudie feststellen, dass die Qualifizierung der Zeitbudgetdaten bezüglich der Zeitverwendung der Rentnerinnen und Rentnern in der Kontinuität der Erwerbstätigkeit wenig an wichtigen Erkenntnissen hervorbringt. Die gebildeten 6 Aktivitätsbereiche, die zudem als grobe Orientierung zwischen Regeneration, unbezahlter Arbeit und Freizeit unterscheiden, sind in Frage zu stellen, da die Rentnerinnen und Rentner nicht mehr im Erwerbsarbeitsprozess stehen. Es müsste eine Auswertung erfolgen, die nicht von der Erwerbsarbeitslogik ausgeht, vielmehr sollte von den Aktivitäten und Bedingungen ausgegangen werden, die das Alter und das Leben im Alter zunehmend bestimmen. In der vorliegenden Form entstehen Schieflagen in Bezug auf die Bewertung der Zeitnutzung älterer Menschen und es wird eine Art Nutzen der Älteren für die Gesellschaft impliziert, da Zeit und Zeitverwendung wiederum in der Erwerbsarbeitslogik über Arbeits-, Frei- und Reproduktionstätigkeiten sowie unbezahlte Arbeit eingeschätzt werden. Diese Zusammenfassung verdeutlicht, dass industrie- bzw. inzwischen überwiegend dienstleistungsgesellschaftlich organisierte Gesellschaften Zeit in der Verwendung in Bezug auf Arbeit oder Nützlichkeit „messen“ und nicht davon ausgehen, dass Rentnerinnen und Rentner aus dem Erwerbsarbeitsprozess freigesetzt sind und somit selbstverständlich nicht mehr nach Kriterien des (Erwerbs-)Arbeitsprozesses bewertet werden können. Die Daten der Zeitbudgetstudie von 2001/2002 müssten auf Basis einer Idee eines „guten Lebens“ im Alterungsprozess nach Bedingungen und Aktivitäten analysiert werden, die jenseits der Erwerbsarbeitslogik Zeit und ihre Verwendung einschätzen. Besondere Kennzeichen für den Alterungsprozesses sind die der nachlassenden Mobilität und damit verbunden die Verkleinerung des Radius sowie die Zeiten, die außerhalb der eigenen Häuslichkeit verbracht werden. Die Verlangsamung des Lebensrhythmus mit zunehmendem Alter und längeren Phasen der Regeneration über den Tag ist darüber hinaus ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt, der als Rahmenbedingung für ein Leben im Alter zu berücksichtigen ist. Forderungen nach Zeitwohlstand, aktiver Zeitpolitik oder Entschleunigung vom Altern aus betrachtet, machen deutlich, wie notwendig es ist, eine reflexive Qualität in der Lebenszeit zu sehen, die eben nicht mehr von Erwerbsarbeit belastet ist und somit täglich Freiräume bereit hält, die Zeit für eine unendliche Vielzahl an Tätigkeiten anbietet. Damit verbunden ist vor allem die Frage nach dem Wohlbefinden im Alter und nicht die Frage nach der Produktivität im Alter. Rinderspacher hat schon 1985 auf die Widersprüchlichkeit einer Gesellschaft verwiesen, deren Ökonomie zwar den Zeitwohlstand propagiert, jedoch gleichzeitig durch die Form der Güterproduktion die Zeitknappheit in wachsendem Umfang vergrößert. „Bedenklich erscheint ferner eine Verteilungsstruktur der Zeit, in der bestimmte Gruppen der Gesellschaft wie Arbeitslose und Rentner ihrer verfügbaren Zeit keinen Sinn geben können, während andere, etwa hoch belastete Facharbeiter oder Manager, die regelmäßig Mehrarbeit leisten, aufgrund auch der hohen zeitlichen Belastung im Arbeitsprozess gesundheitliche Schädigungen davontragen“ (Rinderspacher 1985, S. 296). Zeit ist, ökonomisch betrachtet, unterschiedlich verteilt und selbst Zeitwohlstandsvertreter scheuen sich nicht, die 37
eine Gruppe gegen die andere in ihrem Nutzen für die Gesellschaft zu beurteilen. Zeit sollte nicht weiterhin ausschließlich ökonomisch gedacht, gelebt und reflektiert werden. Differenziertere Auswertungen und Bewertungen müssen folgen, um herauszufinden, wie ältere, aus dem Erwerbsarbeitsprozess ausgeschiedene Menschen ihre Zeit verwenden und bewerten. Dazu gehören ebenso Aussagen über die unterschiedliche Entwicklung der Zeitverwendung zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Alter, damit gesellschaftlich eine angemessene Einschätzung entstehen kann. Rifkin zeigt, warum es selbst ZeitforscherInnen kaum gelingt, sich außerhalb des ökonomischen Denkens von Zeit zu stellen. Die Betrachtung und Bewertung von Zeit und Zeitverwendung im Hinblick auf unterschiedliche Lebensalter bzw. Lebenslagen hat mit der jeweilig vorherrschenden Zeitordnung einer Gesellschaft zu tun. „Die Zeitordnung einer Gesellschaft gibt Auskunft über die sozialen Strukturen dieser Gesellschaft, und es kann umgekehrt von den gesellschaftlichen Strukturen auf die herrschende Zeitordnung geschlossen werden. ‚Die Zeit ist unser Fenster zur Welt. Mit der Zeit schaffen wir Ordnung und gestalten die Art Welt, in der wir leben. (…) Jede Kultur hat ihre eigenen, einmaligen zeitlichen Fingerabdrücke. Ein Volk kennen, heißt die Zeitwerte kennen, mit denen es lebt’“(Rifkin 1988, S. 9 in: Henning 1998, S. 13). Die Zeitordnung einer Gesellschaft bedeutet das komplette zeitliche Durchdringen und Ordnen der Lebensstruktur der Individuen in einer Gesellschaft. Die vorliegende Zeitordnung schließt Menschen, die nicht am Erwerbsarbeitsprozess beteiligt sind, von der selbstständigen Gestaltung ihrer eigenen Zeit aus. Henning betont, dass die Zeitordnung einer Gesellschaft allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen unterworfen sei und dass jede Gesellschaft mit ihrer eigenen, typischen Zeitstruktur ausgestattet sei, derer sich das Individuum keineswegs entziehen könne. „(...) Die soziale Zeit bekommt Faktizitätscharakter, und man kann sich ihr nicht ohne Strafe entziehen“ (Henning 1998, S. 13). Die Zeitordnungen der Gesellschaft sind dabei keineswegs statisch und unveränderbar. Mit dem allmählichen Wechsel überwiegend industriegesellschaftlich geprägter Beschäftigungsverhältnisse zu dienstleistungs-, informations- und wissensbasierten Beschäftigungsverhältnissen hat auch die Zeitordnung begonnen, sich zu verändern. Die Erwerbsarbeit und ihre Ausprägungen sind nach wie vor die leitende Definition für die Zeitordnung und damit für alle, die noch nicht oder nicht mehr an der Erwerbsarbeitsgesellschaft beteiligt sind, lebensqualitätsgefährdend. Die bestehende Zeitordnung ist bisher kaum als aktiv beeinflussbar und veränderbar in Betracht gezogen worden. Für die älteren Menschen in der Gesellschaft hat die geltende Zeitordnung mehrfache Auswirkungen:
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Es stellt sich die Frage, ob nicht die älteren Generationen aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind, da diese von einer ökonomisierten Zeitordnung durchdrungen ist, d. h. Zeit in Arbeits-, Reproduktions- bzw. dem Gegenpol Freizeit eingeteilt ist. Damit gilt dieses Zeitmuster für den überwiegenden Teil der Gesellschaft, der einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Kinder, Rentnerinnen und Rentner, erwerbslose Frauen und Männer sind von der Erwerbsarbeitsgesellschaft ausgeschlossen, müssen jedoch dennoch das Zeitmuster der Erwerbsarbeitsgesellschaft leben, aufrechterhalten und unterstützen und sind in ihrer Zeitstrukturierung in gewisser Weise nachgeordnet. Es droht täglich wiederkehrend der Verlust der Lebensqualität und des Lebenssinns, da die überwiegende Anzahl Älterer aus dem Erwerbsarbeitsleben regulär ausgeglie-
dert ist und somit ihre Teilhabe an der dominierenden Gesellschaft nicht mehr gegeben ist. Die übrigen Gruppen befinden sich in einem fortwährenden Prozess entweder des Hineinwachsens oder der Wiedereingliederung in die Strukturen der Erwerbsarbeitsgesellschaft. Jede und jeder Ältere ist somit gezwungen, die bestehende Zeitordnung persönlich zu überwinden und für sich zu verändern. Es entstehen Vereinzelungen, da die dominante Zeitordnung der Gesellschaft alternative Lebenszeitplanungen und –gestaltungen nicht unterstützt oder fördert und nicht darauf eingestellt ist. Rentnerinnen und Rentner bekommen jedoch kaum eine Chance, ihre bisherige Zeitordnung zu verlernen und eine für ihr Leben, als regulär aus dem Erwerbsarbeitsleben der Gesellschaft „Entlassene“, sinnvolle Zeitordnung, die auch nicht nur Exklusion aus der übrigen Gesellschaft bedeutet, zu erlernen und weiterhin als gleichwertige wertvolle Mitglieder zu gelten. Es lässt sich zusammenfassen, dass auf der Basis eines ökonomisierten linearen Zeitverständnisses (für die Aussage ist nachrangig, ob industrie- oder dienstleistungsgesellschaftlich organisierte Beschäftigungsverhältnisse überwiegen) die dem Alter verordnete Unproduktivität ganz von selbst in ein defizitäres Verständnis von Alter führt. Der alte Mensch ist in der Rentenphase unproduktiv, unabhängig davon, wie viel er jeden Tag arbeitet oder wie viel er in der Vergangenheit täglich über Jahre und Jahrzehnte gearbeitet hat.
Die Ergebnisse folgender empirischer Untersuchung zur Zeitgestaltung im Alter zeigen, wie wenig bisher Zeit sowie ihre aktive Planung und Gestaltung individuell und gesellschaftlich thematisiert worden sind. Im Alltag von Rentnerinnen und Rentnern werden, unabhängig von einer schwachen oder starken Strukturiertheit, keine Zusammenhänge zwischen subjektiver Deutung, dem Grad der Strukturiertheit und inhaltlichen Aktivitäten erkennbar. „Es stellte sich heraus, dass lineare Beziehungen zwischen dem Grad der Strukturiertheit und inhaltlichen Aktivitäten oder subjektiven Bewertungen nicht existieren“ (Burzan 2002, S. 193). Zeitlich stark strukturierte alte Menschen sind nicht zufriedener oder unzufriedener als zeitlich schwach strukturierte Ältere. Eine starke Strukturierung ist auch nicht gleichzusetzen mit einer Fortsetzung oder einem Ersatz früherer Strukturen, die durch den Beruf vorgegeben war. Etwas schärfer formuliert, bedeuten die Ergebnisse: Den älteren Menschen ist es egal, wie viele unterschiedliche Tätigkeiten ihren Tag füllen oder ob es überhaupt Aktivitäten gibt. Was sie tun bzw. die Inhalte selber sind ebenfalls nicht für die Älteren einschätzbar in der Bedeutung, die sie für ihre Tagesstruktur haben. Burzan fand eine Bandbreite unterschiedlicher Typen mit Merkmalen wie Langeweile oder relativ unruhiger Geschäftigkeit sowie weitere Zeitgestaltungstypen heraus. „Somit ist weder die ‚busy ethic’ (Ekerdt 1986) als allgemeingültig für Rentnerinnen und Rentner anzusehen, noch ist die relativ große Zeitfreiheit vorrangig ein Problem (Pöggeler 1990)“ (Burzan 2002, S. 193). In den 80er Jahren des 20. Jh. waren die Auswirkungen des demographischen Wandels zwar kaum vorstellbar, war doch die Gesellschaft durch wesentlich geringere Anteile älterer Menschen gekennzeichnet, dennoch hätte eigentlich davon ausgegangen werden können, dass es selbst unter wenigen Älteren eine Vielfalt an unterschiedlichen Zeitempfindungen und Zeitgestaltungen gab. Es konnte nie nur eine überwiegend
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alltagsfüllende Geschäftigkeit oder eine große Langeweile in einem RentnerInnenleben gegeben haben. Burzans eigener Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass biographische Kontinuität und Diskontinuität im Leben insgesamt einen Einfluss auf die Zeitgestaltung im Alter haben. Eine Kontinuitätserhaltungsstrategie ist die frühere Zeitstrukturierung aus dem Erwerbsarbeitsleben beizubehalten oder nur geringfügig zu reduzieren. Unterschiedliche biographische Typen mit einzelnen oder mehreren Lebensbereichen zu Erwerbsarbeitszeiten im Mittelpunkt zeigen im Alter mittlere bis starke Zeitstrukturiertheiten. Starke oder mittlere Zeitstrukturiertheiten führen nicht durchgängig zu einer zufriedenen, erfüllten Altersalltagsstrukturiertheit, vielmehr hat Burzan die Variante der Unzufriedenheit und Unruhe herausgearbeitet: „Der problematische Zeitgestaltungstypus der starken Strukturiertheit (Variante ‚Unzufriedenheit’) oder der mittleren Strukturiertheit (Variante ‚Unruhe’) ergibt sich, wenn einem einzigen zentralen Lebensbereich nur eine problematische Bereichskompensation erfolgte“ (Burzan 2002, S. 198). Weitere von Burzan als problematisch eingeschätzte Zeitgestaltungstypen sind diejenigen, die Passivität als durchgängiges Merkmal aus früheren Lebensphasen mitbringen. Diese schwache Zeitstrukturiertheit kann zu Unzufriedenheit führen bzw. fatalistische Zufriedenheit nach sich ziehen. Die Frage nach der Strukturiertheit im Alter und den Zeitlöchern, die durch den Wegfall der Erwerbsarbeit sowie deren täglichen Organisation entstehen, ist weniger bedeutend als die Frage danach, wie die Strukturiertheit mit Inhalten, Leben und Sinn gefüllt wird und welche Kompetenzen dafür notwendig erworben werden müssen. Burzans zentrale Aussage und wesentliches Ergebnis für die Zeitverwendung und – gestaltung älterer Menschen hingegen hält fest, dass nicht so sehr inhaltliche Lebensbereiche wie z.B. die Familie oder der Beruf ausschlaggebend für eine bestimmte Zeitgestaltung sind. Weiter hebt Burzan hervor, dass Aspekte sozialer Ungleichheit wie z.B. Geschlecht, Bildung, Beruf, Familie einen gewissen, jedoch keineswegs determinierenden Einfluss auf die Zeitgestaltung und die damit verbundene Zufriedenheit haben (vgl. Burzan 2002, S. 198). Ein positiver Zeitgestaltungstyp entsteht, so lautet die lapidare Feststellung, wenn es gelingt, souverän, flexibel und aktiv mit der Zeit umzugehen. Die nähere Bestimmung eines „positiven Zeitgestaltungstyps“ einerseits und das Erlernen einer reflexiven Umgangsweise mit der Zeit andererseits werden zu einer zentralen Aufgabe eines jeden in die Gesellschaft hineinwachsenden Menschen. Burzans Aussage, Aspekte sozialer Ungleichheiten hätten keinen determinierenden Einfluss auf die Zeitgestaltung und Zufriedenheit ist nur mit den Besonderheiten des Zeitreflektierens zu verstehen. Die Durchdringung zeitlicher Strukturen aller für Menschen relevanter Lebensbereiche hat sich verselbstständigt, so dass eine Analyse eine besondere Herausforderung darstellt. Zeit ist in alle Lebensbereiche eingedrungen und ist mit und in allen Aspekten vernetzt: Geschlecht, Bildung, Beruf und Familie wohnt jeweilig eine eigene Zeitstruktur inne, die Einfluss auf das Leben jeden einzelnen Menschen hat: Frau zu sein bedeutet, in einen anderen Zeitkontext sozialisiert zu werden und mehr Zeit für unbezahlte Arbeit zu verwenden als Männer. Das Geschlecht kann weiter Einfluss auf die Zeit haben, die in Bildung investiert wird und es ergeben sich jeweilig andere Lebensentwürfe mit anderen Zeitgestaltungen und Determiniertheiten. Zeit hat jede Ebene, jeden für das Leben bedeutenden Aspekt durchdrungen und sich verselbstständigt. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass sich die lineare Zeitordnung als die dominante Zeitdimension durchgesetzt hat. Ausgehend von den theoretischen Er40
kenntnissen über Zeit und Zeitverwendung und den empirischen Aussagen Burzans lässt sich für die Verbindung von Zeit und Alter vorerst feststellen, etwas über den Zusammenhang von Gesellschaft und ihrer zugehörigen Zeitordnung zu lernen. Dafür ist es notwendig, Wissen über die Zeitordnung einer Gesellschaft gebildet zu haben und einen aktiven, souveränen und flexiblen Umgang mit der Zeit für die gesellschaftlichen Mitglieder zu fördern, damit Zeit jeden Tag aufs Neue aktiv strukturiert, geplant und gelebt werden kann. Aktiven und flexiblen Umgang mit Zeit zu erlernen, bedeutet grundsätzlich auf die individuelle Verbindung und Einschätzung subjektiver Deutung, den Grad der Strukturiertheit und inhaltlichen Aktivitäten zu setzen, damit diese Bedingungen eine stärkere Gewichtung bekommen. Neben der Zeitgestaltung ist ein weiterer zentraler Aspekt von Zeit die Geschwindigkeit, in der sie für unterschiedliche Lebensalter vergeht bzw. wie das Tempo der Zeit subjektiv empfunden wird. Es ist die Frage danach, ob die Zeit schneller vergeht, wenn sie über Erwerbsarbeit oder andere Tätigkeiten strukturiert ist oder ob die Entstrukturierung des Lebens nicht große Langeweile für die älteren Frauen und Männer nach sich zieht. Für den gesamten Lebenszusammenhang zeigen verschiedene Studien zur subjektiven Deutung von Zeit und biografischem Zeitempfinden, dass Zeit vor allem in der 2. Lebenshälfte in der Empfindung der Menschen schneller vorüber geht als im Vergleich hierzu die Kindheit und Jugend. „Eben war gestern und morgen ist man schon wieder ein Jahr älter. Die Zeit fliegt“ (Cosmopolitan 10/2004). Die tägliche Routine ist schuld für diesen Eindruck, so Jerusalemer Forscherinnen und Forscher. Beim Ablauf vertrauter Handlungen schaltet das Gehirn sozusagen auf Autopilot. Die mit Routine ausgeführten Tätigkeiten werden somit als Untätigkeit empfunden und ignoriert. Die Zeit vergeht scheinbar langsamer, wenn Neues und Ungewöhnliches erlebt wird, d. h. wer Zeit verlangsamen will, muss Routinen vermeiden (vgl. Cosmopolitan 10/2004). Diese Erkenntnis stärkt die Forderung nach dem Erlernen einer Reflexionsebene, die für jedes Leben in- und außerhalb von Erwerbsarbeitssystematiken eingezogen werden müsste, um aktiv Aufmerksamkeitsprozesse in Bezug auf die eigene Zeit – Lebensgestaltung inszenieren zu können. Gemeint ist, mehr über die eigenen Bedürfnisse zu erfahren und somit den alltäglichen Zeitverwendungszusammenhang aktiver zu reflektieren und zu gestalten. Es stellt sich die Frage, was mit welcher Bedeutung für den einzelnen Lebenszusammenhang so wertvoll und bedeutend ist, dass es erstens lohnt, hiermit Zeit zu verbringen und zweitens wiederkehrend nicht so routiniert ist, dass es möglich ist, dieses jeweilig als etwas Besonderes zu erleben und wahrzunehmen. Es geht also auch um das Verhältnis zwischen Zeit und neuen Erlebnissen in der Zeit sowie Routinen, die in den Zeitbewusstseinsprozess zurückgebracht werden müssen, um sie für eine Neubewertung im Hinblick auf ihre Alltagstauglichkeit bereitzustellen. Psychologische Erkenntnisse zum Zeitempfinden zeigen, wie die zunehmende Geschwindigkeit der vergehenden Zeit wahrnehmungspsychologisch zu erklären ist. Monate und Jahre verrinnen für Ältere schnell und schneller, da Menschen Zeiträume automatisch in Relation zu ihrem Lebensalter einschätzen. „Die Monate bis zur nächsten Weihnacht vergehen für eine Sechsjährige langsamer als für eine 60-Jährige“ (Draaisma/Tarmas in: Geo 8/2005). Die Wahrnehmung ist abhängig von der Struktur des „autobiografischen Gedächtnisses“ so Draaisma. Das autobiografische Gedächtnis nimmt und behält insbesondere erstmalig gemachte Lebenserfahrungen, die zwischen 15 und 25 Jahren gemacht werden, während in der Zeit danach mehr und mehr Lebenserfahrungen zu Routinen werden und nicht mehr als besonders oder als besonders lang eingeschätzt werden. „Die ‚gefühlte 41
Lebensmitte’ liegt daher für viele Ältere um das 20. Lebensjahr herum, selbst dann, wenn sie fünfmal so alt sind“ (vgl. Tarmas in: Geo 8/2005). Eine dänische Untersuchung mit unter 100-Jährigen aus 2003 zeigt, dass die Jahre des mittleren Alters zwischen 35 und 55 im Rückblick sozusagen verschwinden und nicht mehr differenziert erinnert werden, auch wenn in diesem Zeitraum viele Erfahrungen und Erlebnisse stattgefunden haben. Mangan, US-amerikanischer Psychologe, hat das Zeitgefühl jüngerer und älterer Menschen verglichen und dabei festgestellt, dass Jugendliche und junge Erwachsene über eine „innere Uhr“ verfügen, die mit der Echtzeit synchron verläuft, während sie für ältere Menschen nur verzögert funktioniert. Die „innere Uhr“ der Älteren läuft langsamer, also rauscht die Echtzeit desto schneller. Chronobiologen sehen hierin einen Mangel des Botenstoffes Dopamin, der für das Zeitgefühl zuständige Neuronenverbände im Mittelhirn stimuliert: es dauert länger, bis vom Gehirn gemeldet wird, dass Zeit vergangen ist. Es passt also mehr Zeit in die Echtzeit, die Zeit vergeht im Alter also schneller (vgl. Mangan 1996 in: Tarmas in: Geo 8/2005): Zeiterleben, Zeitempfinden und Zeitbewusstsein sind bisher für den Einzelnen viel zu wenig bewusst reflektierbar und somit wenig aktiv verfügbar für die Gestaltung eines besseren Lebens in zeitlicher Hinsicht. Im individuellen Lebenszusammenhang könnte für Frauen und Männer bedeutend werden, nicht nur Routinen neu erlebbar und reflektierbar zu machen und somit aktiv zwischen Routine und neuem Erleben abwechseln zu können, sondern danach, wie die eigene Lebenszeit sinnvoll zu verbringen ist, um Zufriedenheit und Erfüllung zu vergrößern. Es geht also um die aktive Gestaltung des Verhältnisses von Gleichförmigkeit, Sichtbarmachung und Neubewertung der Routinen in der Zeit und neuem Erleben, um Zufriedenheit durch Tätigkeiten oder Erlebnisse leben, wählen und einschätzen zu können. Dem Prozess des Alterns kommt im Besonderen eine Bedeutung zu, da Zeitnutzung und Zeitgebrauch im Alter jenseits von Erwerbsarbeit stattfindet und dennoch unsichtbar abhängig von den erwerbsarbeitszeitlichen Strukturen bleibt. Die Zeitstruktur, die industriegesellschaftlich entstanden und geprägt wurde, befindet sich, wie mehrfach vorher belegt, im Übergang zu überwiegend dienstleistungsgesellschaftlich organisierten Zeitstrukturen. Für die Älteren hat diese Entwicklung kaum Auswirkungen, da sie nicht mehr aktiv am Erwerbsarbeitsprozess beteiligt sind und die gesellschaftlichen Zeitstrukturen ohnehin verselbstständigt weiterhin dem linearen Zeitverstehen einer Arbeitsgesellschaft folgen. Für die Dienstleistungsgesellschaft gilt ebenfalls, Zeit überwiegend nach ihrer erfolgreichen Nutzung zu bewerten. Es entsteht jedoch gesellschaftlich die Herausforderung, Alternsprozesse in einen direkten und bewussten Zeitzusammenhang zu stellen, der sich zudem als Wechselspiel zwischen dem Alterungsprozess und der Endlichkeit darstellt, damit so die Frage nach der Erfüllung des Lebens stark in den Vordergrund gerät. Sie wäre nicht nur philosophisch, sondern auch empirisch zu bearbeiten, vor dem Hintergrund des Wissens über Zeit einerseits und dem Alterungsprozess andererseits. Wissen, das über die Zeitverwendung und Zeitempfindung im Leben älterer Menschen Alter gebildet wird, müsste unter der Qualitätsanforderung stehen, etwas über die vielen Variablen auszusagen, die die Lebensqualität im Alterungsprozess ausmachen. Die grundsätzliche Frage gesellschaftlicher Bewertung von Zeit und einer Neudefinition von Zeit auf der Basis einer sich dynamisch kontinuierlich verändernden Gesellschaft im Hinblick auf Erwerbsarbeitsstrukturen ist unter die Bedingungen einer vor allem alternden Bevölkerung 42
zu stellen. Für Ältere und ihr Zeitempfinden sind vor allem zwei Erkenntnisse zu berücksichtigen: Ihre Zeit läuft dem eigenen Empfinden nach schneller. Manchmal vielleicht vergeht sie jedoch nicht schnell genug für die viele Zeit, die ein Tag ohne Erwerbsarbeit und feste Zeitbindung mit sich bringt. Neben den Überlegungen zur Zeitempfindung und Zeitverwendung stellt sich also vor allem auch die Frage nach dem Sinn des alternden Lebens in der Zeit. Die demographische Entwicklung mit ihren zunehmenden Anteilen älterer Frauen und Männer in der Gesellschaft ist so bedeutungsvoll, weil sie zugleich auf der Sinnebene einen qualitativen gesellschaftlichen Wandel auslöst. Mit der Ausweitung des Alters an Jahren und in der Anzahl nimmt ebenso die Vielfältigkeit an Lebensentwürfen im Alter zu. Dieses bedeutet zugleich konkret auch anwachsende Bedarfe bei sich vervielfachenden und ausdifferenzierenden Lebenslagen, zunehmende Hilfe- und Pflegebedürftigkeiten, bei zunehmend mehr und älter werdenden Menschen. 1.3 Die Zeit ist älter als das Altern – Altern verändert die (Zeit-)ordnung der Gesellschaft Die Altersphase wird öffentlicher durch ihre zeitliche Ausdehnung, den absehbaren demographischen Wandel sowie durch den Strukturwandel des Alters. Diese Entwicklungen werden in Wissenschaft und Öffentlichkeit seit den 1990er Jahren differenzierter zur Kenntnis genommen und diskutiert. Ausgangspunkt war die bewusste Zurkenntnisnahme des demographischen Wandels sowie die beginnende Auseinandersetzung mit der Qualität des Alternsprozesses, differenziert als Strukturwandel des Alters, die dazu führte, dass Altern derzeit in zwei unterschiedliche Phasen eingeteilt wird, ein drittes und ein viertes Lebensalter. Mit dem dritten Lebensalter ist eine Fülle an Gewinnen und Chancen verbunden, die mit dem Erreichen des vierten Lebensalters, der Hochaltrigkeit in Risiken und Gefährdungen umschlagen können. Altern als Prozess findet in der Zeit statt oder das Alter ist eine Zeitform des Lebens, in dem sich die Zeitgestalten des menschlichen Lebens schon seit langem gegeneinander abschleifen. Mittelstraß hebt die unterschiedlichen Bilder und Wertschätzungen der Lebensphasen hervor; insbesondere die Wertschätzung der Jugend gegenüber dem Alter ist ein frühneuzeitliches, wenn nicht sogar mittelalterliches Phänomen (Mittelstraß 1994, S. 401). „Vor den Zeitgestalten der Jugend und des Erwachsenseins verblasst die Gestalt des Alters zur Kehrseite des Lebens, zur Rückseite des (lebendigen) Spiegels, zur eigentlichen Anti-Utopie des Lebens. Der Wunsch, in diese Gestalt des Lebens zu treten, erscheint wie ein unabwendbares Schicksal. Auf der Schale des Glücks liegen die Gestalten der Kindheit, der Jugend und des voll erblühten Lebens, nicht die des Alters“ (Mittelstraß 1994, S. 404). Die bisherige kulturelle Entwicklung hat jedoch dazu geführt, Leben insgesamt auszudehnen. So entstand der Alterungsprozess; die Verlängerung des Lebens führt über das Altern und nicht über die unendliche Dehnung der Jugend, die gesellschaftlich und individuell angestrebt wird. Mit dem dominierenden Bezug auf Jugendlichkeit wird das Leben vieler Menschen angehalten und vergeht „in die falsche Richtung“. Die kulturelle Evolution, mit Fortschritten in Bildung, Medizin und Wirtschaft schuf die Voraussetzungen, die im menschlichen Genom verankerte Plastizität voll auszuschöpfen. Dem Alter stand die Evolution eher gleichgültig gegenüber und der Selektions- sowie Optimierungsprozess betraf 43
vielmehr die Reproduktionsfähigkeit des Menschen im frühen Erwachsenenalter (vgl. Baltes in: elfenbeinturm.net 2002). Die Ausweitung des Alters ist dabei eher eine Nebenwirkung, die mit der demographischen Entwicklung Gefahren bezüglich einer möglichen Optimierung des ältesten Alters enthält. Diese betrifft das menschliche Genom, das seine Ordnung zunehmend verliert, wenn es um die höchste Altersstufe geht. Es wird fehlerhaft und büßt an Regulationskraft ein und die in ihm angelegte biologische Plastizität und Präzision schwinden (vgl. Baltes in: elfenbeinturm.net 2002). Diese Entwicklung hat zur Konsequenz, fasst Baltes zusammen, dass die Ermöglichung eines durchschnittlich längeren Lebens bei gleichzeitig gleich bleibender genetischer Ausstattung, ein stetes Mehr an kultureller Entwicklung erfordere. „Und eben darin liegt das Dilemma: Weil sich die biologischen Potenziale mit dem Alter erschöpfen, verlieren auch die kulturellen Stützen an Wirkung – gerade im höheren Lebensalter, das immer mehr kulturelle Intervention erfordert. So benötigen Ältere sehr viel mehr an kognitiver Übung, um ähnliche Leistungsfortschritte wie junge Menschen zu erzielen. Und die Fähigkeit, neue Wissens- und Denkkörper zu erwerben, ist im hohen Alter eng begrenzt“ (Baltes in: elfenbeinturm.net 2002). Hieraus folgt, dass jedes Nachdenken über Alter, Alternsprozesse sowie Zeit und Zeitverwendung und Zeitempfinden die Vielfältigkeit des dritten und des vierten Lebensalters differenziert berücksichtigen und bearbeiten muss. Das dritte Alter verlangt nach der Ausgestaltung des ihm innewohnenden Potenzials, so Baltes eindringliche Forderung. Mit dieser Perspektive geht es jedoch ganz entscheidend darum, auch die Schlechtere über die Verletzlichkeit und Widerständigkeit des Vierten Alters wahrzunehmen. Baltes fordert, schon bei der derzeitigen Lebenserwartung mehr und mehr auf die Qualität des Lebens zu setzen als auf dessen Verlängerung. Vorsorge und Therapie müssen dabei für die Belastungen und Einschränkungen des Vierten Alters eingesetzt werden, um für eine Entlastung zu sorgen. Das betrifft insbesondere die Demenzen, desgleichen aber das im Alter immer häufigere Zusammenwirken unterschiedlicher Erkrankungen, die Multimorbidität. Dabei wird das Modell der „Compression of Morbidity“ favorisiert, dass davon ausgeht, alle altersbedingten Krankheiten und Beschwerden in ihrem Auftreten und in ihrer Ausprägung so zu verzögern, dass sie in ihrem Vollbild auf ein Zeitfenster jenseits des „natürlichen“ Todes verschoben werden. Das würde eine Verdichtung der Krankheiten auf die letzten Lebensjahre bedeuten (Fries in: Baltes in: elfenbeinturm.net 2002). Für die Ältesten der Alten sind mit den medizinischen, psychologischen und sozialen Parametern des höheren Lebensalters beträchtliche Verluste ausgewiesen. „Jenseits von 85 Jahren liegt die Zahl derer, die unter chronischen Belastungen leiden und niedrige Funktionswerte zeigen, fast fünfmal höher als bei den 70- bis 85Jährigen“ (Baltes in: elfenbeinturm.net 2002). Der Lebensweg im hohen Alter wird zunehmend zum Leidensweg, auch die Verbesserung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit älterer Menschen können die negativen Folgen nicht ausgleichen; die Grenzen menschlicher Anpassungsfähigkeit seien erreicht und oft auch überschritten. Dies zeige sich vor allem für den dramatischen Anstieg an Demenzen. Danach leiden unter den 70Jährigen weniger als fünf Prozent an einer Form von Demenz, unter den 80Jährigen zwischen 10 und 15 Prozent – doch unter den 90Jährigen bereits jeder Zweite. Mit der Demenz kommt ein schleichender Verlust der zeitlichen Orientierung, der Intentionalität, Selbstständigkeit, Identität und sozialen Eingebundenheit. Dies sind jene Eigenschaften, die wesentlich die menschliche Würde bestimmen und es dem Individuum ermöglichen selbstbestimmt und eigenständig zu leben. 44
„Die Zukunft ist das Alter“ und deshalb muss unter diesem gesellschaftlichen Gesichtspunkt die Alternsforschung einen Eckpfeiler der Wissenschaft im 21. Jahrhundert bilden. In den USA würden, so Baltes, etwa drei Milliarden Dollar jährlich in die Alternsforschung fließen. Seiner Ansicht nach müsste in Deutschland im gerontologischen Bereich in Bezug auf Wissensbildung über das Alter(n) massiv nach geholt werden. „Denn der Beitrag der Wissenschaft zum Gesamtwohl des Landes wird künftig auch an dem gemessen werden, was sie für das Wohlergehen im Alter geleistet hat: Man wird fragen, ob sie die Erkenntnisse erarbeitet und bereit gestellt hat, die es erlauben, das Dritte Alter zu optimieren und die „risques malheureux“ des Vierten Alters zu mindern“ (Baltes in: elfenbeinturm.net 2002). Neben den Chancen und Risiken, die für die beiden unterschiedlichen Alternsphasen weiter erforscht und ausgestaltet werden müssen, habe das Alter das Potenzial zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor in einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft, das Alter wäre so ein Antrieb für Entwicklung und Fortschritt. Der gerontologische Sektor der Dienstleistungen müsse als Motor einer künftigen Gesellschaft gelten (vgl. ebd.). Das Alter, undifferenziert betrachtet, verwandelt die Struktur und die Gestalt der Gesellschaft wie nie zuvor, mit vielen Veränderungen, die bisher noch unvorstellbar und abwegig oder nicht denkbar erscheinen. Allein das Erscheinungsbild der Gesellschaft in den unterschiedlichen Sozial- und Lebensräumen wird sich deutlich wahrnehmbar umformen. Dies betrifft die Größe, die Infrastrukturen, die Angebote, die Gestalt und die Größe der Dörfer und Städte. Es wird auch die Verhältnismäßigkeit zwischen Jugend und Alter betreffen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es so sein, dass es nicht einen einzigen Bereich geben wird, der sich nicht auf Grund des demographischen Wandels verändert: Die Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung hat tief greifende qualitative Entwicklungen des gesamten gesellschaftlichen Lebens zur Folge. Diese individuelle und gesellschaftliche Umwandlung wird vor allem auch das Zeitempfinden und den Umgang mit Zeit in der Gesellschaft betreffen. Am Beispiel Freie Zeit und Fernsehverhalten lässt sich dies illustrieren: Der größte Teil der freien Zeit wird mit fernsehen verbracht, bei der Durchschnittsbevölkerung um die 3 Stunden und 30 Minuten täglich, Ältere sehen sogar fast 5 Stunden täglich fern, ohne dass diese Tätigkeit als befriedigend empfunden wird (vgl. Beelmann 2005; Pinl 2004). „Die flüchtigen Impressionen vertreiben die Zeit, sind aber keine erfüllten Augenblicke. Auch im Rückblick bleibt nichts von ihnen übrig – wir sind Zuschauer des Lebens, aber erleben nichts selbst“ (Geo 8/2005, S. 103). Reine Beschäftigungsmaßnahmen sind für Menschen nie zufrieden stellend, sie lassen die Zeit vorangehen und es ist nicht möglich, eine sinnhafte Verbindung zu dem Leben der Menschen herzustellen, so Beelmann. Sinnvolle Aktivitäten führen dazu, dass Menschen sich nicht überflüssig fühlen, sondern zufrieden und erfüllt mit intensiv genutzten Zeiten werden können (vgl. ebd. 2005). Mit dem demographischen Wandel wird die Frage nach der Qualität der Zeit für alle Menschen, jedoch insbesondere für Frauen und Männer zum zentralen Thema, da mit steigenden Anteilen verrenteter Älterer Erwerbsarbeit für viele nicht mehr zur täglich überwiegenden Zeitverwendung gehören wird. Die Herausforderung für jeden Einzelnen ist, zu einer Neuorientierung im Hinblick auf Zeit und Zeitverwendung und zu neuen Bewertungen sowie daraus resultierend zu einer anderen Zeitnutzung zu gelangen. Darin liegt eine große Chance, dem eigenen Leben neue Qualität zu geben. Während Zeit im Erwerbsleben sehr viel höhere Qualität zugewiesen bekommt, weil sie nicht oder nur knapp vorhanden 45
ist, kann sie nun zu einer unendlichen Ressource werden. Diese Weite und Unbestimmtheit der Zeit sollte nicht zur Belastung mit Eintreten in die Rentenphase werden. Die Entwicklung, Zeit im Überfluss bzw. ohne Festlegung über den Tagesverlauf für einen wachsenden Anteil der Bevölkerung intensiver zu betrachten, wird im Zusammenhang mit der demographischen Entwicklung bisher kaum zur Kenntnis genommen. Zu der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Alter und Altern der Gesellschaft, individuell und gesellschaftlich, lässt sich hervorheben, dass jede reflexive Ebene des Nachdenkens und Erarbeitens in Bezug auf Alter und Alternsprozesse etwas Vorwegdenkendes und somit Vorwegnehmendes bedeutet. Dieses Vorwegdenken zieht nach sich, erst mit Erreichen des „Alters“ überprüfbar zu werden. Und das bedeutet nach dem gegenwärtigen Verständnis vom Alter, eigentlich „nie“, da die eigene Einschätzung vom „alt sein“ von sehr vielen Bedingungen abhängt, vor allem jedoch nicht vom Lebensalter. Die Festlegung eines Zeitpunktes, wann das Alter beginnt, ist eine Aufforderung zur Bearbeitung, da das Alter bisher ebenso fließend daher kommt wie die Zeit selbst.
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2 Alter liegt immer in der Zukunft – Das Alter ist nie eigene Erfahrung, sondern Antizipation
Der Prozess des Alterns und das Alter sind die zukünftigen Herausforderungen einer aktiven Gestaltung von Lebens- und Sozialräumen mit ihren bisher vorfindbaren unterschiedlichen Bedingungen. Zu den zukünftigen sozialen Strukturen zählen alte Frauen und Männer, ältere Migrantinnen und Migranten, Kranke und Gesunde, gänzlich Verwirrte und weniger Verwirrte, in das Alter Eintretende oder bereits Hochaltrige, langsam Alternde und schnell Alternde, Arme und Reiche, die entweder auf dem Land oder in der Stadt, entweder in Ost oder West, entweder im Norden oder Süden leben. Diese unterschiedlichen Lebensbedingungen und Lebenslagen können jeweilig differenziert erhoben, bearbeitet und verändert werden mit qualitativen und quantitativen empirischen Forschungsmethoden zugunsten der Verbesserung der Lebensbedingungen im Alter und um Beeinträchtigungen im Alternsprozess vorzubeugen und abzufangen. Zentraler Ausgangspunkt muss dabei die Annahme sein, dass jedes Denken, Arbeiten und Forschen für das Alter jeweilig Vorwegnehmendes und Vorwegdenkendes ist. Wissenschaft und Forschung beziehen sich bisher im Wesentlichen jeweilig auf Lebensalter, die vom Betrachtenden aus überwiegend bereits selber erlebt wurden. Das Alter ist die Lebensphase, die jeder Forscher und jede Forscherin selber noch vor sich hat. Dieses bedeutet für das forscherische Vorgehen, Denken und Handeln Unmögliches möglich zu machen. Das Alter hat die Besonderheit, nicht zu dem Zeitpunkt erlebbar und nachvollziehbar zu sein, wenn sich Frauen und Männer insbesondere mit dem Älterwerden befassen oder sich wissenschaftlich als Forschungsfeld mit Alternsprozessen auseinandersetzen. Es liegt für diejenigen, die Alter und Alternsprozesse reflektieren, zeitlich in der Zukunft. Das Alter kann je nach Perspektive des Betrachters bereits erreicht sein, auch wenn es subjektiv nicht als „das Alter“ erlebt wird oder erlebt werden kann. Das hängt mit der Ungeklärtheit zusammen, wann der Zeitpunkt des Alters erreicht ist und welche Bedingungen dazu führen und wie es ist, „alt“ zu sein. Dieser Zeitpunkt „Jetzt bin ich alt“ kann für jede Frau und jeden Mann zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit unterschiedlichen Hintergründen erreicht sein und ist von da an ein nicht umkehrbarer Prozess. Diejenigen, die sich mit Alternsprozessen und dem Alter beschäftigen, haben das Erreichen des Alters jeweilig noch vor sich oder nähern sich allmählich dem Alter an. Die Frage nach der Zeit und dem Zeitpunkt ist eng mit der Frage, wann eigentlich das Alter erreicht sei, verbunden. Die Frage müsste jedoch anders gestellt und daraufhin bearbeitet werden. Es ist die Frage danach, wann das Alter beginnt. Mit dem festzusetzenden Beginn ist verknüpft, das Alter nicht passiv als etwas Aufschiebbares zu verzögern, sondern aktiv in diese Phase hinein zu leben. Ein wichtiges Moment jedoch ist, dass die Frage nach dem Alter und der Zeit überwiegend aus der Sicht von Menschen bearbeitet wird, die nur eine vage Vorstellung von dem haben, wie sich der Alternsprozess subjektiv darstellt inmitten eines demographischen Wandels mit zukünftig vielen Gleichaltrigen und somit einer alternden Gesellschaft insgesamt, mit einer Vielzahl an Jahren, die es zukünftig aktiv zu gestalten gilt. 47
Der Prozess des Alterns und die Festlegung des Zeitpunktes Alter, so das Fazit, bedeutet überwiegend Vorwegnahme und Vorwegdenken. Altern liegt, zeitlich betrachtet, mehr oder weniger weit in der Zukunft und diese Verwobenheit des Alterns mit der Zeit beschreibt Mittelstraß so: „Altern ist altern in der Zeit, das Alter ist eine Zeitform des Lebens. Erfahrungen des Alterns und des Alters verbinden sich mit Vorstellungen von der Zeit, Theorien des Alterns und des Alters mit bestimmten Zeittheorien. Unterschiedliche Zeiterfahrungen führen zu unterschiedlichen Zeittheorien, und unterschiedliche Zeittheorien beeinflussen unsere Erfahrungen mit der Zeit und mit den individuellen und gesellschaftlichen Zeitformen des Lebens“ (Mittelstraß 1994, S. 387). Alter und Zeit sind zwei zentrale und gleichsam selbstverständliche Erfahrungen im Leben, bei denen es besondere Schwierigkeiten bereitet, eine kritische, reflektierende Position zu beziehen und einzunehmen, da es um grundsätzlich existenziell fließende Erfahrungen geht, die ineinander verwoben sind. Es wäre also notwendig, sich außerhalb seiner eigenen Prozesse im Alter und der Zeit zu stellen und es müsste ein Zeitpunkt bestimmt werden, an dem entweder das eine oder das andere reflektiert wird. Es erscheint als große Herausforderung, sich theoretisch gedanklich an einen Punkt außerhalb seiner eigenen Zeiterfahrung zu stellen, um den Alternsprozess zu betrachten, in dem wiederum die Zeit und ihr Vergehen beobachten und reflektiert werden. Zeit und Altern bedingen sich und erscheinen kaum voneinander trennbar für eine Betrachtung, Reflexion und Neubewertung im Hinblick auf Alterungsprozesse in unserer Gesellschaft. Zeiterfahrungen und subjektive Zeittheorien müssten eine größere Beachtung finden und von der Erwerbsarbeits- und Freizeitlogik befreit werden, damit sich die Frage nach Zeit und Alter in der Zeit grundsätzlich neu stellen und bearbeiten lässt. Es geht dabei nicht so sehr um die traditionell reflektierte Zeitverwendung, vielmehr müssten Bedeutung, Wahrnehmung und Empfindung von Zeit im Alter neu betrachtet und eingeschätzt werden. Dafür wäre es notwendig, die Verbindung genauer zu betrachten und vor allem danach zu fragen, wie und in welcher Weise Zeit im Alter und Alterungsprozesse in der Zeit eingeordnet werden. Mittelstraß zeigt auf, wie sehr eigene subjektive Erfahrungen mit der Zeit und Theorien von der Zeit nicht übereinstimmen und dass vor allem im Hinblick auf das Altern falsche Bilder von den Zeitformen des Lebens entstehen. „Dabei kann es sich herausstellen, dass Erfahrungen mit der Zeit und Theorien von der Zeit in wesentlichen Punkten nicht übereinstimmen und dass ein falsches Bild von den Zeitformen des Lebens, insbesondere auf das Altern bezogen, häufig dadurch entsteht, dass sich die Theorien von der Zeit an die Stelle unserer Erfahrungen mit der Zeit setzen“ (Mittelstraß 1994, S. 387). Die Zeit selber und die Empfindung der Zeit sind unter Umständen ganz unterschiedliche Perspektiven, die zusammengebracht werden müssen. Es wird eine wesentliche Perspektive in den Blick gerückt, die subjektive Seite der Zeit, die die Zeit selbst nicht hervorbringt „Die Zeit ist kein Element der physischen Welt, wie Himmel und Erde; sie hat vielmehr etwas mit unseren Erfahrungs- und Vorstellungsweisen zu tun. Die empirische Zeit, das heißt das, was Element unserer Erfahrungen ist, bildet sich in der Zeit, die selbst nicht Teil, sondern Form dieser Erfahrungen ist“ (Mittelstraß 1994, S. 387). Es ist als eine große Herausforderung zu begreifen, sich außerhalb der eigenen Erfahrungen und Vorstellungen zu stellen und damit jenseits der Zeit als elementares Erfahrungsfeld, ebenso wie es schwer fällt, Altern als die andere Seite einer Form von Zeit zu sehen und beides getrennt voneinander zu begreifen. Auf eine weniger der Erkenntnis folgenden 48
Ebene geht es um die Sichtbarmachung und Veränderung eingelebter und wenig reflektierter bisheriger Zeitempfindungen und Zeitstrukturen, die im Alter kaum mehr relevant und nützlich für die Gestaltung des Tages sind. Die für die Erwerbsarbeit gültigen Zeittheorien und Zeitstrukturen sind für einen ca. 30jährigen Alterungsprozess weitgehend unbrauchbar und müssen verlernt werden. Gleichzeitig bedeutet es, sich neu orientieren zu können im Hinblick auf Vergangenes, Gegenwärtiges sowie Zukünftiges, das Brüche und Kontinuitäten aufweist, unterschiedliche Empfindungen und Bewertungen in Bezug auf das eigene innere Alter und vor allem vergangene Altersstufen. Auf die vergangenen Lebensphasen kann dabei jedes Individuum permanent zurückgreifen, da sie eine stetige innere Präsenz haben. Mit zunehmenden Lebensjahren hat ein Mensch stetig mehr an Lebensphasen hinter sich gelassen und zu berücksichtigen. Als ein weiterer kommt der Faktor subjektives Empfinden der Geschwindigkeit hinzu: „Man wird innerlich nicht so schnell alt, wie man in Wirklichkeit alt wird. Innerlich bin ich immer noch die, die mit ihrer Mutter irgendwo langgeht“ (Kirsch 2005 in: Die Zeit, 4/2005). Diese Aussage, getroffen in einem Interview auf die Frage nach der Bedeutung des Alters, verdeutlicht die für jeden Einzelnen vorhandene Präsenz der gesamten bereits vergangenen Lebensspanne. Je höher das eigene Lebensalter, desto mehr steht an Erlebnissen und Erfahrungen zur Verfügung. Jedes Lebensalter hat mit seinem in der jeweiligen gesellschaftlichen Zeit-Sein und dem dazugehörigen Lebensgefühl eine kontinuierliche Präsens, die je nach Einschätzung wiederkehrend aktuell für die Gegenwart bedeutend sein kann. Die Auseinandersetzung mit der Lebensspanne nicht nur der bereits gelebten Zeit, sondern der unbestimmten Zeit, die noch in der Zukunft liegt und von der ungewiss ist, wie lange sie dauern wird, ist mit Okpi, einem afrikanischer Erzähler in seiner Denkweise, so zu kennzeichnen. „Dich gibt es, bis du stirbst. Nicht einen Tag weniger. Die Götter und deine Väter entscheiden, wann du stirbst. Du kannst also gar nicht mitreden. Warum also diese Hetzerei? Du kannst sowieso nicht vor deiner Zeit sterben“ (Okpi 1998, S. 8). Mit dem Nachdenken über Zukunft im Alter ist ebenso die je eigene Endlichkeit mitgemeint. Es kann also die Frage nach dem Leben im Alter gestellt werden und zugleich kommt die Frage nach dem Sinn des Lebens im Alter auf, das begrenzt ist durch den eigenen Tod. Implizit ist hierin bereits die Frage enthalten, ob der Tod als Begrenzung des Lebens zu werten ist oder ob nicht mit dem Tod erst die Vollständigkeit des Lebens erreicht wird (vgl. Heidegger 1993). Deutlich wird, die Zukunft im Alternsprozess betrifft die Endlichkeit des Lebens genauso wie das Leben selbst bis zu diesem Punkt vor dem Hintergrund der gesamten Lebensspanne, die sich aus der Vergangenheit kommend bis in die Gegenwart in ihrer Bedeutung für das eigene Leben nachzeichnen lässt. Jedes Nachdenken und Reflektieren älter werdender Männer und Frauen im Horizont von Zeit, Zeitempfinden und Zeitnutzung ist gewissermaßen existenziell und gleichzeitig ganz konkret. Der zeitlichen Dimension kommt im Alterungsprozess eine größere Bedeutung zu als bisher eingeschätzt. Da ist die Vergangenheit in Form von gelebten Erfahrungen und Erlebnissen, die aktuell wiederkehrend für den Einzelnen präsent sind und da ist die Zukunft, die vor jedem Einzelnem liegt mit einem Endpunkt, der nicht vorwegnehmbar ist in gedanklicher und vorfühlender Antizipation, nämlich dem eigenen Sterben und Tod. Die zentrale Erfahrung des Alterns ist, in der Gegenwart sein Leben noch einmal deutlich verändern zu können und evtl. zu müssen, da zentrale Rahmenbedingungen wie z.B. Erwerbsarbeit, Einkommen, Mobilität verändern. Die veränderten Bedingungen ziehen neue Zeitmuster nach sich. Diese grundsätzlich veränderte Lebenssituation kommt mit der Unge49
wissheit einher, dass sich unaufhaltsam die eigene Endlichkeit nähert und zwar in größerer Geschwindigkeit als bisher zuvor im Leben je so empfunden und direkt vorhersehbar. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen stellt sich die Frage, wie der Alternsprozess weiterhin zu verstehen und zu gestalten ist, um die Lebensqualität für die Älteren im Hinblick auf Zeitnutzung und Zeitempfinden im Alternsprozess neu entwickeln zu können. Die Gesellschaft insgesamt benötigt Entschleunigung und Verlangsamung des Tempos, so Zeitforscherinnen und Zeitforscher. Mit der Forderung ist eine stärkere Betonung und Berücksichtigung der Qualitäten sozialer Zeiten verbunden bzw. sogenannter Ereigniszeiten. Diskussionen um einen Zeitwohlstand, der über neue Zeitstrukturen und neue Zeitmuster eingeführt und verankert würde, könnten ein Garant sein, um die Lebensqualität aller in der Gesellschaft lebenden Menschen zu sichern und deutlich zu erhöhen (Reheis 2003; Rinderspacher seit 1985; Geißler 1997; Levine 1998; Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik 2002). Mit den Forderungen nach neuen Zeitstrukturen verbindet sich vor allem, dass Menschen die Kontrolle über ihre eigene Zeit zurückbekommen und dass ihnen bewusst wird, sie selber aktiv verändern zu können. Levine hat sich für seine Forschungen zum Tempo in unterschiedlichen Kulturen auf eine einjährige Forschungsreise begeben, deren Struktur sich von seinem Universitätsleben stark unterschied. „(…) ich hatte unter dem Strich das Gefühl, mehr Kontrolle über mein Leben zu haben als jemals zuvor, und dieses Gefühl ist mir bis heute erhalten geblieben. Ich weiß jetzt, dass meine Zeit wirklich meine Zeit ist. Und obwohl das Tempo meines Lebens, ebenso wie das aller anderen, oft von der Welt um mich herum diktiert wird, ist mir klar geworden, dass die Menschen beträchtlich mehr Kontrolle über ihre Zeit haben, als sie sich eingestehen wollen. Und ich habe noch eine andere grundlegende Wahrheit erkannt: Unsere Zeit ist unser Leben. Schon Miles Davis hat gesagt: ‚Zeit ist nicht die Hauptsache. Sie ist das einzige.’ Wie wir unsere Zeit einteilen und nutzen, definiert am Ende die Qualität und die Beschaffenheit unseres Daseins“ (Levine 1998, S. 290). Mit diesen Bewegungen der Bewusstmachung und daraus folgende Politisierung von Zeit und Zeitstrukturen in der Gesellschaft verbinden sich Hoffnungen auf eine Verbesserung der Lebensqualität, die mit der Linearisierung und Ökonomisierung der Zeit verloren ging und zugleich aus dem Blickfeld der Reflexion geriet. Es bietet sich somit die Chance, mit dem demographischen Wandel neues Zeitdenken und neue Zeitstrukturen für die Gesellschaft insgesamt zu reflektieren, da vom Altern die zentrale Veränderung ausgeht, dass eine große Anzahl von Menschen ohne Erwerbsarbeitsstrukturen ihre Zeit empfindet, nutzt und gezwungen sein könnte, an diesem Punkt neu zu fragen und zu lernen. Diese Entwicklung gilt zukünftig für eine bisher eher allmählich wachsende Anzahl von Menschen, mit deren Anwachsen wird die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Zeit ohne Erwerbsarbeit und im Alternsprozess zunehmen. Aus gegenwärtigen Entwicklungen erwachsen verstärkt Anstöße, grundsätzliche Fragen nach dem Leben und der Lebensspanne aufzuwerfen und die Lebenszeit insgesamt vom Altern her betrachtet in einen umfassenderen Bedeutungszusammenhang zu stellen. Für die Zukunft ist es als absolute Notwendigkeit anzusehen, grundsätzlich nach dem Leben, der Lebenszeit im Alterungsprozess sowie dem Beginn des Alterns und des Alters zu fragen. Während sich gegenwärtig wiederkehrend Diskussionen mit einem durchgängig implizit defizitären Altersbild in der Gesellschaft um das finanzielle Rentendesaster und die künftige „Übermacht“ an Hilfe- und Pflegebedürftigen zitieren lassen, muss klar werden, 50
dass der demographische Wandel nicht mehr auf dieser Ebene abzuhandeln ist. Es ist eine absolute Notwendigkeit in allem Denken, Leben und Gestalten gesellschaftlicher Prozesse Altern und Alternsprozesse als revolutionäre Entwicklung im Denken, Leben und Gestalten wahrzunehmen. Die quantitative Veränderung der Bevölkerung ist so maßgeblich, dass die qualitativen Auswirkungen jeden Lebensbereich und Sozialraum in der Gesellschaft betreffen werden. 2.1 Der Prozess des Alterns benötigt einen Ausgangspunkt Mit fortschreitendem Leben und dem allmählichen „Näherkommen“ des „Alters“, das herkömmlich mit der Verrentung oder dem Übergang von der Erwerbsphase in die erwerbslose Phase gleichgesetzt wird, findet ein Einstieg in eine neue (Lebens-)Phase für die älteren Menschen in der Gesellschaft statt. Mit dem Verrentungszeitpunkt ist die Vorstellung verbunden, nun in den eigentlichen Alternsprozess einzusteigen. Verrentung ist gleichgesetzt mit Alter, weil ab diesem Moment die Nutzlosigkeit für eine Gesellschaft beginnt, die sich als erwerbsarbeitszentriert versteht und in erwerbsarbeitsgesellschaftlichen Mechanismen denkt und handelt. Seit den in den 1990er Jahren begonnenen Diskussionen zum demographischen Wandel wurde eine differenzierte Sichtweise des Alters und Alternsprozesses vorgenommen, so dass Wissen zum Strukturwandel des Alters, zu jüngerem und älterem Alter, inzwischen als drittes und viertes Lebensalter benannt, gebildet wurde. Mit dieser Wertschätzung, die das Alter bzw. der Alterungsprozess durch die Thematisierung und Wissensbildung bisher erfahren hat, ist eine Vielfalt an Themen aller Art in Bezug auf das Leben, die Art und Weise des Lebens, der Lebensqualität sowie zentrale Fragen des Lebens im Alter in der öffentlichen (Fach-)Diskussion gestellt und bearbeitet worden. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ fasst die größer werdende öffentliche Diskussion zum demographischen Wandel auch als das Hineinwachsen alternder Forscherinnen und Forscher in ihre eigene Altersphase zusammen. Baltes, Entwicklungspsychologe und Altersforscher, wurde folgendermaßen charakterisiert. „Es gibt Wissenschaftler, die werden Teil ihrer Forschung. (...) Er wächst sozusagen automatisch ins eigene Forschungsfeld hinein – die Biografie als Selbstversuch“ (Die Zeit 2003/33). Dieser Selbstversuch steht im Prinzip einer gesamten Generation von jetzt in das Alter eintretenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bevor, die dieses bisher unterschiedlich wahrnehmen und aufgreifen. Der Hinweis auf einen Selbstversuch verdeutlicht eine weitere Problematik neben der Bestehenden, dass das Altern in unserer Gesellschaft eine bisher einmalige Herausforderung ist, die für jeden unbekanntes Terrain bedeuten. Es stellt sich die grundlegende Frage danach, zu welchem Zeitpunkt der Selbstversuch gestartet ist, die bisher noch im Erwerbsarbeitsleben vorzufindenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind noch nicht „alt“, ansonsten wären sie verrentet. Der Selbstversuch hat mit einem sukzessiven Übergang in das Alter begonnen, die meisten sind jedoch noch zu jung, solange sie sich überwiegend im Erwerbsleben befinden. Altern beginnt an einem Zeitpunkt, der in der Ferne liegt. Altern und Alt-Sein wird diskutiert im Zusammenhang mit Verrentung und dem Übergang in eine neue Lebensphase, in der Erwerbsarbeit keine Rolle mehr spielt. Das Altern der Gesellschaft und der Alternsprozess jedes Einzelnen werden öffentlich und wissenschaftlich zwar thematisiert und zur Kenntnis genommen, die starken Auswirkungen auf 51
das gesellschaftliche Denken und Handeln bleiben jedoch aus. Gesellschaftlich hat sich die Position durchgesetzt, das Alter beginne mit dem Übergang in die Rente bzw. den Ruhestand. Es fängt für einen Großteil der Bevölkerung schon vor dem 65. Geburtstag an, verlängert sich von da aus betrachtet ins Unermessliche und endet tödlich. Diskussionen, die in den 1990er Jahren begannen, brachten nach und nach hervor, dass mit dem Strukturwandel des Alters Altern in zwei unterschiedliche Lebensphasen differenziert werden muss. Das dritte Lebensalter enthält eine Vielzahl an Entwicklungsmöglichkeiten und schiebt defizitäre Sichtweisen vom Altern weit von sich die kommen erst mit dem Erreichen des vierten Lebensalters an, die sog. Hochaltrigkeit. Die Frage, ab welchem Zeitpunkt Hochaltrigkeit beginne, in welchem Lebensalter, mit welchem körperlichen, geistigen und psychischen Befinden, ist viel diskutiert und beforscht und dennoch weitgehend offen und unbestimmt in der Festlegung geblieben. Es gibt jedoch eine Fülle an Richtwerten und Vorschlägen, ab wann und wie, mit welchen Bedingungen zumindest die Hochaltrigkeit festzulegen ist. Die von älteren Menschen am häufigsten vorgenommene Einschätzung ist diejenige, dass jeweilig die anderen alt seien und das eigene Lebensalter noch nicht in das „Alter“ gehöre, da das eigene Wohlbefinden und der Gesundheitszustand so gut ist, dass eine Zuordnung gar nicht zutreffen könnte (vgl. Baltes 2002; Meyer 2006(a)). Dieses Ignorieren des eigenen Lebensalters hat zur Folge, dass das individuelle Altern und das Altern der Gesellschaft kaum aktiv gestaltbar zur Kenntnis genommen werden. Das hat für eine inzwischen mindestens 30jährige Lebensphase tief greifende Folgen für jeden alternden Menschen und für die Gesellschaft insgesamt. Zukünftig ist darüber stärker nachzudenken, wie die breite Öffentlichkeit für Alter und Alternsprozesse gewonnen und interessiert werden könnte, so dass diese Lebensphase überhaupt als lebendige, sinnerfüllte und schöne Lebensphase, zum ersten Mal im Lebensverlauf überwiegend frei von Erwerbsarbeit und somit als Zukunft in Freiheit betrachtet und gestaltet werden kann. Das Leben steht zur selbstständigen Verfügung bereit und es können erwartungsvolle Planungen vorgenommen werden. Der Zusammenhang zur Zeitforschung ist bei diesem Argument, unendlich über die eigene Lebenszeit verfügen zu können, nahezu zwingend erforderlich. Levine als Zeitforscher unterscheidet das Leben von Menschen und ihren Kulturen qualitativ, entweder nach der Ereigniszeit oder der Uhrzeit, wobei vor allem die westlichen Industrienationen in Europa und im angloamerikanischen Bereich ausschließlich nach der Uhrzeit leben. Die Devise „Zeit ist Geld“ drückt diese Einstellung aus und es bedeutet mit seinem gesamten Lebenszusammenhang entsprechend sozial, kulturell und wirtschaftlich danach ausgerichtet zu sein. Gesellschaften danach zu unterscheiden, ob sie nach der Uhrzeit oder der Ereigniszeit leben, ist von hoher Bedeutung, da mit dem Alternsprozess bzw. Verrentungsprozess in westlichen Industrienationen ein Übergang vom Leben nach der Uhrzeit in ein Leben, dominiert durch die Ereigniszeit, sozusagen künstlich hergestellt wird. „Eine Verschiebung von der Uhrzeit zu der Ereigniszeit verlangt dagegen eine vollständige Veränderung des Bewusstseins. Sie beinhaltet die Aufhebung der goldenen Zeitregel industrialisierter Gesellschaften: Zeit ist Geld. Von den meisten, die mit dieser Devise groß geworden sind, verlangt diese Verschiebung einen gewaltigen Sprung. Dennoch können Außenstehende einige der Verhaltensweisen erlernen, die in Kulturen mit Ereigniszeit von ihnen erwartet werden“ (Levine 1998, S. 261f). Im Zusammenhang mit dem Themenkomplex Altern ist von den Zeitforscherinnen und Zeitforschern bisher zu wenig berücksichtigt bzw. übersehen worden, dass mehrere dominante Zeitformen in einer Gesellschaft (vgl. Zeiher 2002; 52
Hetzer 2005; Netzwerk Frauenzeiten 2003: die Zeiten von Kindern, Erwachsenen, Alten bzw. Frauen und Männern sowie Erwerbstätigen und Erwerbslosen) nebeneinander gleichzeitig gelebt werden und entsprechend voneinander zu unterscheiden wären oder jeweilig zu synchronisieren sind. Dieses bedeutet zukünftig für Gesellschaften, unterschiedliche Zeitdimensionen gleichbedeutend zu berücksichtigen und in Sozialisations- und Erziehungsprozessen aktiv zu reflektieren. Mit der Verrentung und dem Übergang in diese lange Zeit andauernde erwerbslose Phase werden in industrialisierten Gesellschaften vorerst hauptsächlich die Voraussetzungen geschaffen, eine Ausrichtung des Lebens nach der Uhrzeit durch ein Leben nach der Ereigniszeit abzulösen. Das Leben im Alter, dominiert durch eine ereigniszeitliche Ausrichtung könnte bedeuten, dass der Übergang vom Erwerbsleben in die Rente der Beginn aktiv gesellschaftlich gedachter und erlebter Alternsprozesse ist. Es ist die Setzung eines Anfangs- und Ausgangspunktes „Alter“. Dieser ist notwendig, um den Übergang von einer Zeitdimension in eine andere deutlich zu machen. In dieser neu zu lebenden Zeitdimension gibt es insbesondere eine selbstständige aktive Perspektive sowie eine weniger aussichtsreiche Seite, die sich auf mögliche gesundheitliche Beeinträchtigungen bezieht. Von der eben angedeuteten aktiven und gestaltenden Perspektive würde das Alter von diesem Zeitpunkt an alle möglichen Unwägbarkeiten und Besonderheiten des Alternsprozesses mitberücksichtigen, so dass fließende Übergänge im Alter selber eröffnet und möglich werden. Diese dynamische Sichtweise eines Wechsels zwischen der Ausgerichtetheit zwischen Uhr- und Ereigniszeit oder dem Wechsel von linearer Zeit zu zyklischer Zeit mit dem Alternsprozess müsste jedoch weiter ausdifferenziert werden, um qualitativ wirksam und erlebbar zu sein für einen Alterungsprozess in der Zeit. Es bleibt jedoch bisher die Schwierigkeit, dass Übergänge aus der Erwerbsarbeit in die Verrentung sehr individuell sind und das Alter somit für den Einen/die Eine schon mit 58 Lebensjahren beginnt und für den Anderen/die Andere jedoch erst mit 67 Lebensjahren. Das Paradoxe daran ist, dass die in die Rentenphase übergehenden Frauen und Männer, diese jedoch nicht als ihren Eintritt in die Altersphase betrachten würden, sondern nur diejenigen, die diesen individuellen Zeitpunkt der Verrentung noch vor sich haben. Ziel muss es also sein, den Beginn des Alters als gesellschaftliche Vereinbarung festzulegen, um die Möglichkeit auszuschließen, Alter als Lebensphase individuell wie gesellschaftlich weiterhin auf die Zukunft zu verschieben. Das Alter würde dann generell zu einem bestimmten Zeitpunkt beginnen, den es aufgrund ausgewählter und definierter Kriterien zu verabreden gilt. So wäre der Alternsprozess auch nicht mehr loszulösen von der Gegenwart und der Betrachtung in der Gegenwart, da der Alternsprozess in der Gegenwart seinen Ausgangspunkt nimmt. Mit diesem Anfangspunkt wäre eine erste Zeitstruktur gebildet, die gleichzeitig Frage in sich trägt, wie das Leben im Alter in der Zeit gelebt werden könnte. Von da ausgehend könnten weitere Zeitstrukturen entstehen, die dazu beitragen, ein gutes Leben im Alter herzustellen und zu garantieren. 2.2 Alternsprozesse beginnen in der Gegenwart Die Bedeutung der jeweiligen Gegenwart für das Alter und Alternsprozesse stellt eine besondere Herausforderung dar, da sich in der Gegenwart das Alter entweder am wenigsten oder eben am stärksten offenbart. Der Beginn des Alters liegt entweder in ferner Zukunft 53
oder ein Mensch erscheint als „überalt“ im Sinne einer großen Hilfe- und Pflegebedürftigkeit und somit ist der Zeitpunkt der Endlichkeit in die Nähe gerückt und der Alternsprozess geht allmählich einem Ende entgegen. Hilfe- und Pflegebedürftigkeit werden individuell und gesellschaftlich im Alterungsprozess als das eigentliche Ankommen des Alterns gewertet, da die direkten Auswirkungen des Alterns fühl- und sichtbar werden. Die Defizitperspektive des Alterns verdeutlicht sich sicht- und spürbar für jeden. Mit zunehmender Hilfeund Pflegebedürftigkeit ist jedoch davon auszugehen, dass ein selbstständig und aktiv zu gestaltender Alternsprozess zunehmend weniger realisierbar wird. Ebenso wie es für den Alternsprozess von Bedeutung werden könnte, den Beginn des Alterns intersubjektiv festzulegen, ist die jeweilige Gegenwart ein weiterer bedeutender Bezugspunkt. In der Gegenwart liegt der Ausgangspunkt des Alterns und Alters und zeigt sich als Anfang zukünftiger Entwicklungen, die auf einen aktiven Alternsprozess ausgelegt sind. Altern ist Altern in der Zeit, die gerade im Moment aktuell entsteht oder vergeht. Besondere Charakteristika der Zeit und des Alterns liegen in ihrer Unaufhaltsamkeit und erschweren ein notwendiges Innehalten des fortlaufenden Prozesses. Zeit und Altern könnten durch ein Innehalten sichtbar gemacht werden. Dies gelingt jedoch nur durch Thematisierung und Reflexion; während der Betrachtung geht die jeweilige gegenwärtige Zeit bereits in Vergangenheit über und ist nicht mehr präsent. Wenn Altern und Zeit als Dimensionen in der Gegenwart fassbar werden durch Vergegenwärtigung und Antizipation bzw. Vorstellungen oder die Bildung von Phantasien im Hinblick auf unterschiedliche Altersstufen, bestünde die Möglichkeit, Alternsprozesse subjektiv gestaltbarer zu machen, so dass sie einen Bezug zu der Person hätten, wie es sie gegenwärtig in dieser Gestalt mit ihren bestimmten Voraussetzungen gibt. Bloch stellt im Betrachten der Kategorie Hoffnung die Verbindung mit der Zukunft über die Gegenwart her, indem er darauf hinweist, dass Denken „überschreiten“ heißt und dieses Überschreiten das Neue als eines begreife, „das im bewegt Vorhandenen vermittelt ist, ob es gleich, um freigelegt zu werden, aufs Äußerste den Willen zu ihm verlangt. Wirkliches Überschreiten kennt und aktiviert die in der Geschichte angelegte, dialektisch verlaufende Tendenz. Primär lebt jeder Mensch, indem er strebt, zukünftig, Vergangenes kommt erst später, und echte Gegenwart ist fast überhaupt noch nicht da. (…) Das gute Neue ist niemals so ganz neu“ (Bloch 1959, S. 2-6). Dieser Zusammenhang bestimmt die Bedeutung der Gegenwart für die Zukunft noch einmal viel stärker. Die Qualität des Alterns hat ihren Ausgangspunkt in der Gegenwart, das Alter ist keineswegs ein Sachverhalt, der morgen erst beginnt und seinen Ausgangspunkt in der Zukunft hat. So wie das Altern gegenwärtig verstanden wird und gestaltet ist, wird es auch in der Zukunft sein und zwar so lange, wie es nicht in der Gegenwart verändert wird. In der Gegenwartsgesellschaft könnte es zu einer neuen oder differenzierteren Sichtweise kommen, nur dann wäre Veränderung auch möglich, doch diese müsste im Jetzt anfangen. Nichts lässt sich erst morgen beginnen, weil die Zukunft nur über die Gegenwart beginnen kann. Veränderungen sind in der Gegenwart anzustreben, um Zukunft beeinflussen zu können. Das Alter liegt jenseits eines bisher gelebten Lebens und hat einen Ausgangspunkt, der definitorisch festzulegen und von dem auszugehen ist. Alter und Alternsprozesse wären, aufgrund ihrer Andersartigkeit zum bisherigen Lebensverlauf, nicht mehr so stark von den Rahmenbedingungen her abgekoppelt. Es würden individuell und gesellschaftlich Bedingungen entstehen, die eine gesamte Lebensspanne von jung bis alt ohne Brüche gestalten und unterstützen würden. Von der Gegenwart „heute“ sind Alter und Alternsprozesse fak54
tisch ohnehin getrennt, da das Alter in gegenwärtig vorherrschender Sicht nichts beinhaltet, was individuell und gesellschaftlich als erstrebenswert gilt. Daraus folgt die nahezu allgemeingültige Einstellung, das Alter und Altern in der Zukunft liegen und so werden weder gegenwärtig Pläne noch zukünftig Visionen für diese Phase entwickelt. Der gegenwärtige Mensch führt eine Trennung von seiner Zukunft durch, so lange sein eigener Alternsprozess nicht in der jeweiligen Gegenwart begonnen wird. In der Gegenwart entstehen Erwartungen und Vorstellungen von der Zukunft, diese Zukunft ist ab einem gewissen Punkt nicht mehr so unendlich fern: das Alter kann mit dem Augenblick beginnen. Von Levine sind Einsichten über die Vorteile des Wechselns von einem Lebenstakt in einen anderen zu übernehmen. Levine, der sich ausführlich mit den unterschiedlichen Tempi unterschiedlicher Kulturen beschäftigt, unterscheidet in der Hauptsache zwei unterschiedliche Zeitdimensionen, von denen Kulturen bestimmt sind, entweder die westlichen, (nach-) industriellen Gesellschaften, die überwiegend nach der Uhrzeit leben und daraus folgend mit einer sehr hohen Geschwindigkeit. Oder die Kulturen, deren Leben, Zeittaktung und somit Zeitplan in der Hauptsache von den Ereignissen bzw. Aktivitäten her betrachtet und gelebt werden. „Wenn die Ereigniszeit dominiert, wird der Zeitplan von den Aktivitäten bestimmt. Ereignisse beginnen und enden, wenn die Teilnehmer im gegenseitigen Einverständnis ‚das Gefühl haben’, dass die Zeit jetzt richtig sei“ (Levine 1998, S. 127). Dieses hat Auswirkungen auf die Geschwindigkeit, es ist ein viel langsameres und beschaulicheres Leben. Der Hinweis auf Levines Geschwindigkeitsaussagen einer Gesellschaft ist bedeutend für diesen Zusammenhang, da das Altern als ein Übergang von einem Lebenstakt in einen anderen betrachtet werden könnte. Insofern würde der direkte Übergang in der Gegenwart in den Alterungsprozess ein positiv einzuschätzender und anzustrebender Entwicklungsprozess werden. „Wenn man in das Bewusstsein eines anderen Lebenstaktes hinüberwechseln kann, gleichgültig in welche Richtung, dann lohnt sich das immer. (…) Und wenn Menschen, die nach der Uhr leben, sich auf eine langsamere Kultur einstellen – nun, was ist denn so schmerzhaft daran, in ein Bewusstsein einzutauchen, in dem persönliche Beziehungen Vorrang vor Leistung haben, in dem Ereignisse ihren natürlichen, spontanen Lauf nehmen dürfen, in dem man der Zeit Zeit lässt? Kontrolle über die Zeit zu übernehmen – lernen, ‚in der Zeit zu leben’ – ist eine stärkende Erfahrung“ (Levine 1998, S. 265f.). Für diesen Zusammenhang ist von Bedeutung, ob und wie es möglich sein könnte, für Anteile einer Gesellschaft einen neuen Lebenstakt aktiv aufzunehmen und Reichtum an sozialer Zeit zu besitzen, zu leben und zu gestalten, während andere oder der überwiegende Anteil einer Gesellschaft einer vollkommen anderer Taktung, Geschwindigkeit und dementsprechender Bedeutung der Zeit nachgehen. Die Besonderheit läge darin, innerhalb einer Gesellschaft unterschiedliche Zeiten und Geschwindigkeiten gleichzeitig und gleichberechtigt gelten zu lassen und zu fördern. Altmann, Vertreter einer Gesellschaft, die überwiegend nach der Uhrzeit lebt, schildert seinen Übergang in einer überwiegend nach der Ereigniszeit lebenden Gesellschaft folgendermaßen: „Ich hatte das Gefühl, aus der Zeit herausgetreten zu sein. Es war, als stünde die Zeit einfach still. Erstens schien sich von einem Augenblick zum nächsten nichts zu ändern, und zweitens entstand in mir ein Gefühl der Kontinuität mit anderen Zeiten, hervorgerufen durch das langsamere Tempo und das Fehlen von Maschinen. Es war ein Zeitgefühl, in dem man ins Nichts geht“ (Altman in Levine 1998, S. 266). Die Ankunft im Alter könnte sich ähnlich anfühlen und vielleicht noch ein wenig mehr nach nichts, da bisher keineswegs klar ist, ob der Wechsel ins Alter als ein Wechsel von der 55
Uhrzeitdominanz in eine überwiegend von der Ereigniszeit Bestimmten gleichzusetzen ist oder überhaupt Analogien zu bilden sind. Der Zeit neuen qualitativen Sinn zu geben und dadurch Perspektiven für ein sinnvolleres Leben zu gewinnen, könnte also die neue Bedeutung des Alters als Leben ohne Erwerbsarbeit sein. Es wäre ein aktiv vorzunehmender Wechsel aus der uhrzeitdominierten und zeitbeschleunigten Gesellschaft in eine ereigniszeitdominierte Gesellschaft. Diese ereigniszeitdominierte Gesellschaft würde mit dem Eintritt in den Altersprozess jeder und jede für sich selbst herstellen. Für diesen Wechsel besteht jedoch die Gefahr des Kontaktverlustes zu allen anderen, die nach einem anderen Zeittakt leben. Es stellt sich allerdings die Frage, ob es einen gegenseitigen Austausch von Inhalten, Zielen, gegenseitigem Helfen und Akzeptieren geben könnte, wenn eine Bevölkerungsgruppe überwiegend beschleunigt lebt und andere Gruppen z.B. nach der Bedeutung der Aktivität/Tätigkeit für die eigene Person oder bewusst nach Langsamkeit oder etwa nach den Jahreszeit- bzw. Mondzyklen oder im Hell-Dunkel Rhythmus. Die Entscheidung und die Realisierung des Wechsels von einer Zeitform in die andere kann jedoch nur über eine aktive Entscheidung in der Gegenwart vorgenommen werden. Die Veränderung der Zeitnutzung und Zeitempfindung baut auf einem bewussten Prozess auf, der seinen Ausgangspunkt in der individuellen Gegenwart nimmt und sich nicht auf die Zukunft verschieben lässt. Für die Gegenwart gilt, dass sie sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit Verbindungen hat. Es kommt jedoch darauf an, wie Zukunft und Vergangenheit in der Gegenwart gewertet werden, so dass sie für die aktuelle Gegenwart und für die Zukunft Neues bringen können, eine Veränderung des Lebenstaktes mit Zeitüberfluss und nicht Zeitmangel in einer Zeitmangel-Gesellschaft. „Johnson übernimmt aus der jüngeren Wirtschaftstheorie die These, dass die Industrialisierung ein evolutionäres Forschreiten von einer ‚Zeitüberfluss’ – über eine ‚Zeitfülle’ bis zu einer ‚Zeitmangel’ Gesellschaft hervorruft, der er die meisten entwickelten Länder zurechnet“ (Johnson in Levine 1998, S. 43). Die demographische Entwicklung zwingt zum Überdenken alter Dimensionen und birgt die Möglichkeit, die Geschwindigkeit der Gesellschaft in Teilen zu verändern, Altern wird zur Chance, Vergangenes zu überdenken und in der Gegenwart für die Zukunft zu verändern. 2.3 Die Vergangenheit entscheidet mit über das Alter(n) in der Zukunft Das gelebte Leben in Form vergangener Jahre in der Zeit verbindet eine Vielzahl an Entwicklungen – Stagnationen, Kontinuitäten – Brüchen, Enttäuschungen – Hoffnungen. Unterschiedliche Phasen und Prozesse als lebenslange Begleiter für jeden Menschen, die für ihn oder sie in der Bewertung mehr oder weniger präsent, entweder zum Greifen nah oder tief verborgen vorhanden sind und die jeweilige Individualität prägen. Je nach Stimmungslage oder eben zuvor vorgenommener Einschätzung sind die komplexen Erfahrungen abgespeichert und für den Lebenszusammenhang sinnhaft strukturiert abgelegt. In jedem Mann und jeder Frau konstruiert sich innere Weite in die Vergangenheit auf ganz subjektive Art und Weise. Für den Alternsprozess ist dieses von großer Bedeutung, da in jedem Menschen zu jeder Zeit gestern, heute und morgen ist; gestern ist jedoch schon mit Erlebnissen und Empfindungen gelebt und subjektiv bewertet. Es kann und wird wiederkehrend für die aktuelle Gegenwart relevant werden. 56
Mercier nimmt in diesem Zusammenhang Bezug auf tiefe Gefühle, die lebenslang eine kontinuierliche Bedeutung für jeden Menschen bekommen, wenn sie zu einem bestimmten Zeitpunkt einflussreich waren. „Doch aus der Sicht des eigenen Inneren verhält es sich ganz anders. Da sind wir nicht auf unsere Gegenwart beschränkt, sondern weit in die Vergangenheit hinein ausgebreitet. Das kommt durch unsere Gefühle, namentlich die tiefen, also diejenigen, die darüber bestimmen, wer wir sind und wie es ist, wir zu sein. Denn diese Gefühle kennen keine Zeit, sie kennen sie nicht, und sie anerkennen sie nicht“ (Mercier 2004, S. 284). Für jeden Einzelnen im Alterungsprozess existiert Vergangenheit, die an Bedeutung gewinnen kann, je nach empfundener Tiefe und selbst gedeuteter Bestimmtheit für den weiteren Lebensverlauf. Dieses gelebte Leben kann je nach aktueller Anpassungsnotwendigkeit in der Gegenwart für die Gegenwart verändert werden. Es kann allmählich mit neuen Erfahrungen, die hinzukommen, in der Erinnerung verändert werden und daraufhin wiederum mit seinen Kontinuitäten, Brüchen, Bewertungen in unterschiedlichen Phasen des Lebens unterschiedlich relevant werden. Draaisma führt in seinen Erkenntnissen zusammen, dass diese Erinnerungen allmählich und wiederkehrend im Lebensverlauf aktualisiert werden. Erlebnisse und Erfahrungen aus der Vergangenheit wachsen, so gesehen, mit dem Alterungsprozess mit. „Wenn das Äußere ein Buch wäre und unser Gedächtnis bibliophil, würde es jede neue Ausgabe neben die sorgfältig bewahrten früheren Ausgaben stellen. Wir könnten nach Belieben in eine alte Auflage schauen und sie mit den späteren vergleichen. Was ist darin verschwunden oder hinzugefügt worden, was wurde gestrichen, verändert, korrigiert? In Wirklichkeit ist unser Gedächtnis ein Instrument, das für evolutionär nützliche Dinge entworfen wurde, und das Sammeln alter Ausgaben fällt nicht darunter. Wenn wir unseren Kindern doch nicht mehr so begegnen können, wie sie vor zehn Jahren oder zwanzig Jahren aussahen, hat es keinen Sinn, ein visuelles Register ihres früheren Äußeren zu führen. Weg damit. Wir müssen unser Gedächtnis noch aus einem weiteren Grund entschuldigen. Es behält besser, was sich verändert, als das, was gleich bleibt“ (Draaisma 2004, S. 166). Die Erinnerung an Erfahrungen des gelebten Lebens wird aktualisiert und bleibt für den aktuellen Lebenszusammenhang bedeutungsvoll. Gelebtes Leben als kontinuierlich bedeutungsvoll für das eigene gegenwärtige Leben zu betrachten, ist für Alterungsprozesse als Aufgabe und Ziel hervorzuheben. Entscheidungen in der Gegenwart, die für die Zukunft getroffen werden, weisen Relevanz auf oder können bestimmt sein von Erfahrungen, die lange in der Vergangenheit gelebt und empfunden wurden. Durch eine permanente Aktualisierung oder Überschreibung der eigentlichen Situation repräsentieren sie im jeweilig aktuellen Lebenszusammenhang das gesamte gelebte und bereits vergangene Leben. Den Alternsprozess charakterisiert darüber hinaus die relative Bedeutungslosigkeit des Alltäglichen für das Gedächtnis. Dies ist insbesondere nicht sonderlich offen für die Rekonstruktion von Unauffälligem, wie z.B. Stimmen klangen, Dinge sich anfühlten, Zimmer rochen, Gerichte schmeckten oder wie nahe Menschen aussahen. Das frühere Aussehen bzw. die unmerklich langsame Veränderung des Aussehens über die Jahre von z.B. Eltern, Kindern oder Freunden ist aus dem Gedächtnis gelöscht, wenn sie sich kontinuierlich im Leben eines Menschen befunden haben. „Unser Gedächtnis kommt mit dem Alltäglichen nicht gut zurecht. Es kann wenig von dem rekonstruieren, was sich einmal an Unauffälligem um uns herum befand. (…) Selbst die Geschichte des eigenen Äußeren behält man nicht: das Gesicht, das einen heute aus dem Spiegel anschaut, lässt das von gestern bereits verschwimmen, ganz zu schweigen von dem Gesicht von vor einem Monat oder einem 57
Jahr“ (Draaisma 2004, S. 166). Für den vorliegenden Zusammenhang ist zu vertiefen, dass die überwiegende Zeit im Leben mit Alltäglichem verbracht oder zynischer formuliert: verbraucht wird. Die Alltäglichkeit hat etwas beruhigend Routiniertes und Sicheres für einen Lebenszusammenhang. Ebenso sind besondere oder herausragende Ereignisse und Entwicklungen im Lebensverlauf entweder in diese Alltäglichkeit zu verorten, verändern diese oder sie passieren gänzlich außerhalb. Das Verhältnis der Alltäglichkeit zu herausragenden und besonderen Ereignissen ist für die Bewertung aus der Perspektive eines alternden Menschen genauer zu hinterfragen. Vielleicht müssten für eine intensivere Nutzung der Lebenszeit die Anteile der Alltäglichkeit verkleinert werden zugunsten eines erfüllteren Lebens. Eine besondere Bedeutung bekommt im Rücklauf auf die vergangenen Lebensjahre die eigene Einschätzung und das eigene Bild, was sich im Rückblick zu Kontinuitäten und Entwicklungen zusammenfügt, die diesen Menschen genauso hat werden lassen, wie er jetzt ist. „Autobiographischem Gedächtnis und Autobiographien ist gemein, dass sich Erinnerungen zu Themen, Motiven, Erzählsträngen ordnen. Sie geraten nach und nach in die Reihe einer Entwicklung“ (Draaisma 2004, S. 241). Autobiographisch berichtetes Leben ist also im Rückblick jeweils schon interpretiert und festgelegt, was jedoch wiederum Neubewertungen zur Verfügung steht, wenn unvorhergesehen neue Sichtweisen hinzukommen und zu neuen Einschätzungen führen könnten. „Für denjenigen, der glaubt, Erinnerungen seien sicher und unantastbar gespeichert, sobald sie erst einmal da sind, ist nichts lehrreicher als eine unerwiderte Liebe“ (Draaisma 2004, S. 234). Die unerwiderte Liebe ist Draaisma zufolge ein gutes Beispiel, da nirgendwo sonst so vielen und dynamisch wechselnden eigenen Interpretationen von Situationen Möglichkeit gegeben wird, sich zu entfalten. Es wäre denkbar, Leben mit seinen Kontinuitäten und Brüchen im Alternsprozess neuen Interpretationen und Bewertungen gegenüber zu öffnen und damit eine weitere Wendung im Hinblick auf die Gegenwart und Zukunft aktiv zu betreiben. Mercier gibt zu bedenken, dass im Lebensverlauf einer jeden Frau und eines jeden Mannes jeweilig wiederkehrend eingeschätzt und bewertet wird, ob man selbst schon der geworden ist, der man werden wollte. Dabei ist zu bedenken, ob Lebensziele, die das eigene Leben umfassend betreffen und hiermit verbunden Vorstellungen überhaupt bewusst gesetzt werden und dementsprechend ihre Realisierung verfolgt wird. Es bleibt auch offen, welche Differenzierung und Bedeutung diese Ziele bekommen, zu welchen Zeitpunkten die Realisierung mit welchen Einschätzungen bilanziert bzw. bewertet werden. In der autobiographischen Rückschau muss sich jeder Mann und jede Frau selbst einschätzend und eingestehend fragen, was, warum und zu welchem Zeitpunkt je hinderlich war, der oder die zu werden, die man sich vorgenommen hatte, zu werden. „Konnte man als der Frühere den Späteren vergessen, obgleich der Spätere die Bühne war, auf der man die Dramen des Früheren aufführte? Und wenn es kein Vergessen war, was war es dann?“ (Mercier 2004). Es wird deutlich, dass Altern bedeutet, sich selbst kritisch zu fragen, ob das Leben so gelebt wurde, wie es der Frühere angenommen und der Spätere für den Früheren einzuordnen hatte. Draaisma hingegen betont, das Vergangene sei nur insofern von Bedeutung, wie es der Antizipation von Zukunft nutzt. Die Erinnerung als solche ist also nur bedeutsam für das Handeln in der Zukunft, da das Behalten im Dienst der Erwartung stehe. „Wir registrieren unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen mit dem Blick auf unser Handeln in der Zukunft; was in der Vergangenheit geschehen ist, ist nur insofern wichtig, als es uns in die Lage 58
versetzt, zu antizipieren, was uns später passieren wird. So gesehen ist das Gedächtnis nicht auf das Vergangene, sondern auf das Zukünftige gerichtet, und daher steht auch das Erinnern mit dem Gesicht in Richtung Zukunft“ (Draaisma 2004, S. 80). Für jemanden, der eine weite große Zukunft zu haben scheint, kann das so gelten, für denjenigen, der jedoch den größeren Teil des Lebens hinter sich gelassen hat, wird die Qualität des Erinnerns und Behaltens nicht mehr nur zukunftweisend sein, sondern eine Richtungsänderung einnehmen. Die Vergangenheit könnte also für die Gegenwart an Bedeutung gewinnen, da eventuell die Gegenwart den höheren Stellenwert für den alternden Menschen einnimmt und nicht mehr die Zukunft in Richtung Entwicklung. Die Frage nach der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist für jeden Menschen bedeutsam, da Leben von Zeit losgelöst nicht denkbar oder möglich erscheint. Jemand, der durch Krankheit wie z.B. eine Demenz, keinen Zugang mehr zur Vergangenheit und Zukunft hat, lebt in der Gegenwart, die niemals Erinnerung werden kann und es ist eine Gegenwart, die niemals zur Zukunft wird. So stellt sich die Frage nach der Bedeutung und Wertigkeit eines Lebens noch einmal neu, individuell und gesellschaftlich. Ein langes Leben, das zugleich zum Ende hin das schleichende Vergessen und Verlieren des eigenen Lebens mit beinhaltet, erscheint nicht erstrebenswert und eher grausam zu sein. Die zeitliche Dimension des Lebens bekommt in diesem Zusammenhang eine neue Bedeutung. Es geht nicht nur um die quantitative Dimension, die Länge des Lebens in alle Richtungen, sondern es geht vor allem auch darum, die Qualität des Lebens erstens in alle Richtungen und zweitens vor allem in Richtung Zukunft nicht zu unterschätzen. Die „Alternative zum Älterwerden ist der Tod“ ließ eine, nach gesellschaftlichen Zuordnungskriterien1, alte Schauspielerin kürzlich vernehmen. Ein möglichst hohes Alter zu erreichen, wird dadurch erstrebenswerter, ist das Ergebnis, wenn über die Aussage einige Zeit nachgedacht wird. Ein hohes Lebensalter bedeutet, über ein langes Leben mit vielen Jahren verfügen zu können, in denen konkret Tage und Minuten gelebt werden oder besser gesagt: auszufüllen sind. Die defizitorientierte gesellschaftliche Bewertung steigender Lebenserwartung lässt beinahe die Vermutung zu, der Tod würde gegenüber dem Erreichen eines hohen Lebensalters von vielen bevorzugt, hätten sie die Wahl. Die Alternative „älter werden“ könnte jedoch unter den heutigen gesellschaftlichen Voraussetzungen ein Lebensabschnitt werden, in dem Wechsel zwischen Alltäglichkeit und Ereignis, Einordnung und Rückgriff in Bezug auf Vergangenheit bewusster und aktiver zur Endlichkeit führen. Die Alternsphase ist lebbar geworden und das ist die wirklich einschneidende gesellschaftliche Veränderung für die Zukunft.
1 Über 65 Jahre alt, jedoch bisher nicht in Rente: Die Zuordnung „alt“ ist somit zu hinterfragen oder unterschiedliche Berufsgruppen sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten als alt einzuschätzen.
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3 Die Lebenszeit in Zeitnot – ein langes Leben ist auch zu kurz
Mit Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung steigt die jedem zur Verfügung stehende Lebenszeit an, die es zu leben gilt. Besonders hervorzuheben ist, dass mit der ausgeweiteten Lebenszeit vor allem die Alternsphase länger wird und nicht etwa die Kindheit oder Jugend oder der Zeitraum des Erwachsenseins. So bekommt die Frage, wie jeder Augenblick hierin zu leben ist, eine hohe Priorität. „Denn Altern ist in gewisser Weise sehr jung“, wie Baltes betont (vgl. Baltes in: Die Zeit 2003/33). Die Altersphase wird während des Hineinlebens ins Alter erprobt und trotz vieler Überlegungen im vorhinein, bleibt für die gegenwärtig in das Alter hineinlebenden Älteren festzustellen: Es ist wenig darüber bekannt, wie ein gutes Leben im Alter ausgestaltet werden könnte und wie sich die gegenwärtig stetig neu gewonnenen Erkenntnisse für eine größere Anzahl Älterer verwirklichen lassen könnten. Mit dem Eintritt in die Alternsphase können zentrale Fragen des Lebens auftauchen, die über die Länge des Erwerbsarbeitslebens nicht (mehr) oder noch nicht berücksichtigt wurden. Womöglich waren sie nicht mehr präsent, weil die tägliche Arbeit im Hinblick auf Reproduktion und Erwerb kaum Spiel- oder Reflexionsräume dafür ließ bzw. das Leben zu bestimmten Zeiten von mehreren Aufgaben und Anforderungen gleichzeitig besetzt war. Mit dem Eintritt in die Altersphase besteht die Chance, sein Leben nicht nur durch äußerliche Strukturen deutlich verändert zu wissen. Es eröffnet sich, es insgesamt zu hinterfragen und entsprechend verändern zu können. Zentrale Fragen, die auftauchen könnten, sind nicht nur auf den Alternsprozess und auf die Gegenwart beschränkt, sondern beziehen sich auf die Länge des Lebens insgesamt nach vorwärts und rückwärts betrachtet. Es geht dabei um die eigene (Lebens-)Zeit als etwas auf die Länge des gelebten Lebens und des Wissens Ausgestrecktes. Die Besonderheit in der jeweilig subjektiven Reflexion des bisher gelebten Lebens liegt darin, dass sich Zeit in der Retrospektive verkürzt darstellt und empfinden lässt. Eine hundertjährige Frau beschreibt ihren Weg in ein so hohes Alter: „Ich begreife selbst auch nicht, wie ich plötzlich so alt geworden bin. Auf einmal war ich 100“, sagt Helma Witting mit Charme und Unschuldsmiene. „Ich habe das Gefühl, dass ich ewig lebe“ (Geo Wissen 36/2005). Diese Aussage macht deutlich, was jeder Mann oder jede Frau in vergleichbarer Situation auch so hätte formulieren können. Ohne altersbedingte gesundheitliche Einschränkungen wäre es für jedes Individuum vorstellbar, ewig zu leben. Nichts anderes als dieses „ewige Leben“ ist gerade dabei, sich zu entwickeln, mit Rückblick auf Vaupels Aussagen in Bezug auf die Demographieforschung. Die Zeitempfindung und die Zeitgestaltung eines Lebens über seine je gesamte Strecke ist also genauer zu betrachten, wenn es darum geht, das sich verlängernde Leben insgesamt und in Bezug auf die sich explizit ausdehnende Alternsphase der Menschen einzuschätzen und verstehen zu können. Für die Gestaltung dieser Lebensphase, die nahezu ein Drittel eines Lebens ausmachen kann, oder bei einer Unterteilung in ein drittes und viertes Lebensalter sogar mehr als ein Drittel einnimmt, ist das eine sehr lange Zeit. Sie soll und will empfunden, gestaltet und gelebt werden, ohne bisherige Klarheit oder eine konkretere Vor60
stellung, welche Entwicklungen oder Erlebnisse in diese Lebensphase gehören. Analog hierzu sind für die Kindheit und Jugend das Hereinwachsen in Gesellschaft, für die Erwachsenenphase vor allem die Reproduktion über Familie und Erwerbsarbeit sozusagen festgelegte Erlebens- und Handlungsanweisungen. Das Alter könnte für ein Herauswachsen aus der Gesellschaft stehen, ohne klare Aufgabenvorstellung, beinahe sogar ohne Sinn für das Leben in dieser Zeit. 3.1 Die Bedeutung der Jugend für das Alter Alle unterschiedlichen Lebensphasen, Kindheit und Jugend, Erwachsenenalter und Alter haben sich gesellschaftlich entwicklungsbedingt ausgedehnt oder sie haben sich, wie das Alter über die Zeit verlängert und weiter ausdifferenziert. Die Jugend liegt in der Beliebtheit als Lebensphase weit vorne und gilt als bevorzugter Lebensabschnitt, an den sich jeder Mann und jede Frau spontan erinnert, wenn er oder sie nach besonderen Ereignissen und Erlebnissen im Leben befragt wird. Ereignisse, die zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr erlebt wurden, werden überwiegend als besonders bedeutend und erinnernswert für das Leben insgesamt eingeschätzt. Dem Zusammenhang zur Zeit und subjektiven Zeitempfindung wurde schon im 19. Jahrhundert psychologische und philosophische Aufmerksamkeit gewidmet. „Die Jugend ist ungeduldig in ihren Sehnsüchten, sie würde die Zeit am liebsten verschlingen, und die Zeit kriecht. Dazu kommt, dass die Eindrücke der Jugend lebendig, frisch und zahlreich sind; die Jahre sind demnach prall gefüllt, unterscheiden sich auf tausenderlei Arten, und der junge Mann schaut auf das vergangene Jahr als auf eine lange Reihe von Szenen im Raum zurück“ (Guyau 1890 in: Draaisma 2004, S. 252). Guyau beschreibt schon sehr früh ein Phänomen, den Reminiszenzeffekt, der in der Nachfolge viel und überwiegend psychologisch beforscht wurde. Fitzgeralds Studien erbrachten das Ergebnis, Menschen würden retrospektiv ihr Leben erzählend, über eine Sammlung von Erinnerungen verfügen, die nicht sehr regelmäßig über die Lebensspanne erfahren wurden. „Er erhielt auf diese Weise eine Sammlung von Erinnerungen, die ausgesprochen ungleichmäßig über das Leben verteilt waren, mit einem Reminiszenzeffekt, der eher Berg als Höcker war: aus den Jahren zwischen zehn und zwanzig wurde mehr erzählt als aus den Jahren zwischen fünfzig und achtzig zusammen“ (Fitzgerald o. Jg. in: Draaisma 2004, S. 240). Draaisma fasst die unterschiedlichen Erklärungen zusammen, warum Menschen fortgeschrittenen Alters (ab 65 Jahren aufwärts), aufgefordert bedeutende Ereignisse ihres Lebens zu formulieren, überwiegend Ereignisse berichten und ihnen eine besondere Bedeutung beimessen, die um das 20. Lebensjahr herum geschahen (vgl. ebd. 2004, S. 212-246). Eine Erklärung ist neurophysiologischer Art und geht von der Annahme aus, das Gedächtnis sei um das 20. Lebensjahr herum in seiner Aufnahmefähigkeit beinahe unbegrenzt. Deswegen blieben Erlebnisse mühelos hängen. Die Trefferquote für Erinnerungen aus dieser Zeit ist 50 Jahre später entsprechend hoch. Besonders leistungsstark ist das Gedächtnis jedoch schon 10 Jahre früher, was die Relevanz dieser These relativiert. Eine weitere Erklärung sieht zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr das Erleben von Ereignissen, denen insgesamt mehr Bedeutung beigemessen wird. Es wird, so die Annahme, mehr Behaltenswerteres erlebt als in den nachfolgenden Jahren. Das hängt auch damit zusammen, so Jansari/Parkin, dass viele Erfahrungen in dieser Zeit zum ersten Mal ge61
macht werden und dadurch eine besondere Bedeutung im Lebensverlauf und eine blitzlichtartige Klarheit im Rückblick erhalten (Jansari/Parkin 1996 in: Draaisma 2004, S. 239). Die Ereignisse, die im Jugendalter und frühen Erwachsenenalter eintreten, tragen in besonderer Weise dazu bei, wie sich die Persönlichkeit und Identität eines Menschen entwickelt, so eine weitere Erklärung für den Reminiszenzeffekt. „Zufällige Begegnungen, ein Buch, das viel Eindruck macht, ein eingehendes Gespräch, nach dem man plötzlich genau weiß, was man werden will – für diese Art von Ereignissen ist man in jenen Jahren am empfänglichsten“ (Draaisma 2004, S. 239). Das gegenwärtige Ich legt die Bedeutung der Ereignisse für den Lebensverlauf fest, d. h. der Erzähler seiner Lebensgeschichte verfolgt die Absicht, das eigene Leben als eine mehr oder weniger kohärente Entwicklung darzustellen und zu sehen. „Im Alter sieht man auf das eigene Leben gern als auf eine Geschichte zurück, in der Überraschungen und Wendungen nicht zu fehlen brauchen, die aber doch durch die charakteristischen Reaktionen einer stabilen Hauptperson zusammengehalten wird“ (vgl. Draaisma 2004). Mit dem Erkennen der eigenen Muster werden so neue Erfahrungen beinahe überflüssig und werden auch nicht mehr bemerkenswert für das eigene Leben. Darüber hinaus werde mit der gleich bleibenden Aufmerksamkeit auf die Ereignisse, die Fülle der Routinen und Wiederholungen zu einer Belastung (vgl. ebd.). Vielleicht liegt die Betonung der Ereignisse um das 20. Lebensjahr auch in einer besonderen Empfindung von Leichtigkeit und Sorglosigkeit, die sich danach kaum je wieder herstellen lässt. Mercier betont, in der Jugend könnten die meisten Momente erlebt werden, die eine absolute Gegenwartsbezogenheit haben. Weder die Vergangenheit noch die Zukunft haben für den Moment bzw. das gegenwärtige Erleben Relevanz und stehen bezugslos in der eigenen (Lebens-)zeit. Es ist für diese Ereignisse nicht bedeutend, einen Bezug in der Zeit herzustellen. Für die Einordnung in den weiteren Lebenskontext sind sie jedoch von enormer Bedeutung. „Ich möchte zurück zu jenen Minuten auf dem Schulhof, in denen die Vergangenheit von uns abgefallen war, ohne dass die Zukunft schon begonnen hätte. Die Zeit stockte und hielt den Atem an, wie sie es später nie mehr tat“ (Mercier 2004). Es erscheint wie eine Art Zeitloch oder die Überwindung der Zeit, da der Mensch weder seine Vergangenheit noch seine Zukunft unter der Oberfläche spürt. Nur der gegenwärtige Moment hat eine Bedeutung. Dieses frei Schwebende in der Zeit ist damit auch losgelöst von Erwartungen, Erfahrungen sowie der Zeitrichtung. Somit ist es auch nicht erforderlich, in eine Zeitrichtung zu blicken und in diese Richtung zu leben. Der Ausdruck des Freiheitserlebens und –empfindens könnte für den vorliegenden Zusammenhang des Alters im Prozess der Zeit zu einem bedenkenswerten Ausgangspunkt entwickelt werden. Derzeit ist das Altern durch die Loslösung von Erwerbsarbeitsstrukturen und den Beginn im Alter von 55 bis 65 Jahren gekennzeichnet, abhängig vom Eintritt in die Rentenphase. Eine weitere Besonderheit wird der allmählich ansteigende Anteil an älteren Menschen in der Gesellschaft sein, die darüber hinaus weitgehend frei von familiären Bindungen, im Sinne von Verpflichtungen sind. Dadurch entsteht so etwas wie eine Freilassung aus Verantwortung, die seit dem Eintritt in das Erwerbsleben und Reproduktionstätigkeiten im Hinblick auf Kinder und Familie durchgängig mehrere Jahrzehnte Bestand hatte. Es müsste doch ein viel größeres Freiheits- und Unabhängigkeitsempfinden auf Seiten der Älteren entstehen, eine Losgelöstheit zumindest aus einer sehr großen Verantwortung. Dieses scheint jedoch nicht gleichbedeutend oder vergleichbar mit einem unbeschwerten Freiheitsgefühl jenseits der Zeit zu sein und eben nur noch gegenwartsbezogen vorhanden. 62
Die Altersphase in dieser Betrachtungsweise könnte Freiheiten und Unabhängigkeiten eröffnen, in denen neue Träume und Sehnsüchte entwickelt und verwirklicht werden, so dass sinngebende und zugleich Leben neu strukturierende Aufgaben in Richtung Zukunft gedacht und gelebt werden können. Die Herausforderung für die Altersphase ist, sich dahin durchzuarbeiten, welche Aufgaben zu den für das eigene Leben bedeutenden gehören und welche nicht. Der Reminiszenzeffekt macht deutlich, dass das Leben bisher zu sehr von der Kindheit und Jugend einerseits und dem Erwachsenenalter andererseits gedacht und gelebt wird. Dem Lebensalter gemäß sind entsprechend bestimmte Phasen und Entwicklungen vorgesehen und werden durchlaufen, wie z.B. die Schul- und Ausbildungsphase, Eintritt in das Erwerbsleben, die Reproduktionsphase, in der Partnersuche und Familiengründung dominant werden. Diese Phasen werden zunehmend brüchiger und zerfleddern in Bezug auf den Beginn, das Ende und den Zeitraum dazwischen, dennoch sind die Aufgaben und Ziele weitgehend unhinterfragt. Für das Alter gibt es eben keine solchen Festlegungen, die es altersgemäß zu leben gilt. Bis zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungspunkt war das Alter sowohl quantitativ als auch qualitativ viel zu unbedeutend und es erschien folglich überflüssig, es insbesondere aktiv gestaltend und mit neuen Chancen und Möglichkeiten in den Blick zu nehmen. Diese Entwicklung lässt sich auch an Alterstheorien abbilden: Die Disengagementtheorie (vgl. Cumming/Henry), die Aktivitätstheorie sowie die Kontinuitätstheorie (vgl. Achtley) zeigen jede für sich, das Einhergehen des Alters mit Verlusten oder zumindest drohenden Verlusten, die es aufzuhalten oder abzumildern gilt. Ein Mehr an Entfaltung und Möglichkeiten als im bisherigen Leben mit seinen Festlegungen werden bisher kaum gedacht. Die Herausforderung für das Denken und Gestalten kommt mit der Ausweitung der Lebensphase Alter in zeitlicher und qualitativer Perspektive. Schygulla beschreibt ihren Weg in das Alter über den eigenen wiederkehrenden Reminiszenzeffekt und die Hinwendung in die Vergangenheit. „Vorher aber möchte ich so weit kommen, auch das Alter zu genießen. Egal, wie alt wir sind, durchlaufen wir immer weiter die verschiedensten Altersstufen. Alicia, meine kubanische Freundin und Mitbewohnerin, ist meine größte Verbündete im Rückwärtslauf durch Kindheit und Jugend und die so genannten besten Jahre. Wenn wir uns gemeinsam entsprechend gehen lassen, können wir uns mal wie drei fühlen, mal wie zehn, zwanzig, vierzig, mal wie hundert und mal wie neugeboren“ (Schygulla in: Die Zeit 48/2005)2. Für einen gelingenden Weg in das Alter und für das Genießen des Alters gilt offensichtlich, wiederkehrend den Weg über die Vergangenheit zu nehmen, oder es ist ein großes Privileg des Alterns, ausgestreckt in die Vergangenheit in jedes Lebensalter mit der dazugehörigen Lebenslage hineinfühlen zu können. Die Jugend er- und gelebt zu haben, kann jedoch für ein auszufüllendes und zu genießendes Altern nur ein kleiner Teil des Gesamten sein. Das Geheimnis eines Alternsprozesses könnte darin liegen, die Stellen im eigenen Leben zu finden und zu suchen, die bisher relativ unbeschrieben oder unentdeckt oder ungelebt geblieben sind. Es wäre also die Herausforderung des Alterns, herauszufinden, welches die Elemente sind, die für das Leben im Alter, jenseits vorbestimmter und schon gelebter Lebensläufe, jetzt relevant sein könnten. 2 Als Randnotiz: Schygulla unternimmt, eher unabsichtlich in der Reihung der zurückliegenden Lebensalter einen gedanklichen Ausflug in die Zukunft, von dem nur ein Antizipieren möglich ist, wie es dort für sie und ihre Freundin sein könnte. Immerhin jedoch steht die Zukunft für ein Genießen des Alters ebenso zur Verfügung, wenn auch über den Umweg in die eigene Vergangenheit.
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Die Aufgabe besteht darin, von dem gegenwärtigen Entwicklungsstand aus in Richtung Zukunft das Leben neu zu denken, unter Zuhilfenahme neuer oder im Lebensverlauf bisher zu wenig beachteter Erfahrungen. In der Jugend war jedoch nahezu jede Erfahrung eine neue, aufgrund der bis dato erreichten Lebenskürze. Altern bedeutet also, sich auf unbekanntes Gebiet vorzuwagen, dass jedoch von sich nichts Neues mehr hervorbringen kann, außer es wird danach gesucht oder die Möglichkeit genutzt, eigene Utopien für das Altern im gesamten Lebenszusammenhang hervorzubringen und sie daraufhin mit jedem Tag zu verwirklichen. Dafür wäre es notwendig, die selbst gedeutete „bedeutungsarme“ Alltäglichkeit zu durchbrechen, neue Muster zu entwickeln, auch in der Kontinuität oder Abgrenzung zu dem bisherigen Lebensverlauf, in dem mehr oder weniger bis zum Eintritt in die Rentenphase klar war, was wann in welcher Form stattfindet: Erwerbs- und Reproduktionsarbeit mit Partner und Kindern oder mit Partner ohne Kinder oder ohne Partner mit Kindern etc. Das Alter bedeutet, jenseits des Durchschnittslebenslaufs der letzten Jahrzehnte, ernsthafter zu reflektieren, wie das Leben weiter gelebt werden könnte und was darin eigentlich so große Bedeutung erlangt hat, dass es sich lohnt, dieses weiterzuführen oder zu beenden oder Neues wichtiger werden zu lassen. Dieser Prozess wird nur erfolgreich sein, wenn jeder die Möglichkeit hat, sich „zu sich selbst durchzuarbeiten“ und auch dazu in die Lage versetzt wird, dieses zu tun. Zusammenfassend lässt sich hervorheben: Die Jugend sowie Erinnerungen an die Jugend sind für das Alter notwendig und können das Altern entscheidend mitprägen. Es gibt also so etwas wie eine Kontinuität im Lebensverlauf, die retrospektiv jeder für sich auch sucht und interpretiert. Draaisma hebt die Bedeutung der Jugend in der Erinnerung hervor. Daraus lässt sich vor allem lernen, es könnte für den Alternsprozess gut sein, über den gesamten Lebensverlauf wichtige Ereignisse und Erlebnisse als solche für das eigene Leben auszumachen. Darüber hinaus ist eine zentrale Aussage, das Leben bzw. die Zeit im Alter vergehe schneller, weil keine ausreichend neuen Erfahrungen mehr gemacht werden, die die Geschwindigkeit der Zeit drosseln oder anders formuliert, die Geschwindigkeit des Lebens verlangsamen. Die Konsequenz hieraus kann nicht sein, größtmögliche Anstrengungen zu unternehmen, täglich neuen Erfahrungen nachzujagen und danach zu streben, neue und neue Erfahrungen zu machen. Es könnte also die Aufgabe sein, zu definieren, was neue Erfahrungen jenseits eines Lebensalters von 25 Jahren eigentlich sein können und was es mit der Verarbeitung der Ereignisse auf sich hat. Mit zunehmendem Lebensalter könnte sich die Qualität der Ereignisse und die Erfahrungsverarbeitung verändern, so dass bestimmte Prozesse und Entwicklungen gar nicht als erinnerungswürdig gespeichert werden, weil es jenseits der 25 zu Entwicklungsprozessen und Aktualisierungen von Erfahrungen kommt, die bei den Frauen und Männern tiefer gespeichert werden als die Ereignisse, auf die sich die psychologischen Untersuchungen beziehen. Der Eintritt in die Rentenphase ist somit ein Einschnitt, der nur mit einem aktiven Bewusstheitsprozess begonnen werden kann, um die Rentenphase als Zeitpunkt zu begreifen, an dem das Leben ganz neue Bedeutung bekommt und eine andere Lebensweise gefragt ist. Dies ist vor allem deswegen notwendig, weil das Leben durch den Verlust der Erwerbsarbeit oder die Befreiung von der Erwerbsarbeit, je nach eigener Einschätzung und Perspektive zum Alter, eine neue Qualität bekommt. Der Beginn der Altersphase ist für die meisten Menschen über die Freisetzung von Erwerbsarbeit hinaus der Anfang vom Ende im wortwörtlichen Sinn. Der Alternsprozess 64
endet mit dem Tod. Altern ist aus der Defizitorientierung nicht konsequent zu befreien, da das Heraustreten aus dem Alter, nicht die Umkehrung eines Prozesses bedeuten kann, sondern in der Endlichkeit endet. Und wenn die Endlichkeit auch gegenwärtig bis zu 35 Jahre oder noch länger vom Eintritt in die Rentenphase entfernt liegt, so ist jedem in gewisser Weise (vor-)bewusst, mit dem Alter ist die Endlichkeit nah wie nie zuvor im Leben. 3.2 Im Alter liegt die Endlichkeit näher als die Unendlichkeit oder sind beide gleich weit entfernt? Mit jedem Jahr, das ein Mensch seinem bisherigen Lebensalter hinzu zählen kann, wird er zunehmend älter und kommt seiner eigenen Endlichkeit unaufhaltsam näher, ohne jedoch zu wissen, wann sie ihn konkret mit seinem eigenen Tod betrifft. Es ist ungewiss, ob jemand ein hohes Lebensalter erreicht oder ob derjenige bzw. diejenige jung sterben wird, gewiss ist jedoch, Sterben wird jedes Leben beenden. Der Tod ist jedoch prinzipiell zeitlich je entfernter, je jünger Menschen sind. Jugend ist mit der Empfindung verbunden, ewig und unendlich zu leben. Mit dieser Empfindung verbindet sich eine bestimmte Weise, Leben zu gestalten, so Mercier. „Unsterblich“ in das Leben hineinzugehen, deutet auf ein besonderes Freiheitsempfinden hin, das sich im Verlauf des Lebens verändert. Ein zuvor unbestimmtes Empfinden wird dabei allmählich bewusster und zugleich enger oder bedrückender. Es ist das Bewusstwerden der eigenen Endlichkeit und das Wissen um das eigene Sterben. Das irgendwann unendliche „Totsein“ kommt im Laufe des Lebens wiederkehrend an die Oberfläche des Bewusstseins und verengt das Freiheitsempfinden des Lebens bzw. verändert die Lebensperspektive. „In der Jugend leben wir, als seien wir unsterblich. Das Wissen von der Sterblichkeit umspielt uns wie ein sprödes Band aus Papier, das uns kaum berührt. Wann im Leben ändert sich das? Wann beginnt das Band, uns enger zu umschlingen, bis es uns am Ende würgt?“ (Mercier 2004). Für Mercier ist mit der Verengung nicht nur die Endlichkeit verbunden. Mit zunehmender Gewissheit um die eigene Endlichkeit stellt sich die Ungewissheit über die Wahl des „richtigen“ Lebens aus den vielfältigen Möglichkeiten, die sich jedem Menschen im Verlaufe der Zeit angeboten haben. Jede Frau und jeder Mann hat Entscheidungen getroffen, die einen gewissen Verlauf im Leben beeinflusst haben, mit einer anderen Entscheidung wären andere Konsequenzen für das eigene Leben erfolgt und es wäre evtl. ein anderer Weg entstanden. Neben dem Gewählten gibt es noch viele Wege, die parallel mit leichten Abweichungen oder ganz abweichend hätten ausgewählt werden können. Mit dem ausgewählten Weg wurde jedoch einer gelebt. Zudem werden viele andere Entscheidungen, die zumindest gedanklich ebenso antizipiert wurden und beständig, auch nachdem sie schon lange nicht mehr relevant für das gegenwärtige Leben sind, gedanklich wieder und wieder getroffen. Dennoch bleibt, der Lebensverlauf ist, so wie er verläuft, nicht reversibel, nichts von dem, was als verpasst gilt, ist zu wiederholen und bleibt eben „nur“ noch gedanklich und ist vorbei. „Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht mit dem Rest?“ (Mercier 2004). Mit fortschreitendem Leben werden die Möglichkeiten und Chancen, die jemand nicht ergriffen und verwirklicht hat, mehr. Wenn diese jedoch zur Auswahl standen, so stellt sich für Mercier die Frage, was mit dem Übrigbleibendem geschieht, das Frauen oder Männer nicht gelebt haben und dennoch in ihnen bleibt. 65
Dem gegenüber stellte Guyau schon 1890 fest, dass es eine Gleichförmigkeit des Lebens im Alter gibt, die dazu führt, dieses Leben als schneller und weitgehend erinnerungsfrei verlaufend zu empfinden. Seine Konsequenz aus dieser Erkenntnis ist die Aufforderung, sich auch im Alterungsprozess kontinuierlich neuen Erfahrungen und Herausforderungen zu stellen. „Das Alter (.) ist eher das ständig gleiche Bühnenbild des klassischen Theaters, ein einfacher Ort, einmal eine wahre Einheit von Zeit, Ort und Handlung, die alles um eine einzige beherrschende Tätigkeit konzentriert und den Rest auslöscht, dann wieder die Abwesenheit von Zeit, Ort und Handlung. Die Wochen ähneln sich, die Monate ähneln sich, der monotone Trott des Lebens. All diese Bilder verschmelzen zu einem einzigen Bild. Die Vorstellung sieht die Zeit verkürzt. Sehnsucht macht das gleiche: in dem Maße, wie sich das Ende des Lebens nähert, sagt man nach jedem Jahr: ‚Schon wieder ein Jahr vorbei!’ Was habe ich damit gemacht? Was habe ich gefühlt, gesehen, erreicht? Wie ist es möglich, dass 365 Tage vorübergegangen sind, die nicht länger als ein paar Monate scheinen? Wenn Sie die Perspektive der Zeit verlängern wollen, dann füllen Sie sie, wenn Sie die Chance haben, mit tausend neuen Dingen“ (Guyau 1890 in: Draaisma 2004, S. 253). Es stellt sich die Frage, wofür das Altern die Zeit verbraucht, die gleich bleibend vergeht und in der Wahrnehmung älterer Menschen schneller verläuft. Es müsste mit der Guyauschen Aufforderung, seine Zeit zu füllen, doch evtl. möglich sein, sich für die Möglichkeiten und Chancen zu entscheiden, die Mercier in jedem noch vermutet. Oder ist es nicht vielmehr so, das die Zeiten jeweilig vorbei sind, wo bisher nicht Gelebtes auch weiterhin nicht gelebt bleiben kann. Doch wie ist die Zeit zu füllen bzw. was wären tausend neue Möglichkeiten und Chancen auf Erfahrungen und Erlebnisse, die im Alter die Zeit auf eine „Normalgeschwindigkeit“ drosseln würden. Darüber hinaus ist anzuerkennen, Routinen haben vor allem auch für das Alter ihren Sinn, um nicht jeden Tag aufs Neue für das eigene Leben entscheiden zu müssen, wie und in welcher Form Alltägliches stattfinden könnte. Routinen bedeuten Sicherheit für das eigene alltägliche Handeln. Für den Alternsprozess könnte es dennoch von großer Bedeutung sein, bezüglich bisher nicht gelebter Erfahrungen und Erlebnisse danach zu fragen, welche für das eigene Leben von Bedeutung sind, so dass sie jetzt aufgegriffen werden und neu zur Entscheidung für das Leben anstehen. Doch wäre das denkbar, verpasste Erfahrungen im Alternsprozess noch einmal wieder aufzugreifen und zu leben. Würde ein „Nachholen“ das Leben im Alter neu ausfüllen oder ist es eher so, nicht Gelebtes als unerledigt und nicht lebbar beiseite legen zu müssen. Ein ausgefülltes sinnvolles Leben im Alter ist neu zu erfinden, für den Fall, dass das Nachholen von Ereignissen, Erlebnissen und Gefühlen nicht möglich ist. Im Alternsprozess stellen sich viele neue Fragen, die das vor einem liegende Leben betreffen und gelebt werden wollen. Es ist eine Vielzahl an Erkenntnissen zur Einschätzung des Alternsprozess vorhanden, die jedem alternden Menschen zur Verfügung gestellt, zu einem Perspektivenwechsel führen müssten, in dem er selbstverständlich für sich reflektiert, was seine Aufgaben in dieser Lebensphase sein könnten. Dies ist von großer Bedeutung, da die Reflexion Einfluss auf die Art und Weise der aktiven Gestaltung der Altersphase hat. Mit zunehmenden Lebensjahren wird die Zeitspanne, die bereits mit dem eigenen Leben entstanden ist und gelebt wurde, länger. Somit bleibt eine zunehmend größere Zeitstrecke, die in der Vergangenheit liegt, zurück. Gleichzeitig wird die Zeit, die vor einem liegt, kürzer, da es das „ewige Leben“ nicht gibt. Jeder Mann und jede Frau ist mit der zu seiner bzw. ihrer in dem Geburtsjahr durchschnittlichen Lebenserwartung geboren und nähert sich 66
diesem, nahezu einzigem Richtwert, stetig an und kann ihn um Jahre bzw. sogar mindestens ein Jahrzehnt überschreiten. Das ist zwar quantitativ messbar, gleichzeitig jedoch nicht vorhersehbar und somit ungewiss. Für das Leben allgemein sowie für jeden Mann und jede Frau stellt sich jedoch wiederkehrend die Frage, ob die Zeit in der Lebenszeit, ausreichend oder vollständig genutzt wurde. Dieses beinhaltet gleichzeitig die Frage nach den Zielen eines Lebens. Bisher gibt es keine Festlegung für ein Standardleben oder keine Qualitätsstandards für ein Durchschnittsleben. Die Verbindung der Betrachtung von Zeit und Altern hat eine Auseinandersetzung mit der Vollständigkeit des Lebens zur Folgen. Ereignisse und Erlebnisse eines Lebens in der Zeit, unabhängig von den Zeitereignissen, die ein Leben vervollständigen und vollkommen machen, müssen in die Auseinandersetzung miteinbezogen werden. Die Vollständigkeit und Vollkommenheit des Lebens ist jedoch nur mit dem Wissen um die eigene Endlichkeit zu entscheiden. Vor dem Hintergrund des eigenen Todes und der Gegenwärtigkeit dieses Wissens wird eine inhaltliche Beurteilung des Lebens möglich. „Es ist der Tod, der dem Augenblick seine Schönheit gibt und seinen Schrecken. Nur durch den Tod ist die Zeit eine lebendige Zeit“ (Mercier 2004). Diesem gedanklichen Weg folgend, müsste die Jugend mit ihrem Unwissen um die Endlichkeit kein einziges erinnernswertes Ereignis haben, während das Leben nach der Erfahrung mit dem eigenen zu antizipierenden Ende viel intensiver und bewusster gelebt werden müsste. Mercier führt als Gegenpol der Endlichkeit den Standpunkt Unendlichkeit ein, für den jedoch zu bedenken ist, ob er nur für die Zeit an sich Geltung haben kann oder als zeitliche Option ebenso für die menschliche Zeitlichkeit in Betracht gezogen werden darf. Oder umgekehrt formuliert, verliert vom Standpunkt der Unendlichkeit aus betrachtet, alles an Bedeutung (Mercier 2004), da kein Bezugspunkt einzunehmen ist, von dem aus die Zeit oder die Länge der Zeit und die Ereignisse des eigenen Lebens zu bewerten wären. Es ist zu hinterfragen, ob nicht auch mit einer offenen zeitlichen Perspektive eingeschätzt und gewählt werden könnte, was im eigenen Leben bedeutend werden könnte. Der Bezugspunkt bzw. der Wertmaßstab ist in der gegenwärtigen Gesellschaft vollkommen unklar, so dass niemand einzuschätzen vermag, ob es vom Standpunkt der Endlichkeit einfacher ist, Leben zu beurteilen oder ob in der Perspektive der Unendlichkeit nicht eher eingeschätzt werden könnte, wann welches Ereignis welche Bedeutung hatte. Dieses werden zentrale Fragen für aktuelle Alternsprozesse, die in der Bearbeitung und Reflexion verdeutlichen, dass bedeutende Fragen des Lebens überhaupt erst aus Sicht einer Vielzahl an gelebten Erfahrungen gestellt und für die Vollständigkeit des Lebens beantwortbar werden. 3.3 Die Frage nach der Vollständigkeit des Lebens: Die Alternative zum Altern ist der Tod Zeit ist für jeden Menschen existenziell bedeutend, er lebt in der Zeit und dies vor allem in der Zeit, die seine Lebenszeit umfasst. In der Zeit hat er zu leben und Leben findet in der Zeit statt. Das Leben hat keinen Unendlichkeitsanspruch. Diese Bedingung gilt für die Zeit nicht, sie scheint unendlich. Das Leben eines jeden Menschen ist auf eine bestimmte Lebenszeit beschränkt und es stellt sich wiederkehrend die Frage nach dem Verhältnis von Zeit, Leben und dem Lebensende. Jeder, der in die Phase des Alters eintritt und diese Lebensphase beginnt, wird am Ende seines Alternsprozesses tot sein. Die Auseinandersetzung 67
mit dem Alter insgesamt und speziell einem bewussten Anfang des Alters wird somit zur besonderen Herausforderung. Die Naturwissenschaften verweisen auf die Irreversibilität der Zeit und geben nichts auf die Existenz von Zeitschleifen (vgl. Sandbothe 1998). Für das Leben gibt es weder eine Möglichkeit des Umkehrens noch ein Einhalten an einem bestimmten Punkt, an dem auf Basis einer Zeitschleife noch einmal anders begonnen werden kann. Das Verhältnis des Lebens zur Zeit ist in Bezug auf die Endlichkeit gesellschaftlich „verwischt“. Mit dem Eintritt in das Alter wird es jedoch von hoher Bedeutung sein, wie und in welcher Weise der Tod zum Thema wird. Für das Verhältnis von Leben und Zeit ist von besonderer Bedeutung, ob der Tod als Ende des Lebens oder als Ende des Lebens in der Zeit angesehen wird. Heidegger bestimmt den Tod als das „‘Ende’ des In-der-Weltseins“ (Heidegger 1993, S. 234). Die Bedeutung des Lebens rückt mit der Deutung des Todes als zum Leben gehörend mehr in den Vordergrund, genauso wie dann das Verhältnis des Todes zum Leben offensichtlich wird. Heidegger fasst in drei Thesen das Verhältnis des Todes zum Dasein zusammen und kommt zu der Auffassung, das Dasein bleibe ohne den Tod unvollständig. „Das bisher über den Tod erörterte lässt sich in drei Thesen formulieren: I. Zum Dasein gehört, solange es ist, ein Noch-Nicht, das es sein wird – der ständige Ausstand. 2. Das Zu-seinem-Endekommen des je Noch-nicht-zu-Ende-seienden (die seinsmäßige Behebung des Ausstandes) hat den Charakter des Nichtmehrdaseins. 3. Das Zu-Ende-kommen beschließt in sich einen für das jeweilige Dasein schlechthin unvertretbaren Seinsmodus. Am Dasein ist eine ständige ‚Unganzheit’, die mit dem Tod ihr Ende findet, undurchstreichbar“ (Heidegger 1993, S. 242). Heidegger betont die Unvollständigkeit des Lebens, solange der Tod aussteht und die Bewegung des Daseins auf etwas zuläuft. Zu einem Leben gehört der Tod als das Ende unbedingt hinzu und ein Leben bliebe unvollendet ohne den Tod. Die gesellschaftliche Tendenz geht eher dahin, den Tod nicht als zum Leben gehörend zu interpretieren und dem Leben zuzuordnen. Der Tod ist jeweilig das ganz andere und an das Lebensende Verdrängte. Die Aussage, das Dasein sei unganz, so lange der Tod aussteht, macht es möglich, neu nach der Bedeutung des Lebens zu fragen. Dies betrifft vor allem die Zeit, die unmittelbar in der Bewegung auf die Vollständigkeit des Lebens zu gestalten wäre. Wenn der Tod das Leben bzw. in der Heideggerschen Begrifflichkeit das Dasein „ganz“ werden lässt, ist mit Nachdruck nach einer Zukunftsperspektive, zu fragen. Es gehört zur Reflexionsmöglichkeit eines jeden Menschen, sich damit auseinander zu setzen, wie und was in das eigene Leben an Zielen und Entwicklungen gehören könnte, um das Leben zu vervollständigen und ganz werden zu lassen. Der Tod, als Ende betrachtet, fragt nicht nach der Zukunftsperspektive und der Entwicklung als etwas bisher Unvollständigem, sondern wäre lediglich für den Abbruch eines Lebens verantwortlich. Mercier hingegen fragt, ob nicht die Angst vor dem Tod daher komme, dass das Leben unvollständig bliebe, wenn es nicht gelänge, der zu werden, auf den man sich hin angelegt hat. Es könnte also sein, die angestrebten Ziele und Entwicklungen für ein Leben nicht erreichen zu können, bevor der Tod kommt. „Die Angst davor, dass das Leben unvollständig bliebe, ein Torso; das Bewusstsein, nicht mehr der werden zu können, auf den man sich hin angelegt hatte. So hatten wir die Angst vor dem Tode schließlich gedeutet. Doch wie kann man sich, fragte ich, vor der fehlenden Ganzheit und Stimmigkeit des Lebens fürchten, wo man sie doch, wenn sie einmal zur unwiderruflichen Tatsache geworden ist, gar 68
nicht erlebt?“ (Mercier 2004, S. 466). Die Vollständigkeit des Lebens könnte, Mercier zufolge, noch vor dem Tod beginnen, anders als bei Heidegger, der nur inklusive Tod von der Ganzheit eines Daseins ausgeht. Für Mercier ist von Bedeutung, die Bewertung über die Vollständigkeit des Lebens während des Lebens selber kontinuierlich vorzunehmen, auch wenn dieses zu wiederkehrender Unzufriedenheit über den Entwicklungsstand führen kann. Diese Sichtweise betont die aktive Selbsttätigkeit der Vollständigkeit, während das Erreichen der Vollständigkeit erst mit dem Tod nicht dazu führen kann, je Ganzheit und Stimmigkeit des Lebens zu erleben. Mercier geht sogar noch darüber hinaus, indem er im Hinblick auf den Tod und zuviel Zeit, die vergeht und zu wenig in der Bewertung eines jeden Menschen zum eigenen Ziel führt, auf die nachfolgende Verwirrung verweist. „War es das, was der Gedanke an die verrinnende Zeit und den Tod bewirkte: dass man auf einmal nicht mehr wusste, was man wollte? Dass man seinen Willen nicht mehr kannte? Dass man die selbstverständliche Vertrautheit mit dem eigenen Wollen verlor? Und sich auf diese Weise fremd und zum Problem wurde?“ (Mercier 2004). Mercier deutet auf die Verdrängung des Todes hin, der Tod verwirre das Wollen und die Ziele eines Menschen, der davon ausgeht, seine Ziele im Leben nicht mehr verwirklichen zu können, weil ihn der Tod sozusagen lähmt oder ihm dazwischen kommt. Doch ist in dieser Sichtweise nicht wieder das Aussparen des Todes vom Leben enthalten; der Tod kann nur zur Bedrohung des Lebens werden, wenn er nicht als etwas zum Leben hinzugehöriges betrachtet wird. Der Tod kann jeder Zeit, unabhängig davon, ob Ziele erreicht wurden, über das Leben kommen. So gesehen, führt das Hineinnehmen des Todes in das Leben nicht ausschließlich dazu, es als Ende eines unvollständig bleibenden Lebens zu betrachten. Mit dem Tod würde ein Leben ohnehin vollständig, unabhängig davon, ob der Tod eigene subjektive Entwicklungsziele vereitelt oder nicht. Sandbothe weist darauf hin, Heideggers Interpretation von „Dasein“ nicht als fertig und vollständig vorhanden zu betrachten, sondern als etwas in der Zukunft offenes und sich selbst, nach seinen eigenen Möglichkeiten entwerfendes Sein. „Das Dasein steht zu sich selbst nicht wie zu einem fertig vorliegenden, also ‚vorhandenen’ Objekt, in Beziehung, sondern ihm geht es in seinem Sich-zu-sich-Verhalten um sich selbst als einem wesentlich auf Zukunft hin offenen, seine je eigenen Möglichkeiten entwerfenden Seienden: ‚Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält, nennen wir Existenz’ (Heidegger 1979, S. 12). Das heißt: Das Dasein bezieht sich nicht abstrakt-theoretisch in einer bloßen Erkenntnisrelation auf sich als etwas gegenständlich Vorhandenes, sondern konkret-praktisch auf sein zukünftiges Sein, d. h. seine je zu vollziehende und pragmatisch zu gestaltende individuelle Existenz“ (Sandbothe 1998, S. 101). Der Unterschied Heideggers zu Mercier besteht in der Größe des Entscheidungsspielraums, den jeder Mann und jede Frau hat, ihr Leben zu bestimmen und darin für das eigene Leben bedeutende Entscheidungen zu treffen. Tugendhat arbeitete bei Heidegger genau diesen Aspekt des Entscheidens heraus, in welcher Weise das Sein auszugestalten sei. Heidegger lässt jedoch auch keinen Zweifel daran, dass es durch den Menschen zu vollziehen und entsprechend auszufüllen ist (vgl. Tugendhat 1979 in: Sandbothe 1998). Ein weiterer Unterschied Merciers liegt in der Bewertung der individuellen Entscheidungen und Wege, die beschritten werden. Heidegger legt seinen Betrachtungsschwerpunkt auf die Ebene des Daseins, das mit dem Tod vollständig wird, ohne den Anspruch, die Art und Weise der Ausgestaltung bewerten zu wollen. Mit dem Moment der Reflexion der 69
Lebensgestaltung erwächst die Frage nach der „Richtigkeit“ des Lebens, die so dann verneint und vor allem verneint werden kann vor dem Hintergrund der Endlichkeit. Sie zumindest garantiert, mit dem Tod keinen Richtungswechsel und keine Veränderung mehr vornehmen zu können. Heideggers Überlegungen haben nicht mehr die Ewigkeit als Bezugspunkt des Seins, sondern den Tod und damit wird es möglich, die Zeit neu zur Verzeitlichung zur Verfügung zu stellen. „Zeit wird sowohl von Kant als auch von Heidegger bewusst nicht mehr als Derivat von Ewigkeit gedacht, das mit den traditionellen Mitteln des auf Was-ist-Fragen ausgerichteten Logos erfasst werden könnte. Statt dessen erscheint sie bei Kant als theoretische Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, die einen Gegenstand in seinem ‚ist’, in seinem ‚Jetzt-sein’ überhaupt erst zu fixieren erlaubt“ (Sandbothe 1998, S. 123). Heidegger geht mit seinen Überlegungen darüber hinaus, die Zeit als die theoretische Bedingung der Möglichkeit für das Fixieren im ‚Jetzt’ und Erkennen als Gegenstand zu betrachten. Zeit ist auch die pragmatische Bedingung dafür, dass Menschen überhaupt eine Welt entwerfen und in einem Lebenszusammenhang stehen, innerhalb dessen dann sekundär auch die Erkenntnis von Gegenständen bedeutsam sein kann. Kant, Husserl, Bergson reduzieren, so Sandbothe, das Weltverhältnis zu sehr auf das Erkennen von Gegenständen. Heidegger hat mit seiner Zeitlichkeitsanalyse eher nicht intendiert, eine pragmatische Wende der modernen Zeitphilosophie herbeizuführen. Das bis dahin vorliegende Zeitverständnis wurde einer radikalen Pluralisierung und Historisierung unterzogen (vgl. Sandbothe 1998, S. 123f). Die Überlegungen hinsichtlich der Vollständigkeit des Lebens mit dem Tod und vor dem Hintergrund der Fragen erfüllten Lebens angesichts der Endlichkeit sind vor allem für den Alterungsprozess eines Menschen von besonderer Bedeutung. Nie zuvor im Leben ist die eigene Endlichkeit vom Zeitpunkt so nah und doch gleichzeitig so weit entfernt, da Tod und Endlichkeit sehr wenig bewusst in das Leben miteinbezogen werden. Es ist danach zu fragen, welchen Stellenwert der Tod im Leben bekommen müsste, um einerseits die Vollständigkeit des Lebens sicherzustellen und andererseits die Frage nach der Richtigkeit des Lebens, wie Mercier sie stellt, bedenken und eventuell entsprechend verändern zu können.
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4 Koordinaten der Mehrperspektivität: Zeit – Geschwindigkeit – Richtung der Zeit – Altern – Endlichkeit
Altern findet in der Zeit statt und es ist ein Prozess, der zu jedem Leben gehört und eine unterschiedliche Dauer oder Länge umfassen kann. Die Lebensphase Alter wird in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Bewertung eher mit Defizit, Abbau und Verfall verbunden, nicht zuletzt, weil Altern linear im Tod mündet. Die Linearität des Alterns hat mit dem gesellschaftlich vorherrschenden Zeitverstehen zu tun. Mit der Durchsetzung industriegesellschaftlich geprägter Gesellschaften haben sich das lineare Zeitverstehen, Zeiterleben und Zeitverhalten herausgebildet. Die hierin verordnete Unproduktivität des Alterns führt beinahe selbstverständlich in die Defizitorientierung. Darüber hinaus stehen Altern und Endlichkeit in einer engen Verbindung, die gesellschaftlich nicht oder viel zu wenig explizit zum Thema wird. Die Verbindung des Altern und des Todes ist mit einem unsichtbaren Band geknüpft und trägt wesentlich zum negativen Bild des Alterns und Alters bei. Ein langes Leben wäre für die gesellschaftliche Bewertung und Bedeutung einfacher zu handhaben, wenn das Leben nicht nach „hinten“ verlängert würde, sondern „vorne“ länger werden könnte: Kindheit, Jugend und das Erwachsensein gelten als erfahrungs- und erlebnisreiche sowie überaus produktive Zeiten. Hineinwachsen in die Gesellschaft und Erwachseinsein deuten auf Erwerb von Kompetenzen, Teilhabe und Mitgestaltung am (gesellschaftlichen) Leben hin. In Bezug auf das Altern als Prozess sowie die höheren Lebensalter können, neben besonderen Freiheiten, Baltes verdeutlicht dies in den Diskussionen um das dritte und vierte Lebensalter, individuelle und gesellschaftliche (Mehrfach-)Belastungen entstehen. Mit der allmählich zunehmenden Lebenserwartung, also einem Gewinn an Zeit jedes individuellen Lebens und der quantitativen Zunahme Älterer an der Anzahl der Gesellschaft insgesamt werden Alter und Alterungsprozesse in viele Richtungen problematisiert und beforscht. Die besondere Herausforderung besteht jedoch darin, die quantitativ gewonnene Zeit im Leben eines Menschen und den gesamtgesellschaftlich entstandenen Zeitzuwachs qualitativ einschätzen zu lernen. Es geht darum, darüber nachzudenken, wie das Leben gefühlt und gefüllt werden könnte. Dafür ist es notwendig, aus der Vielzahl an unterschiedlichen Zeitbegrifflichkeiten und darin bestehenden Zeitverständnissen dem Altern angemessene Zeit zur Verfügung zu stellen. Dies erscheint als die Herausforderung des demographischen Wandels, dem etwas näher zu kommen, was und welche Zeiten für das Altern von besonderer Bedeutung sein könnten. Es geht um die aktive Ausgestaltung der Verbindung von Altern und Zeit, in der unterschiedliche Zeitmaße und Zeitverständnisse sowie Zeitgeschwindigkeiten altersspezifische Bedürfnisse dynamisch und flexibel gedacht und angewendet werden können. Das Wissen über die Zeit ist vielfältig und die Bewertung, welche Zeit die Richtige und Angemessene für ein Leben oder verschiedene Lebensphasen sein könnte, ist umstritten. Mit der Relativitätstheorie wurde z.B. physikalisch festgehalten, dass jede(r) sein eigenes Zeitmaß und jede(r) seine eigene Uhr hat. Keine dieser unendlichen Vielzahl an Uhren 71
geht falsch oder richtig, weil es kein objektives Orientierungsmaß gibt. Der Bezugspunkt stellt eine Vereinbarung dar und ist demzufolge ständig erneuerbar, aushandelbar oder bestimmbar (vgl. Powers 2004, S. 187). Ansichten über Zeit könnten z.B. von der Zeit als Linie oder Zeit als Augenblick ausgehen. Unterschiedliche Betrachtungsweisen der Zeit haben jeweilig Konsequenzen für den weiteren Verlauf des Lebens. Oder es ändert sich aufgrund der unterschiedlichen Betrachtungsweise die Einschätzung und Bewertung des weiteren Lebens. „Die Zeit ist keine Linie, die durch eine Reihe von Augenblicken verläuft. Die Zeit ist ein Augenblick, an dem alle Linien zusammentreffen“ (Powers 2004, S. 324). Das Leben würde sich vielleicht durch eine neue Sichtweise gar nicht objektiv und für alle verändern, sondern jeweilig nur für denjenigen selbst, der der Zeit eine neue Bedeutung und Anordnung gibt. Wenn jemand sein Leben in der Zeit als Augenblick erleben würde, an dem alle Linien zusammentreffen, stellt sich die Frage, wie ein solches Leben aussähe. Die Frage nach dem Altern und der Bedeutung wäre eine vollkommen neue und dies lässt sich nicht in aller Vollständigkeit beantworten, weil sämtliche zugehörige Bedingungen des Lebens, die sich mit dieser veränderten Sichtweise auch verändern, gar nicht zu erfassen sind. Die Berücksichtigung der Richtung der Zeit könnte ein weiterer entscheidender Aspekt für das Leben und vor allem den Alterungsprozess sein. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind die Hauptrichtungen des Lebens, an denen Ereignisse, Erfahrungen und Erleben orientiert sind. Die Ansichten zu diesen drei Richtungen des Lebens in der Zeit könnten wiederum sehr differenziert betrachtet und geordnet werden. Das lineare Zeitverständnis, das das überwiegende Zeitverständnis in industriegesellschaftlich geprägten Kulturen darstellt, impliziert einen Weg rückwärts und vorwärts auf einer Linie der Zeit. Lightman spielt mit diesem Verständnis, in dem er die Richtungsfrage der Zeit in gestern, heute und morgen auflöst zugunsten eines Rückwärtslaufens der Zeit. Oder er konstruiert eine Position, in der die Zeit keine Quantität besitzt, sondern nur eine Qualität. Oder er deutet eine Zeit ohne Zukunft oder gibt eine Welt vor, in der die Zukunft feststeht, dort „ist das Leben eine endlose Flucht vor Räumen, von denen jeweils einer beleuchtet wird, während der nächste noch dunkel, aber vorbereitet ist. Wir gehen von Raum zu Raum, schauen in den Raum, der gerade beleuchtet ist, den gegenwärtigen Augenblick, gehen dann weiter. Wir kennen die Räume nicht, die vor uns liegen, wissen aber, dass wir nichts an ihnen ändern können. Wir sind Zuschauer unseres Lebens“ (Lightman 1994, S. 186). Die Träume von der Richtung und der Form der Zeit, die Lightman Einstein in seinem Roman träumen lässt, verändern die Welt dadurch, dass die Zeit einmal stockt oder springt oder rückwärts läuft und nicht gleichmäßig in eine Richtung fließt. Die Gesellschaften, die so entstehen, sind jedes Mal deutlich andere und bedeuten eine vollständige Veränderung allen Lebens. Gesellschaftliche Perspektiven und individuelles Leben von Männern und Frauen verändern sich mit der Veränderung der Sichtweise auf Zeit, ohne jedoch in den Konstruktionen von Lightman realisierbar zu werden (vgl. Lightman 1994). Die Richtungsfrage wird kontinuierlich auch von anderen Zeitreflektierenden aufgenommen und in unterschiedlicher Weise bearbeitet. Dabei bleibt offen, ob die Richtung der Zeit tatsächlich nur eine Frage der gesellschaftlichen Entscheidung ist. Welche Lebensqualität bzw. gesellschaftlichen Veränderungen entstehen würden, würde die Richtung der Zeit verändert, kann gedanklich antizipiert werden und bewirkt, dass jede und jeder die Zeit scheinbar aktiv betrachten, benutzen und evtl. verändern kann. Powers behauptet, es sei 72
möglich, in die Zukunft zu gehen, indem gedanklich vorweggenommen werden kann, was passieren könnte, wenn die eine oder die andere Entscheidung getroffen würde. „Wir können einen Sprung in die Zukunft machen. (…) Aber wir können keine Botschaft zurück in die eigene Vergangenheit schicken“ (Powers 2004, S. 565). Von der Gegenwart aus kann die eigene Vergangenheit nicht beeinflusst werden, in dem neue Elemente in die Vergangenheit eingefügt werden, was deren Veränderung bewirken und somit auch die Veränderung der Gegenwart nach sich ziehen würde. Mit der Feststellung, der stetigen Existenz vergangener und zukünftiger Zeit, so Powers und dem nicht Unterscheiden dieser Zeiten durch das Universum, stärkt sich die Position des Menschen in der Gegenwart. „Vergangene Zeit und zukünftige Zeit: Beide existieren immer. Das Universum macht keinen Unterschied zwischen den zweien“ (Powers 2004, S. 424). Ein Leben mit der Unterscheidung zwischen vergangener und zukünftiger Zeit ist für jeden Menschen selbstverständlich und ein Zeichen dafür, die Zeit vergeht und nicht jede Erfahrung und jedes Erlebnis bleiben gegenwärtig bzw. sind noch zu erleben und müssen in der Gegenwart erfahren werden. Für die Sortierung und Bewältigung dessen, was im Leben jedes Menschen von Bedeutung werden könnte, hat sich die Dreiteilung wohl bewährt. Diese kann jedoch auch zu Verwirrungen führen, wenn die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft selber der linearen Betrachtung unterzogen werden. „Wenn die Vergangenheit älter ist als die Gegenwart, dann muss die Zukunft jünger sein. Und wir müssen alle rückwärts gehen, mit jedem Jahr, das vergeht“ (Powers 2004, S. 187). In der Überlegung der linearen Zeitenfolge ist das Vergangene älter als die Gegenwart und die Zukunft die jüngste Zeitrichtung. Die Menschen werden jedoch älter mit dem Weg in die Zukunft. Powers Überlegungen folgend, müssten die Menschen rückwärts gehen, um mit der Zukunft Richtung „älter werden“ zu erreichen. Deutlich wird, die Richtungen der Zeit sind vom Betrachtungsstandpunkt entweder der Zeit oder des Menschen abhängig. Untersuchungen zum Zeitempfinden im Alter verdeutlichen, dass die Zeit scheinbar schneller vergeht und sich die Geschwindigkeit erhöht, da kaum mehr neue Erfahrungen zu machen sind, die eine hohe Bedeutung in der Beurteilung bekommen. Draaismas Ergebnisse bezogen auf den Reminiszenzeffekt scheinen ernüchternd für denjenigen oder diejenige, die davon ausgehen, ein kontinuierlich ereignisreiches Leben zu führen. Jeder Mann und jede Frau würde sogleich dagegen argumentieren und sogleich in der Lage sein, eine Vielzahl an für ihn oder für sie bedeutenden Ereignissen zu nennen, die nach dem Zeitpunkt des Reminiszenzeffektes von Bedeutung für das Leben waren. Draaisma selber bietet unterschiedliche Erklärungsmuster für dieses Ergebnis an, dies Phänomen ist nicht so eindeutig (er)klärbar. Würde dieselbe Untersuchung mit heute 30 Jährigen in 50 Jahren durchgeführt, könnte dabei eine Verschiebung des Reminiszenzeffektes herauskommen, weil sich bei heute 30Jährigen nicht alle bedeutende Ereignisse wie z.B. Berufserwerb, Eintritt in Erwerbstätigkeit, Heiraten, Nachwuchs planen und bekommen innerhalb eines überschaubaren Zeitrahmens von 10 Jahren ereignen, sondern über eine viel längere Phase hin angelegt sind. Dieses könnte so sein, bleibt jedoch vorerst Spekulation. Die Ergebnisse Draaismas haben eine weitreichende Bedeutung für das Verhältnis der Geschwindigkeit, der Erlebnisse und Erfahrungen des Lebens sowie deren Bedeutungshorizont. Es stellt sich die Frage, ob nicht die Bedeutung der gesamten Lebensspanne viel mehr in den Vordergrund treten könnte, um zu verdeutlichen, wie sehr nicht die eine oder die andere Lebensphase entscheidend oder bedeutender ist, sondern alle Lebensphasen einen gleich hohen Stellenwert haben. Die unterschiedlichen Lebensphasen sind bisher nicht 73
gleichwertig in Bezug auf die Erwartungen, Ansprüche und die Verwirklichung einer bestimmten Lebensqualität, die jeder Mann und jede Frau für die einzelnen Phasen formulieren könnte. Ziele und Erwartungen für das eigene Leben zu entwickeln, ist abhängig von der eigenen Bewusstwerdung, die wiederum abhängig ist von dem erreichten Bildungs- und Berufsstand, dem Einkommen zur Verwirklichung bestimmter Ziele und nicht zuletzt dem Alter. Die Geschwindigkeit, mit dem das Alter schneller vergeht, ließe sich drosseln, indem das Leben nicht in der Rückschau nach bedeutungsvollen Ereignissen eingeteilt würde, sondern im Vorlaufen oder Vordenken des Lebens. Das bedeutet, man müsste sich viel mehr damit auseinandersetzen, einen Bewusstheits- und Bedeutungsprozess in Richtung Zukunft einzuleiten und eines Lebens, das weitgehend an den eigenen Erwartungen und Bedürfnissen ausgerichtet ist. Das gilt es zu erlernen: das Leben zu leben, in der Zeit, die einem gegeben ist (vgl. Wolf 1987). So könnte ein Zielhorizont gefunden werden, den es weiter zu differenzieren gilt. Die besondere Herausforderung für Reflexionen zum Themenkomplex Alter ist nicht nur die Bedeutung des Lebens, sondern wiederkehrend betrifft es die Frage nach der Zeit und der Gestaltung des Alternsprozesses in der Zeit. Dabei geht es auch um den Stellenwert der Zeit in einem aktiven Bewusstheitsprozess über die Erwartungen an das eigene Leben. Powers verdeutlicht dieses, in dem er der Zeit ihre Bedeutung entzieht und die eigene Gestaltung der Menschen in dem Lebensprozess hervorstellt. „Pa sagt, die Zeit existiert nicht. (…) ‚Wir spüren einen Fluss. Aber in Wirklichkeit gibt es nur den Ozean. (…) Es gibt kein Werden. Es gibt nur das Sein. (…) Wir sind es, die Abläufe erschaffen. Wir erinnern uns an die Vergangenheit und sagen die Zukunft voraus. Wir haben das Gefühl, dass die Dinge sich in eine bestimmte Richtung entwickeln. Wir erfinden eine Ordnung des Vorher und Nachher. (…) Ob der Schläger den Ball nach vorn schleudert oder der Ball den Schläger nach hinten, läuft aufs Gleiche hinaus. Das verstehen wir unter einem berechenbaren System. Einer deterministischen Welt. Die Zeit verschwindet, eine überflüssige Variable. Auch bei Einstein. Eine einzige Gruppe von umkehrbaren Gleichungen macht für uns den Ozean zum Fluss. Setzt man für einen beliebigen Augenblick einen Wert ein, so kennt man die Koordination aller anderen Augenblicke, davor und danach. Wir sagen, dass die Gegenwart die Zukunft bestimmt. Aber ist das nicht ein komischer Gedanke? (…) In mathematischer Hinsicht, meine ich. Genauso gut könnte man sagen, dass die Gegenwart die Vergangenheit bestimmt hat. Es ist ein und derselbe Weg, gleich, in welche Richtung man ihn geht. (…) Und das heißt nicht, dass das Schicksal vorherbestimmt ist. Auch der Gedanke ist viel zu tief in der Vorstellung vom Fluss der Zeit verankert“ (Powers 2004, S. 110). Die Auseinandersetzung mit Zeit kommt je an einen Punkt, an dem die Frage der Zeit qualitativ existenziell gestellt wird und es nicht mehr ausreicht, sie quantitativ naturwissenschaftlich, jenseits einer Verbindung mit dem individuellen Leben eines jeden zu bearbeiten. Die Naturwissenschaftler Lightman (1994) und Powers (2004) wechselten die Perspektive; beide ursprünglich aus der Physik kommend, haben sie sich in Form eines Romans mit dem Aspekt der (Lebens-)Qualität im Zeitzusammenhang beschäftigt. Sie verließen ihre ursprüngliche Perspektive zugunsten einer literarischen Auseinandersetzung und „belebten“ ihre Überlegungen zur Zeit mit erfundenen Lebensgeschichten. Aus der philosophischen Perspektive stellt Mercier, der Name steht als Pseudonym für den Schweizer Philosophen Bieri, die existenziell-qualitative Frage nach der Vollständigkeit und Ausgefülltheit eines Lebens sowie der Entscheidung für ein „richtiges“ Leben (vgl. Mercier 2004). Auseinandersetzungen mit der Zeit führen, so wird deutlich, unabhängig von ihrer Perspektive, dazu 74
sie in einen Zusammenhang mit dem Leben von Menschen zu sehen und hierin festzulegen. Es bleibt die Entscheidung auf der Basis des Wissens um die Multiperspektivität der Zeit und damit die Herausforderung, sich jeden Moment des eigenen Lebens die unterschiedlichen Perspektiven der Zeit zu eigen machen zu können. Mit dem bisherigen Wissen um die Relativität und Pluralität der Zeit wird deutlich, es kann kaum ein allgemeingültiges Zeitverständnis geben, weder subjektiv noch objektiv. Es gibt eine Vielzahl an unterschiedlichen Zeiten und es könnte bedeuten, jeder lebt auch nach seiner eigenen Zeit, früher oder später. Dieses wiederum hätte zur Folge, jede Frau und jeder Mann ist herausgefordert, zu entscheiden, welche Richtung, welche Tiefe, welche Geschwindigkeit und eventuell welche Form das eigene Leben in der Zeit haben müsste. Im Rückbezug auf den Lebensprozess eines alternden Menschen und seine Zeitverständnisse bedeutet dies, mindestens zwei unterschiedliche Zeiten beeinflussen das Leben, wenn sie es nicht sogar bestimmen. Das eine Zeitverstehen ist der Übergang eines erwerbstätigen Menschen, der mit der Verrentung in eine neue Lebensphase eintritt, in der das Motto in etwa lautet: „Nicht mehr müssen, sondern nur noch wollen.“ Damit ist die über die Verrentung vollständige Loslösung aus allen gesellschaftlich relevanten Zeiten gemeint. Für die verrenteten Männer und Frauen beginnt die Suche nach einem neuen Zeitempfinden oder die Rückbesinnung auf das je subjektive Zeitverstehen. Mit einem neuen Zeitverstehen und –empfinden entsteht eine neue Lebensqualität, die Bedrohung und Befreiung zugleich sein kann. Mit fortschreitendem Alter und evtl. zunehmender Hilfe- und Pflegebedürftigkeit und Zuständigkeiten der Pflegeversicherung kommt eine bisher nicht da gewesene Abhängigkeit von Zeitkorridoren in das Leben eines Menschen, die ihn vollständig von jeglichem eigenen Zeitempfinden und –verstehen loslöst sowie jeder Verantwortung seines bisherigen Lebens entzieht. Mit Hilfe- und Pflegebedürftigkeit muss das neu erworbene und gelebte eigene Zeitempfinden bzw. Zeitverstehen der älteren Menschen zugunsten einer allgemeingültigen Zeit, die durch die Pflegeversicherungsbedingungen vorbestimmt ist, aufgegeben werden. Die Entmündigung und Entwürdigung eines hilfe- und pflegebedürftigen alten Menschen im Hinblick auf seine eigene Lebenszeit und den Dingen, die hierin eine Bedeutung erlangt haben, zeigt sich vor dem Hintergrund der bisherigen Bedeutung und Reflexion von Zeit noch einmal besonders deutlich. Die Qualität der Zeit bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit im Alter muss mit dem Bild von der Zeit vergleichbar sein, die zum Raum wird durch ihre Länge und Zähigkeit, mit der sie vergeht. Individuell und gesellschaftlich reflektierte Alternsprozesse zu gestalten, bedeutet die Durchdringung der Zeit, die nie einfach nur Zeit ist. Ganz im Gegenteil wird sie vom Ausgangspunkt des bloßen steten Vorhandenseins zu einer höchst diffizilen und für das Leben jeden Einzelnen bedeutenden Dimension. Das Altern in seinen Ausdifferenzierungen zeigt, Zeit im Alter wird zu einem Schwerpunkt des Lebens, mit der Besonderheit, je nach Lebenslage, entweder als viel zu lang empfunden zu werden oder als etwas, von dem man nicht genug hat und definitiv noch mehr benötigt. Für das Altern in der Gesellschaft ist es von Bedeutung, differenzierte Kompetenzen in der Auseinandersetzung mit der Zeit zu erlangen, um über Zeitverstehen, Zeitempfinden und Zeitverändern, aktiv sein Leben im Alter gestalten zu können: Alte Menschen müssen sich vielmehr als jemals zuvor im Leben für eine eigene Geschwindigkeit, Richtung, Form und Tiefe der zu lebenden Zeit entscheiden und danach leben. Es geht darum, Bedingungen und Möglichkeiten für ein aktives, gestaltendes und lebendiges Altern zu entdecken und gesellschaftlich durchzusetzen.
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Zwischen Teil I und Teil II: Zeit im Übergang – Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft und ihre Auswirkungen auf die Zeitordnung der Gesellschaft
In Teil I wurde begonnen, Alter und Alterungsprozesse in Bezug zu Zeit und Zeitverläufen zu sehen, ihre Verbindungen sichtbar zu machen und dabei wurde die wechselseitige Bedingtheit von Zeit und Alter herausgearbeitet. Mit der Ökonomisierung der Zeit entstand auch die gesellschaftliche Zeitform des Alters und des Alterns als Prozess. Beides befindet sich ständig in Bewegung und vor allem beinahe im vollendeten Übergang zu etwas Neuem: Zeit und Zeitverwendung verändern sich gesellschaftlich vor allem mit der Veränderung der Erwerbsarbeitsverhältnisse, die nicht mehr überwiegend industriegesellschaftlich strukturiert sind. Die Mehrheit der Erwerbsarbeitsverhältnisse ist inzwischen dienstleistungsgesellschaftlich organisiert, was direkte Auswirkungen auf die Sichtweise und Einschätzung aktueller Alterungsprozesse hat. Das Leben der gegenwärtig alten und ins Alter übergehenden älteren Menschen ist noch mehrheitlich von industriegesellschaftlichen Zeitmustern geprägt und es ist davon auszugehen, dass sie auch nach den erlernten Mustern altern. Gleichzeitig werden sie von dem aktuellen gesellschaftlichen Zeitverstehen aus eingeschätzt und bewertet. Dies könnte von Bedeutung für die Reflexion und weiteren Überlegungen für den Zusammenhang von Lebensqualität und Zeit im Alter sein. Zeiher verdeutlicht mit ihren Überlegungen für Kinder und deren Zeitbedarfe die individuelle Abhängigkeit eines Lebensalters von der dazugehörigen Arbeitswelt. Die Vorstellungen über die Qualität des Zeitbedarfs von Kindern haben in allen Epochen dem aktuellen Zeitgebrauch der je aktuellen Arbeitswelt entsprochen. „Im Industriezeitalter wurde die strikte Anpassung an vorgegebene Zeitstrukturen verlangt, in der Schule wie beim Stillen der Säuglinge. Es herrschte die Überzeugung, dass Kinder feste Alltagsrhythmen, insbesondere eine feste Zeitordnung für Essen und Schlafen, benötigten. In den späteren 60er Jahren, als sich der Dienstleistungssektor rasch vergrößerte und Individualisierungsprozesse tradierte Normen der Lebens- und Alltagsverläufe der Menschen außer kraft setzten, entwickelte sich eine entgegengesetzte Vorstellung: Kinder könnten und sollten ihre Zeit selbst regulieren, nach Möglichkeit ohne Eingriffe von außen. (...)“ (Zeiher 2004, S. 5). Nach Raasch zeichnet sich in den hochentwickelten westeuropäischen und nordamerikanischen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften am Ende des 20. Jahrhunderts gleich in mehrfacher Hinsicht eine grundlegende Zeitenwende ab. Das bisher dominante „Zeitkorsett“ dieser Gesellschaften begann sich aufzulösen. Aus Sicht der Individuen kollidieren zunehmend divergente Zeitanforderungen aus verschiedenen Lebensbereichen. Die Menschen leben zum Teil freiwillig und zum Teil gezwungen stärker „in den Brüchen der Zeit“. Dabei ist für Raasch die Erkenntnis von Bedeutung, bisher würden zwar neue Zeitmuster partikular und auch individuell erprobt, ohne jedoch deutlich zu erkennen, wohin diese Entwicklung gesamtgesellschaftlich künftig gehen wird. Der alte gesellschaftliche Zeitvertrag ist faktisch ausgehöhlt und inzwischen auch formell aufgekündigt. Dies wurde mit dem Arbeitszeitgesetz von 1994 begonnen und lässt sich an den betrieblichen Regelungen zur Arbeitszeit und ihren Möglichkeiten zur Flexibilisierung der Arbeitszeit nachweisen. Nach Raasch ist ein neuer Zeitvertrag noch nicht in Sicht, da bisher eine neue rechtlich abgesicherte zeitliche Balance zwischen Erwerbsbereich und Privatbereich fehlt (vgl. ebd. 1998, S. 7). Diese Balance erneut herzustellen und ihre Wichtigkeit für die Lebensqualität aller an Gesellschaft Beteiligter zu berücksichtigen, stellt eine große Herausforderung dar, bedingt durch vor allem die Erwerbsarbeitsverhältnisse in einer Dienstleistungsgesellschaft. Die Zeitordnung der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft wird von Geißler plakativ umrissen. Weder Zeiten noch Orte bieten Orientierungspunkte; sie werden überflüssig als Kennzeichen im Leben eines Menschen. „Die Zeit hat ihren Ort verloren und der Ort hat 78
seine Zeit verloren. Rund um die Uhr und beinahe an jedem Ort können wir heute einkaufen und verkaufen. Demnächst wird es möglich sein, je nach Bedarf, und das heißt nichts anderes als unabhängig von aller Uhrzeit, die spontan gewünschten Programmangebote im Fernsehen abzurufen. (...) Orte und Zeiten werden flexibler. (…) Beratung etwa kann neuerdings überall stattfinden, nicht nur in den dafür vorgesehenen Räumlichkeiten und nicht nur zu den vereinbarten Zeiten. Für viele tausend andere Aktivitäten gilt dies ebenso. Die Entgrenzung von Raum und Zeit beherrscht die Dynamik der Lebensverhältnisse. Das gilt auch im ursprünglichen Wortsinn. Ohne den Fuß vom Gaspedal nehmen zu müssen, können heute die Staatsgrenzen der EU passiert werden. Weitgehend entortet ist zudem das, was man kauft, was erfahren und erlebt wird. Das orts- und das zeitgebunden Spezifische verkommt hingegen zunehmend zur Folklore“ (Geißler 2004, S. 7). Geißler betont, die Entgrenzungen des Örtlichen und des Zeitlichen würden auch das Angebot inhaltlich in fundamentaler Art und Weise beeinflussen. Am Beispiel von Tankstellen macht er deutlich, wie diese ihren Umsatz inzwischen mit Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des täglichen Bedarfs reinholen und nicht mehr nur mit dem Verkauf von Kraftstoffen und die Autopflege betreffende Dienstleistungen. „Folge ist, dass Tankwarte inzwischen mehr Brötchen backen als die dafür ausgebildeten Bäcker“ (Geißler 2004, S. 7). Diese Vergleichzeitigung der „Unordnung“, so Geißlers Bezeichnung, bringt die höchsten Wachstumsraten beim Umsatz und verspricht bei Käufern und Verkäufern die attraktivsten materiellen und immateriellen Profite (vgl. ebd. 2004). Die Entgrenzung von Zeit und Ort hat Nachteile, die nicht von sich aus in ihren Auswirkungen sichtbar sind. Die bisherigen traditionellen Trennlinien werden porös und es lassen sich in der Gesellschaft nur mühsam die Abgrenzungen von Arbeit und Nicht-Arbeit sowie zwischen Privatem und Öffentlichem finden. Ein orts- und zeitloses Netzwerk ist an die Stelle bisheriger Trennlinien getreten. „Mit Computer, Fernseher, Telefax, Mobiltelefon, Laptop und anderen Geräten mehr wird der Abschied vom Privatleben eingeleitet und vorangetrieben. So fanden noch bis vor nicht langer Zeit Telefongespräche in abgeschlossenen Räumen und Zellen statt, die der Privatheit Schutz boten. Die passive Teilnahme an der jeweiligen fernmündlichen Unterhaltung galt noch vor kurzem als grobe Verletzung der Intimsphäre. Das hat sich seit der Verbreitung des Mobiltelefons gründlich geändert“ (Geißler 2004, S. 8). Neue Technologien beeinflussen auch auf die Erwerbsarbeitsverhältnisse in ganz neuer Weise. Raasch bezeichnet diese Entwicklung als eine neue Entgrenzung von Arbeitszeit und Freizeit, dieses wurde in unterschiedlichen Zusammenhängen deutlich. Das hängt mit der Nutzung der neuen Technologien im Privatbereich zusammen. In einer Untersuchung von Wuttke/Wuttke stellte sich heraus, dass gerade Männer, in einer Mischung aus Spaß an der Technik und beruflichem Engagement nahezu unbemerkt typische bisherige Erwerbsarbeit unbezahlt, nebenbei am häuslichen PC leisten (vgl. Raasch 1998). Geißler bezeichnet den privaten Raum als Spannungsfeld zwischen konkretem und globalem Raum, der ebenfalls mit einer neuen Zeitstrukturierung einhergeht. „Die ‚Privat’Wohnung hat sich zu einem konflikt- und entscheidungsreichen Spannungsfeld zwischen globalem Raum und konkretem Ort des sozialen Lebens gewandelt. Geschäfte werden, nicht immer zur Freude anwesender Familienmitglieder, jederzeit vom Wohnzimmer aus getätigt. Die Arbeit wird nicht selten mit nach Hause genommen oder kommt auf elektronischem Weg aus dem Büro. (...) Die Statistiken zeigen, dass jeder/jede Dritte diese Art der Entgrenzung praktiziert. Zahlen aus Amerika belegen, dass 23% der dortigen Internet79
Nutzer am Wochenende zu Hause ihre berufsbezogenen Mails lesen und 42% dies sogar in ihrem Urlaub tun“ (Geißler 2004, S. 9). Es lässt sich zusammenfassen, das soziale Leben ist nicht mehr länger nur durch örtlich spezifische Zeitgestaltungen geprägt. Zunehmend werden die Zeitbedarfe externer und entgrenzter Kommunikationspartner relevanter, die die Privatheit der eigenen vier Wände wiederum einer Dauerpräsenz ausliefern (Geißler 2004, S. 9). Geißler zufolge ist solche Entwicklung, die Ausweitung der Arbeit ins Private im Hinblick auf die Lebensqualität katastrophal, da eine „bisher nicht gekannte Koordinationsakrobatik von unterschiedlichen Zeitansprüchen“ (ebd.) zu balancieren ist. Die Technologien und ihre Nutzung ermöglichen ein Heraustreten aus jeglichen Ordnungsprinzipien, die Gesellschaften als traditionelle, soziale und/oder biologische Rhythmen kennen und auch Takte, die durch die Uhr vorgegeben sind, werden überflüssig (vgl. Geißler 2004, S. 9). Raasch macht zudem darauf aufmerksam, der Computer werde nicht nur als Arbeitsmittel eingesetzt, sondern kann zu einem dominanten Kommunikations- und Spielpartner werden, der bisherige zwischenmenschliche Kommunikation sowie Teilhabe am außerhäuslichen Freizeit- und Kulturgeschehen zurückdrängt und spezifische Partnerschaftsprobleme aufwirft (vgl. Raasch 1998). Raasch hebt in ihrer Analyse aktueller Zeitstrukturen in der Erwerbsarbeitswelt die Entwicklung eines neuen Zeittypus hervor, der durch gesellschaftliche Umbrüche, dem Wandel der Erwerbsarbeitsgesellschaft, Individualisierung und Pluralisierung der Lebenslagen etc. entstanden ist. Sie bezeichnet ihn als „Zeit für mich“-Zeittypus. „Vielleicht wird es in einer immer komplexeren und immer schnelllebigeren Gesellschaft künftig sogar unerlässlich, sich individuelle Auszeiten zu nehmen: Zeit für Regeneration, Besinnung und Neuorientierung. (…) Allen war solche Zeit wichtig. Alle verstanden jedoch auch persönlich etwas anderes darunter“ (Raasch 1998, S. 10f). Durch die Auflösung der Arbeitszeiten in der Dienstleistungsgesellschaft werden gleichzeitig Forderungen der Beschäftigten laut, die ein Bedürfnis nach persönlicher Zeitsouveränität haben und einfordern. Dabei ist insbesondere zu beachten, dass diese nicht von sich aus zeitlich zusammenfallen. Zeitsouveränität bedarf spezifischer, stark auf die konkreten betrieblichen Gegebenheiten abstellende rechtliche Absicherung. Wenn die Regelung ausbleibt, kommt Arbeitszeit unvorhersehbar ins Gleiten und es droht der Rückfall in geschlechtsspezifische Arbeitsteilungen des alten Familien-Ernährer-Hausfrau-Modells (vgl. Raasch 1998). Zeiher hebt in diesem Zusammenhang hervor, die Erwerbsarbeit und die Privatheit als „alltägliche Lebensführung“ folgen unterschiedlichen Zeit-, Beziehungs- und Handlungslogiken. Erwerbsarbeit ist marktförmig organisiert und die Sorge um das Wohl von Menschen eben gerade nicht. Daraus folgt ein Zeitdilemma: „Das Problem liegt freilich nicht nur in der Zeitkoordination der komplexer gewordenen alltäglichen Lebensführung. Es besteht vor allem darin, dass die beiden Arbeitsbereiche andere Zeit-, Beziehungs- und Handlungslogiken haben. Sorgen für das physische und emotionale Wohl von Menschen ist nicht vergleichbar mit marktförmiger Erwerbsarbeit und auch nicht auf diese Weise organisierbar. Wenn das Sorgen für Kinder, Kranke und Alte in die Arbeitswelt verlagert wird, wird es in Teilarbeiten zerlegt, die zeitlich und personell voneinander getrennt stattfinden. Damit wird die Ganzheitlichkeit der familialen Sorge aufgehoben. Als Erwerbsarbeit wird das Sorgen formal organisiert und marktgemäß rationalisiert. Die Zeitlogik der Ökonomie dringt damit in Lebensbereiche ein, die bislang davon ausgenommen waren. Doch Sorgearbeit lässt sich nicht ohne Qualitätsverlust rationalisieren“ (Zeiher 2004, S. 3). 80
Zeiher macht damit auf die Besonderheiten personenbezogener Dienstleistungsarbeit in Pflege, Erziehung und Sozialem aufmerksam, die eben gerade nicht marktförmig organisiert werden kann, weil Zeiten der Sorge, Pflege und Erziehung eben nicht zerteilbar sind und ganzheitlich erbracht erfolgen müssen. Sorge, Pflege und Erziehung, die entweder familial oder in Form von Erwerbsarbeit getan wird, kann nur qualitätsvoll sein, wenn sie der eigenen Zeitsouveränität folgend durchgeführt werden kann. Mit der Entgrenzung der Erwerbsarbeit, folgert Geißler, ist der Alltag insgesamt zunehmend nicht mehr von Arbeit zu unterscheiden und kann nicht mehr als das deutlich andere wahrgenommen werden. „So nimmt der Alltag, auch jener, der sich zu Hause abspielt, zunehmend die Merkmale von Arbeit an. Dies mit dem Effekt, dass sich schließlich auch Arbeit und Freizeit entgrenzen und vermischen“ (Geißler 2004, S. 9). Die Untersuchungsergebnisse der amerikanischen Soziologin Hochschild illustrieren Geißlers Aussage des Verschwimmens von Arbeit und Privatheit zu Nicht-Arbeit. Die verbleibende private Zeit gerät unter Veränderungsdruck, da die private Zeit den Anforderungen aus der Arbeitswelt wohl oder übel nachgeordnet wird. Damit gewinnen diese auch über das Privatleben größere Macht. Hochschild beschreibt in Fallstudien erwerbstätiger Eltern, wie sich die Zeiten der Beziehungspflege und Sorge im Familienalltag zunehmend verringerten, weil sich Zeitmangel, Segmentierung und Effizienzsteigerung innerhalb der knappen Zeit, die für die Kinder vorhanden war, wechselseitig so sehr verstärkten. Als Folge davon „flohen“ die Eltern regelrecht aus den häuslichen Zeit-Anstrengungen in mehr Erwerbsarbeit. „Während die Arbeitsplätze immer attraktiver wurden, zog zu Hause das aus der Arbeitswelt verschwundene tayloristische Arbeitszeitregime ein: auf subtilen Wegen mit dem Einverständnis der Menschen, ohne Zwang“ (Zeiher 2004, S. 4). Unter Taylorisierung der Privatheit wird hier verstanden, dass „die zeithungrige Mutter“ (Hochschild 2002) sich häufiger gezwungen sieht, zwischen der eigenen Elterntätigkeit und dem Kauf einer anderen Person zu wählen, die diese Tätigkeit für sie ausführt. Familien finden ein zunehmend breiteres Angebot an Gütern und Dienstleistungen vor, auf das zurückgegriffen werden kann, um den Anforderungen in der Erwerbsarbeitswelt gerecht zu werden. Hochschild bezeichnet die Mutter als „Managerin, die das Outsourcing von Teilen des Familienlebens überwacht und koordiniert“ (Hochschild 2002, S. 254). Das häusliche Leben wird zur Ware und dieser Trend scheint sich selber zu verstärken. Frauen bilden die Mehrheit unter den ExistenzgründerInnen in der amerikanischen Wirtschaft. Und dort ist der größte Wachstumssektor die Selbstständigkeit. Frauen gründen kleine Firmen, um viel beschäftigten berufstätigen Müttern alle möglichen Aufgaben abzunehmen. „Manche Frauen konsumieren Produkte der Zeitindustrie, um ihrerseits eine Arbeit aufnehmen und immer mehr solcher Produkte an andere Frauen in ähnlichen Situationen verkaufen zu können“ (Hochschild 2002, S. 254). Diese kleinen Firmen bieten Ersatzprodukte für Familienaktivitäten an. Ferienlager für Kinder oder Seniorenheime für die Alten sind nur zwei Beispiele und doch gelten sie als akzeptable Bestandteile modernden Lebens. Es kommen mehr und mehr neue Produkte und Konzepte hinzu, die kleinere Zeitsegmente und Aktivitäten aus dem Familienleben herausbrechen und der Familie, gegen Bezahlung als fertige Güter und Dienstleistungen bereitstellen. „In manchen Gegenden der USA kann eine Familie inzwischen morgens telefonisch ein Abendessen in den Kindergarten bestellen und abends zusammen mit dem Kind abholen. (...) Eine Zeitung berichtet, dass manche Kindergärten auch die Freizeitplanung für ein Kind übernehmen und zum 81
Beispiel seine Termine für das Schwimmbad oder den Sport vereinbaren und auch für den Transport dorthin sorgen“ (Hochschild 2002, S. 251). Es ist der Versuch, der Zeitfalle der entgrenzten Erwerbsarbeitsverhältnisse zu entkommen, wenn sich über den Einkauf von Tätigkeiten und Dienstleistungen Zeit erkauft wird. Frauen werden jedoch dadurch in zunehmend tiefere Widersprüche verwickelt, so die Erkenntnisse Hochschilds. Sowohl Männer als auch Frauen nehmen die auf die Familie übergreifende Beschleunigung auf und widersetzen sich nicht. Überwiegend wird die Hausund Familienarbeit nach wie vor von den Frauen erbracht und in der Zuständigkeit der Frauen gesehen und so ist auch ihr „Zeithunger“ größer als bei den Männern. „Frauen empfinden die Notwendigkeit, Zeit zu sparen, stärker und erliegen daher auch eher den Verlockungen durch die Güter und Dienstleistungen einer expandierenden ‚Zeitindustrie’. Sie sind die eigentlichen Zeitkäuferinnen“ (Hochschild 2002, S. 251). Für Oechsle stellt sich vor dem Hintergrund der privaten Taylorisierung die Frage nach dem wechselseitigen Einfluss. „Parallelen zu der von Hochschild beschriebenen Taylorisierung des Familienlebens sind nicht zu übersehen. Beschränkt sich dieser Prozess der Entgrenzung von Arbeit aber darauf, dass ‚arbeitsweltliche Forderungen an die Lebenswelt gestellt werden’ oder ziehen nicht ebenso ‚lebensweltliche Anforderungen in die Arbeitswelt’ ein (Döhl u.a. 2001, S. 228) – in Form von sozialen Kompetenzen, Teamarbeit und Anerkennung?“ (Oechsle 2002, S. XIII). Es kommt allmählich zu einer wechselseitigen Durchmischung beider Bereiche und das bedeutet, die eher nicht-sichtbare Sorge-, Erziehungs- und Pflegearbeit steht in der Gefahr, noch weniger als zeitaufwendige und qualitätsvolle Arbeit wahrgenommen zu werden, da sie als selbstverständliche Kompetenz einer Person in der Arbeitswelt erwartet wird. Kennzeichen der Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft sind neben der sich auflösenden Trennung von Arbeits- und Nicht-Arbeitszeit das Verschwinden der Notwendigkeit eines Arbeitsortes: Arbeit ist aufgrund neuer Medien und Technologie jenseits von Ort und Zeit möglich. Die Ökonomisierung der Zeit hat damit eigentlich die Linearität überwunden und ist nicht mehr greifbar. Dazu kommt die Erhöhung der Geschwindigkeit, die sich mit der Durchsetzung der Virtualität in der Arbeitswelt, also als Überwindung von Zeit und Raum, zeitgleich weiter durchsetzte. „Die Beschleunigungsgesellschaft ist unschwer an den Maximen ihrer Ökonomie auszumachen. Mobilität, Flexibilität und ständige Erreichbarkeit kennzeichnen erfolgreiche Arbeitnehmer mit Karrierechancen“ (Hewener 2004, S. 30). Strukturelle Auflösungsprozesse im Hinblick auf Erwerbsarbeit, die zu jeder Zeit und an jedem Ort möglich ist, auf der einen Seite, sowie Zeiten und Zeitsouveränität für Sorge-, Pflege-, Sozial- und Erziehungsprozesse, die nur im Raum und mit ausreichend Zeit qualitativ hochwertig erbracht werden können, auf der anderen Seite, zeichnen aktuelle gesellschaftliche Prozesse aus. Die Gefahren der Taylorisierung der privat-familial und professionell zu erbringenden personenbezogenen Dienstleistungsarbeit arbeitete Hochschild in Bezug auf familienfreundliche Unternehmen im amerikanischen Raum differenziert heraus. Diese Ergebnisse sind äußerst bedenkenswert und taugen zur Skandalisierung in Bezug auf die zeitliche Auflösung der Familie und die daraus resultierenden Folgen, die für nachwachsende Generationen entstehen könnten. Die Taylorisierung der Familie gilt es zu verhindern und in ihren bisherigen Auswirkungen abzumildern, da diese Entwicklung langfristig dazu führen könnte, Familienzusammenhänge überflüssig werden zu lassen.
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In Bezug auf die nachwachsenden Generationen ist der Zusammenhang zwischen der Qualität der Zeit und Erziehung in der Zeit ein wenig selbstverständlicher und offensichtlicher zu sehen, während bei der älteren bereits aus der Erwerbsarbeit ausgeschiedenen Generation die Taylorisierung zumindest in Bezug auf die Hilfe- und Pflegebedürftigkeit nahezu abgeschlossen erscheint. Die unterschiedlichen Angebote der Altenhilfe wie z.B. Essensbringdienste, hauswirtschaftliche oder ambulante pflegerische Hilfen, unterschiedliche Wohnformen mit angeschlossenen abgestuften Betreuungsformen zeigen, die gesellschaftliche Bedeutung der älteren Menschen und die Zeit, die für sie aufgewendet wird, ist bereits erfolgt. Die Pflegeversicherung mit ihren eingeteilten Zeitkorridoren für bestimmte Tätigkeiten, die eine qualitätsvolle Pflegearbeit kaum zulässt, könnte in dieser Sichtweise als Höhepunkt des Taylorisierungsprozesses in Bezug auf die Hilfe und Pflege alter Menschen in der Gesellschaft betrachtet werden. Die Entwicklung der Erwerbsarbeitsgesellschaft mit zunehmend entgrenzteren Erwerbsarbeitsverhältnissen fordert insbesondere dazu auf, genauer auf die Zeiten der Jungen und Alten zu schauen. Darüber hinaus wird zunehmend die Auseinandersetzung dringlicher, wer in welcher Weise Sorge-, Pflege- und Erziehungsprozesse erbringen und Zeit dafür bekommen wird. Es stellt sich also die Frage nach der Gestaltung und Zuständigkeit familialer Sorge-, Pflege- und Erziehungsprozesse und wem welche Zeiten gesellschaftlich zugestanden werden, um sie für sich auszufüllen. Zeit im Alter außerhalb von Beschleunigung und Überfüllung zu denken und zu gestalten, ist die zentrale gesellschaftliche Herausforderung. Die Älteren hingegen sind aufgefordert, sich dem Geschwindigkeitsrausch und der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung entweder zu entziehen oder es gelingt, mit dem demographischen Wandel die zeitliche Lebensqualität in die Gesellschaft zurückzubringen.
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Teil II: Die Bedeutung des Alterns in der Zeit – Veränderung der Zeit
5 Qualität der Zeit: Zeit kommt – Zeit vergeht – Zeit entsteht
Die zeitliche Herausforderung der meisten Tage im Leben besteht, solange Menschen in Erwerbsarbeitsverhältnissen stehen, darin, möglichst jeden Augenblick produktiv zu sein. Die Zeit wird nach ihrer Produktivität vermessen und eingeschätzt und mit dem geltenden Rentensystem entscheidet das lebenslang erworbene Einkommen über die Höhe des Einkommens jenseits des Verrentungszeitpunkts. Selbst wenn ein Mensch nicht mehr erwerbstätig ist, hängt seine Lebensqualität davon ab, wie intensiv und produktiv die Zeit der Erwerbstätigkeit genutzt wurde. Produktivität erweist sich für den Verlauf des Lebens als weiterer Beschleunigungsfaktor. Mit dem Eintritt in die Rentenphase erfolgt eine Umkehrung der Anforderungen an das Leben: Zwangsläufig müsste die Frage aufkommen, wie ab jetzt jeder Augenblick gelebt werden sollte. Für die Zeit nach der Berufstätigkeit geht es um ein Überdenken und die Gestaltung einer neuen Verbindung der Zeit mit dem Leben in der Zeit, so dass eine neue Lebensqualität entstehen kann, ohne das bisherige Zentrum erwerbsarbeitsstrukturierter Tätigkeiten. Die Betrachtung der Qualität der Zeit im Alter erhält in den nachfolgenden Überlegungen einen zentralen Stellenwert. Zeitforscherinnen und Zeitforscher setzen sich schon seit Mitte der 80er Jahre des 20. Jhds. dafür ein, eine neue Verteilung von Zeitarrangements quer und auch schwerpunktmäßig durch die Gesellschaft vorzunehmen: Sowohl auf den Raum bezogen, ein Dorf, ein Stadtviertel oder eine Region als auch in Bezug auf die Arbeits-, Lebens-, Bildungszeit, kulturelle, soziale und politische Zeit, die im Lebensort erbracht und genutzt wird. Dabei geht es vor allem auch um eine (neue) ökonomische Bewertung im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen „Umwegrationalität“ u.a. zu Fragen, welche positiven, auch ökonomischen Effekte, Investitionen in Aufwachsen, Leben, Altern, Verbleib im Gemeinwesen, Reproduktion, Bildung, Erziehung, Pflege für soziale und zivilgesellschaftliche Aktivitäten und die Zukunftsfähigkeit des Lebens haben könnten sowie umgekehrt welche problematischen und damit zukunftsbeeinträchtigenden Folgen unterlassene Investitionen haben werden (vgl. Karsten 2003). Die Frage nach der Gestaltung der Zeit beinhaltet auch die Frage, wie hoch der Stellenwert jedes Mitglieds und wie hoch sein Anspruch auf ein gutes Leben in der Gesellschaft eingeschätzt wird. Die Bedeutung der aktiv gestalteten Zeitordnung einer Gesellschaft stellt Levine als Beispiel eines reflektierenden Umgangs mit der Zeit in seinen Untersuchungen zum Lebenstakt und Tempo der Zeit vor. Quiche-Indianer, eine MayaNachfolgekultur geht es bei der Frage nach der Zeit vor allem darum, nicht die Quantität der Zeit zu berücksichtigen, sondern deren Qualität zu beurteilen. Quiche-Indianer leben in der Tradition, tief und sorgfältig über jeden Tag nachzudenken und es ist die große Herausforderung, herausfinden zu müssen, wie jeder Augenblick gelebt werden soll (Tedlock 1992 und Hall 1983 in: Levine 1998, S. 274). Im aktuellen, zukunftsorientierten Nachdenken im Sinne eines Bedeutungswandels von Zeit wird Heideggers Nachdenken über Zeit und ihr „unendliches Vorhandensein“ als ein Ausgangspunkt genommen, um Auswirkungen seines Denkens auf das Leben von Menschen zu reflektieren und abzuschätzen. Heideggers Überlegungen zur Kontingenz der Zeit 86
für menschliche Lebensentwürfe können sich als Wendepunkt im Reflektieren von Zeit erweisen. Konkrete Zeitwenden zeichnen sich im Hinblick auf neue Zeitmodelle und Ideen ab, die bereits in Projekten oder in spezifischen Regionen begonnen haben, die Zeit zugunsten einer neuen Lebensqualität für Menschen zu verändern. Die Überlegungen werden zentral, um älter werdenden Menschen in der Gesellschaft neue Gestaltungsperspektiven für neue Zeitempfindungszusammenhänge zu eröffnen. Es wird davon ausgegangen, bereits gelebte Zeit als eine Vielfalt an Erfahrungen und Erlebnissen zu betrachten, die in allen möglichen Kombinationen als Kontinuitäten oder Brüche im Leben eingeordnet, bewertet und weiter gelebt werden. Im Alter stellt sich noch einmal neu die Möglichkeit, das eigene Verhältnis zur Lebenszeit und Lebensgestaltung zu überdenken und zu einem aktiveren Verhältnis zur Zeit zu kommen, da jeder Tag Zeiten eröffnet, die von den Älteren gestaltet werden können. Als Eckpunkte einer neuen Einschätzung des Alternsprozesses in der Zeit, individuell und gesellschaftlich mit der Konsequenz einer aktiven Lebensgestaltung im Alter, können folgende Erkenntnisse eingeordnet werden:
In der Auseinandersetzung mit dem Sein hat Heidegger eine bedeutende Erkenntnis bezüglich des Lebens in der Zeit formuliert, die weitergedacht zu einem Richtungswechsel des Lebens zuerst in der Gegenwart und sodann in der Zeit führen könnte. Die Zeit nicht mehr als „vergehend“ zu betrachten und empfinden, sondern sich Zeit als für das eigene Leben „entstehend“ zu vergegenwärtigen und dies als Paradigmenwechsel für das eigene Leben zu erarbeiten, könnte bedeuten, sich selbst durch bewusstes Vorwärtsleben aktiv eine Zukunft zu schaffen. Die Auseinandersetzung mit Zeitforscherinnen und Zeitforschern zeigt keineswegs mehr eine gesellschaftliche Übereinstimmung über die Zeitstrukturen, sondern spiegelt die Forderung nach einer Zeit-Bewegung, die gesellschaftlich neue Zeitstrukturen etabliert. Einige davon werden hier vorgestellt und bezüglich ihrer „Alterstauglichkeit“ eingeschätzt. Wissen und neue Erkenntnisse im Zusammenhang mit der Hirnforschung und hierin die Entstehung des autobiographischen Gedächtnisses werden für die Erinnerungsfähigkeit mit zunehmendem Alter und anwachsender Vergangenheit von Bedeutung. Forschungen zur Altersweisheit, deren Ergebnisse als Selektion-Optimierung-Kompensation-Konzept von Baltes entwickelt wurden, stellen ebenfalls einen neuen zeitlichen Kontext im Lebensverlauf älterer Menschen her. Die Generationen lösen sich auf und bilden die Chance zu neuen inter- und intragenerativen Beziehungen. Böhnisch sieht ein Mehr an Beziehungen über die Auflösung der Generationen, die über die Organisation von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit weit hinausweisen.
Diese Elemente gemeinsam können dazu führen, aktive Lebensgestaltung im Alter und damit Zufriedenheit über ein frei gewähltes und ausgesuchtes Leben im Alter selbstverständlich werden zu lassen. Ausgangspunkt, um eine neue Qualität der Zeit im Leben eines älter werdenden Menschen denken zu können, stellen Heideggers grundlegende Erkenntnisse aus „Sein und Zeit“ (vgl. ebd. 1993) dar, die sich auf den pragmatischen Umgang mit der Zeit beziehen. Damit sei gemeint, Zeit nicht mehr als gegenständliche Struktur aufzufassen, sondern zu 87
einem Zeitverständnis zu kommen, in der die Zeit als kontingente Vollzugsform menschlicher Lebensentwürfe beschrieben ist (vgl. Sandbothe 1998, S. 130). Die Zeit würde somit von der zeitlichen Durchdringung des Leben eines jeden Einzelnen aus erfasst und von den Ereignissen und Aktivitäten, Vorstellungen und Verwirklichungen, die getan und gelebt, empfunden und eingeschätzt werden. Dabei ist das bewusste Sehen und Verstehen des „Kontingenten“ von Bedeutung, da diese Auffassung einen Endpunkt in sich trägt, der jedoch in neuer Einordnung zum Qualitätsgaranten von Lebensentwürfen entwickelt werden könnte. 5.1 Lebensqualität hängt von der Zeit ab: Zeit vergeht nicht – sie entsteht Zeitfülle oder Zeitknappheit im Leben hängen sowohl von der individuellen als auch gesellschaftlichen Bewertung und Einschätzung der Zeit ab und das Maß der Zeit ist damit ebenso auch von den Lebensumständen und der Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Lebensraum bestimmt. Levine unterscheidet in seinen Untersuchungen zur Zeit, wie dargestellt, Ereigniszeit und Uhrzeit; es finden sich Gesellschaften und Kulturen, die entweder mehr nach der Uhr leben, wie die westlichen Gesellschaften oder andererseits Kulturen im afrikanischen sowie z. T. asiatischen Raum, welche die Ereigniszeit als Basis ihres alltäglichen Lebens und Denkens verinnerlicht haben. Das Leben entlang der Ereigniszeit auszurichten, bedeutet, keine zeitlichen Festlegungen vorzunehmen, sondern den Geschehnissen so viel Zeit einzuräumen, wie sie brauchen. An der Uhrzeit ausgerichtete Menschen legen etwa für eine Verabredung den Zeitpunkt des Treffens fest und haben zudem eine in etwa zeitliche Begrenzung vorgesehen, wiederum u.a. auch abhängig von Öffnungszeiten verschiedener Einrichtungen oder dem Arbeitsbeginn am nächsten Tag. Für jemanden, der nach der Ereigniszeit eine Verabredung trifft, ist offen, wie lange die Verabredung dauern wird, sie ist einzig von der Einschätzung derjeniger abhängig, die sie gemeinsam gestalten. Es könnte also sein, dass die Verabredung sehr lange und von der Bewertung her als unterhaltsam eingeschätzt wird oder eben auch nur sehr kurz andauert, weil sie bestimmte Erwartungen nicht erfüllt. Gegenüber freier Entscheidung, nach welchem Zeitverständnis gelebt wird, hat sich ein festes Muster mittels wirtschafts- und kulturgesellschaftlicher Entwicklung durchgesetzt sowie über Sozialisation und Erziehung verselbstständigt. Dennoch lassen sich gegenwärtig, angesichts der Vielzahl an Reflexionen zu Zeit und Zeitempfinden, neue Perspektiven und Chancen für Veränderungen ausmachen. Mit einer reflektierenden Perspektive auf Zeit beginnt ein dynamisierender Prozess zugunsten der eigenen Zeitgestaltung. Heidegger hat die Zeit in den Blick genommen, da er sie für bedeutungsvoll im Hinblick auf seine Überlegungen des Seins gehalten hat. Für die philosophische Diskussion ist besonders hervorhebenswert, dass die radikale Reflexivität des modernen Zeitverständnisses auf jeweilig unterschiedliche Weise schon bei Kant und Heidegger fundiert wurde. Kant hat dabei, so Sandbothe, auf Zeit als ein quasi-gegenständliches Konstrukt, „Zeit als formale Anschauung“ hingewiesen. Hierin verbirgt sich jedoch, dass die Anschauung zu Zeit und Raum gehört und nicht dem Verstand zugeordnet wird. „Es ist dieses einheitlich-lineare Zeitkonzept, das sich ‚durch Analogien’ (Kant 1983, S. 81, B50 in: Sandbothe 1998, S. 5) am Leitfaden einer ‚ins unendliche fortgehenden Linie’ (Kant 1983, S. 81, B50 in: Sandbothe 1998, S. 5) beschreiben lässt und von Kant universalisiert und in seiner ‚empirischen 88
Realität’ (Kant 1983, S. 82, B52 in: Sandbothe 1998, S. 5) – nicht zuletzt im Blick auf die Physik Newtons – erkenntnistheoretisch legitimiert worden ist“ (Sandbothe 1998, S. 5). Heinrichs betont in seiner Auseinandersetzung mit Heidegger als Philosoph des Fordismus, dass es die Menschen selber sind, die etwas räumlich oder zeitlich betrachten. Raum und Zeit sind als menschliche Kategorien zu betrachten und haben somit keinen eigenen, vom Menschen unabhängigen Bestand. So gilt auch für Ordnung, Orientierung und Organisation, dass sie Funktionen menschlichen Lebens sind. „Philosophisch gesprochen, es handelt sich nicht um ‚ontologische’ Kategorien. Wenn es keine Menschen gäbe, würde es keinen Sinn machen, von ‚Raum’ und ‚Zeit’ zu reden“ (Heinrichs 1999, S. 50). Vor allem auch im Nachgang zu Heideggers Erkenntnissen aus „Sein und Zeit“ ist es zulässig, das hoch elaborierte Zeitbewusstsein, wie es in aktuellen Gegenwartsgesellschaften gelebt wird, als die Folge eines menschheitsgeschichtlichen Lernprozesses einzuschätzen. „Die ‚Zeit’ – nicht das Werden – ist ein sozialer Tatbestand. (…) Die ‚Zeit’ ist eine soziale Realität. Sie ist aber keine objektive Realität, kein von der Existenz von Menschen unabhängiger Gegenstand. Das Aufeinander-Abstimmen von Ereignissen (timen) ist ein menschliches Verhalten. ‚Zeit’ ist nicht eine a priori gegebene Bedingung menschlicher Erkenntnis. Es gibt nicht ‚Die Zeit’. Sie ist nicht, wie z.B. Kant gedacht hat, ‚die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt’ (Kritik der reinen Vernunft B51), die ‚Form des inneren Sinns’ (Kritik der reinen Vernunft B49), also eine Eigenschaft des menschlichen Erkennens überhaupt“ (Heinrichs 1999, S. 50). Heideggers Denken in Bezug auf Zeitlichkeit wird als in direkter Auseinandersetzung mit Kant entstanden, betrachtet. Dies führte dazu, sich mit der bei Kant offen gebliebenen Frage nach der Zeit als reiner Form sinnlicher Anschauung, die von Bergson und Husserl in die Frage nach der innerlichen Zeitlichkeit der Subjektivität umformuliert und bei Heidegger zur Frage nach der genuin praktischen Weise des zeitlichen Selbstentwurfs menschlicher Existenz wurde. Die Grundeinsicht Heideggers bezog sich auf das Dasein und sein In-der-Welt-sein: „Im Ich-sagen spricht sich das Dasein als In-der-Welt-sein aus“ (Heidegger 1979 in: Sandbothe 1998, S. 6). Heideggers Grundstruktur der Zeitlichkeit ist als eine Doppelbewegung zu beschreiben, ein in sich gedoppeltes temporales Geschehen, in der sich das Dasein sich selbst und der Welt öffnet. „Die erste Teilbewegung dieses Geschehens besteht im Vorlaufen in die Zukunft. Die zweite Teilbewegung im Zurückkommen auf die Gegenwart als einer von der Vergangenheit bzw. der ‚Gewesenheit’ her bestimmten Offenheit für die begegnende Welt“ (Sandbothe 1998, S. 6). Die gewesene oder besser als gewesende bezeichnete Zukunft entlässt die Gegenwart aus sich und dieses als gewesend-gegenwärtigende Zukunft einheitliche Phänomen nennt Heidegger Zeitlichkeit. Dies bezieht sich nicht auf eine durch inhaltliche Ziele bestimmte Zukunft, sondern um Zukunft schlechthin, „(...) die Kunft, in der das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen auf sich zukommt“ (Heidegger 1979 in: Sandbothe 1998, S. 6). Die Thematisierung der Zeit über die Feststellung, dass Zeit unendlich ist, verdeckt für Heidegger das bloße Vorhandensein der Zeitlichkeit an sich sowie die Existenz der Weltzeit. Zeit ist damit in einen Bezug gesetzt, der das Herausfinden weiterer sie beschreibender und bestimmender Bedingungen nicht mehr zulässt. Dazu gehört als notwendiger Ausgangspunkt, Zeit erst einmal als ununterbrochene Folge von „Jetzt“ zu betrachten. Und jedes „Jetzt“ ist nach Heidegger als ein „Sofort“ zu sehen. Das bedeutet für ihn als eine bedeutende Feststellung, in der Zeit weder ein Anfang noch ein Ende finden zu können. 89
Zeit ist unendlich. „Am eindringlichsten offenbart die Hauptthese der vulgären Zeitinterpretation, dass die Zeit ‚unendlich’ sei, die in solcher Auslegung liegende Nivellierung und Verdeckung der Weltzeit und damit der Zeitlichkeit überhaupt. Die Zeit gibt sich zunächst als ununterbrochene Abfolge des Jetzt. Jedes Jetzt ist auch schon ein Soeben bzw. Sofort. Hält sich die Zeitcharakteristik primär und ausschließlich an diese Folge, dann lässt sich in ihr als solcher grundsätzlich kein Anfang und Ende finden“ (Heidegger 1993, S. 424). Für Heidegger ist ein zentrales Element, die Zeit gedanklich als unendlich zu durchdringen und das ist seiner Ansicht nach nur über das „Jetzt“ möglich. Dabei ist das soeben vergangene „Jetzt“ Vergangenheit und das „noch-nicht-Jetzt“ die Zukunft, die in der Bezeichnung als Vergangenheit und Zukunft nicht mehr als unendlich betrachtet werden. „Jedes letzte Jetzt ist als Jetzt je immer schon ein Sofort-nicht-mehr, also Zeit im Sinne des Nicht-mehr-jetzt, der Vergangenheit; jedes erste Jetzt ist je ein Soeben-noch-nicht, mithin Zeit im Sinne des Noch-nicht-jetzt, der ‚Zukunft’. Die Zeit ist daher ‚nach beiden Seiten’ hin endlos“ (Heidegger 1993, S. 424). Die Einschätzung, Zeit zu beiden Seiten hin als endlos wahrzunehmen und zu begreifen, kann kaum mehr zur Kenntnis genommen werden, da das „Jetzt-Phänomen“, so Heidegger aufgrund der „Datierbarkeit, Gespanntheit und daseinsmäßigen Öffentlichkeit“ verdeckt ist und nicht mehr in seiner Bedeutung erkannt werden kann. Würde man die Jetztfolge zu Ende denken wollen, dann gelänge dieses niemals, da sich kein Ende finden lassen könnte. Mit dem Ende der Jetzt-Folge ist nach wie vor Zeit zu denken und daraus kann geschlossen werden, Zeit sei unendlich. „Diese Zeitthese wird nur möglich auf Grund der Orientierung an einem freischwebenden An-sich eines vorhandenen Jetzt-Ablaufs, wobei das volle Jetztphänomen hinsichtlich der Datierbarkeit, Weltlichkeit, Gespanntheit und daseinsmäßigen Öffentlichkeit verdeckt und zu einem unkenntlichen Fragment herabgesunken ist. ‚Denkt man’ in der Blickrichtung auf Vorhandensein und Nichtvorhandensein die Jetztfolge ‚zu Ende’, dann lässt sich nie ein Ende finden. Daraus, dass dieses zu Ende Denken der Zeit je immer noch Zeit denken muss, folgert man, die Zeit sei unendlich“ (Heidegger 1993, S. 424). Zeit in beide Richtungen als prinzipiell unendlich denken zu können, ist von zentraler Bedeutung für den Zusammenhang von Zeit und der Zeitlichkeit des Menschen. Die Zeit, zeigt Heidegger, ist unendlich und muss aus dem Verdeckungszusammenhang, sie sei es vielleicht nicht, herausgeholt werden, um zu einem neuen Zeitverstehen der eigenen Zeitlichkeit kommen zu können. Nicht die Zeit ist endlich, sondern die Zeitlichkeit des Menschen ist je auf sein eigenes Lebensalter, das er erreichen kann, begrenzt. So formulieren Menschen unbewusst von ihrer Endlichkeit aus gesehen, das Ablaufen ihrer Zeit und da sie nicht wissen, wann der Punkt erreicht ist, verhalten sie sich so, als hätten sie bis zum Ende noch unendlich Zeit. Und es wird versucht, diese Zeit in einer Art „unkontrollierten Konsumverhaltens“ anzuhäufen und so viel wie möglich davon zu bekommen, um sie zu verbrauchen. Doch das ist mit Zeit nicht möglich. Zum Phänomen Zeit kann sich niemand verhalten, als könnte davon im Leben etwas „angespart“ werden. „Bis zum Ende ‚hat es immer noch Zeit’. Hier bekundet sich ein Zeit-haben im Sinne des Verlierenkönnens: ‚jetzt erst noch das, dann das, und nur noch das und dann….’ Hier wird nicht etwa die Endlichkeit der Zeit verstanden, sondern umgekehrt das Besorgen geht darauf aus, von der Zeit, die noch kommt und ‚weitergeht’, möglichst viel zu erraffen. Die Zeit ist öffentlich etwas, was sich jeder nimmt und nehmen kann“ (Heidegger 1993, S. 425).
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Es lässt sich vorerst festhalten, Heidegger betrachtet die Zeit an sich und ihre Unendlichkeit in der Abfolge des Jetzt-Phänomens. Für die Zeit an sich gibt es eben nicht die lineare Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese Linie ist als Konstruktion zu verstehen und aufgrund der Universalisierung der Zeit als formale Anschauung und Legitimierung als empirischer Realität entstanden (vgl. Sandbothe 1998). Die Zeit an sich wurde mit der Zeit, über die ein Mensch mit der eigenen Endlichkeitsdimensionierung verfügen kann, vermischt. Als Konsequenz daraus gebrauchen Menschen ihre Zeit in der Art und Weise als müssten sie möglichst viel der vergehenden Zeit für sich bekommen. Die Thematisierung der Zeit an sich wird so verkompliziert, da vom Menschen aus betrachtet, Zeit je wiederum nicht losgelöst von der Lebenszeit eines jeden Menschen eingeschätzt werden kann und gleichzeitig an die Endlichkeitsdimension der Menschen gebunden ist. Die Endlichkeitsdimension konstituiert sich jedoch nicht auf einer bewussten Ebene der Menschen. Rosenmayr weist auf die Verbindung der Endlichkeit zur Sorge und schließlich Angst hin, die in Heideggers Daseinsanalyse „Sein und Zeit“ beschrieben ist. Die Sorge wird zur Angst angesichts eines Endlichkeitsbewusstseins und daraus resultiere die besondere Verbindung zur Zeitverwendung im Leben von Menschen. „Die Daseinsanalyse in ‚Sein und Zeit’ (1927) entwickelte den Grundbegriff der Sorge aus der Fabel des römischen Dichters Hyginus, wonach dem Menschen, dem aus ‚Humus’ genommenen ‚homo’, die Sorge zur Lebensbegleiterin wird. Sorge radikalisiert sich zu Angst. Und SelbstseinKönnen gehe aus der Konfrontation mit der Angst hervor. Angst gab in jeweils verschiedener Weise auch bei Sartre und Camus den Ausgangspunkt existentiellen Philosophierens vor. Heidegger forderte ein Annehmen dieser Angst. Das Überantworten an die Angst vermittelt ein radikalisiertes Endlichkeitsbewusstsein. ‚Vorlaufen zum Tode’ führe zum wahren ‚Entschlossen-Sein’ und damit zur Existenz“ (Rosenmayr 2004, S. 15). Die Aussage Rosenmayrs, die Sorge zu einem Ausgangspunkt des Seins und im Weiterdenken in einer Linie zur Angst vor der Endlichkeit werden zu lassen sowie der Hinweis auf weitere Philosophen, deren Ausgangspunkt Angst und ihre Reflexionen waren, ist als bedenkenswert zu berücksichtigen. Als den Sinn von Sein hat Heidegger zunächst die Sorge als eine im Alltag aufzuweisende Struktur bezeichnet und im weiteren wird es ihm möglich, durch eine abstrahierende Rückführung dieser Sorgestruktur auf die Zeit, den Alltag in einem klassisch philosophischen Sinn zu thematisieren (Wolf 1999 in: Heinrichs 1999, S. 10). Wolf hebt insbesondere hervor, dass es Heidegger gelang, der Philosophie ihre lebenspraktische Bedeutung zurückzugeben, indem er gesellschaftlich zunehmend einflussreicher werdende praktische Arbeitsprozesse innerhalb des philosophischen Diskurses reflektierte und somit nicht mehr länger die Theorie einer rein theoretischen Praxis vertrat (vgl. ebd. 1999). „Heidegger leitet sein Modell menschlichen Lebens nicht einzig aus der Grundstruktur der Sorge ab, sondern darüber hinaus aus Strukturen der Zeitlichkeit. Auch die Entfremdung soll so noch einmal und noch grundlegender fundiert werden, und zwar in der ‚Herrschaft der uneigentlichen Zeit’. Daher ist er genötigt, die vollzogene Analyse des Daseins zu wiederholen im Sinne einer Interpretation der wesentlichen Strukturen auf ihre Zeitlichkeit (304)“ (Heinrichs 1999, S. 122). Heidegger formuliert im Hinblick auf Sein und Zeitlichkeit als einen wesentlichen, sie bedingenden Aspekt, dass die Zeit schon als Gegenwart ausgelegt ist, da die Vergangenheit als „Nicht-mehr-Gegenwart“ und die Zukunft als unbestimmte „Noch-nicht-Gegenwart“ interpretiert ist. Die Vergangenheit ist unwiederbringlich und die Zukunft unbestimmt. „Die 91
Geschehnisse sind in der Zeit, das heißt nicht: sie haben Zeit, sondern vorkommend und daseiend begegnen sie als durch eine Gegenwart hindurchlaufend. Diese Gegenwartszeit wird expliziert als Ablaufsfolge, die ständig durch das Jetzt rollt; ein Nacheinander, von dem gesagt wird: der Richtungssinn ist ein einziger und nicht umkehrbar. Alles Geschehende rollt aus endlicher Zukunft in die unwiederbringliche Vergangenheit“ (Heidegger 1989, S. 23 in: Sandbothe 1998, S. 125). Draaisma sieht die Richtung der Zeit als Vorwärtsbewegung, während die Ereignisse aus der Zukunft auf den Menschen zukommen und mit einer Rückwärtsbewegung in Richtung der Vergangenheit übergehen. Es ist so, als würden sich die Ereignisse rückwärts bewegen. Mit dem Erinnern an erlebte Ereignisse erfolgt wiederum ein Richtungswechsel: Menschen erinnern sich vom jüngsten Ereignis her an diejenigen, die zeitlich am längsten zurückliegen. Diese Bewegung des Erinnerns ist ebenso wie die Zukunft vorwärts gerichtet. „Üblicherweise denken wir, dass sich der Strom der Zeit vorwärts bewegt, in Richtung der Zukunft. Aber die Ereignisse erfahren wir, als ob sie aus der Zukunft auf uns zu kommen, rückwärts in Richtung der Vergangenheit. In Wirklichkeit, folgerte Bradley, muss man also die Frage stellen: Warum bewegen sich Ereignisse rückwärts, während das Erinnern, ebenso wie die Zeit, vorwärts gerichtet ist?“ (Draaisma 2004, S. 80). Diese Vorwärtsbewegungen des Erinnerns und die der Zeit als Zukunft könnten mit den Überlegungen Heideggers erklärt werden, dass sie jeweilig am dichtesten an der JetztAbfolge und damit nah am aktiven Zeitgestaltungsfenster, also der Gegenwart, liegen. Für eine aktive Lebensgestaltung bekommt die Gegenwart eine größere Bedeutung, da die Gegenwart für die Auswahl der Aktivitäten im Alter ausschlaggebend ist, unabhängig von der Vergangenheit, in die die Ereignisse aus der Zukunft „heranrollen“. Der Vergangenheit wird nicht eine herausragende Rolle zugewiesen und das ist insbesondere für Alterungsprozesse, die sich durch einen großen Anteil Vergangenheit charakterisieren lassen, von Bedeutung. Von der „Jetzt-folge“ ausgehend, die Heidegger bisher als harmlose und unendliche Abfolge von Gegenwart beschreibt, kommt seiner Ansicht nach „über das Dasein“ eine Rätselhaftigkeit, ähnlich wie auch die Endlichkeit für jeden, der vor ihr ausweicht, dennoch weiter bei demjenigen bleibt. „Allein so wie auch im Ausweichen vor dem Tode dieser dem Fliehenden nachfolgt und er ihn im Sichabwenden doch gerade sehen muss, so legt sich auch die lediglich ablaufende, harmlose, unendlich Folge der Jetzt doch in einer merkwürdigen Rätselhaftigkeit ‚über’ das Dasein“ (Heidegger 1993, S. 425). Zentral für Heideggers Überlegungen bisher sind zum einen die Verzeitlichung der Zeit selber und damit die Unabhängigkeit der Zeit zum Dasein. Von Bedeutung ist darüber hinaus, dass Zeit überhaupt nur über die Gegenwart für den Einzelnen zugänglich wird. Zum anderen ist durch das Wegsehen von der Endlichkeit ein Zeitverhalten entstanden, das möglichst viel Zeit an sich bringen will. Dabei wird Zeit überwiegend als Vergehende empfunden und festgehalten und nicht als etwas, das entsteht. Die Betonung entstehender Zeit ist gerade im Hinblick auf die Jetztfolge zu betrachten, da mit jedem Jetzt, das aus der Zukunft kommt und zum Jetzt wird, tatsächlich ein Entstehungsprozess verbunden und eben noch nicht ein Vergehen oder schon nicht mehr da sein. „Warum sagen wir: die Zeit vergeht und nicht ebenso betont: sie entsteht? Im Hinblick auf die reine Jetztfolge kann doch beides mit dem gleichen Recht gesagt werden“ (Heidegger 1993, S. 425). Die Zeit als Vergehende einzuschätzen, hat nach Heidegger einen Grund darin, dass die Zeit nicht angehalten werden kann; es ist ein Erahnen der Zeitlichkeit, die zu einer Art 92
Weltzeit gehört und nicht unmittelbar zum Dasein an sich. „In der Rede vom Vergehen der Zeit versteht am Ende das Dasein mehr von der Zeit, als es wahrhaben möchte, das heißt die Zeitlichkeit, in der sich die Weltzeit zeitigt, ist bei aller Verdeckung nicht völlig verschlossen. Die Rede vom Vergehen der Zeit gibt der ‚Erfahrung’ Ausdruck: sie lässt sich nicht halten. Diese ‚Erfahrung’ ist wiederum nur möglich auf dem Grunde eines Haltenwollens der Zeit. Hierin liegt ein uneigentliches Gewärtigen der ‚Augenblicke’, das die entgleitenden auch schon vergisst“ (Heidegger 1993, S. 425). Das Anhalten der Zeit wird für jemanden in der Zeit Lebenden zur Herausforderung, da im Moment des Gewahrwerdens eines Augenblicks gleichzeitig deutlich wird, dass er vorüber ist und entgleitet, genau wie die anderen Momente oder Augenblicke zuvor schon in der Vergangenheit verschwunden sind. Die Erfahrung, dass im Aufmerksamkeitsprozess des Gegenwärtigen diese in der uneigentlichen Existenz, gleichzeitig schon wieder verschwindet, bedeutet für Heidegger, die Erfahrung des Zeitvergehens zu machen. „Das gegenwärtig-Vergessende Gewärtigen der uneigentlichen Existenz ist die Bedingung der Möglichkeit der vulgären Erfahrung eines Vergehens der Zeit. Weil das Dasein im Sichvorweg zukünftig ist, muß es gewärtigend die Jetztfolge als eine entgleitend-vergehende verstehen“ (Heidegger 1993, S. 425). Die Jetztfolge wird durch das Antizipieren etwas Zukünftigen nicht mehr nur gegenwärtig empfunden und verstanden, sondern es ist gleichzeitig vergehend bzw. entgleitend, während es noch gegenwärtig ist. Die Zeit ist also da und gleichzeitig auch schon vergangen und weg. Das Dasein erkennt in dem „flüchtigen“ der Zeit eine Analogie zum ebenfalls „fliehendflüchtigen“, das das Wissen um den eigenen Tod umgibt. Im Vergehen der Zeit versteckt sich die Endlichkeit der eigenen Zukunft, die mit dem Erreichen des Todes auch die Zeitlichkeit des Daseins beendet. Mit der Betrachtungsweise der Zeit als „Vergehende“, bleibt der Tod hinter der Zeitlichkeit verborgen, da die Zeit an sich weder Wert auf Vergangenheit, Gegenwart noch Zukunft legt. Für das Dasein jedoch ist es von Bedeutung eine scheinbar unendliche Zukunft zu haben. „Das Dasein kennt die flüchtige Zeit aus dem ‚flüchtigen’ Wissen um seinen Tod. In der betonten Rede vom Vergehen der Zeit liegt der öffentliche Widerschein der endlichen Zukünftigkeit der Zeitlichkeit des Daseins. Und weil der Tod sogar in der Rede vom Vergehen der Zeit verdeckt bleiben kann, zeigt sich die Zeit als ein Vergehen ‚an sich’“ (Heidegger 1993, S. 425). Wenn Zeit entsteht, könnte die Frage nach der Endlichkeit viel eher aufkommen, da ein Bewusstseinsprozess in Bezug auf die Zeitlichkeit des Daseins angestrebt wird. Im Vergehen der Zeit ist die Zeit selbst diejenige, die dem Dasein die Zeit vergehend aufdrängt und eventuell auch für das Ende verantwortlich zu machen ist. Die Qualität des Lebens in der Zeit und die Endlichkeit bedingen sich also gegenseitig. Für ein aktives Leben könnte es bedeutend werden, die eigene Endlichkeit als etwas zu betrachten, das das Leben nicht beendet, sondern eher zu einer Vollständigkeit des Lebens führt. Mit dem Bewusstsein einer begrenzten Lebenszeit gäbe es einen Ausgangspunkt, der als eine Art Qualitätsgarant für die Auswahl der Zeitverwendung im Leben eines Menschen gelten könnte. In etwa, wie Mercier es formuliert und für erstrebenswert hält, den Tod als eine Kraftquelle zu betrachten. „Das Bewusstsein der begrenzten, ablaufenden Zeit als Kraftquelle, um sich eigenen Gewohnheiten und Erwartungen, vor allem aber den Erwartungen und Drohungen der anderen entgegenzustemmen. Als etwas also, das die Zukunft öffnet und nicht verschließt“ (Mercier 2004).
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Wenn es gelänge, die Zeit nicht mehr als vergehende und damit entgleitende zu verstehen, sondern als entstehende Zeit zu betrachten und zu fühlen, wäre es möglich, aktiv Zeit zu verstehen und zu leben. Das Problem für die Betrachtung vergehender bzw. vergangener Zeit ist, nur noch im Rückblick steht sie für eine Bewertung zur Verfügung und nicht zur Wiederholung einer eventuell nicht so gelungenen Zeitverwendung, in der man versuchen könnte, es nun besser zu machen. Auch wenn Heidegger nicht beabsichtigte, Gedanken über Zeit in einer für das Leben angemessenen Sichtweise und Verwendung beizutragen, ist es ihm gelungen, eine sehr bedeutende und bisher kaum in ihrer Reichweite zur Kenntnis genommene Einsicht zur Qualität der Lebenszeit von Menschen zu formulieren. Zeit als etwas zu betrachten, das angesichts der Bewusstheit der eigenen Endlichkeit gegenwärtig wiederkehrend entsteht, bedeutet, der Zeit eine aktive Gestalt zu geben, die zukunftsgerichtet gerade eben vor einem liegt und in der Gegenwart gestaltet und verwendet werden will. In der Entstehung fordert Zeit dazu auf, darüber nachzudenken, in welcher Art und Weise mit welchen Aktivitäten sie verbracht werden könnte. Zeit, die vergeht, tut dieses von sich aus, ohne eine Verbindung zu dem Menschen und seinen für ihn von Bedeutung werdenden Ereignissen. Zeit ist vorhanden, unabhängig von in der Zeit lebenden Menschen. Die Haltung der in Zeit lebenden Menschen entscheidet darüber, ob Zeit vergeht oder ob sie entsteht. Wenn danach gelebt wird, dass Zeit erst entsteht, werden noch im Entstehungsprozess erste Entscheidungen darüber getroffen, wie sie zu leben ist. Mit der Veränderung der Einschätzung der zeitlichen Dimension im Leben stellen sich gleichzeitig Fragen der Auswahl und Bewertung, welche Ereignisse und Aktivitäten wie die Zeit ausfüllen und welche Zeit verschwenden. Das ist auch eine der zentralen Fragen bei Mercier, der sich mit der Bewertung auseinandersetzt, wovon es abhängt, wann ein Moment als gut genutzte Zeit und als zum eigenen Leben dazugehörig erlebt wird und nicht als Zeit, die einfach so verging. „Wovon hängt es ab, wenn wir einen Moment als eine erfüllte Zeit, unsere Zeit erlebt haben, statt einer Zeit, die an uns vorbeigeflossen ist, die wir nur erlitten haben, die uns durch die Finger geronnen ist, so dass sie uns wie eine verlorene, verpasste Zeit vorkommt, über die wir nicht traurig sind, weil sie vorbei ist, sondern weil wir aus ihr nichts haben machen können? Die Frage war also nicht: Wie lange ist ein Monat? sondern: Was könnte man für sich aus der Zeit eines Monats machen? Wann ist es so, dass ich den Eindruck habe, dass dieser Monat ganz meiner gewesen ist?“ (Mercier 2004, S. 350). Ausgangspunkt ist ein verändertes Verhältnis, das die Zeit als etwas Entstehendes durchdringt, die sowohl allgemein als auch im Besonderen für das Individuum gleichermaßen Gültigkeit bekommt. Die Sichtweise der Entstehung durchdringt die Zeit und führt zu einer neuen Qualität, da sich jeder Mensch damit auseinanderzusetzen hat, wie er sich aktiv seiner eigenen individuell entstehenden Zeit gegenüber verhalten könnte, damit jeder Moment ein subjektiv bedeutungsvoll Gestalteter werden kann. Als zentrale Erkenntnisse lassen sich notwendige Wechsel zu einer Bewusstheit der Endlichkeit und der Öffnung zu einem Zeitverstehen formulieren, das dem Menschen die Verantwortung für seine entstehende Lebenszeit gibt. Dies liegt, wie gezeigt wurde, auf der philosophischen Ebene und im Hinblick auf Alterungsprozesse sogar im Bereich konkreter Verwirklichung, über ein Durchdringen dieses Denkens könnte es im Hinblick auf das individuelle Zeitverstehen und Zeitverwenden zu einem Paradigmenwechsel kommen. Es wäre auch für gesamtgesellschaftliche Prozesse von großer Bedeutung zugunsten einer neuen Lebensqualität, neues Zeitverstehen und –denken durchgängig einzuführen. Es gibt auf der konkreten politischen Ebene zur Zeitstrukturveränderung unterschiedliche Initiati94
ven, die sich darum bemühen, neue Zeitmuster gesellschaftlich zu etablieren, um der ökonomisch linearen Zeitlebensweise qualitativ neue Zeitverwendungszusammenhänge vorzuleben bzw. entgegen zu setzen. Für eine Zeitenwende im Verlauf von Alterungsprozessen ist von Bedeutung, sich in möglichst vielen unterschiedlichen Zusammenhängen danach umzusehen, ob die Qualität der Zeit im Alter bereits mitgedacht ist oder ob es vor allem nur um eine Auseinandersetzung im Hinblick auf die Qualifizierung der Zeit für die in der Erwerbsarbeit Tätigen geht. Dabei ist zu berücksichtigen, Zeit im Alter neu zu denken, könnte für alle Mitglieder der Gesellschaft eine qualitative Wende bedeuten, während vom erwerbsarbeitsgesellschaftlichen Denken ausgehende Zeitstrukturveränderungen, die Qualität der Zeit im Alterungsprozess eventuell nicht weit genug mitdenken. 5.2 Die Qualität der Zeit bedingt die Lebensqualität im Alter Zeitpolitik, Zeitwohlstand, Zeitvielfalt, Zeitkompetenz, Zeit-Bewegung sind alles Begriffe, hinter denen Überlegungen und Modellprojekte verborgen sind, die aufgrund der Auseinandersetzung mit der Zeit um ein neues Verständnis von Zeit bemüht sind und z.T. als Modellprojekte versuchen, die Zeitstruktur der Gesellschaft partiell zu verändern. Diese Ideen und Modelle kritisieren die ökonomisch-linear entstandene und inzwischen die gesamte Lebensweise durchdringende und verselbstständigte Zeitstruktur. Ein ihn allen gemeinsamer Grundgedanke ist, Zeit als soziales Konstrukt zu verstehen (vgl. Elias 1988) und genau deswegen eröffnen sich Chancen, Zeit strukturell und inhaltlich insgesamt gesellschaftlich zu verändern. Zeitbewusstsein ist nicht als angeborenes Wissen oder ein sich als automatisch entwickelndes Gefühl zu betrachten. Es muss von jedem Kind, den gesellschaftlichen Standards entsprechend, in die es hineingeboren wird und in der es lebt, neu erlernt werden (vgl. Elias 1988). Im Folgenden werden einzelne Elemente alternativen Zeitdenkens und ihre Intentionen sowie konkrete Modelle zeitlicher Strukturierung in der Gesellschaft vorgestellt. Von besonderer Bedeutung wird dabei die Reichweite, vor allem auch bezüglich ihrer Brauchbarkeit für eine aktive Lebensgestaltung im Alter, sein. Es geht den Zeitpionieren darum, Zeitstrukturen gesellschaftlich zu etablieren, die eine verbesserte Anpassung an menschliche Bedürfnisse ermöglichen. Dabei ist nicht allein die formal-quantitative Verfügung über Zeit von Bedeutung und auch nicht nur eine Vergrößerung der Zeitguthaben erscheint erforderlich, sondern es müssten sich die zeitlichen Aktionsspielräume vergrößern. Eine der Ausgangsideen zeitalternativen Denkens begann 1985 mit Rinderspacher, der mit dem Motto „das Richtige im richtigen Moment tun zu können“ (ebd. 1985) ein System der Ökologie der Zeit einforderte. Es handelte sich um einen zu erreichenden Zeitwohlstand, der eingebettet in ein komplettes System der Ökologie der Zeit, gesellschaftlich durchzusetzen ist. In solch einem System der Ökologie der Zeit würden sich die zeitliche Strukturiertheit individueller oder kollektiver Bedürfnisse, Handlungsabläufe und die zeitliche Strukturiertheit des Subsystems, in dem sich das Individuum befindet bzw. auf dessen Zeitmaße bezogen ist, wechselseitig beeinflussen, so die Überlegungen Rinderspachers (vgl. ebd. 1985, S. 296). Die Forderungen und Überlegungen zum Zeitwohlstand sind damit beinahe schon als historisch einzuordnen, da Mitte der 80er Jahre des 20 Jhds. kaum absehbar war, welch einen Wechsel die Zeitordnung mit den medialen Veränderungen seit Beginn der 90er Jahre 95
im Hinblick auf die Beschleunigung und über die Virtualität im Erwerbsarbeitsbereich erreichen würde. Rinderspacher analysierte die Zeitnot für eine überwiegend industriegesellschaftlich organisierte Gesellschaft, in der Erwerbstätigkeit noch nicht zu jeder Zeit und an jedem Ort möglich war. Gegenwärtige Diskussionen und Forderungen zum Zeitwohlstand sind also aktueller als jemals zuvor. Held formuliert 2003, dass Zeitwohlstand bedeutet, viel Zeit zur Verfügung zu haben und selbst darüber bestimmen zu können. Dabei unterscheidet Held Zeitwohlstand in „Zeitwohlhabend sein“ und „Zeitsouverän“, die es anzustreben gilt.
„Zeitwohlhabend: Zeitwohlstand bedeutet, dass wir angemessen Zeit für Aktivitäten zur Verfügung haben. Damit stehen wir weder permanent unter einem extremen Zeitdruck noch haben wir dauernd zu viel Zeit. Zeitsouverän: Zeitwohlstand bedeutet zugleich, dass wir selbst über unseren Umgang mit Zeit bestimmen können“ (Held 2003, S. 104).
Zeitwohlstand heißt nicht nur, angemessen Zeit für eine Vielfalt an Aktivitäten zur Verfügung zu haben, ohne die Entstehung von Zeitdruck oder Zeitleere, sondern gleichzeitig die Selbstbestimmtheit jedes gesellschaftlichen Mitglieds über die eigene Zeitlichkeit. Eine Auseinandersetzung mit dem jeweilig aktuellen Zeitverhältnis wäre die notwendige Basis, um überhaupt Zeit zur eigenen Lebenszeit zu definieren, die zur selbstbestimmten Verfügung vorhanden ist. Heuwinkel nimmt die Perspektive ein, eine Auseinandersetzung mit Zeitproblemen könnte sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft im Hinblick auf die Lösung gesamtgesellschaftlicher Probleme wirkungsvoll sein. Über das Anregen und Nachdenken der Einzelnen über ihren individuellen Umgang mit Zeit sowie der Auseinandersetzung mit Fragen des Zeitbewusstseins und –erlebens, könnte ein zufriedenstellendes Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit erreicht werden. Zudem würden sich u.a. neue Möglichkeiten für kreative und kulturelle Aktivitäten ergeben. Dies hat jedoch zur Voraussetzung, Zeitsouveränität und Zeitkompetenz zu entwickeln (vgl. Heuwinkel 2004). Zeitsouveränität und Zeitkompetenz können dabei nur erreicht werden, wenn das Zeitbewusstsein über die Zeit, die in Arbeit und Freizeit investiert wird, hinausgedacht wird und ebenfalls die Vielfältigkeit von Zeit in Rhythmen aller Art, das Erkennen von Eigenzeiten, ebenso wie richtiges Timing, angemessene Geschwindigkeiten, Umgehen-Können mit Unsicherheit, sich Konzentrieren-Können auf die Gegenwart, den Augenblick und die Zukunft Planen-Können in ihrer besonderen Bedeutung für ein aktives Leben in der Zeit, berücksichtigt werden. Zum Zeitbewusstsein gehören zudem die Gestaltung von Anfängen, Abschlüssen, Pausen, Wiederholungen und Gleichzeitigkeit. Hinz und Held machen, wie auch Rinderspacher lange zuvor, auf die Bedeutung aufmerksam, die Balance zwischen aktiv sein und etwas lassen können und stattdessen nichts zu tun und zu entspannen (vgl. Hinz 2000 in: Heuwinkel 2004, S. 38; Held 2003, S. 106). Zeitkompetenz ist dabei etwas viel umfassenderes als der Umgang mit Uhren und Kalendern, dieser wird unter dem Begriff Zeitmanagement ohnehin als selbstverständlich in der aktuellen Organisiertheit von Gesellschaft und Wirtschaft erwartet. Zeit in ihrer Vielfalt und in der gesamten Bandbreite der Anforderung an das Leben zu verstehen und dieses für die eigene Lebenszeit vollständig wahrzunehmen, ist die Herausforderung eines neuen Umgangs mit Zeit. Als besonders relevanten Aspekt von Zeitkompetenz im Sinne von 96
Zeitwohlstand wird Ruhe und Muße betrachtet sowie die Fähigkeit entspannen zu können (vgl. Held 2003, S. 105f). Dennoch zieht Held auch die Möglichkeit der anderen Seite in Betracht, dass es so etwas wie einen übermäßigen Zeitwohlstand geben kann, wenn Mitglieder der Gesellschaft mehr oder weniger unfreiwillig (zu) viel freie Zeit zur Verfügung haben, wie etwa Arbeitslose oder Ältere in der Rentenphase. Der so entstandene Zeitwohlstand kann zu frustrierender Langeweile und unterschiedlichsten Formen von „Zeitvertreib“ führen, die nicht befriedigend sein müssen (vgl. ebd. 2003, S. 104). Konsequenz aus den Überlegungen zum Zeitwohlstand kann nur sein, insgesamt über ein neues Zeitverständnis nachzudenken, das alle möglichen zeitlichen Lebenslagen berücksichtigt und gestalten will. Es kann also nicht nur um das Erreichen eines Zeitwohlstands gehen, der zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit pendelt, sondern Reflexionen zur Zeit müssen grundsätzlicher ansetzen. Geißler denkt dort umfassender, wo es um eine „Kultivierung der Zeiten“ geht, in der jene Bedingungen zu erhalten, zu pflegen und auch wieder herzustellen sind, die der Zeitvielfalt einen lebendigen Raum geben. Innerhalb dieses Raumes könnten auch Menschen als zeitliche Wesen ihre Zeitsouveränität entfalten. „Zeitsouveränität bedeutet ja nichts anderes, als unterschiedliche Zeitformen leben, ertragen und koordinieren zu können und zwischen ihnen frei wählen zu dürfen“ (Geißler 2003, S. 19). Das Konzept der Zeitvielfalt dient nicht als gesamtgesellschaftliche Verlangsamung und damit auch nicht als Gegenkonzept zur herrschenden Hochgeschwindigkeitskultur. „Es geht um den Schutz und den Erhalt unserer zeitlichen Artenvielfalt, die durch die Zerstörung natürlicher und sozio-kultureller Lebensräume massiv gefährdet ist. Der Zeit wäre mehr Zeit zu geben“ (Geißler 2003, S. 19). Zeit in Verbindung mit Geschwindigkeit ist ein weiterer Aspekt, der von „Zeitpionieren“ im Hinblick auf sich weiter begrenzende Möglichkeiten einer aktiven zeitlichen Lebensgestaltung sehr kritisiert wird. „Immer schnellere Zeiten“ sowie zunehmend zusammenhanglose Gleichzeitigkeiten sieht Eckart als Ausdruck dafür, dass durch gesellschaftliche Entwicklungen wie z.B. elektronische Kommunikation, Flexibilisierung von Arbeitszeiten und Mobilität individuelle und institutionalisierte Synthesen entstehen, die für eine zeitliche Lebensqualität nicht mehr angemessen sind. Eigentlich müssten neue Synthesen gefunden werden (vgl. ebd. 2003, S. 78). Eine solche neue Synthese ist in der beinahe radikalen Positionierung Straubs zu sehen, der sich für eine Rückgewinnung der eigenen Zeit einsetzt, in dem er ein freies Verhältnis zur Zeit und zur Arbeit zur Sicherung der Würde des Menschen fordert. „Die freie Zeit, die Muße, die selbstbewusste Arbeitslosigkeit ist Zier des Menschen. Das meinte Schiller. Das meinte Marx. Das meinten alle in den Zeiten vor der modernen Arbeitsgesinnung. (…) Die vergessene Muße, nicht die Arbeit kann denen helfen, die ohnehin zur Muße verdammt sind“ (Straub 2004, S. 23). Mit dem Rückgriff in die Vergangenheit fordert Straub dazu heraus, sich damit auseinanderzusetzen, es als keineswegs selbstverständlich zu nehmen, auf Erwerbstätigkeit konzentriert zu sein und Zeit in die Pole Arbeit und Freizeit zu teilen. Eine weitere Besonderheit in Straubs Position liegt darin, davon auszugehen, dass die Erwerbsarbeitsgesellschaft mit ihren derzeitigen Bedingungen der Beschleunigung und Überwindung von Zeit und Raum durch die Virtualität aktuell zu lebende Gegenwart ist, die jedoch ebenso vergänglich wie andere Zeitstrukturen irgendwann zu neuen Zeitvorgaben führen wird. Eine Gesellschaft, in der große Anteile von Menschen von der Erwerbsarbeit freigesetzt sind, bietet sich nach Straubs Einschätzung die große Chance, die Lebens97
qualität über die von Erwerbsarbeit freie Zeit wieder zu erlangen, anstatt auf das Erlernen eines neuen Umgangs mit Zeit zu setzen. Mit dem Hinweis, dass die Muße das zentrale Element einer Würde-Rückgewinnung darstellen könnte, so wie sie in vorindustrieller Gesellschaft als hohes Gut betrachtet wurde, bringt er eine „alte“ in neuer Weise zu berücksichtigende Sicht auf Zeit hervor. Rinderspacher, als langjährigem Zeitwohlstandsforderer, geht es aktuell nicht mehr nur darum, mehr zeitliche Spielräume und Entschleunigung in die Gesellschaft und damit in das Leben eines jeden Menschen zu bekommen. Mit jedem Vorschlag zur Veränderung der Zeitstruktur besteht aufgrund der Komplexität auch jeweilig die Gefahr einer neuerlichen und weitergehenden Verzeitlichung, anstatt der ebenso möglichen Zielsetzung angestrebter partieller Entzeitlichung (vgl. ebd. 2003). Am Beispiel der Studie Hochschilds zur Verwirklichung des work-life-balance Konzepts zeigt sich in einer Untersuchung eines US-amerikanischen Unternehmens die Potenzierung der Zeitspirale. Ursprünglich hatte das Konzept die Zielsetzung, Lebensqualität über Entschleunigung und Entzeitlichung zu sichern. Work-life-balance meint als Bewegung einen Wertewandel in der Arbeitswelt, in der Arbeit nicht mehr ausschließlich in den Vordergrund gestellt wird und dem Privatleben als Ausgleich mehr Chancen eingeräumt werden. Hochschilds Ergebnisse einer Studie zur Wirksamkeit von work-life-balance Konzepten zeigen eher das Gegenteil. Es wird keine Zeit und eben Lebensqualität dadurch gewonnen, dass das Unternehmen die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit über familienentlastende Betreuungsangebote und flexible zeitliche Regelungen vereinfachen will. Diese Angebote des Unternehmens führen eher zu einer Ausweitung der Arbeitszeit und gleichzeitig zu einer größeren Ökonomisierung des Privatlebens. So fasst Hochschild als ein Ergebnis zusammen, dass weder Männer noch Frauen, aufgrund von work-life-balance Angeboten in Bezug auf Familienzeiten zu Hause bleiben können oder wollen. Die Angebote führen die Betreffenden dazu, sich gezwungen zu fühlen und nicht mehr freiwillig darüber entscheiden zu können, zeitweise zu Hause die Verantwortung für die Familie zu übernehmen. „Aber wir wissen schon aus früheren Studien, dass viele Männer bei der Arbeit eine Zuflucht gefunden haben. Das ist nichts Neues. Die Neuigkeit in diesem Buch ist, dass auch immer mehr erwerbstätige Frauen ungern mehr Zeit zu Hause verbringen wollen. Sie sind hin und her gerissen, haben Schuldgefühle und leiden unter dem Stress ihrer langen Arbeitszeiten; aber sie sind ambivalent, wenn es darum geht, diese Arbeitszeiten zu verkürzen“ (Hochschild 2002, S. 270). Ebenso weist Oechsle auf eine Studie von 2001 hin, in der ebenso kein einziges Unternehmen gefunden wurde, das ein umfassendes work-life-balance Konzept eingeführt hat, welches auch zur Vereinfachung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf von Nutzen wäre. Unter work-life-balance werden eher einzelne Elemente geführt, die als Benefits zur Mitarbeiterbindung ohnehin schon in Unternehmen bestehen und nun anders ausgewiesen werden. Es lassen sich zwei Tendenzen feststellen, einerseits sind es flexible Arbeitszeitmodelle, die die Abstimmung des Berufs mit dem Privatleben ermöglichen wollen. Andererseits ist eine Ausweitung des Berufsbereiches auf das Privatleben festzustellen. Es werden typische Freizeitelemente wie Schlafen, Duschen oder Fitness in die Arbeitswelt integriert. Der Arbeitsplatz wird somit ein Stück weit zum Zuhause und das hat Auswirkungen auf Zuhause und die Familie. Mit dieser Feststellung zieht Oechsle den Schluss, diese Entwicklungen seien nur weitere Schritte zur Verstärkung der kulturellen Dominanz der Erwerbsarbeit und zur Verlängerung der Arbeitszeit. Es sind also zwei unterschiedliche Ent98
wicklungstendenzen zu beobachten, die beide eine weitere Verschmelzung von Arbeit und Leben bedeuten. Zum einen die Ausweitung der Erwerbsarbeit im eigenen Haushalt über die Virtualisierung und somit ständige Erreichbarkeit und zum anderen über Freizeitelemente, die bei der Arbeit als eine Art Bonus ermöglicht werden und auch erwünscht sind: seine „Freizeit“ am Arbeitsplatz mit KollegInnen zu verbringen (vgl. Oechsle 2002, S. XIII). Darüber hinaus ist zu bedenken, welche Auswirkung diese Entwicklung der Zeitpotenzierungen, also Zeit, die mit Erwerbsarbeit konkret verbracht oder in Bezug auf Erwerbsarbeit getan wird, für diejenigen bedeutet, die außerhalb dieses Prozesses stehen. Dazu gehören Kinder, Mütter, die als Hausfrauen vorübergehend nicht oder teilzeit erwerbsarbeitsmäßig beschäftigt sind, ebenso Erwerbslose und eben die sich in der Verrentung befindlichen älteren Frauen und Männer. Es wird zukünftig eine grundsätzliche Auseinandersetzung und Bewertung geben müssen, in welcher Balance insgesamt zwischen Arbeit und Leben, zwischen Erwerbs-, Haus- und Familienarbeit, Familienfreizeit und Individualzeit aktiv gelebt werden könnte. In diese Reflexion gehören auch die sich weiter fortsetzenden Deregulierungen der Arbeitszeit. Es finden Bewegungen statt, die abhängig vom Qualifikationsniveau und bereits z. T. vom Geschlecht in zwei gegensätzliche Richtungen verlaufen. Es gibt den Trend der Aufsplittung der Vollzeitarbeit in Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung. Die wöchentlichen Durchschnittsarbeitszeiten der weiblichen Beschäftigten, die von diesem Trend überwiegend betroffen sind, sinken (vgl. ebd. 2002). Neue Formen der Arbeitsorganisation und neue Managementmethoden führen vor allem bei hoch qualifizierten Angestellten zur Verlängerung von Arbeitszeiten über die tariflich oder vertraglich vereinbarten Arbeitszeiten hinaus. Wagner sieht dies als mögliche Entwicklung einer neuen Form der individuellen Arbeitszeitgestaltung (vgl. Wagner 2000, S. 258). Gerade für hoch qualifizierte Angestellte wird die Differenz zwischen vereinbarter und tatsächlicher Arbeitszeit größer. Vermehrt und häufig unentgeltlich werden Überstunden geleistet. Es gibt darüber hinaus einen wachsenden Anteil von ArbeitnehmerInnen, der keine vertraglichen Regelungen über die Dauer der Arbeitszeit vereinbart hat (vgl. Wagner 2000, S. 264 in: Oechsle 2002, S. IX). Aufgrund dieser Bedingungen, die als aktuelle Bedingungen einer sich weiter entwickelnden Erwerbarbeitsgesellschaft gelten, hält Rinderspacher seinen Ruf nach Zeitwohlstand vor allem im Zusammenhang mit einem tief greifenden Zeitenwechsel für realisierbar. Die Forderung nach Entzeitlichung ist weder nur eine Verlangsamung noch nur partiell gemeint. „Man könnte auch sagen, Entzeitlichung wäre die radikalste Form der Entschleunigung bzw. wäre der Nullpunkt jeder Entschleunigung, d. h. die völlige Entzeitlichung eines bislang zeitpolitisch noch relevanten Objekts“ (Rinderspacher 2003, S. 100). Die Forderung nach Drosselung der Beschleunigung in der Gesellschaft bis zum Nullpunkt ist mit der beinahe vollständigen Virtualisierung der Gesellschaft seit Beginn der 90er Jahre des 20. Jhds. mindestens genauso bedeutsam wie die totale Entzeitlichung eines jeden zeitpolitisch relevanten Objekts. Mit dieser Forderung wird die Dringlichkeit verstärkt, sich über die Verringerung der Geschwindigkeit hinaus, mit Fragen zu Zeitstrukturen auseinanderzusetzen. Für Zeitforscherinnen und Zeitforscher steht fest, dass sich die Ökonomisierung der Zeit verselbstständigt hat und alle wesentlichen Elemente eines Lebens bis ins hohe Alter bestimmt. Hochschild schätzt nur ein kollektives Vorgehen als wirksam und vielversprechend ein, wenn es darum geht, die „Zeitfalle“ aufzubrechen, in der sich die Gesellschaft befindet. 99
Davon ausgehend, dass vorerst ein erheblicher Teil der Anhängerschaft einer ZeitBewegung aus Frauen bestehen würde, wäre der Gewinn jedoch auch für die Männer erheblich. „Männliche Beschäftigte, deren durchschnittliche Arbeitstage oft länger sind als die der Frauen und deren Präsenz zu Hause oft so schmerzlich vermisst wird, brauchen eine Zeit-Bewegung mindestens so dringend wie die Frauen“ (Hochschild 2002, S. 270). Abgesehen von der Berücksichtigung der Gender-Aspekte, die sich auch durch die Zeitnutzung und –aufteilung zwischen den Geschlechtern zeigt, fordert Hochschild eine Eröffnung des Dialogs für den ihrer Ansicht nach schwierigsten und mit den größten Ängsten verbundenen Aspekt der bestehenden Zeitfalle: Es geht um die Notwendigkeit, emotional in das Familienleben zu investieren. Die Frage, die sich jedes Mitglied stellen muss, ist wie viel Zeit und Energie jede Frau und jeder Mann dem Zuhause widmen sollte und wie viel Zeit und Energie sich jeder zutraut, von der Arbeit zugunsten der Familienzeit abzuziehen (vgl. ebd. 2002, S. 274). Mit der Zeitfrage sind sozial konstruierte und gleichsam auf diese Weise so ursächlich miteinander verknüpfte Elemente zu einer Benachteiligung für alle gesellschaftlichen Mitglieder geworden. Für Hochschild bedeutet eine Zeit-Bewegung vor allem auch die Klärung der Wertschätzung von Liebesbeziehungen und Gemeinschaftsverbindungen und nicht zuerst die Festlegung der Definition, wann aus wie viel Personen eine Familie wird, die unterstützt werden müsste. Dieser Streit sei nicht hilfreich, sondern es gehe darum, Verbindungen und Beziehungen vor der Vermarktung zu schützen; mit einer Zeit-Bewegung würde auch die Geschlechterfrage zur Diskussion stehen. „(...) Eine Zeitbewegung müsste uns alle wieder zu der Frage zurückbringen, wie Frauen und Männer einander ebenbürtig werden können in einer stärker kindorientierten und mit mehr Bürgersinn ausgestatteten Gesellschaft. Eine solche Bewegung würde auch noch eine Reihe weiterer heikler Fragen angehen müssen. Wie viele Stunden pro Tag, pro Woche, pro Jahr sollten Menschen arbeiten? Wie können wir bessere Arbeitsumgebungen durchsetzen, ohne sie ungewollt in eine Zuflucht vom Leben zu Hause zu verwandeln? Wie können beide Partner in einer Beziehung zu einem stabilen und harmonischen Verständnis der Balance von Beruf und Familie gelangen? Wie kann man in Zeiten wachsender ökonomischer Ungleichheit dafür sorgen, dass sowohl die wirtschaftlich schwachen als auch die besser gestellten Erwerbstätigen mehr Zeit zur Verfügung haben?“ (Hochschild 2002, S. 274). Es stellen sich viele Fragen, wenn die zeitlichen Strukturen der Gesellschaft von der Qualität betrachtet werden, die sie für familiäre, gemeinschaftliche bzw. soziale Beziehungen bereithalten. Mit dieser Perspektivierung wird sehr schnell deutlich, dass mit der Zeiteinteilung in der aktuell geltenden Erwerbsarbeitsgesellschaft der Sinn für die Sicherstellung der Lebensqualität nicht vorkommt. Bemühungen der Zeitpioniere um die Zeit wollen ein Bewusstwerdungsprozess über die Verselbstständigung und die Durchdringung jedes gesellschaftlichen Elements der ökonomisierten Zeit, womit jedes gesellschaftliche Mitglied mehr Einfluss und ein Mehr an Entscheidung für eigene Zeiträume in seiner Lebenszeit bekommt. Inzwischen setzt sich jedoch auch unter den ZeitforscherInnen die Erkenntnis durch, die Rückgewinnung eigener Zeit bzw. zeitlicher Spielräume werde nicht durch die Drosselung des Tempos bzw. Verlangsamung oder durch das Erlernen eines aktiven Umgangs mit der Zeit allein gelingen. Die Zeitstruktur zu verändern, wird nur über eine Entzeitlichung zu erreichen sein, die sich darum bemüht, jede Verzeitlichungsstruktur zu rekonstruieren, um in die Tiefe der Zeit vorzudringen. Erst über eine vollständige Dekonstruktion, so Rin100
derspacher 2003, wird es gelingen, aufgrund der analysierten und offen vorhandenen Zeitmuster, eine Diskussion zu Zeitmustern anzuregen, deren Etablierung eben für eine Erhöhung zeitlicher Lebensqualität notwendig wären. „Entzeitlichung meint hier, die vorfindliche Verzeitlichungsstruktur eines Gegenstandes zu dekonstruieren“ (Rinderspacher 2003, S. 100). Damit ist eine gemäßigte Position, die davon ausging, Zeit wäre über die Festlegung von Freiräumen in der Zeit zurück erobert, aufgegeben worden zugunsten einer tatsächlichen Auseinandersetzung, wie und in welcher Weise Zeit das gesamte Leben durchdrungen hat. Im Folgenden werden einige der Zeitpionierprojekte, die sich auf unterschiedlichen Ebenen von kommunalen bis hin zu länderübergreifenden Zeitveränderungsprozessen gebildet haben, mit ihren Zielen und konkreten Veränderungsintentionen vorgestellt und im Hinblick auf ihren Nutzen für die unterschiedlichen Lebensalter eingeschätzt. 5.2.1 Zeit-Bewegungen und ihre Bedeutung für die Veränderung der Zeitstrukturen im Alter Unter Zeit-Bewegungen sind all die Initiativen zu verstehen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die bestehende Zeitordnung von überwiegend industriegesellschaftlich strukturierten und sich seit mindestens zwei Dekaden zu Dienstleistungsgesellschaften umbildenden Gesellschaften zu verändern. Die übergeordnete Zielsetzung lautet, mehr Lebensqualität durch größere zeitliche Spielräume herzustellen, welche über zeitliche Umorientierungen konkreter Angebote und Dienstleistungen erreicht werden. Mückenberger bezeichnet die sich unter dem Oberbegriff „Zeiten der Stadt“ der letzten 20 Jahre entwickelnde Zeitpolitik mehr als nur ein „kleines Blümchen am Wegesrand“ und formuliert sie als einen neuen Politikbereich „kommunale Zeitpolitik“ (vgl. Mückenberger 2001, S. 9). „In Italien wurden im Jahre 2000 alle Kommunen per Gesetz zu Instrumenten und Maßnahmen kommunaler Zeitpolitik verpflichtet. In Frankreich hat eine zeitpolitische Experimentierphase begonnen – gestützt auf das 35-Stunden-Wochen-Gesetz. In den Niederlanden wird ein großes Versuchsprogramm der ‚Kommission zur Tageszeitgestaltung’ aufgelegt. (…) Auch in Deutschland sind dem Modellversuch Barmbek-Uhlenhorst das Zeitbüro BremenVegesack, der Expo 2000-Verbund „Zeiten der Stadt“, die Modellversuche in Erfurt, Harburg und Wolfsburg, in Hanau und nordrheinwestfälischen Kommunen gefolgt“ (Mückenberger 2001, S. 9). Darüber hinaus besteht ein EU-Projekt „EUREXCTER“ (Excellence territoriale en Europe), das die Zeitpolitik länderübergreifend in der Langzeitperspektive verändern und synchronisieren will und als loser Verbund bereits seit Beginn der 90er Jahre des 20 Jhds. die gemeinsame Arbeit begonnen hat. Dabei verfolgt jedes zeitpolitische Bemühen die Zielsetzung, die zeitlichen Bedingungen des Alltags individuell und kollektiv zur Selbstverfügung gestaltbar zu machen und aufgrund eigener Sinngebung Eigenleben, Familie, Geschlechter- und Generationenverhältnis, Erwerbsarbeit sowie öffentliches Leben miteinander vereinbar zu gestalten (vgl. Bittscheidt 2001, S. 14). Zu den ersten bedeutenden Zeitpolitikprojekten zählen seit 1992 das Bremer Perspektivenlabor mit dem Leitbild „Zeitbewusste Stadt“. Mit der Gründung des Bremer Forums „Zeiten der Stadt“ erfolgen seit 1994 für z.B. Schule/Hort, Sicherheit im öffentlichen Raum sowie Verwaltungsmodernisierung zeitliche Thematisierungen und mündeten in der Grün101
dung eines Bürgeramtes. 1997 wurde in einem Bremer Stadtteil ein „Zeitbüro“ gegründet. Als erster praktischer Großversuch „Zeiten der Stadt“ ist das Modellvorhaben von 1994 in Hamburg/Barmbek-Uhlenhorst zu werten, bei dem es um die zeitlichen Anforderungen junger berufstätiger Mütter ging und im Sinne der Gleichstellung die Umgestaltung des Ortsamtsbereichs begonnen wurde. Seit 1996 werden mit Unterstützung des EU-Kooperationszusammenhangs EUREXCTER Projekte in unterschiedlichen deutschen Städten wie z.B. Hamburg, Bremen, Erfurt sowie Wolfsburg durchgeführt, die jeweilig unterschiedliche Ziele in Bezug auf Zeitstrukturen und deren Veränderung haben. Es wurden öffentliche Kommunen beim Aufbau von Bürgerservicestellen oder in Bezug auf Kliniken oder wie in Wolfsburg die Vermittlung von Zeitkonflikten des Volkswagen-Werks und der Stadt/Region angestoßen (vgl. Mückenberger 2001, S. 24f). Im Rahmen der Expo 2000 erfolgten weitere „Zeiten der Stadt“ Projekte, von Ausstellungen bis hin zu Initiativen von Frauenbüros in öffentlichen Kommunen, die Leitbilder für „zeitbewusste“ Städte entwickelten. Nordrhein-Westfalen hat als erster Flächenstaat ein „Zeiten der Stadt“ Programm initiiert, in dem in fünf Städten Zeitprojekte und Zeitbüros gefördert werden. Auf nationaler Ebene entstanden Auseinandersetzungen mit Zeitstrukturen, da auf eine Vielzahl an zeitreflektierenden Vorarbeiten aus anderen Ländern angeknüpft werden konnte. Italien gilt in Bezug auf Zeitpolitik als Vordenker und als Zeitpionier der ersten Stunden in Italien sind dabei die italienische Frauenbewegung und ihre Mitstreiterinnen aus der Kommunistischen Partei KPI zu nennen, die mit dem Ansatz „Die Frauen verändern die Zeiten“ und daraus folgend der Initiative „tempi della citta“, bereits in den 80er Jahren des 20. Jhds. einen Gesetzentwurf zur aktiven Veränderung der Zeitstrukturen vorlegten (vgl. Mückenberger 2001; Villeneuve 2001; Mairhuber 2001; Bauer-Polo 2001). In Italien thematisierten vor allem Frauen aus Wissenschaft, Politik und Gewerkschaften die zunehmende Doppelpräsens von Frauen in Familie und Beruf. Soziale Zeiten und Arbeitszeiten müssten in einer überwiegend nur für ein Geschlecht strukturierten Zeitlichkeit und Räumlichkeit miteinander vereint werden, fasst eine zentrale italienische Erkenntnis zusammen. Von dieser Initiative ausgehend bemühte sich die italienische Zeit-Bewegung als Frauenbewegung um Erneuerung der Zeitstrukturen in den Städten sowie in der Vereinbarung der Zeiten für Sorge und Pflege einerseits sowie den Arbeitszeiten andererseits (vgl. Bauer-Polo 2001, S. 45). Der Gesetzentwurf, der in 33 Artikeln eine Neuverteilung der Familien- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern forderte und zwischen Gesellschaft und Individuum sowie die Selbstbestimmung der Einzelnen/des Einzelnen über ihre/seine Zeit postulierte, fand zu diesem Zeitpunkt keine Mehrheit (vgl. Bauer-Polo 2001). Dennoch wurde der Ansatz als Bestimmung in die Kommunalverfassungsreform von 1990 aufgenommen. Die Bürgermeister wurden darin ermächtigt, auf kommunaler Ebene eine Politik der zeitlichen Abstimmung öffentlicher und privater Anbieter vorzunehmen sowie Öffnungszeiten zur lokalen Regelung zu stellen. In vielen italienischen Kommunen gibt es eine kommunale Zeitpolitik, mit der Erstellung von Zeitleitplänen und der Einführung bedarfsgerechterer Zeitstrukturen. „In den folgenden Jahren (19901996) werden in neuen italienischen Regionen Rahmengesetze zur Förderung der Zeitpolitik verabschiedet, und in etwa 150 kleineren, mittleren und größeren Städten wurden Zeitstrukturen analysiert, Pilotprojekte durchgeführt, Zeitbüros eingerichtet und Zeitleitpläne erstellt“ (Bauer-Polo 2001, S. 46). Die Besonderheit, dieser in den 80er Jahren des 20. Jhds. begonnenen Initiativen ist das Erkennen der unterschiedlichen Zeiten, die zudem ungleich 102
unter den Geschlechtern verteilt sind. Darüber hinaus betreiben sie die Sichtbarmachung dieser Ungleichverteilung über Skandalisierungen sowie die Forderung nach gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Lösungen. Die Ansätze sind in den einzelnen Städten unterschiedlich: Entweder geht es darum, die Differenz in den Lebensrhythmen der unterschiedlichen Geschlechter auszugleichen, die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen über Öffnungszeiten zu verbessern oder es wird ein strategisches Gesamtkonzept entwickelt, das viele einzelne Zeitumstrukturierungsprojekte in einer Stadt umfasst. Über die Methode eines dezentralen Vorgehens und der Initiierung eines sozialen Dialogs wurden konkrete Maßnahmen getroffen wie z.B. die Veränderung der Öffnungszeiten verschiedener Schalterdienste, die Anpassung personenbezogener Dienstleistungen an die Bedürfnisse derer, die sie in Anspruch nehmen (Kinderbetreuungsangebote), die Verbesserung des Dienstleistungsangebotes insgesamt, Flexibilisierung des Mobilitätsangebots, die Förderung von Zeitbanken. Insgesamt wurde begonnen, die Qualität des Alltags der Menschen in der Stadt in räumlicher und zeitlicher Dimension zum Gestaltungsfeld zu erklären (vgl. Bauer-Polo 2001). Mückenberger hebt für die Initiativen vor allem die in italienischen Kommunen eingeführten Zeitbüros oder Stäbe mit Querschnittsaufgaben hervor, die Projekte betrieben wie z.B. die Koordination von Betreuungs- und Arbeitszeiten, die Einführung von Bürgertagen mit gleichzeitiger Öffnung aller privaten und öffentlichen Dienstleister, die Entzerrung der Verkehrsströme durch geschichtete Anfangszeiten von Schulen und Betrieben in einem Stadtteil, ein Rotationssystem abendlicher Öffnungszeiten von Läden des alltäglichen Bedarfs etc. (vgl. Mückenberger 2001, S. 27). Fakten wurden geschaffen durch eine gesetzliche Verpflichtung mit dem Gesetz Nr. 53/2000, eine kommunale Zeitpolitik für jede Kommune in Italien einzuführen, um berufliche, soziale und städtische Zeiten aktiv zu gestalten und vereinbar zu machen. Das Gesetz sieht sowohl eben genannte Projekte und Zeitleitpläne vor als auch Zeitbanken zum Austausch personenbezogener Dienstleistungen oder die Regelung der Öffnungszeiten der Behörden sowie die Einführung „Runder Tische“, bei denen VertreterInnen der Regierung und Verwaltung, SozialpartnerInnen, BildungsinstitutionenvertreterInnen und VertreterInnen des öffentlichen Personennahverkehr aktiv an den Planungen im Sinne besserer Zeitstrukturen einer Kommune beteiligt sind. Zudem bemüht sich das Gesetz um die Integration arbeits- und sozialrechtlicher Regelungen, die die Vereinbarkeit von Arbeits- und Familienzeiten bzw. übergreifend die Sozial- und Freizeit im Sinn haben sowie selbstverständlich einen Gleichstellungsansatz verfolgen. Das Gesetz will einen ganzheitlichen Anspruch nach Zeitbedarfen in der Gesellschaft durchsetzen, in dem es die Zeitinteressen von Betrieben, Verwaltungen sowie des territorialen Umfeldes abstimmen und ausgleichen will (vgl. Mückenberg 2001, S. 28). Auf europäischer Ebene arbeitet das Projekt EUREXCTER an den Zeitdimensionen auf unterschiedlichen Ebenen, um über das Zusammenwirken der Komponenten Lebensqualität, Grundrechte und regionale Zusammenarbeit dazu beizutragen, die nachhaltige Entwicklung der Regionen und des sozialen Zusammenhalts in einem sich vergrößernden Europa zu stärken (vgl. Villeneuve 2001, S. 35). EUREXCTER bündelt die unterschiedlichen Ansätze der Zeitpolitik auf europäischer Ebene in dem Programm „Zeiten der Stadt“, in denen es vor allem darum geht, die zeitliche Dimension des Lebensalltags sichtbar zu machen und das Bewusstsein für die Auswirkungen der europäischen Beschäftigungspolitik auf den sozialen Zusammenhalt und die Gleichstellung zu schärfen. „Die Zeitdimension der historischen Entwicklung unterscheidet sich von der gelebten Zeit, der Zeiterfahrung inner103
halb eines solchen Entwicklungsprozesses (Arbeitszeit, Zeit für Familienleben und soziale Aktivitäten, Zeitorganisation und Mobilität etc.). Zeiterfahrung trägt nicht nur zur Ausbildung der physischen Geschichte eines Territoriums bei, sondern muss als erklärende Variable hierfür gesehen werden; sie ist nicht, wie es der räumliche Ansatz unterstellt, lediglich eine Folgeerscheinung. Die Feststellung, die gelebte Zeit sei ein wichtiger Faktor für die Gestaltung des öffentlichen Lebensraumes, gilt indessen erst recht für die Schauplätze des persönlichen und familiären Lebens und für das Büro, den Arbeitsplatz. Sie ist auch ein kollektiver Faktor, der sich auf die Transportsysteme auswirkt“ (Villeneuve 2001, S. 40). Villeneuve hebt darüber hinaus für das EUREXCTER-Programm hervor, dass Zeit als Ausdruck der Organisation des Alltagslebens und bestimmender Faktor für soziale Beziehungen bisher im durchgängig dominanten räumlichen Denken kaum ausreichend Berücksichtigung findet. Zeit sei jedoch nicht nur als Ergänzung der Disziplin der öffentlichen Raumgestaltung zu verstehen, sondern als methodologische Alternative, die zugleich einen neuen konzeptuellen Kontext darstellt (vgl. ebd. 2001, S. 40; Bodin/Buschak 2003). Innerhalb der europäischen Initiative zur Zeitdimension bekommt der Zusammenhang zwischen der Beschäftigungspolitik, Gleichstellung der Geschlechter sowie einer hieraus neu zu strukturierenden Zeiteinteilung zwischen den Geschlechtern Priorität. Der europäische Rat in Lissabon hat zu den Kernelementen seiner Strategie zur Beschäftigungsförderung die Erhöhung des Anteils von Frauen auf dem Arbeitsmarkt gemacht, um auch weiterhin die Tragfähigkeit der europäischen Sozialschutzsysteme zu gewährleisten. Gleichzeitig steht dabei auch nach wie vor die Verwirklichung der Chancengleichheit der Geschlechter im Zentrum. Die Erhöhung des Anteils der Frauen auf dem Arbeitsmarkt wird sich jedoch nur mit einer Überwindung der bestehenden Zeitordnung durchsetzen lassen, die die Zuordnungen von „Frauenzeit“ und „Männerzeit“ innerhalb des Familien-, Sozial- und Arbeitslebens durchbricht. Konkret müssten sich die Zeitstrukturen in Bezug auf Ausbildung, Arbeitszeiten, Mobilität, Einrichtungen zur Kinderbetreuung und Pflege bedürftiger Personen, Öffnungszeiten des Einzelhandels etc. ändern, um einen Beitrag zur Erhöhung der Beschäftigungsquote von Frauen zu leisten. Mit dem EUREXCTER Programm geht es um eine wirkliche Änderung der Zeitstrukturen, um Chancengleichheit durchzusetzen und keinesfalls darum, Frauen unter schlechteren Bedingungen in den Arbeitsmarkt aufzunehmen, wie z.B. zersplitterte Arbeitszeiten, minderqualifizierte Teilzeittätigkeiten und damit ein weiteres Anwachsen von Ungleichheiten. Eine Grundvoraussetzung für dieses Vorgehen der europäischen Initiative zeigt ihre Annahme, die Abhängigkeit von gegebenen Zeitstrukturen liege jenseits unterschiedlicher kollektiver und kultureller Vorstellungen. Jede Frau eines europäischen Landes ist davon abhängig, ihre Arbeits-, Familien- und städtischen Zeiten zu koordinieren, unabhängig von den verschiedenen gesellschaftlichen Organisationsformen (vgl. Villeneuve 2001). EUREXCTER verbindet auf europäischer Ebene konkret sowohl nationale Politikverwirklichungen (Italien, Frankreich, Niederlande, Finnland) als auch Einzelinitiativen (Deutschland) mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Zielsetzungen. In den Projekten können räumliche Dimensionen als Begrenzung dienen oder es werden bestimmte Angebote und Dienstleistungen auf ihre zeitliche Dimension analysiert und verändert (vgl. Boulin/Mückenberger 2001, S. 54). Insgesamt haben sich sieben Handlungsbereiche herauskristallisiert, die zeitbezogen länderübergreifend vor allem Veränderungsbedarf zeigen. Dazu gehören in verstärktem Maß die kommunale Verwaltung und die öffentlichen Dienste bezüglich ihrer Öffnungszeiten und Erreichbarkeit. Weiter haben Schulen und 104
Kinderbetreuungseinrichtungen mit ihren Öffnungszeiten Priorität in der Veränderung ihrer Angebotsstruktur, um den Eltern das bestehende „Organisations-Zeit-Puzzle“ zu vereinfachen. Ein weiterer Handlungsbereich, der in den einzelnen Ländern bezüglich neuer zeitlicher Regelungen betrachtet wird, betrifft die Arbeitszeiten. Neuregelungen der Arbeitszeiten haben verschiedene Absichten und zielen entweder auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze, auf die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen oder die Verbesserung der Effizienz von und des Zugangs zu Diensten und Angeboten. Vielfach zielen Maßnahmen auf die Realisierung der Chancengleichheit beider Geschlechter ab. Nachgeordnete Bereiche bezüglich neuer Zeitordnungen, die innerhalb des EUREXCTER-Programms angestrebt werden, betreffen die Verbesserung der Mobilität, bestimmte Zielgruppen wie z.B. Kinder, alte Menschen, berufstätige Mütter. Ein weiterer Handlungsbereich befasst sich mit Wiederbelebungen von Stadtgebieten. Dieser setzt über den Zeitbezug hinaus auf die Verbindung und gegenseitige Abhängigkeit eines Zeit-Raumbezuges (vgl. Boulin/Mückenberger 2001, S. 54f). Einige kommunale Zeitpolitiken werden als Anpassung an längst überfällige gesellschaftliche Entwicklungen gewertet, andere verfolgen die Analyse und Veränderung eigener sozialer oder kultureller Zielsetzungen. Boulin/Mückenberger rechnen die Mehrheit der Initiativen der ersteren Alternativ zu, in der von einer sich verändernden administrativen Logik ausgegangen wird. Arbeitszeiten und Arbeitsmarktbedingungen oder kulturelle Entwicklungen, wie z.B. die Erhöhung der Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt, machen die Veränderung zeitlicher Dimensionen notwendig. Die Initiierung zeitlicher Projekte aus sozialer oder kultureller Hinsicht setzte sich für ein neues Beziehungskonzept zwischen TaktgeberInnen oder EntscheidungsträgerInnen und BürgerInnen ein. Die zeitliche Dimension einer Verlängerung der Öffnungszeit würde in diesem Zusammenhang kein Erfordernis bedeuten, sondern resultiert aus der Erkenntnis, dass Zeitstrukturen soziale Beziehungen fördern oder be- bzw. verhindern. Diese Initiativen, die nach wie vor von der Qualität der Zeit aus gesellschaftliche und individuelle Zeit einschätzen und verändern wollen, könnten ausgeweitet werden, um eine umfassende Reform des Lebens in der Zeit zu erreichen. Es lässt sich für die Zeit-Bewegung feststellen: Wo sie sich durchgesetzt hat, besteht gesellschaftlicher Konsens mit dem zunehmenden Anteil von Frauen an der Erwerbsarbeit, blieben diese Frauen nicht in der Doppelbelastung von Arbeit und Familie auf sich selbst gestellt. Die Zeit-Bewegung ist so gesehen eine Bewegung für Frauen. Sie nahm ihren Ausgangspunkt bei den Aktivitäten einer Vielzahl aufmerksamer Frauen und hat sich von Italien aus über Europa verbreitet. Die Zeit-Bewegung erkannte die Ungleichverteilung der Zeit und deren strukturelle Verselbstständigung. Städtische Zeitpolitiken stellen ein neues politisches Konzept dar, das sich als ein neues Konzept von Stadt insgesamt kennzeichnen lässt. Städte werden nicht mehr länger als „geschlossene Räume“ betrachtet, sondern als Knoten innerhalb von Netzen regionaler Beziehungen und Ströme, „die sich mit Fragen der Nachhaltigkeit, der Mischnutzung, der bürgerlichen Rechte, der Bürgerbeteiligung und der Demokratie befassen. Dieses neue Konzept der Stadt ist nicht mehr länger männer- oder technologieorientiert, sondern scheint eine speziell feminine Zeitkultur zum Ausdruck zu bringen. ‚Zeiten der Stadt’ bringt den Bedarf eines neuen Paradigmas für das lokale ‚Gemeinwesen’ zum Ausdruck, das dem komplexen und manchmal widersprüchlichen Charakter der Koexistenz einer Pluralität und Heterogenität von Alltagsleben und Zeiten Rechnung trägt“ (Boulin/Mückenberger 2001, S. 62).
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Der Anspruch an eine umfassende und langfristige Zeit-Bewegung wird mit den zusammenfassenden Forderungen von Boulin/Mückenberger deutlich. Es erscheint überfällig, die Zeit-Bewegung als etwas zu begreifen, das ihren Ausgangspunkt im Paradigmenwechsel der Geschlechterorientierung innerhalb der gesellschaftlichen Zeitordnungen nahm. Inzwischen jedoch geht sie von den unterschiedlichen Bedürfnissen einer heterogen angelegten Gesellschaft aus und verändert diese entsprechend. Langfristige Perspektive ist die Erreichung eines Zeitwohlstands für alle Mitglieder der Gesellschaft, mit dem dann auch alle etwas für die Erhöhung ihrer Lebensqualität anfangen könnten. Die alltägliche Zeitordnung, die nach Mückenberger auf drei Säulen beruht, müsste dafür verändert werden, Zeitwohlstand in der Gesellschaft zu erreichen. Dazu gehören die Organisation der Arbeit, die Gestaltung des Geschlechter- und Generationenverhältnisses sowie die Organisation des Solidarzusammenhangs im örtlichen Umfeld wie z.B. Kultur, Infrastruktur, Dienstleistungen, Nachbarschaft, Transport etc. Über diese Eckpunkte sind die Teilhabe an der Gesellschaft sowie die Macht- und Verteilungsverhältnisse in der Gesellschaft bestimmt, die die Alltagsorganisation der Menschen erheblich beeinflussen (vgl. Mückenberger 2001, S. 30). Die zeitliche Organisiertheit dieser Elemente bestimmt in potenzierter Weise die Lebensqualität der Menschen. Auffallend ist, dass in keinem der Modellprojekte alte Menschen mit ihren Bedürfnissen und Bedarfen nach einer veränderten Zeitordnung explizit vorkommen. Sie werden allenfalls genannt als Zielgruppe, um deren Zeitbedarf Zeiten der Stadt ebenso gedacht oder verändert werden könnten. Mit der Ausgestaltung von Zeitstrukturen nach Gleichstellungsund Vereinbarkeitsgesichtspunkten von Familie und Erwerbstätigkeit wird die zeitliche Organisation zu einem zentralen Thema jeder neuen Zeitorientierung auf konkret zu planender Ebene in einem Sozialraum, mit der Einschränkung, dass es vor allem um die Vereinbarung von Arbeits- und Familienzeiten geht. Damit ist deutlich, Zeit wird wiederum von der Erwerbsarbeit aus gedacht, die linear organisiert ist und deren Veränderung aus Vereinbarkeitsaspekten die Notwendigkeit einer Zeit-Bewegung erforderte. Mit dem demographischen Wandel könnte es zukünftig abermals zu einer Zeit-Bewegung kommen, die folgendes zu berücksichtigen hätte: den wachsenden Anteil älterer Menschen, die in der Mehrheit nicht mehr an Erwerbsarbeit beteiligt sind und aus deren Zahl ein wachsender Anteil hilfe- und pflegebedürftiger Menschen in einem Sozialraum hervorgeht, der wiederum neue Zeitordnungserfordernisse mit sich bringen wird. Es steht unabweisbar an, darüber nachzudenken, wie und welchen Einfluss diese Entwicklung auf die Zeitordnung der Städte und ihre Dienstleistungs- und Mobilitätsmöglichkeiten, Arbeitsmärkte und ihre Dienstleistungsanbote haben wird, vor allem auch für Ältere und Frauen, die für die Betreuung, Hilfe und Pflege kaum Zeit erübrigen können. Mückenberger formuliert für „Zeiten der Stadt“ Projekte, sie müssten neben den Geschlechterverhältnissen und ihrer Ungleichverteilung zeitlicher Spielräume auch die Generationenverhältnisse im Blick haben. Die Generationenverhältnisse werden im Hinblick auf die nachwachsenden Generationen über die Herausforderung an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vor allem berücksichtigt. Generationenverhältnisse, die genauso selbstverständlich über die Generationen der verschiedenen Lebensalter von jung bis hochaltrig gedacht werden, bleiben dabei außerhalb des Spektrums der „Zeiten der Stadt“ Projekte. Erklärungen für dieses Phänomen könnten in der nach wie vor überwiegend ökonomisch gedachten und neu zu verplanenden Zeitverwendung liegen, deren Logik und Struktur auch in einer verbesserten Organisation von Zeit oder Raum-Zeit-Entzerrungen nicht verlassen 106
wird. Und das bedeutet, dass vor allem eine verbesserte Vereinbarung von Beruf und Familie dazu führt, die außerhalb von Beruf und Erwerbsarbeit stehenden Menschen nicht ausreichend wahrnehmen und entsprechend in Planungen für Zeiten einer Stadt berücksichtigen zu können. Aus der Diskussion um Zeit-Bewegungen und konkrete politische Entscheidungen dazu lässt sich zusammenfassen, dass es an einer Zeit-Bewegungsauseinandersetzung mangelt, die Zeit generationenübergreifend gesellschaftlich thematisiert und gestaltet. Nur so jedoch wäre die Lebensqualität aller an Gesellschaft Beteiligter im Hinblick auf die Zeit zu verbessern. Konsequenz müsste sein, Auseinandersetzungen zu fördern, die von den Beziehungen aller Mitglieder der Gesellschaft ausgehen. So könnten Zeitprojekte entstehen, die aus sozialer und kultureller Hinsicht als Basiswissen vertreten, dass prinzipiell jeder Mensch ein unterschiedliches Zeitbedürfnis hat, ebenso wie unterschiedliche Lebensalter Zeiten unterschiedlich empfinden. Daraus resultierend hängen Entstehung und Verfestigung sozialer Beziehungen von der Zeit ab, die ihnen zur Verfügung steht. Mit einer grundsätzlichen Neuorientierung im Hinblick auf Zeit und Zeitverwendung in der Gesellschaft würde es möglich, ebenfalls ein neues Verhältnis zwischen TaktgeberInnen oder EntscheidungsträgerInnen und BürgerInnen zu gestalten. Die Seite der TaktgeberInnen und der EntscheidungsträgerInnen würde wechseln und könnte zu neuem Wissen über Zeit und das Verhältnis der Einzelnen zu ihrer Zeit führen. Dieses wird insbesondere mit einer wachsenden Anzahl von nicht oder nicht mehr in der Erwerbsarbeit fest eingebundenen Menschen zunehmend notwendig. Der demographische Wandel könnte also eine Chance bieten, eine Zeit-Bewegung auszulösen, die sowohl gesellschaftliche als auch individuelle Zeit aktiv neu zu denken, zu empfinden und einschätzen zu lernen. Es geht ausdrücklich nicht primär um das Hereinholen der Generationenverhältnisse in die ZeitBewegung und um die Suche nach Modellen, die das Machbare und Organisierbare verwirklichen. Von übergeordneter Bedeutung ist die Herausbildung einer Zeitordnung, die neu und grundsätzlich vom Menschen aus zu denken beginnt, vom Menschen und seiner Zeit, die nicht mehr in einer linear verlaufenden Struktur verläuft. Für die zeitlichen Bedürfnisse älterer Menschen lassen sich vor allem zwei zu berücksichtigende Bereiche festmachen. Ältere Menschen haben die Zeitordnung einer Gesellschaft von Beginn ihres Lebens ebenso anerzogen und sozialisiert bekommen, wie jede/jeder andere im Verlaufe von Erziehungs- und Sozialisationsprozessen auch. Die Besonderheit, die für die Lebensverhältnisse Älterer zu berücksichtigen ist, liegt in gesellschaftlich-ökonomisch bedingten Zeitstruktur-Wechseln, die sich auch dynamisch auf die Zeitordnung auswirken. Der überwiegende Anteil der Menschen ist über die Erwerbsarbeitsverhältnisse an diesem Prozess beteiligt, passt sich an neue Gegebenheiten an und gestaltet sie sogar mit. Ältere Menschen sind gefährdet, an Zeitordnungsdynamisierungen nicht beteiligt zu sein, Anpassungsprozesse zu verpassen und außerhalb gesellschaftlicher Entwicklungen zu bleiben. Abgesehen davon fließen ihre eigenen Bedürfnisse gar nicht erst in gesellschaftliche Prozesse ein. Ältere, aus dem Erwerbsarbeitsprozess bereits Ausgeschiedene, vollziehen gesellschaftliche Zeitordnungswechsel nicht mehr aktiv mit und entwickeln eine eigene Zeitordnung, die von der Grundstruktur zwar der ökonomisch-linearen Zeitordnung folgt und nun jedoch an neue Lebenssituationen angepasst wird. Die aktuelle Zeitordnung einer Gesellschaft gibt jedoch den Takt und das Maß einer Gesellschaft an und entscheidet wiederum über Teilhabe an Gesellschaft, womit ältere Menschen in mehrfacher Hinsicht ausgeschlos107
sen sein können. Darüber hinaus sind die aus der Erwerbsarbeitsstruktur entlassenen Älteren wiederum darauf verwiesen, eine eigene Zeitordnung für sich zu entwickeln, die einerseits nicht vollkommen konträr zu der dominanten Zeitordnung verläuft und sie in Konsequenz somit von den anderen Mitgliedern der Gesellschaft ausschließt. Andererseits wird es ihnen auch nicht gelingen, ihre bisherige Zeitordnung, die bis zum Verrentungszeitpunkt überwiegend an der Erwerbsarbeit orientiert war, nur zu einem Teil aufzugeben, da sie sich sozusagen „schwerelos“ weiterhin in der linearen Zeitstrukturierung befinden. Es ist eine Herausforderung an den Alterungsprozess außerhalb von Erwerbsarbeit, solch ein Leben zu entwerfen, das dem eigenen Zeitbedarf oder der eigenen Zeitorientierung nahe kommt. Für die älteren Mitglieder der Gesellschaft stellt sich die Frage danach, Zeitorientierungskriterien zu entwickeln oder sich nach neuen Zeitorientierungspunkten umzusehen, um zu eigenen Zeitbedürfnissen zu kommen und entsprechend nach „neu“ zu erwerbenden Zeitmustern zu leben. Dabei ist von zwei wesentlichen, den Alterungsprozess beeinflussenden Aspekten auszugehen, die für neue Zeitmuster im Alter zu berücksichtigen sind. Mit zunehmendem Alter werden sich Zeitbedürfnisse weiterhin verändern. Je nach Gesundheitszustand und Hilfe- und Pflegebedarf im dritten bzw. vierten Lebensalter werden die Anforderungen an die Zeitstrukturen komplexer, vor allem im Hinblick auf die Geschwindigkeit und Mobilität sowie die damit eng im Zusammenhang stehenden Aspekte, wie z.B. soziale Kontakte, Eingebundenheit in einen Sozialraum und Erhaltung der Selbstständigkeit. Die Konstruktion und Anpassung zeitlicher Strukturen müsste für alle Lebensalter gedacht und organisiert werden können. Die europäische Zeit-Bewegung will für den Vereinbarkeitszusammenhang von Familie und Beruf im Hinblick auf die nachwachsende Generation und gleichzeitig für die Entlastung der Frauen Zeitwohlstand erreichen. Alte Menschen hingegen brauchen keinen Zeitwohlstand, sondern eher Unterstützung darin, Zeitwohlstand aktiv balancieren zu können und somit Anhaltspunkte, wie aus einem „zu viel an Zeit“ ein angenehmer Wohlstand werden könnte, statt Überdruss. Mit der Verrentung erhalten die Älteren die Chance, sich jenseits des ökonomischenlinearen Zeitdiktats in die Auseinandersetzung um die eigene Zeitgestaltung zu begeben und sich der Frage zu stellen, was in ihrem Leben zeitrelevante Bedeutungen hat und was neu hinzugenommen werden könnte. Der Wert, der einer Sache oder Tätigkeit zugeschrieben wird, würde über die Bewertung ihrer Dauer und zeitlichen Perspektive sichtbar, die ihr eingeräumt wird. Es könnte ein für die Altersphase notwendiger Paradigmenwechsel stattfinden, der das bisherige vom „Vergehen der Zeit“ ausgehende Leben, zu einem Leben führt, indem das „Entstehen der Zeit“ als Ausgangsposition für eine Lebensgestaltung eingenommen wird. Aus der europäischen Zeit-Bewegung mit ihrer Vielzahl an Projekten lässt sich lernen, Zeit über die Synchronisierung der Vielfalt von Zeiten in einem Sozialraum hinaus, ganz grundsätzlich von den Zeitbedürfnissen sowie Zeitbedarfen einzelner Gruppen auszugehen. Für die Organisation selbstständigen Lebens im Alter ist, neben der Möglichkeit der Mobilität und der Erreichbarkeit einer Infrastruktur, von besonderer Bedeutung für die Lebensqualität, dass die Betroffenen eine Vielfalt an sozialen Kontakten herstellen und aktiv leben können sowohl innerhalb des eigenen Lebensalters als auch lebensalterübergreifend. Die Bedeutung der zeitlichen Perspektive für die Qualität von sozialen Kontakten, Bindungen und Beziehungen wird dabei bisher durchgängig nicht berücksichtigt. Und umgekehrt wer-
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den die Chancen, die für den Alterungsprozess in sozialen Kontakten, Bindungen und Beziehungen liegen, bis heute zu wenig erkannt. Kindern (vgl. Zeiher 1994-2004) und älteren Menschen (Meyer 2002; Deutsch 2006) werden Zeitstrukturen übergestülpt. Dabei sind diese beiden Lebensaltergruppen diejenigen, die von sich aus über eigene Zeitstrukturen verfügen oder gezwungen sind, wieder eigene und für den eigenen Lebenszusammenhang passende Zeitstrukturen zu entwickeln. Es bleibt bisher unhinterfragt, wie viel Zeit eigentlich jede und jeder für die Herausbildung seiner eigenen Person und eigenen Entwicklung bekommt. Kulturen, die überwiegend nach der Ereigniszeit leben, leben nach der Bedeutung, die soziale Bindungen für ihr Leben und ihre alltägliche Lebensqualität haben. Menschen, die ereigniszeitorientiert sind, geben nicht von vornherein einer Tätigkeit eine ungefähre zeitliche Spanne, vielmehr dauert jedes Ereignis so lange an, wie es Zeit benötigt. Die Dauer einer Tätigkeit könnte also durchaus Gradmesser für die Bedeutung dieses Ereignisses sein. Von der Bedeutung der Tätigkeiten oder des sozialen Lebens ausgehend neue Zeitkompetenz zurück zu gewinnen, könnte für ältere Menschen und ihr Zeit(er)leben großen Wert bekommen. 5.2.2 Zeit-Bewegung für ältere Menschen heißt: Zeitstrukturen von der Bedeutung des Sozialen aus gestalten Zeit-Bewegung bedeutet im Hinblick auf die aktive Lebensgestaltung älterer Menschen in der Gesellschaft, sich nicht nur auf die Gestaltung veränderbarer Zeiten wie z.B. Öffnungszeiten oder die Synchronisierung bestimmter Bereiche in Städten oder Regionen zu beziehen, um Vereinbarkeiten zwischen Anforderungen unterschiedlicher Lebensbereiche herzustellen. Es geht um eine viel schärfere Abgrenzung zu aktuell dominanten Zeitverwendungsstrukturen. Darüber hinaus sind auch die Strukturierungen zeitlicher Anforderungen zwischen Erwerbs-, Familien-, Reproduktions- und Freizeit ohne Zeitdruck und Hetze eher vordergründig, ohne die dahinter liegenden tieferen dominanten Zeitstrukturen zu hinterfragen. Die Frage nach der Zeit im Leben kann mit der zeitlichen, formalen oder thematischen Annäherung an Alternsprozesse zu einer Grundsatzfrage werden, in der die selbstständige Entscheidung, wie Zeit verwendet wird, als Basis und Garant guten Lebens gilt. Der demographische Wandel kann insofern als eine individuelle und gesellschaftliche Chance zur Rückgewinnung eigenständigen zeitlich selbstverantworteten Lebens werden. Geißler begibt sich aus seinen Überlegungen zur Zeit-Bewegung in eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der zeitlichen Dimension, indem er plakativ formuliert, dass ein gutes Leben insbesondere Zeit mit vielfältigen Zeitmustern benötigt. „Das Leben, und das gute Leben speziell, brauchen nämlich Zeit, und sie brauchen nicht nur Eile und Hetze, sie brauchen viele unterschiedliche lebendige Zeitformen“ (Geißler 2003, S. 14). Die Anforderungen eines Lebens und vor allem eines guten Lebens sind in ihrer Abhängigkeit von der zeitlichen Dimension zu sehen, die vor allem in der Vielfalt ihrer Dimension hohe Bedeutung trägt. Die Zeit entscheidet über die Güte der Lebensqualität eines jeden Menschen in der Gesellschaft. Weder hohe Geschwindigkeiten noch Beschleunigungen sind im Leben von besonderem Wert, vielmehr sind es viele und in ihrer Qualität unterschiedliche Zeitformen, die für gute Bedingungen im Leben sorgen. Gleichzeitig jedoch 109
schränkt Geißler seine Forderung nach Erkenntnis und Veränderung der tiefen Verbindung von Zeit und gutem Leben wieder ein. Ein gutes Leben in Abhängigkeit seiner zeitlichen Dimension zu begreifen, bedeutet, dass Entwicklungen, Tätigkeiten und Ereignisse unterschiedliche Zeitanteile oder –maße für ihre optimale Entwicklung benötigen. Wenn diese Erkenntnis gesellschaftlich anerkannt und durchgesetzt würde, würde jeder Mensch einen aktiven eigenen Umgang mit der Zeit erlernen und das würde in der jetzigen linearen zeitlichen Orientierung ein immenses Umdenken und Handeln zur Konsequenz haben. Diese Aussage fordert dazu heraus, sich mit der Qualitätsdimensionierung von Zeit tief greifend und von der Bedeutung der Zeit für das Leben her auseinander zu setzen. Deutlich wird, dass die Veränderung der Geschwindigkeit, unabhängig ob beschleunigter oder verlangsamter nicht gradlinig zu einer Verbesserung der Lebensqualität führt. Vielfältige Zeitformen leben zu können, setzt wiederum einen aktiven Umgang mit Zeit voraus und erst der würde zu einem Umdenken im Hinblick auf Zeit führen. Bisher ist gesellschaftlich zuwenig thematisiert, welche Zeitformen für welchen Lebensbereich bedeutsam sein und durchgesetzt werden sollten. Mit Zeiher ist im Zusammenhang neuer Zeit-Lebens-Qualitäten insbesondere die Reflexion aller Lebensalter in allen Lebensbereichen von Bedeutung. Im Rahmen der Reflexion zu Zeitbalancen wird hervorgehoben, diese könnten nur entstehen, wenn über bloße Zeitkoordinationsfragen hinaus tiefer in die Zeit hineingedacht wird als eine Qualität, die vor allem für Menschen gesehen werden muss, für die gesellschaftlich und individuell Sorge zu tragen ist. „Die zeitliche Lebensqualität aller Generationen in allen Bereichen des Lebens muss bei der Suche nach neuen Balancen auf den Prüfstand gestellt werden. Es geht dabei um Balancen nicht nur im Sinne konfliktfreier Zeitkoordination, sondern auch zwischen den Gewichten und den Zeitlogiken der verschiedenartigen Lebensbereiche, nicht nur innerhalb des individuellen Lebens, sondern auch zwischen dem eigenen Leben und dem Leben der anderen, für die Sorge getragen wird“ (Zeiher 2004, S. 6). Zeiher ist davon überzeugt, dass ein tief greifender Wandel im Denken, Handeln und der Reflexion den notwendigen Wandlungsprozess bezüglich des Umgangs mit der Zeit hervorbringt. Es geht nicht um die Formen der Zeit, die vielfältig zur Verfügung und Abwechslung im Leben sorgen, sondern um die Hineinnahme der unterschiedlichen Zeitlogiken, die die unterschiedlichen Lebensbereiche bestimmen. Von besonderer Bedeutung erscheint der hohe Stellenwert, der selbstverständlich in der Gewichtung und Vielfältigkeit im sozialen Miteinander der unterschiedlichen Lebensbereiche zu sehen ist. Darüber hinaus ist insbesondere der Sorge-Gedanke zu berücksichtigen, der wechselseitig in seiner zeitlichen Bedeutung für den Einzelnen und in seiner gesellschaftlichen Dimension konstituierend ist. Für eine Zeit-Bewegung bedeutet dies, jenseits der gängigen linear-ökonomischen Strukturierung und der Synchronisierung unterschiedlicher Lebensbereiche Zeit von der Bedeutung des Sozialen und der Sorge für unterschiedliche Mitglieder der Gesellschaft her neu zu denken. Damit würden Zeitmuster entstehen, die zunächst zu klären hätten, welche Zeitmaße für eine soziale Tätigkeit nötig sein könnten, um für alle Beteiligten als gut eingeschätzt zu werden. Denn bisher ist die Befriedigung einer Tätigkeit über ihre Dauer nicht eingelebt worden, vor allem auch wegen ihrer „trägen Produktivität“. Außerhalb des Wirtschaftsbereiches gibt es Areale, die aufgrund ihrer trägen Produktivität nicht der Produktion wert sind, da sie als nicht-rationalisierbar im ökonomisch-linearen Denken gelten.
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Die Sektoren Bildung, Familie, Haushalt und Pflege gehören zu den „Produktivitätsformen“, die gegen das Muster „Zeit ist Geld“ immun sind. „Gleiches gilt für das, was wir ‚mitmenschliches Vermögen’ nennen. Zuwendung, Anerkennung, Liebe, Vertrauen, Würde, Solidarität haben keinen Preis. Sie lassen sich nicht beliebig beschleunigen und schnell herstellen. Um sie zu schützen und zu ermöglichen, braucht es andere Zeitformen als die der Schnelligkeit“ (Geißler 2003, S. 17). Die Frage nach der Zeit und ihrem Beitrag für die Lebensqualität der Menschen in aktuellen linear-ökonomisch zeitlich strukturierten Gesellschaften, so kann angenommen werden, wird nicht in der Variationsbreite zu schaffender Zeitformen und in der Regulierung der Geschwindigkeit zu suchen sein. Vielmehr erwächst die dringende Notwendigkeit, in eine aktive Kampagne gesellschaftlicher Gestaltung einzutreten, in der die Areale „träger Produktivität“ nicht mehr weiter aus dem Blickwinkel der Rationalisierungs- und Verwirtschaftlichungssichtweise eingeschätzt werden. Es geht darum, zu einem Ausdruck ihres Wertes zu kommen, der folgendes verdeutlicht: Die Areale träger Produktivität tragen einen gleichwertigen und bedeutenden, bisher unterschätzten, gesellschaftlichen Wert in sich, der als uneinschätzbarer Gegenwert zur Markförmigkeit definiert werden kann. Mit Heuwinkel müsste vor allem für den professionellen Kontext sozialer, pflegerischer und erzieherischer (Sorge-)arbeit darauf verwiesen werden, soziale Beziehungen und Beschleunigung als Faktoren anzusehen, die nicht miteinander zu vereinbaren sind und die für Zielsetzungen sogar kontraproduktiv sein können. „Hierzu sollte verdeutlicht werden, dass soziale Beziehungen sich häufig nicht mit dem Streben nach Beschleunigung vereinbaren lassen. Erziehungsund Pflegearbeit, soziale Kontakte und nicht zuletzt Liebesbeziehungen benötigen Zeit. Und nur wenn genügend Zeit hierfür zur Verfügung steht, kann die jeweilige Tätigkeit bzw. Beziehung als erfüllte Zeit erlebt werden“ (Heuwinkel 2004, S. 38). Es lässt sich für die Sichtweise der Zeit-Bewegungsforschungen zusammenfassend fordern, ausreichend Zeit für Areale sog. „träger Produktivität“ zur Verfügung zu stellen, damit Tätigkeiten oder Beziehungen aus den Bereichen Bildung, Familie, Haushalt und Pflege als erfüllte Zeiten er- und gelebt werden könnten. All diese „wertegebundenen“ Tätigkeiten wie z.B. Sorge, Zuwendung, Anerkennung, Liebe, Vertrauen, Würde, Solidarität haben keinen zeit- noch geldwerten Preis und sind dennoch als Gradmesser für die Lebensqualität aller Menschen einer Gesellschaft zu bewerten. In Bezug auf die personenbezogene soziale, pflegerische und erzieherische Dienstleistungsarbeit wurden jedoch „Preise“ für die zu erbringende Arbeit mit der dafür vorzusehenden Zeit festgelegt, in der Entwicklungen erzielt sein müssen. Als plakatives Beispiel für dieses Dilemma, formuliert Hamburger aus dem Bereich der Altenpflege, dass in der Pflegeversicherung die Technologien der Körperbearbeitung bereits ausreichend Berücksichtigung gefunden hätten und somit soziale sowie emotionale Zuwendungen unentgeltlich zu erbringen seien. „Das ist auch nicht verkehrt, will man sie nicht ganz in den Umkreis der käuflichen Liebe platzieren. Dass aber der Zeitrahmen für eine humane Pflege neu bestimmt werden muß, ist ebenso evident“ (Hamburger 2002; vgl. auch Meyer 2002; Bartholomeyczik/Hunstein 2001). Hamburger holt damit die Ebene der Bezahlbarkeit der „Areale träger Produktivität“ mit ein: die Körperbearbeitung allein macht zwar Pflege aus, eine humane Pflege jedoch entsteht erst mit sozialen und emotionalen Zuwendungen, die jedoch in der Pflegeversicherung, aufgrund ihres Nicht-Inwertsetzen Könnens oder Wollens auf materieller Ebene, unberücksichtigt bleiben.
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Es stellen sich auf mehreren Ebenen diskussionswerte Punkte, die zukünftig zu klären sind. Vor allem betrifft es die zeitliche und materielle Inwertsetzung von Familie, Erziehung, Bildung, Haushalt, Pflege, die privat-familial und fachlich-professionell erbracht werden und in denen wertegebundene Tätigkeiten bzw. soziale und emotionale Zuwendungen wie z.B. Liebe, Anerkennung, Sorge etc. eingesetzt und ausgetauscht werden, deren Wirkung und zeitlicher Zusammenhang bisher nicht ausreichend bekannt und anerkannt ist. Für eine neue Sichtweise und Bewertung von Zeit und Lebensqualität ist es notwendig, so Karsten, eine weitere Sichtweise einzubeziehen, die bereits im Bereich der ökologischen Ökonomien und im Netzwerk „Vorsorgendes Wirtschaften“ langjährig breit ökonomisch fundiert und mit dem Ausdruck der „Produktivität des Reproduktiven“ (vgl. Biesecker; Hofmeister 1999) charakterisiert wurden (vgl. Karsten 2003). Hieraus folgt für das Soziale Arbeiten weiterhin konsequent, soziale Professionalität zu erhalten und auszubauen sowie Ökonomien mit einer Sichtweise im Sinne volkswirtschaftlich-makroökonomischen Denkens zu konfrontieren, da mikroökonomisch-betriebswirtschaftliches Denken eine Engführung im Denken in Bezug auf Institutionen und Einrichtungen im sozialen Bereich bedeutet. Konstruktives Gestalten von Gesellschaft wird dieser Argumentation zufolge erst möglich, „wenn Professionalität und Wirtschaftlichkeit gleichermaßen als Entwicklungsmotoren zukunftsorientierten Handelns, Motivierens, Ressourcenaufbauens, Ermöglichens und Entdeckens gefasst werden“ (Karsten 2003). Darüber hinaus müssen sich fachliche Niveaus auf alle Lebens- und Bildungsbereiche, ihre Qualitäten und ihre (auch) geschlechtergerechte Verteilung beziehen. Für diese neue Sichtweise sind Wissenschaft, Bildung und Politik aufgefordert, neues Zusammenhangswissen zu bilden, auszuarbeiten und dies insbesondere auch in finanzpolitische Dimensionen hinein zu konkretisieren. Dann wäre die Perspektive eröffnet, so Karsten, über ökonomisch verantwortliches Handeln sogar die Eröffnung neuer Horizonte leisten zu können (vgl. Karsten 2003). Diese Entwicklung hat zur Folge, Geld und Zeit, die in sozialen Berufen verausgabt werden, ökonomisch als Vergesellschaftungsmodi bzw. Investitionen für die gegenwärtige und zukünftige Lebensgestaltung zu betrachten und ihre Qualität, auch im Hinblick auf Gleichstellung zwischen den Generationen, zwischen Frauen und Männern, zwischen In- und AusländerInnen, zwischen Ost und West, zwischen Stadt und Land zu berücksichtigen und einzuschätzen. Der geforderte Perspektivenwechsel auf der ökonomischen Seite, personenbezogene Dienstleistungen nicht mehr als Ausgaben, sondern als Investitionen und Entwicklungsmotor in gesellschaftliche Entwicklungen zu betrachten, geht einher mit der besonders hervorgehobenen mehrperspektivischen Sichtweise, mit der Gesellschaft nun charakterisiert werden kann. Dies bedeutet jedoch vor allem, dass lineares Denken und Handeln für eine Gesellschaftsentwicklung ausgedient haben. Es müssen vielmehr Denkzusammenhänge hergestellt werden, die asymmetrisch unterschiedlichste Ebenen und Folgezusammenhänge herstellen, so wie Karsten es als Perspektive konstruktiver Gesellschaftsgestaltung einfordert (vgl. ebd. 2003). Bevor asymmetrisch unterschiedliche notwendige Ebenen miteinander gedacht werden, ist es von Bedeutung, erst einmal nur von der Betrachtung der Zeit aus gesehen, sich dem anzunähern, welche Zeitdimensionen sozial relevante Entwicklungen Einzelner oder Gruppen erfordern und benötigen. Das Ziel dieser Zeitannäherung wäre, ein Gefühl für selbst verantwortetes zeitliches Handeln zu bekommen. Mit einer Art Experimentierfeld könnte versucht werden, dem näher zu kommen, was zeitlich für den Lebenszusammen112
hang von Bedeutung ist und welcher Entwicklung oder Tätigkeit mehr Zeit gegeben werden könnte. Es ginge also darum, ein Gefühl für die Zeit und für die Qualität des Lebens in der Zeit anzustreben. Für Menschen, die sich durch Verrentung bereits in einer neuen zeitlichen Lebensphase befinden, bietet sich solch eine Zeit-Lebensqualitäts-Orientierungsphase aus mehreren Gründen an. Die älteren Menschen haben, das war bereits erörtert worden, ihre Zeitorientierung und ihren Zeitumgang im linear-ökonomischen Raster der Gesellschaft erlernt und über viele Jahre in Erwerbstätigkeitsprozessen weiter verfeinert. Sie werden mit dem Eintritt in die Rentenphase in einen qualitativ neuen Umgang mit Zeit gezwungen und dieses birgt Chancen zu einer vollkommen neuen Orientierung im Hinblick auf ihr Zeitempfinden und ihre Zeitordnung. Der Alterungsprozess außerhalb oder mit nur noch geringen Anteilen an Erwerbstätigkeit bietet den älter werdenden Menschen die Chance auf ein Probier- und Experimentierfeld für eine aktive Zeitgestaltung. Bei Elias ist der Zusammenhang aufgezeigt, dass bis etwa zum Zeitalter Galileis Zeit vor allem ein Mittel der Orientierung in der sozialen Welt und der Regulierung im Zusammenleben der Menschen dienlich war (vgl. Elias 1985). Mit dieser Rückbesinnung auf den Zeitbegriff als Orientierung und Regulierung für ein Zusammenleben in der sozialen Welt, wird es auch Eckart zufolge in zeitpolitischer Hinsicht möglich, soziale Dimensionen von Zeit und Zeitpolitik zu beschreiben und wieder mit Inhalt zu füllen. Der Inhalt der sozialen Dimension von Zeit hat unter der ökonomischen Verwendung von „Zeit gewinnen, verlieren, sparen“ seine politische Ausdrucksfähigkeit verloren. „Zeit gestalten heißt: soziale Beziehungen gestalten, verbunden mit Vorstellungen davon, wie wir leben wollen“ (Eckart 2003, S. 78). Eckarts These zur Zeitgestaltung bezieht zwei wesentliche Punkte ein: Zeitgestaltung bedeutet, soziale Beziehungen zu gestalten und gleichzeitig gibt es Vorstellungen davon, wie eine Gesellschaft über zeitliche Gestaltungszusammenhänge Lebensqualität herstellen könnte. Doch zeitpolitisch relevant und ausdrucksfähig werden, kann nur, wer umgekehrt eine Idee davon hat, welche Zeitmaße soziale Beziehungen benötigen. Individuell und gesellschaftlich ist bisher zu wenig an zeitalternativen Denken und Handeln erprobt worden, um zeitliche Bedürfnisse, Verhältnisse oder Zeitmaße sowie die unterschiedlichen Bedürfnisse verschiedener Gruppen zu kennen. Bisher gibt es Eckpunkte, an denen sich für die Bemessung der Dauer sozialer Beziehungen alle in der Gesellschaft Teilhabenden orientieren könnten, um zu Einschätzungen über Zeiten zu kommen, die für die Gestaltung sozialer Beziehungen notwendig einzusetzen sind. Für einen zukünftig zu denkenden aktiven Umgang mit Zeit in der Gesellschaft müssten folgende Grundüberlegungen gelten, um zeitliche Dimensionen erst einmal durchdringen zu können. Die erste gesellschaftliche Rahmenbedingung, die von jedem Mitglied der Gesellschaft anzuerkennen wäre, lautet: Jede soziale Situation benötigt Zeit und zwar ein bestimmtes Kontingent, das als unbekannte Größe zu gelten hat. Jede soziale Situation findet in der Zeit statt und es gibt weder einen impliziten noch expliziten Maßstab für die Dauer. Eine weitere gesellschaftliche Übereinstimmung wäre über den individuellen Zeitbedarf zu erzielen: Jeder Mensch bekommt die Zeit, die er für die Gestaltung und Entwicklung seiner sozialen Situationen benötigt. Eine dritte grundsätzliche Überlegung bezieht sich darauf, dass Leben allein auf der Basis seiner zeitlichen Dimensionierung eine qualitätsvolle Strukturierung erhält. Gesellschaft und soziale Situationen auf ihre zeitlichen Dimensionen zu beziehen, führt dann zu einer neuen gesellschaftlichen Lebensqualität. Für die Realisierung dieser Grundüberlegungen, die als gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu gelten hätten, würden folgende Elemente für das konkrete „Leben und Aus113
gestalten“ sozialer Situationen von der Durchdringung ihrer zeitlichen Dimension her zu berücksichtigen sein: Soziale Situationen und Aktivitäten sind von den Bedürfnissen und Erfordernissen der unterschiedlichen Mitglieder in der Gesellschaft zu gestalten. In gegenwärtigen Gesellschaften fallen diejenigen auf, die außerhalb der Erwerbsarbeit stehen. Vor allem also die jüngsten und ältesten Mitglieder würden mit ihrem Zeitempfinden die Zeitstrukturen gesellschaftlich prägen. Dieses hätte Auswirkungen auf die Intensität der Tätigkeiten, auf die Geschwindigkeit sowie auf die Dauer. Für die Planung, Durchführung und das „Leben“ von Aktivitäten und sozialer Situationen hätte gesellschaftlich übereinstimmend zu gelten, dass jedem Menschen aktive Teilhabe an allem, was individuell und gesellschaftlich erforderlich ist, gesichert würde, mit dem Ziel zeitlich eigenverantwortlich Leben gestalten zu können. Es ist also die Frage danach, wie jede Frau und jeder Mann je nach Lebenssituation zeitliche Zufriedenheit und Wohlbefinden für die Entwicklung seiner Lebensqualität erreichen kann, ohne aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Von der zeitlichen Dimension sozialen Entwickelns und Lebens aus gedacht, könnte das bedeuten, die vorhandenen Strukturen zu flexibilisieren und Institutionen im Hinblick auf ihre Angebote und Durchführung neu zu denken. Es wäre nicht mehr so, dass die Öffnungszeiten oder Anfangs- bzw. Endzeiten das Angebot bestimmen, sondern die Zeitstrukturen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Eine komplett neue Zeitstruktur würde entstehen und die Möglichkeit, bei jeder vorhandenen Struktur die Zeitbedürfnisse erst einmal zu erheben und nach Kompromissen und alternativen Strukturen zu suchen, die es allen ermöglicht, aktiv teilzuhaben und seine eigene Zeit leben zu können. Zuerst einmal würde es notwendig, Zeiten und Räume zu schaffen, in denen die Wahrnehmung für die je subjektiven Zeitbedürfnisse geöffnet sowie Zeiterfahrungen reflektiert werden können. Darüber hinaus geht es darum, ein Gefühl für die eigene Zeit zurückzubekommen, über die jeder Mensch verfügt. „Bedrückende und beglückende Zeiterfahrung“ in der Gesellschaft sichtbar machen, so Eckart, ist eine notwendige Vorgehensweise, um sich selbstverständlich auch die Konflikte von verschiedenen Interessen an Zeitregelungen und die Machtverhältnisse zu verdeutlichen, die über die Zeitstrukturen institutionalisiert sind. Wenn die Sensibilisierung für die subjektiven Zeitempfindungen der gesellschaftlichen Mitglieder nicht stattfindet, wird es kaum gelingen, Zeitstrukturen einer notwendigen politischen Auseinandersetzung zugänglich zu machen, die jedoch geführt werden müsste, um Zeitstrukturen gesellschaftlich verändern zu können. Für diese Vorgehensweise ist die Erkenntnis notwendig, dass soziale Situationen und Netze sozialer Beziehungen über die Qualität der Zeitinvestitionen entstehen und tragfähig werden. Es geht also nicht nur darum, Zeiterfahrungen sichtbar zu machen, sondern Zeit an sich als zentralen Wirkfaktor zu begreifen. Es ist gesellschaftlich nicht geklärt, wie viel Zeit ein Einzelner einsetzen müsste, um ein soziales Netzwerk auszubilden, in dem tragfähige soziale Bindungen entstehen und vertieft werden können. Das Ziel der Veränderung der Zeitstrukturen ist also, nicht nur politisch mehr Eigenzeit durchzusetzen, sondern tiefergehend, die gegenwärtig geltenden Zeitstrukturen als entgegengesetzt zu der Zeit, die soziale Situationen und soziale Beziehungen, also soziales Leben insgesamt gestalten, einzuschätzen. Die Forderung erhält Gewicht, Zeit wieder als etwas Individuelles betrachten zu können, über die jeder Mensch selbstbestimmt und eigenständig verfügt, weil sie ihm selbst gehört. „(…) über die eigene Zeit selbst bestimmen 114
können, Zeit mit anderen verbringen zu können, also Zeit für Beziehungen und Bindungen zu haben, und Zeit, die nicht durch Entzug von Möglichkeiten entwertet ist“ (Zeiher 2004, S. 5). Das bedeutet, grundsätzlich entdecken zu können, wie und welche Auswirkungen ein Leben in der Zeit auf die Ausgestaltung des Lebens hätte. Das ist zum einen eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung und zum anderen in Bezug auf die Lebensphase Alter eine Chance, in der bereits das meiste Potenzial für eine selbstbestimmte, eigenständige und unabhängige Gestaltung des Lebens auf Basis der Zeit, die soziale Situationen oder Tätigkeiten erfordern, verborgen liegt. Mit Levine lassen sich die Überlegungen zu einem Paradigmenwechsel der Zeit von einer linearen Zeitstruktur zu einer neuen von zeitlichen Erfordernissen ausgehenden Zeit zusammenfassen als ein Vergessen der alten Zeitstruktur und Warten auf eine Neue, die sich mit ausreichend Zeit einstellen wird. „Mit der richtigen Einstellung ist Warten ein machtvolles Werkzeug gegen die Widernisse des Lebens. Der Trick dabei ist, dass wir uns von der Uhrzeit weg hin zur Ereigniszeit bewegen müssen; dass wir die Uhrzeit und die Vorstellung, dass Zeit Geld ist, vergessen müssen. Siddharta war bereit, so viel Zeit wie nötig einzusetzen, um seine Ziele zu erreichen“ (Levine 1998). Die Veränderung der Zeit kann im Zusammenhang mit dem Alterungsprozess aktiv gestaltet werden und die Überlegungen zur Altersweisheit sowie den neuen Asymmetrien der Generationenverhältnisse bieten qualitative Entwicklungschancen zur Entwicklung des Alterns in der Zeit an.
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6 Altersweisheit oder Starrheit – Entscheidung für ein gutes Leben im Alter Neben den Veränderungen der Zeitstrukturen, die eine Erhöhung der Lebensqualität bewirken könnten, bemühen sich Forscherinnen und Forscher unterschiedlicher Disziplinen um die Bildung alternsspezifischen neuen Wissens, um das gesellschaftliche Bild des Alternsprozesses zu verändern sowie um die Vergrößerung der Chancen und Handlungsmöglichkeiten für ältere werdende Menschen, ein unabhängiges, selbstständiges und selbstbestimmtes Leben im Alter zu führen. Probleme werden jedoch vor allem durch das negative Bild des Alterns und die daraus folgende Defizitorientierung des Alters produziert. So liegt es für älter werdende Menschen, auch aufgrund mangelnder Vorbilder eines guten und erfolgreichen Alternsprozesses, vor allem in ihrer eigenen Verantwortung, ihren eigenen guten Weg zu gestalten. Auf diese Weise entstehen viele neue Einzelwege, bisher ohne erkennbare Linien, die zeigen, was es gemeinsam an Angeboten, Dienstleistungen oder Vereinfachungen für sich herauskristallisierende Gruppierungen bräuchte. Mit den aktuellen Erkenntnissen der Bedeutsamkeit eines autobiographischen Gedächtnisses und den darin liegenden Möglichkeiten eines lebenslangen Lern- und Entwicklungsprozesses zeigt sich das Potenzial für einen Alternsprozess, der durch Bewusstmachung des Wandlungskontinuums „autobiographisches Gedächtnis“ aktiv gestaltbar und veränderbar bleibt. Darüber hinaus hat sich Baltes im Zusammenhang mit den Erkenntnissen zum Wandel der fluiden und kristallinen Intelligenz im Alter mit den Möglichkeiten einer Optimierung des Alterungsprozesses befasst. Das sog. SOK-Konzept (Selektion – Optimierung – Kompensation) nahm als psychologisches Modell erfolgreichen Alterns seinen Ausgangspunkt und entwickelte sich in Auseinandersetzung mit Weisheit als für das Alter anzustrebendes Ziel, bei gleichzeitiger Kompensation altersbedingter Beeinträchtigungen in kognitiver und physischer Hinsicht weiter. Altersweisheit könnte als Ziel und Aufgabe einer aktiven Lebensgestaltung im Alter förderlich sein und weiter ausgearbeitet dazu führen, Lebensentwürfe für das Alter neu denken und entwickeln zu können. Im weiteren Verlauf der Überlegungen werden diejenigen Aktivitäten, die bisher für ältere Frauen und Männer in ihren Alterungsprozessen als von Bedeutung angesehen waren, noch einmal genauer betrachtet im Hinblick auf ihren Nutzen, Sinn und ihre Tauglichkeit für ein selbstständiges, unabhängiges und selbstbestimmtes Leben im Alter. Eine der wesentlichen und wissenschaftlich betrachtet älteren Erkenntnisse Baltes ist diejenige, dass der Alternsprozess im Höchstmaß unterschiedlich und sehr variabel verläuft. „Altern ist kein einheitlicher, gleichförmiger Vorgang, sondern ein höchst individueller und differentieller Prozess, der im geistig-seelischen Bereich, im Verhalten und im Sozialbereich einen ganz unterschiedlichen Verlauf nehmen kann“ (Baltes 1989, S. 4). In der Konsequenz bedeutet diese Erkenntnis, auf der Basis der vielfältigen Wege im Alter, genau jene zu betrachten und einzuschätzen, die für einen erfolgreichen Alternsprozess förderlich sind und für alle ausgebaut werden sollten sowie umgekehrt genau diejenigen in Frage zu stellen sind, die z.B. der Selbstbestimmung und Selbstständigkeit, Plastizität, Aktivität und damit der Lebensqualität im Alter eher hinderlich sind. Dazu gehört z.B. die Auseinandersetzung mit Erwerbsarbeit im Alter bzw. dem Zeitpunkt des Übergangs in eine erwerbslose Zeit, die Produktivität im Reproduktionsbereich sowie die Unterstützungs- und Hilfeleistungen für Angehörige oder Nachbarn oder die Beschäftigung mit ehrenamtlichen Tätigkeiten im Alter, die alle dazu führen, dass Zeit im 116
Alter ausgefüllt ist oder vielleicht nur, dass der Tag gefüllt ist. Die Unterscheidung in ein drittes und viertes Lebensalter hat zur Konsequenz, auch im Hinblick auf zunehmende Hilfe- und Pflegebedürftigkeit eines Einzelnen oder seines Partners bzw. seiner Partnerin, die Einbußen des Alterns und der zumeist höheren Lebensalter als weitere Herausforderung des Lebens zu sehen und nicht als Bürde. Die Teilung in ein drittes chancenreiches und risikoärmeres Lebensalter sowie ein viertes risikoreiches und relativ wahrscheinlicher multimorbides Lebensalter führt wiederum in eine Defizitorientierung des Alternsprozesses und Alters, optional jenseits des 80. Lebensjahrs. Doch für den Alternsprozess jeden Menschen wird es zunehmend von Bedeutung, auch die Einbußen des Alterns nicht so sehr als Verlust des bisherigen Lebensstandards zu betrachten, sondern vielmehr den Blick auf Hilfe- und Pflegebedürftigkeit als Ressource zu lenken, in der es weiterhin um gute Lebensqualität geht. Es ist die Frage, ob nicht das Alter viel mehr Chancen bietet als bisher wahr genommen wird, da es keine Auseinandersetzung darüber gibt, wie sich jeder Einzelne vor dem Hintergrund seiner eigenen Autobiographie im Alternsprozess entwickeln möchte: Pläne, Ziele, neue Wege und die Suche nach Kontinuitäten im Wandel eines Lebens können von der Dominanz der Erwerbstätigkeit im Leben zu einem Leben ohne Vorgaben und Festlegungen führen. Darin liegen viele neue noch nicht gedachte Möglichkeiten und gleichzeitig das Ziel, bestimmte Standards zu formulieren, durch die allen älter werdenden Menschen ein gutes Leben im Alter gesellschaftlich eröffnet werden könnte. 6.1 Das autobiographische Gedächtnis – Gedächtnisformen und ihre Bedeutung für das Alter Das autobiographische Gedächtnis ist das, was den menschlichen Geist von dem anderer Primaten und anderer Säugetiere grundsätzlich unterscheidet. Es handelt es sich bei dem autobiographischen Gedächtnis darum, „was den Mensch zum Menschen macht, also das Vermögen, „Ich“ sagen zu können und damit eine einzigartige Person zu meinen, die eine besondere Lebensgeschichte, eine bewusste Gegenwart und eine erwartbare Zukunft hat“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 11). Der für Altern und Zeit bedeutungsvolle Zusammenhang des autobiographischen Gedächtnisses erfordert mit dessen Vermögen, die persönliche Existenz in einem Raum-ZeitKontinuum zu platzieren, mit einer Vergangenheit, auf die zurückgeblickt werden kann, die wiederum der Gegenwart vorausgegangen ist. „Offensichtlich dient dieses Vermögen, ‚mentale Zeitreisen’ (Endel Tulving) vornehmen zu können, dem Zweck, Orientierungen für zukünftiges Handeln zu ermöglichen. Erlerntes und Erfahrenes kann auf diese Weise für die Gestaltung und Planung von Zukünftigem genutzt werden“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 11). Menschen sind also aufgrund ihres autobiographischen Gedächtnisses in die Lage versetzt, einen subjektiven zeitlichen Zusammenhang herzustellen, der über das konkrete Erleben hinaus Erfahrungen konservieren kann und somit Zeitunabhängigkeit erreicht. Das autobiographische Gedächtnis ist von Bedeutung für die Planung, Einschätzung, Vorwegnahme und Realisierung von Situationen, die im weiteren Lebensverlauf auf einen Menschen zukommen können und mit bereits gemachten Erfahrungen verbunden werden, um sich für ein der Lebenssituation angemessenes Handeln entscheiden zu können.
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Für diese Orientierungsleistung des autobiographischen Gedächtnisses sind drei weitere Merkmale notwendig. Zum einen müssen die Erinnerungen einen Ich-Bezug haben, um sinnvoll genutzt werden zu können, zum zweiten hängt damit zusammen, dass autobiographische Erinnerungen einen emotionalen Index aufweisen. Ein emotionaler Index bedeutet, jeweils ein positiv oder negativ bewertetes Gefühl mit Erinnerungen verknüpft zu haben, der anzeigt, welche Schlussfolgerungen aus dem Erinnern oder Wiedererkennen einer Situation sinnvollerweise zu ziehen sind. Zum dritten sind autobiographische Erinnerungen „autonoetisch“. „Autonoetisch“ bedeutet, sich nicht nur zu erinnern, sondern sich auch dessen bewusst zu sein, sich zu erinnern. „Dieses Vermögen zur autonoetischen Erinnerung liefert den unschätzbaren Vorteil eines bewussten, expliziten Abrufs von Erinnerungen“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 11). Jeder Mensch kann sich in längst vergangene Situationen zurückversetzen und sich eine Handlung mit allen ungenutzten bzw. nicht wahr genommenen Alternativen vorstellen, um z.B. in analogen Situationen in der Gegenwart ein breiteres Handlungsspektrum zu nutzen und begründete Entscheidungen zu treffen. Der Vorteil des autobiographischen Gedächtnisses liegt im evolutionären Anpassungsvorteil, da sich Menschen bewusst und reflexiv zu dem verhalten können, was ihnen widerfährt und wie sie darauf reagierten. Mit zunehmendem Alter verfügen Menschen über ein beachtliches Repertoire an Erinnerungen, die wieder und wieder abrufbar sind und für ein angemessenes Handeln auf Basis lebenslang gemachter Erfahrungen dienen können. 6.1.1 Entwicklung und Bedeutung eines autobiographischen Gedächtnisses für Menschen Das autobiographische Gedächtnis ist ein Wandlungskontinuum. Seine Entwicklung basiert auf dem höchst subtilen Zusammenspiel biologischer, psychologischer, sozialer und kultureller Prozesse, die interdependent sind. Das autobiographische Gedächtnis ist nicht nur als etwas Individuelles zu verstehen, sondern als funktional für die Synchronisierung des Einzelnen mit seiner sozialen Umwelt. „Es stellt für einen selbst wie für die anderen sicher, dass man es trotz der verstreichenden Zeit und der physischen und psychischen Veränderungen über die Lebensspanne hinweg immer mit ein und demselben Ich zu tun hat“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 215). Das autobiographische Ich ist für die gesamte Lebensspanne von Bedeutung, da es mit seinen Anpassungsleistungen dafür sorgt, sich trotz verändernder Umwelten und eigenen körperlichen oder lebensalterbedingten Entwicklungen über die Lebensspanne weiterhin als die eine Person wahrzunehmen. Das Stadium, das allgemein als „Erwachsensein“ bezeichnet wird, ist jedoch kein einmal Erreichtes und ab diesem Zeitpunkt nicht mehr veränderliches Entwicklungsniveau, so Markowitsch/Welzer. Die Altersforschung zeigt ebenso wie die Erwachsenensozialisationsforschung und nicht zuletzt die Hirnforschung ein in ständiger Neujustierung befindliches autobiographisches Ich, dessen Gedächtnis ebenso beständig die eigene Lebensgeschichte nach Maßgabe gegenwärtiger Anforderungen umschreibt. Für Markowitsch/Welzer liegt die Größe der Leistung des autobiographischen Gedächtnisses in der Integration des „multiplen Ich“, „indem es die wundersame Leistung vollbringt, das Selbst gerade darum als ein immer Gleiches erscheinen zu lassen, weil es sich permanent verändert“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 216). Denn das autobiographische Gedächtnis wandelt sich selbstverständlich bei allen Erfahrungen beständig. Dieses geschieht jedoch auf eine so fein justierte Weise, dass die Passung zur jeweils bedeutsamen sozialen 118
Umgebung nicht verloren geht. Die soziale Umgebung ist dabei selbst ebenfalls höchst variabel (vgl. ebd. 2005, S. 215). Das autobiographische Gedächtnis ermöglicht die Kennzeichnung von Erinnerungen als eigene Erinnerungen und dient als temporale Feedback-Matrix des Selbst, mit der eingeschätzt werden kann, wo und wie jemand sich verändert hat und wo jemand gleich geblieben ist. Zudem bietet es eine Abgleichmatrix zu den Zuschreibungen, Einschätzungen und Beurteilungen der eigenen Person, die ständig vom sozialen Umfeld vorgenommen wird. Dabei ist der Wunsch nach Kontinuität für den Menschen selbst von großer Bedeutung und nicht nur ein individueller; „ohne Kontinuität der Identität ihrer Mitglieder könnte eine soziale Gruppe, eine Gesellschaft nicht funktionieren, weil Kooperation – die zentrale Kategorie menschlicher Daseinstechnik – nur dann gewährleistet ist, wenn Menschen verlässlich heute dieselben sind, die sie gestern waren und morgen noch sein werden“ (ebd. 2005, S. 260). Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung des Gedächtnisses im allgemeinen ist die Erkenntnis, dass die Gedächtnisentwicklung vom Sozialen zum Individuellen verläuft. „Vom Säugling und Kleinkind, das ohne episodisches Gedächtnis in einem Universum des So-Seins existiert und die Quellen von Erinnerungen nicht unterscheidet, zum Vorschulkind, das über wachsende temporale Differenzierungen eine Situierung seines Selbst in der Zeit gewinnt und schließlich über den Spracherwerb und ein kognitives Selbst ein autobiographisches Ich gewinnt, das die früheren und künftigen Erfahrungen in einer Lebensgeschichte integriert, die sozial und individuell zugleich ist“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 261). Das autobiographische Gedächtnis entwickelt sich als letztes und hat als eine Besonderheit die Herausbildung einer eigenen Temporalität, die es für jeden Menschen möglich macht, Erinnerungen zeitlich zu unterscheiden und zu speichern. Mit der Entwicklung eines autobiographischen Gedächtnisses verfügt jeder Mensch über eine subjektive Zeitlichkeit, die für die Gesamtheit eines Lebens von größerer Bedeutung ist als bisher zur Kenntnis genommen wird. Die subjektive Zeitlichkeit und die dazu gespeicherten oder eben nicht gespeicherten Erinnerungen führen wiederum zu einer eigenen Individualität, die für den vorliegenden Zusammenhang von Zeit und Alternsprozessen bedeutsamer und mehr genutzt werden könnten. Die Integration von individuellen Erinnerungen könnten Alternsprozesse und Entscheidungen zu Alternsprozessen entweder erschweren oder eben sehr vereinfachen, je nachdem wie und welche Erinnerungen mit ihren Bedeutungen für das eigene Leben tragfähig sind. Die gleichzeitig soziale Bedingtheit des autobiographischen Gedächtnisses führt wiederum zu einer Lebensgeschichte, die nicht nur von den eigenen Erinnerungen und Erfahrungen geprägt ist, sondern die es unter Umständen erschwert, die individuellen subjektiven Bedeutungen zu erkennen und für Lebenssituationen durchzusetzen. Im Folgenden werden die unterschiedlichen bekannten Formen des Gedächtnisses näher betrachtet, um einerseits die Entstehung und Bedeutung des autobiographischen Gedächtnisses und andererseits die Entwicklung im Lebensverlauf besser für den Alternsprozess versteh- und nutzbar zu machen.
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6.1.2 Formen des Gedächtnisses Nach aktuellen Erkenntnissen wird insgesamt von einem Kurzzeitgedächtnis- und 5 Langzeitgedächtnissystemen ausgegangen (vgl. Tulving; Markowitsch in: Markowitsch/Welzer 2005, S. 80). Das Kurzzeitgedächtnissystem umfasst den Bereich von Sekunden bis zu wenigen Minuten, während Langzeitgedächtnissysteme alle darüber hinaus reichenden Zeiträume betreffen. Das Kurzzeitgedächtnis wird richtiger als Arbeitsgedächtnis bezeichnet, da es sich auf ein aktives Verarbeiten von Informationen auf vielen Ebenen und mit mehreren Komponenten einschließlich der Übertragung bereits gespeicherter Informationen in einen zeitlich eng bemessenen Puffer zur Abrufvorbereitung bezieht. Mit dem Auftreten erster aktiver Formen des Erinnerns (um den achten oder neunten Lebensmonat herum) als bewusstem Prozess entsteht das Arbeitsgedächtnis (vgl. ebd. 2005, S. 153). Zwei für die Entwicklung eines Menschen bedeutsame Elemente betreffen das Arbeitsgedächtnis. Die Menge an Informationen, die gespeichert werden kann, ist begrenzt und geht verloren, wenn sie nicht über Wiederholungen in einen Langzeitspeicher überführt wird. Mit der Entstehung des Arbeitsgedächtnisses werden Kinder in die Lage versetzt, gedankliche Bilder von Gegenständen und Personen zu formen und aktiv abzurufen. Gegenstände existieren weiter, auch wenn sie nicht physisch anwesend sind (vgl. ebd. 2005, S. 153). Dabei stellt das Alter von acht Monaten einen Wendepunkt in der emotionalen, kognitiven und motorischen Entwicklung des Kindes dar. Über die Möglichkeit der selbstständigen Fortbewegung wird eine emotionale Bindung an die Mutter oder eine andere Bezugsperson notwendig, denn nur darüber wird gewährleistet, dass sich das schutzbedürftige Kind zeitweise von seiner Bezugsperson entfernen kann. Erst mit der Entwicklung des Arbeitsgedächtnisses kann das Kind diese Entwicklung vollziehen, da zu es erst zu diesem Zeitpunkt versteht, dass die Mutter auch weiter existiert, wenn sie außer Sichtweite ist (vgl. ebd. 2005, S. 159). Innerhalb des Langzeitgedächtnisbereichs wird von unabhängig arbeitenden Systemen ausgegangen, die auch auf Hirnebene unterschiedliche Repräsentationsbereiche haben. Zu den fünf Langzeitgedächtnissystemen zählen das prozedurale Gedächtnis, die PrimingForm des Gedächtnisses, das perzeptuelle Gedächtnis, das Wissenssystem und das episodisch-autobiographische Gedächtnis (vgl. 2005, S. 80ff.). Das prozedurale Gedächtnis richtet sich grundsätzlich auf die Motorik aus, es geht um den Erwerb von Fertigkeiten wie z.B. Fahrrad fahren, Schwimmen, also vielfach Fertigkeiten, die weitgehend unbewusst ablaufen. Die Priming-Form des Gedächtnisses lässt sich durch eine höhere Wiedererkennungswahrscheinlichkeit für zuvor unbewusst wahrgenommene Reize kennzeichnen. Als Beispiel wird das Vorlegen einer Textstrophe genannt, zu der dem Menschen sogleich die zugehörige Liedmelodie einfällt. Eine weitere Besonderheit des Priming-Gedächtnisses ist das Vermögen, unbewusst wahrgenommene Reize nach später wiederholter Darbietung leichter zu verarbeiten und leichter wieder zu erkennen. Das prozedurale und Priming-Gedächtnissystem gelten als anoetische (unbewusste) Systeme. Das perzeptuelle Gedächtnis ist ein noetisches (bewusstes) Gedächtnissystem, bei dem es um das Erkennen von Reizen aufgrund von Familiaritäts- oder allgemeinen Bekanntheitsgesichtspunkten geht. Objekte und Individuen werden auf der Basis des Vorhandenseins charakteristischer Reizmerkmale identifiziert oder erkannt. Ein Apfel oder eine Birne können aufgrund bestimmter Reizmerkmale unterschieden werden. Dieses Gedächtnissys-
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tem basiert auf Erfahrung und arbeitet komplexer, da das Individuum herausgefordert ist, intern Vergleiche anzustellen. Das Wissenssystem besteht aus Allgemeinwissen, das kontextfrei wiedergegeben werden kann, ohne das Erinnern an den raum-zeitlichen Kontext, in dem es gelernt wurde. Der Aufbau dieses Faktenwissens erfolgt in der kindlichen Entwicklung in einem Wechselspiel mit dem Spracherwerb. Die Entstehung und der Aufbau der unterschiedlichen Gedächtnisformen in der Entwicklung eines Menschen, die sich zu einem sehr frühen Zeitpunkt im Leben bilden und strukturieren, bekommen einen zentralen Stellenwert im Kontext des vorliegenden Zusammenhangs aufgrund der lebenslangen Bedeutung von Erinnerungen und Erfahrungen bis ins hohe Lebensalter. Das Vermögen, lebenslange Erfahrungen aufsuchen und abspeichern zu können, nimmt seinen Ausgangspunkt mit der Geburt, bildet sich weiter aus im beginnenden Austausch mit der sozialen Umwelt und hat eine hohe Bedeutung für den eigenen Lebenszusammenhang. Von der sozialen Umwelt und ihrem Wissen über die Förderung der Gedächtnissysteme hängt es ab, wie und mit welcher Qualität lebenslange Erfahrungen zu Erinnerungen und für Lebenszusammenhänge bedeutsame Gestaltungs- und Bewältigungsstrategien entwickelt werden können. Die Qualität von Alternsprozessen wird bereits mit der Ausbildung der Gedächtnisformen und deren Förderung begonnen. Das episodisch-autobiographische Gedächtnis bedeutet das aktive, bewusste Erinnern von Episoden. Diese überwiegend biographischen Episoden sind emotional gefärbt und werden kontextgebunden in einer Art mentaler Zeitreise zurückverfolgt. Tulving hält dieses Gedächtnissystem für das hierarchisch höchste. Einzigartig für den Menschen beginnt das episodisch-autobiographische Gedächtnis erst ab dem dritten Lebensjahr aufzutreten. Dieses Gedächtnissystem ist „die Schnittmenge von subjektiver Zeit, autonoetischem Bewusstsein (Markowitsch 2003) und dem sich erfahrenden Selbst (Tulving 2005)“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 84). Mit Erreichen des vierten Lebensjahrs hat sich das episodische Gedächtnis aufgebaut und das Autobiographische hat begonnen, sich herauszudifferenzieren. Das Kind nimmt sich als ein Selbst wahr und es existiert in Abgrenzung von den anderen. Die komplette Entwicklung des episodischen Gedächtnisses gilt als Voraussetzung für ein autonoetisches Bewusstsein, das zwischen Vergangenem und Zukünftigem differenzieren kann. Mit dem Entwickeln autonoetischen Bewusstseins beginnt das Kind, zwischen Vergangenem und Zukünftigem zu differenzieren (vgl. Tulving in: Markowitsch/Welzer 2005, S. 231). Das episodische Gedächtnis entstand, evolutionär betrachtet, spät und gilt als sich ontogenetisch spät entwickelndes und früh abbauendes neurokognitives Gedächtnissystem. Mit dem episodischen Gedächtnis werden für einen Menschen mentale Zeitreisen durch die subjektive Zeit – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – möglich. Von Bedeutung sind mentale Zeitreisen, da sie demjenigen, der über ein episodisches Gedächtnis verfügt, durch das Medium des autonoetischen Bewusstseins ermöglichen, seine eigenen vorangegangenen ‚gedachten’ Erfahrungen zu erinnern, wie auch über mögliche zukünftige Erfahrungen zu denken. „Der Abruf aus dem episodischen Gedächtnis (das sich-Erinnern) erfordert den Aufbau und das Aufrechterhalten einer speziellen geistigen Haltung, die man als ‚Abrufmodus’ bezeichnet. (…) Die Essenz des episodischen Gedächtnisses liegt in der Verbindung (‚Konjunktion’) dreier Konzepte – des Selbst, des autonoetischen Bewusstseins und der subjektiven Zeit“ (Tulving 2005, Übersetzung nach Markowitsch/Welzer 2005, S. 232). Eine weitere Voraussetzung für mentale Zeitreisen ist der Ausbau und die Zunahme von Vokabular und Grammatik. Die verschiedenen Formen von Vergangenheit und Zu121
kunft, von Indikativ und Konjunktiv werden über Sprache explizit und darstellbar. Damit erweitert sich der mentale Raum des Individuums und so wird es möglich, auf einer Metaebene zu denken und zu sprechen (vgl. ebd. 2005, S. 231). Eine entscheidende Voraussetzung des autobiographischen Gedächtnisses ist die Fähigkeit, Zeit ein- und abzuschätzen sowie einordnen zu können, welche Episode im eigenen Leben zeitlich früher oder später als eine andere passierte und um vorausschauend denken zu können. Nach Fried (2004) und Markowitsch (2001; 2002) bilden Zeitgefühl, Bewusstsein und Gedächtnis eine Triade, die den Kern der Persönlichkeit bildet und gleichzeitig auch der Kern für die Bildung des kulturellen Gedächtnisses schafft (vgl. ebd. 2005, S. 234). Markowitsch/Welzer betonen die Bedeutung des inneren Zustands (momentan und längerfristig) für die Erinnerungsfähigkeit. Der Mensch ist Erinnerungsfälschungen, Erinnerungsdistorsionen und weiteren das Gedächtnis beeinflussenden Faktoren weit mehr ausgeliefert, als es im Alltag bewusst wird. Wenn zwischen dem Erinnern, wie es beim Erinnern frühkindlicher Erlebnisse auftritt, ein langer Abschnitt zwischen der damaligen und der jetzigen Zeit sowie sich die physische Konstitution des Gehirns dazu noch sehr verschieden von der gegenwärtigen darstellt, ist ein bewusstes Erinnern nicht mehr möglich. Im späten Lebensalter wieder hervortretende, lange nicht erinnerte Episoden zeigen, dass das Gedächtnis, wenn es sich dem früheren – unreifen – Zustand annähert, auch wieder an frühe Erinnerungen kommen kann (vgl. ebd. 2005, S. 123). Die Gedächtnissysteme bauen beim Einspeichern und frühkindlichen Erwerb seriell aufeinander auf, werden parallel abgespeichert und können unabhängig von der Art der Einspeicherung abgerufen werden. Jeder Mensch verfügt über weit mehr Wissen, als er zu wissen meint. Viele Informationen werden verdrängt und überlagert, nur wenig wird aus dem Gehirn gelöscht (vgl. ebd. 2005, S. 84). Insgesamt wird die Basis für die Entwicklung der Gedächtnissysteme in den ersten drei Lebensjahren eines Menschen geschaffen. Unterschiedliche Zeitfenster für Entwicklungen öffnen sich und müssen in diesem offenen Zeitraum mit den erwarteten Erfahrungen angefüllt werden, wie z.B. in Bezug auf den Erwerb der Sprache. Im Falle der Nichtstimulierung können so bedeutende Erfahrungen nicht abgespeichert und für den gesamten Lebenszusammenhang verloren sein. Der Spracherwerb kann kaum nachgeholt werden, wenn dieser im Verlauf der Entwicklung an dem dafür vorgesehenen Zeitfenster eines Menschen verpasst wird (vgl. ebd. 2005). An diesem Beispiel wird die Förderung der Entwicklung eines Menschen vom Beginn seiner Geburt an besonders deutlich. Die Gedächtnisentwicklung beginnt mit dem ersten Tag eines Kindes und die Möglichkeit einer optimalen Herausbildung der unterschiedlichen Gedächtnissysteme wirkt sich auf das gesamte Leben bis ins hohe Alter aus. Erst mit der Entwicklung des episodisch-autobiographischen Gedächtnissystems eröffnet sich dem Menschen die Möglichkeit, sich aktiv und bewusst zu erinnern. Zuvor besteht die Notwendigkeit, unterschiedliches Wissen und Erfahrungen über die anderen Gedächtnissysteme aufgenommen und abgespeichert zu haben und somit eine Basis geschaffen zu haben. Ohne das Vorhandensein des Arbeitsgedächtnisses, prozeduralen Gedächtnisses, der Priming-Form und des perzeptuellen Gedächtnis sowie dem Wissenssystem kann kein autobiographisches Gedächtnis entstehen, mit dem jedoch der Mensch die Fähigkeit erhält, sich als einzelnes und kontinuierliches Wesen wahrzunehmen, trotz unterschiedlicher Erfahrungen, Alter und Veränderungen z.B. im Aussehen durch die Lebensalter oder mit unterschiedlichen Frisuren. Besonderheiten dieses Gedächtnissystems 122
entstehen mit der emotionalen Färbung und Kontextgebundenheit der Erinnerungen, die in „mentalen Zeitreisen“ zurückverfolgt werden können. Für die Lebensphase Alter kann die Förderung der Entwicklung und die besondere Berücksichtigung des autobiographischen Gedächtnisses ein lebenslanger Garant für die Lebensqualität eines Menschen sein. Das autobiographische Gedächtnissystem gilt als hierarchisch Höchstes, da in ihm subjektives Zeitempfinden, autonoetisches Bewusstsein sowie ein sich erfahrendes Selbst einzigartig beim Menschen zugleich zusammen kommen. Mit zunehmendem Lebensalter werden die Ausprägung und die Möglichkeit des Rückgriffs auf Erfahrungen, die im autobiographischen Gedächtnis gespeichert sind, von größerer Bedeutung, da die Art und Weise der Abspeicherung und Erinnerung etwas über das Selbstbild und die eigene Einschätzung im Hinblick auf die Kontinuität des einzelnen Menschen in seinem Lebenszusammenhang aussagen. Das autobiographische Gedächtnis bleibt lebenslang flexibel und kann über neue Erfahrungen im Lebenskontext den einzelnen Menschen verändern und seine Lebensqualität beeinflussen. Mit dem Wissen um die Entstehung der Gedächtnissysteme im frühen Kindesalter kann diese Entwicklung aufmerksam beobachtet und gefördert sowie eine lebenslange Veränderungschance für unterschiedliche Anforderungen an Menschen in den verschiedenen Lebensaltern wahrgenommen werden. Im Folgenden wird die nähere Betrachtung und Auseinandersetzung mit diesem Kontext notwendig, da im Hinblick auf ein drittes und viertes Lebensalter Erinnerungen und deren Einschätzung in temporaler und emotionaler Hinsicht sowie deren abgespeicherte Bewertung insbesondere für ein Leben im Alter von Nutzen sein könnten. 6.1.3 Temporalität – Emotionen – Erinnerung oder: subjektive Zeit – Selbst – autonoetisches Bewusstsein Die Einzigartigkeit des Menschen macht, den Hirnforschern zufolge, der Besitz und die Herausbildung eines autobiographischen Gedächtnisses aus, mit den Besonderheiten der Zeitlichkeit von Erfahrungen, die zu Erinnerungen und je nach Bedeutung bzw. Emotionalität abgespeichert werden und das Selbst bilden. Über das Vermögen des autonoetischen Bewusstseins ist es zudem möglich, als Mensch zu wissen, dass man reflektieren und sich erinnern kann. Für die Entwicklung eines Menschen, das ist vor allem den Erkenntnissen von Markowitsch und Welzer geschuldet, hat insbesondere die Entwicklung bis zum vierjährigen Kleinkind für den gesamten Lebenszusammenhang eine immense Bedeutung, da alle sie bedingenden Bausteine der Gedächtnisentwicklung in diese Zeitspanne fallen. Für den weiteren Lebenszusammenhang kann dieses Wissen vor allem im Hinblick auf den Zusammenhang von autobiographischem Gedächtnis, dem Vermögen temporaler Zeitreisen sowie emotional gefärbter Erinnerung über Reflexion einen aktiven lebenslangen Entwicklungsprozess für jeden Menschen eröffnen. Im Folgenden wird, neben der Möglichkeit der mentalen Zeitreisen, also dem Vermögen, Erfahrungen zeitlich auseinander zu halten, die Bedeutung der Emotionen für das autobiographische Gedächtnis betont. Die synchrone Zusammenführung von Kognition und Emotion sind für das autobiographische Erinnern die entscheidende Voraussetzung. Von der Sammlung neuer Ausdrücke ausgehend, dem Beherrschen-Lernen motorischer Fähigkeiten bis hin zu einer Bewertung des neu Aufgenommenen und der Fähigkeit, so gleich das neu Erworbene auf sich als Individuum beziehen und vergleichen zu können, sind not123
wendige Abläufe im Leben eines Kindes. Auf diese Weise verläuft die Bildung eines autobiographischen Gedächtnisses. „Das Kind muss sich als Individuum mit Vergangenheit und begrenzter Zukunft erfahren können; es muss wissen, dass es unabhängig von seiner Mutter und anderen Personen auf der Welt ist, und es muss sich selbst beobachten können (…). Erst wenn es gelernt hat, über Emotionen zu reflektieren, sie in ein Zeitschema einzupassen und Handlungen mit primär emotionalen Beweggründen von Handlungen mit rationalkognitiven Beweggründen zu trennen, kann es Erinnerungen so speichern, dass sie grundsätzlich wieder als Erlebnisse abrufbar sind“ (ebd. 2005, S. 124). Erinnerungen können jedoch verblassen, weil sich Individuen ändern. Kinder verändern sich dabei schneller als Erwachsene und so verblassen auch ihre autobiographischen Gedächtnisinhalte schneller. Dennoch können durch späteres Wiederholen oder Wiederabrufen Erinnerungen neu eingespeichert und in den Erinnerungskreislauf mit den gegenwärtigen Konnotationen von Zeit, Ort und Person gegeben werden (vgl. ebd. 2005, S. 124). Die Kontexteinbettung des autobiographischen Gedächtnisses ist von der kontextbezogenen Informationsaufnahme zu unterscheiden. Für die Kontexteinbettung des autobiographischen Gedächtnisses stellt das Individuum bewusste Überlegungen hinsichtlich seiner Person, seiner Beziehung zur Umwelt und hinsichtlich seiner Befindlichkeit an. Die Informationsaufnahme ist wenig auf Selbstreflexion und Bewusstmachung ausgerichtet und erfolgt im Extremfall sogar unbewusst. Die Wahrnehmung ist durch bereits vorhandenes Wissen, Erinnerungen oder Vorurteile sowie durch den Kontext der von außen dargebotenen Reize beeinflusst. Es ist also durchaus möglich, einem ein X für ein U vorzumachen, so Markowitsch/Welzer. Vieles, was Menschen aufnehmen, ist nur teilweise bewusst und wird zu großen Teilen nicht über das episodische, sondern über das weit früher entwickelte Priming-Gedächtnis verarbeitet. „Wir sind also immer nur teilweise Herr im eigenen (Gedächtnis- oder Gehirn-)Haus“ (ebd. 2005, S. 127f). Das kognitive Selbst gilt als die entscheidende Bedingung für die Entstehung des autobiographischen Gedächtnisses, da ab diesem Stadium dem Kind die Möglichkeit gegeben ist, seine Erfahrungen und Erlebnisse um einen einzigen Bezugspunkt zu zentrieren, nämlich um sein eigenes Selbst. Jede neue Erfahrung kann nun in der „Wissensstruktur“ des Selbst organisiert werden. In diesem Alter haben Kinder auch durchaus sehr lebendige episodische Erinnerungen. Noch fehlt ihnen jedoch die Fähigkeit, diese Erinnerungen temporal sicher zuzuordnen. Dinge geschehen und Ereignisse finden statt, doch solange Menschen noch keinen zeitlichen Bezugsrahmen eines kontinuierlichen Selbst haben, erscheint eine zeitliche Zuordnung bedeutungslos. Kinder können keine sichere Zuordnung der Quellen einer Erinnerung vornehmen, ein weiteres Zeichen für das Fehlen eines in der Zeit situierten Selbst (vgl. Markowitsch/Welzer 2005, S. 185). Schritte der Selbstkonzept-Bildung erfolgen für alle sichtbar in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahrs, wenn Kinder sich selbst im Spiegel erkennen können bzw. nach Erreichen des dritten Lebensjahrs, wenn sie sich auch auf Fotos erkennen. In diesem Alter werden Personalpronomen recht sicher verwendet, es hat sich eine Repräsentation des Selbst herausgebildet. Mit dem kognitiven Selbstkonzept ist die Voraussetzung für das autobiographische Gedächtnis gegeben, da die organisierende Struktur des kognitiven Selbst eine Vorläuferform des autobiographischen Gedächtnisses darstellt, die durch die Symbolsprache, so Howe et al., begrifflich fassbar wird (vgl. ebd. 2003, S. 480 in: Markowitsch/Welzer 2005). Von Bedeutung ist für Markowitsch/Welzer in diesem Zusammenhang, dass die Sprache als repäsentationales Medium nicht einfach als eine Übersetzung innerer Erfahrungen 124
nach außen eingeordnet werden sollte. Die Sprache etabliert ihrerseits eine neue Struktur für das Selbst, denn mit der Sprache kann sich das Kind selbst als Vorgestelltes gegenübertreten, sich in andere Zeiten und Situationen imaginieren und Tulvings mentale Zeitreisen antreten, die er für das entscheidende Merkmal des autobiographischen Gedächtnisses hält (vgl. Markowitsch/Welzer 2005, S. 185; Bezugnahme auf Howe et al. 2003, S. 474ff.; Tulving 1999, 2002, 2003). Im kognitiven Selbst findet sich eine notwendige Vorbedingung für das autobiographische Gedächtnis, das jedoch erst mit dem Beherrschen einer Symbolsprache organisiert werden kann. „Das emergierende Sprachvermögen allein ist aber nicht ausreichend für die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses. Elementar ist zudem die Fähigkeit, distinkte Zonen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden zu können, also ein Vorher von einem Jetzt und einem Nachher differenzieren zu können. Das autobiographische Gedächtnis setzt also einen Zeitbegriff voraus. Für die Entstehung eines solchen Zeitbegriffs ist wiederum erforderlich, dass Erinnerungen einen Ich-Bezug aufweisen, was etwa im Alter von zweieinhalb Jahren aufzutreten beginnt, einem Alter, in dem Kinder sich zum Beispiel im Spiegel erkennen und Personalpronomen zu verwenden beginnen“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 197). Das autobiographische Gedächtnis hat ein Selbstkonzept zur Voraussetzung, das in Raum und Zeit situiert ist und emotionale Markierungen von bestimmten Erlebnissen vornehmen kann. Als Beispiel für das Vorhandensein des autobiographischen Gedächtnisses wird folgende Episode von Markowitsch/Welzer beschrieben: „Wenn ein dreijähriges Kind davon berichten kann, dass es gestern im Kindergarten vom Stuhl geknallt ist und sich dabei wehgetan hat“ (ebd. 2005, S. 198). Das Kind hat begonnen erste Tempusformen zu benutzen und ein Verständnis für Zeit im Sinn zeitlicher Ordnungen (Temporalität) entwickelt. Darauf folgt in der Entwicklung die Herausbildung von Kausalsätzen (etwas ist passiert, weil …), denen grundsätzlich Temporalität zugrunde liegt (Markowitsch/Welzer 2005, S. 198). Im Alter von etwa einem Jahr zeigen Kinder, dass sie erste globale Kategorien gebildet haben (Tier oder Fahrzeug). Bei der Kategorienbildung sind die „mental event representations“ von Bedeutung, da in den dazu gehörenden Erinnerungsscripts bereits unterschiedliche Kategorien von Ereignissen (baden, spielen, essen etc.) vorhanden sind. „Solche event categories gehen möglicherweise der Bildung von Objektkategorien voraus, was übrigens darauf hinweist, dass soziale Ereignisse und Abläufe in der Gedächtnisentwicklung früher eine Rolle spielen als gegenstandsbezogene“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 176). Die Erinnerung an generelle Abläufe wie z.B. Routinen und scripts, die alltagsstrukturierend sind, ermöglichen auch die Antizipation erwartbarer Schritte in einer Handlungsfolge, also eine Fähigkeit zur Prospektion auszubilden. „Mit dem Heraufdämmern eines prospektiven Gedächtnisses wird aber ein entscheidender Grundstein dafür gelegt, dass später das Dasein in die drei zeitlichen Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zerlegt werden kann – ein autobiographisches Gedächtnis ausgebildet werden kann, das das Ich innerhalb dieser Zeitzonen situiert“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 178). Wenn Kinder die Aufmerksamkeit einer anderen Person prüfen und verfolgen, handelt es sich um Prozesse, die zeitlich sequenziert sind. Die zugrunde liegenden Vorgänge sind nur unzureichend verstanden, wenn sie lediglich als zeitlich distinkte Akte betrachtet werden, so Stern. Von Bedeutung ist die temporale Struktur, die sehr unterschiedlich ausfallen kann. Lächeln kann langsam und stetig sein oder spontan aufbrechend oder erst verhalten und plötzlich breit und offen sein. Die unterschiedliche Intensität und Verlaufsform einer 125
emotionalen Äußerung bezeichnet Stern als „vitality contour“. Allen gefühlten bzw. emotionalen Äußerungen, die eine zeitliche Struktur haben, schreibt Stern solche Vitalitätskonturen zu. Jede Emotion hat eine Darwinsche Funktion im Sinne einer primären Emotion und eine Vitalitätskontur, in der Bewertung und Differenzierung mit drin liegen (Stern 1999; 2002 in: Markowitsch/Welzer 2005, S. 180). „Wenn wir Emotionen als Kommunikatoren nach innen und außen betrachten, in denen sich die Wertigkeit einer Erfahrung mitteilt, kann die Bedeutungshaltigkeit von Vitalitätskontur und Darwinscher Funktion wechseln. Wenn also das Kind prüfen möchte, ob es in dem ermuntert wird, was es tut, wird die Darwinsche Funktion (Lächeln signalisiert Freude signalisiert Zustimmung) bedeutungstragend; dagegen transportiert in längeren sozialen Interaktionen, in denen es um die Herstellung von Gemeinsamkeit geht, die Vitalitätskontur des Lächelns die zentrale Botschaft – was übrigens auch im Erwachsenenalter noch durchaus so ist; Ironische Mitteilungen, gespielte Enttäuschung u. ä. wären ohne das bedeutungsschaffende Zusammenspiel von emotionalen Ausdruck und Vitalitätskontur gar nicht möglich“ (Markowitsch/Welzer 2005, S.180). Stern zufolge sind Vitalitätskonturen immanent zeitlich, denn sie markieren eine Empfindung als Ablauf oder als Sequenz, in dem der Empfindung ein Anfang, ein Mittelteil und ein Schluss gegeben wird. Am Beispiel des Lachens verdeutlicht er dieses: „Lächeln oder Lachen entsteht, bleibt eine Weile präsent und nimmt irgendwann wieder ab, dasselbe gilt für Zorn oder für Weinen“ (vgl. Stern 2002 in: Markotwitsch/Welzer 2005, S. 181). Die temporale Struktur der Vitalitätskonturen ist den frühen Erfahrungen eines Babys eigen, urinieren, saugen, hungrig sein etc. sind Stern zufolge Verläufe, die er als prototemporale Sequenzen in der physischen Erfahrungswelt von Kindern bezeichnet. Kinder erleben ihre Umwelt immer schon im Rahmen sequentieller Strukturen und nicht als bloße Aufeinanderfolge von einzelnen Akten. Somit wird ein fortlaufender Zusammenhang wahrgenommen und zwar sowohl auf die innere propriozeptive Erfahrung als auch in Bezug auf das, was es an seinem Gegenüber wahrnimmt. „Der Clou dieses Gedanken besteht nun darin, dass wir hier – also im Alter bis zu acht oder neun Monaten – Temporalität als prozedurale und psychophysische Grunderfahrung annehmen können, die mit der Neun-Monats-Revolution eine autonoetische, bewusstseinsfähige Dimension annimmt und plötzlich als Grundformat der deutlich später einsetzenden Differenzierungsfähigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erkennbar wird“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 181). Das bewusste Monitoring einer emotionalen Interaktion inklusive begleitender Vitalitätskonturen setzt ein Kurzzeitgedächtnis oder besser Arbeitsgedächtnis voraus, das zudem über eine bestimmte Kapazität verfügen sollte. „Stern weist übrigens darauf hin, dass Vitalitätskonturen eng mit Intentionalität verbunden sind, weil die Temporalität von Handlungen und Austauschprozessen, die sie markieren, in dem Augenblick, wo sie eine Antizipation des Endes einer Sequenz erlauben, auch eine immanente Intentionalität mit sich bringt“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 182). Wenn ein Endpunkt vorausgesehen werden kann, ist es möglich, dass dieser Endpunkt zum Ziel wird. Wenn eine Antizipation eines spezifischen Ziels vorgenommen wurde sowie der Zeitpunkt des Erreichens dieses Ziels eingeschätzt werden kann, beginnt die zeitliche Sequenz selbst an Bedeutung. „Man beginnt, um etwas zu erreichen und die verstreichende Zeit wird eine, die die Distanz bis zum Erreichen des Zieles immer weiter verringert. Insofern haben Vitalitätskonturen ab dem Zeitpunkt, zu dem sie wahrgenommen und empfunden werden können, einen intentionalen Aspekt – und hier liegt der Moment, von dem an 126
das Kind sich selbst als intentionales Wesen begreifen lernt“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 183; Bezug zu Stern 1999, S. 75, Übersetzung von Markowitsch/Welzer 2005, S. 182f). Mit dieser Entwicklung beginnt das Kind in einer erlebten Gegenwart zu sein und nicht mehr in einer fortdauernden Gegenwart. Dies gilt als Voraussetzung für eine später erfolgende Differenzierung in vorher, jetzt und später (vgl. ebd. 2005). Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses, so lässt sich zusammenfassen, erscheint als zentrales Element für die Orientierung eines Menschen in seiner Umwelt und für seine kontinuierliche Anpassung in einer sich verändernden Umwelt mit dem sich ebenfalls ständig verändernden Selbst. Die Erkenntnisse aus der Hirnforschung sind für den vorliegenden Zusammenhang von Alter, Alternsprozessen und dem Leben in der Zeit und in bestimmten Zeitstrukturen von entscheidender Bedeutung, weil Zeit in mindestens zweifacher Weise für das Leben von Menschen explizit wird: individuell und gesellschaftlich. Das autobiographische Gedächtnis existiert, wenn ein Mensch eine eigene Temporalität entwickelt hat und Erlebnisse in gestern, heute und morgen unterscheidet sowie als Erinnerung mit bestimmten Konnotationen speichert. Mit zunehmendem Lebensalter wird die Zeitspanne, die bereits im Gestern liegt und emotional für das eigene Leben langfristig abgespeichert ist, größer und Erinnerungen können wieder und wieder zur erneuten Abspeicherung hervorgeholt und für das eigene Leben emotional bedeutsam werden. Diese Erinnerungsfähigkeit erfolgt keinesfalls linear, vielmehr verfügen Menschen über die Möglichkeit in ihren Erinnerungen hin und her zu springen sowie neue Verknüpfungen und Verbindungen gedanklich vorzunehmen. Die Temporalität eines Menschen ist jedoch eng verbunden mit Erfahrungen, die emotional Bedeutung erlangt haben und somit für eine gesamte Lebensspanne relevant sein können. Die Besonderheit vorliegender Erkenntnisse zur Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses im frühen Kindesalter liegt in dem Vermögen der Temporalität in Verbindung mit emotional abgespeicherten Erfahrungen. Gestern, Heute und Morgen gelten als Konstrukt und gleichzeitig ist es ein menschliches, gedächtnisgeleitetes Bedürfnis, Erfahrungen seiner selbst in Vorher oder Nachher einordnen zu können, um sich wiederum als Selbst wahrzunehmen. Und je mehr Erfahrungen das autobiographische Selbst bilden, desto mehr an Vorher und Nachher muss für Bedeutungszuweisungen sortiert und ausgewählt, neu verknüpft oder ignoriert werden. Zentrale Aufgabe wird es sein, die Erkenntnisse der Entstehung des autobiographischen Gedächtnisses und seine lebenslange Förderung zugunsten einer Erhöhung der Lebensqualität vor allem für den Alternszusammenhang auszuloten. Die Einstellung zum Leben und die Qualität des Lebens für einen älter werdenden Menschen hängt also auch mit dem Verständnis seiner eigenen Temporalität und den emotionalen Bewertungen seiner Erfahrungen zusammen. Dies könnte ein Ausgangspunkt für die Veränderung des Lebens in der Zeit sein, sie anhand der abgespeicherten Erfahrungen und Erinnerungen erneut einer emotionalen Bewertung zu unterziehen, um entsprechend dem Vermögen des Wandlungskontinuums „autobiographisches Gedächtnis“ ein selbstbestimmtes und selbstständiges Altern mit dem bereits gelebten Leben neu gestalten zu können. Trotz der von Baltes (1989) formulierten „stillen“ Reserve, gemeint ist die Plastizität des Gehirns bis ins hohe Alter, müssen Einbußen in bestimmten Bereichen der Lern- und Leistungsfähigkeit berücksichtigt werden, will man die Möglichkeiten des autobiographischen Gedächtnisses realistisch einschätzen.
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6.2 „Weisheit“ als Ziel und Aufgabe des Lebens im Alter Älter werdenden Menschen kann eine Form besonderen Wissens zugeschrieben werden, das als Weisheit bekannt ist. Die Vorstellung eines weisen Menschen gilt als etwas für im Alter zu Erstrebendes, ohne dass geklärt wäre, welche Eigenschaften und welches Verhalten der Weisheit zuzuordnen seien. Unterschiedliche Kulturen prägen den Begriff auf verschiedene Weise und Wertigkeit, Basis ist jedoch ein grundsätzlich in Aussicht gestelltes positives Altersbild, das den einzigen Reiz im Hinblick auf Altersprozesse darstellt. Als Ziel und Aufgabe könnte für älter werdende Menschen formuliert werden, „weise zu werden“, um somit als eine Art „Lebensprofi“ für nachwachsende Generationen eine aktive und positive Bedeutung zu bekommen (vgl. Baltes 2004). Baltes befasst sich bereits seit den 80er Jahren des 20. Jhds. mit einem Konzept erfolgreichen Alterns und nähert sich in diesem Zusammenhang dem Stellenwert und seiner Art von Weisheit für einen guten Alternsprozess, die auch für jeden Menschen realistisch erreichbar und hilfreich sein könnte. 1989 hatte er ein Konzept erfolgreichen Alterns vorgelegt, das als Ausgangspunkt das psychologische Modell erfolgreichen Alterns „Optimierung durch Selektion und Kompensation“ formulierte und inzwischen als Selektion-Optimierung-Kompensation-Konzept und als „weisheitsbezogenes Wissen“, das erfolgreich mit altersbedingten Verlusten umgeht, weiterentwickelt wurde. Optimierung als erstes Element geht von der Annahme aus, Menschen versuchten das allgemeine Niveau ihrer Kapazitätsreserven anzuheben, um ihre gewählten Lebenswege in Quantität und Qualität zu verbessern. Selektion als zweites Element bezieht sich auf die adaptive Leistung eines Menschen, sich auf Bereiche hoher Priorität zu konzentrieren, in denen Umweltanforderungen, persönliche Motivierung, Fertigkeiten und biologische Leistungsfähigkeit zusammenfallen. Kompensation als drittes Element, resultiert aus der zunehmenden Einschränkung in der Bandbreite des adaptiven Potenzials oder anders in der verminderten Plastizität im Alter und wird von Bedeutung, wenn bestimmte Verhaltenskapazitäten ausfallen oder unterhalb eines funktionsadäquaten Stellenwerts sinken (vgl. Baltes 1989, S. 8). Das Konzept, von Baltes entweder als „pragmatische Intelligenz“ oder „weisheitsbezogenes Wissen“ bezeichnet, wird auch als Beitrag gelingenden lebenslangen Lernens betrachtet, das die Teilhabe Älterer an der Gesellschaft sichert. „Es scheint eine besondere Art des Wissens zu geben. Sie nimmt in späten Jahren nicht ab, sondern zu. Baltes nannte das Phänomen schon vor Jahren ‚pragmatische Intelligenz’ oder ‚weisheitsbezogenes Wissen’ und entwickelte daraus eine neue Disziplin, die ‚Weisheitsforschung’. Zum Weisheitswissen gehört die Fähigkeit, kreativ mit Altersverlusten umzugehen. Der Weise selektiert, optimiert, kompensiert – sein Geist beherrscht das SOK-Konzept. Am liebsten erläutert Baltes dieses Konzept am Beispiel des 80-jährigen Pianisten Arthur Rubinstein. Längst ein Greis, wurde er immer noch bejubelt. In einem Interview lüftete er freimütig das Geheimnis seines anhaltenden Erfolgs. Erstens spiele er weniger Stücke, brauche folglicherweise weniger im Kopf zu behalten (Selektion). Zweitens übe er diese häufiger (Optimierung). Und drittens spiele er vor schnellen Passagen extra langsam – das lässt die langsamen bedeutungsvoller und die schnellen schneller erscheinen (Kompensation)“ (Etzold 2003). Notwendig wird Selektion, Optimierung und Kompensation aufgrund der altersbedingten Veränderungen des Intelligenzvermögens. Intelligenz ist nicht als eine einzige, homogene Fähigkeit zu sehen. Sie umfasst zum einen die „fluide“ Mechanik des Geistes, die
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Geschwindigkeit und Genauigkeit der Informationsverarbeitung – die in der Kindheit rasch wächst, doch schon vom frühen Erwachsenenalter an stetig sinkt. Weiteres Merkmal der Intelligenz ist die „kristalline“ Pragmatik, die kulturgebundenes Wissen und Denken widerspiegelt und auf Übung beruht: Zu ihr zählen Sprachvermögen, Fachwissen und soziale Kompetenz – Fähigkeiten, die bis ins hohe Alter erhalten bleiben können, sofern sie ausgeübt und nicht durch Krankheiten beeinträchtigt werden (Baltes 2002b). Das SOK-Konzept als eine Konkretisierung „weisheitsbezogenen Wissens“ zeigt als besonderes Ziel den erfolgreichen Umgang mit altersbedingten Verlusten, vor allem durch die Auswahl und Verbesserung sowie der Schaffung von Ausgleichsmöglichkeiten, so dass diese von den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft nicht explizit wahrgenommen werden. Das erscheint zunächst als sehr „technische“ Umgangsweise mit altersbedingten Verlusten. Als handlungstheoretische Definition von Selektion, Optimierung und Kompensation haben Baltes u.a. bereits 1996 beispielhafte Kategorien gebildet, um die Selektion, Optimierung und Kompensation in der Anwendung zu verdeutlichen: Tabelle 5: SOK-Konzept nach Baltes Selektion Ziele/Präferenzen
Optimierung Zielbezogene Mittel
Elektive Selektion: o Bildung von Zielen o Ausbildung eines Zielsystems o Auswahl von Zielen o Kontextualisierung von Zielen o Zielverpflichtetheit
o Erwerb neuer Fertigkeiten/ Ressourcen o Übung o Anstrengung o Investieren von Zeit o Aufmerksamkeitsfokussierung o Modellierung erfolgreicher Anderer o Gebrauch externer Hilfe/ Ressourcen o Selbst-Motivierung o Orchestrierung von Fertigkeiten o Ergreifen des richtigen Augenblicks
Verlustbasierte Selektion: o Rekonstruktion des Zielsystems o Bildung neuer Ziele o Anpassung des Zielstandards o Fokussierung auf wichtigstes Ziel
Kompensation Mittel zur Entgegenwirkung des Verlusts zielbezogener Mittel o Einsatz substitutiver Fertigkeiten/Ressourcen o Mobilisierung latenter Reserven o Vermehrte Übung o Vermehrte Anstrengung o Vermehrtes Investieren von Zeit o Aufmerksamkeitsfokussierung o Modellierung anderer, die erfolgreich kompensieren o Gebrauch externer Hilfe o Therapeutische Intervention
(Quelle: Baltes/Baltes/Freund/Lang 1996 in: Baltes 1997) Es ist hervorzuheben, dass sich Selektion-Optimierung-Kompensation nicht durchgängig als vorsätzlicher und rationaler Prozess darstellt, jede dieser drei Komponenten kann aktiv oder passiv, innerlich oder äußerlich, bewusst oder unbewusst ablaufen. Im Verlauf der Entwicklung können Komponenten ihren Schwerpunkt verlagern, Verhaltensformen, die zu Beginn einen kompensatorischen Charakter hatten, können zu einem anderen Zeitpunkt als Optimierungsstrategie eingesetzt werden. Wer auf solche Weise Selektieren, Optimieren und Kompensieren als Verhaltensstrategien einsetzt, fühlt sich besser und kommt im Leben weiter voran – besonders dann, wenn wie im Alter weniger Ressourcen zur Verfügung stehen (vgl. Baltes 1997). 129
In Bezug auf Weisheit als messbare Qualität definiert Baltes ein System, das sich durch 5 miteinander verbundene Kriterien näher beschreiben lässt. Dazu gehört Faktenwissen in grundlegenden Fragen des Lebens, Strategiewissen, Wissen um Kontexte des gesellschaftlichen Wandels, Wissen um Ungewissheiten des Lebens sowie Wissen um die Relativität von Werten und Lebenszielen, so Baltes. Die Forschungen um Weisheit und weitere hierfür notwendig und relevante Kriterien, dauern an. Eine Kombination weiterer förderlicher Faktoren wie z.B. soziale Kompetenz, Offenheit, intensive Lern- und Übungserfahrungen, Ausbildung und das Talent zum Mentor erscheint in der gegenwärtigen Diskussion zentral (vgl. Etzold 2003). Baltes hat in der Auseinandersetzung mit dem Weisheitsbegriff weitere Kriterien als Elemente einer konzeptuellen Definition benannt, deren Anerkennung Weisheit als Ziel und Aufgabe für ältere Menschen erstrebenswert machen könnte.
„Wisdom adresses important and difficult questions and strategies about the conduct and meaning of life. Wisdom includes knowledge about the limits of knowledge and the uncertainities of the world. Wisdom represents a truly superior level of knowledge, judgement and advice. Wisdom constitutes knowledge with extraordinary scope, depth and balance. Wisdom involves a perfect synergy of mind and character, that is an orchestration of knowledge and virtues. Wisdom represents knowledge used for the good or well-being of oneself and that of others. Wisdom, though difficult to achieve and to specify, is easily recognized when manifested” (Baltes 2004, S. 17).
Die Besonderheit des Weisheits-Konzepts basiert auf den von Menschen gemachten Erfahrungen im Verlauf ihres Lebens, die sich lebenslang stetig vergrößert und vertieft haben. Diese Erfahrungen haben sich zu einem besonderen Wissen und zu Fertigkeiten um das Leben in seiner Gesamtheit entwickelt. Weisheit bedeutet, über die Tiefen und Unsicherheiten im Leben erfahren sowie über die Bedeutung des Lebens reflektiert zu haben und andere an diesem Wissen teilhaben zu lassen. Es ist eine besondere Art und Weise, die gemachten vielfältigen, widersprüchlichen sowie ungeklärten Fragen des Lebens aktiv zu balancieren und ein besonderes weitergebenswertes Wissen für das zurückliegende Leben zusammenzufassen. Mit zunehmendem Lebensalter kann die Lebensgestaltung in besonderer Weise gelingen, wenn die Stärken des Alters, die vor allem in emotionaler Intelligenz und in Weisheit oder „Weisheitswissen“ liegen, explizit gemacht und dadurch von den übrigen gesellschaftlichen Mitgliedern zur Kenntnis genommen werden. Emotionale Intelligenz bezeichnet die Fähigkeit, Ursachen von Gefühlen wie Hass, Liebe oder Furcht zu verstehen und Strategien zu finden, durch die sich emotionale Konflikte vermeiden oder in ihren negativen Auswirkungen dämpfen lassen: Das gelingt älteren Menschen oft besser als jüngeren. Der Begriff Weisheitswissen kennzeichnet am eindrucksvollsten das geistig-persönliche Potenzial älterer Menschen. Weisheit bedeutet Wissen um die conditio humana, um die Vereinigung von Tugend und Wissen in der Gestaltung der Lebensführung. Altwerden allein genügt dafür freilich nicht; nur dann, wenn sich Lebenserfahrung mit bestimmten Persönlichkeitseigen130
schaften und Denkstilen verbindet, erzielen ältere Menschen überdurchschnittlich häufig hohe Leistungen in Weisheitsangelegenheiten. Ähnliches gilt für bestimmte Bereiche der Kunst sowie der beruflichen Expertise. So zählen ältere Komponisten oder Dirigenten oft zu den besten und auch Fachwissen kann „alternsfreundlich“ wirken, solange der ältere Mensch beruflich aktiv bleibt (vgl. Etzold 2003; Spitzer 2003). Das junge Alter bzw. das dritte Lebensalter ist, nach Balteschen Überlegungen, optimierbar über die Entwicklung einer Konzeption erfolgreichen Alterns, in dem einerseits objektive Aspekte medizinischer, psychologischer und sozialer Funktionstüchtigkeit genauso wie andererseits subjektive Aspekte von Lebensqualität und Lebenssinn einen möglichst ganzheitlichen Prozess beschreiben. „Wegen der weiteren Abnahme des biologischen Potenzials im hohen Alter reduziert sich jedoch die Wirkkraft oder Effektivität kultureller Faktoren und Ressourcen. In einer gewissen Weise exemplifiziert dieses Prinzip das Dilemma der modernen Zeit. Gutes Altern hat einen Mehrbedarf an Kultur, aber deren Wirkkraft zeigt einen Altersverlust“ (Baltes 2001). Das hohe Alter mit gleicher Ausgleichswirkung zu optimieren, wird nach Baltes aufgrund der weiteren Abnahme des biologischen Potenzials im hohen Alter zunehmend schwieriger. Baltes bezeichnet die biologisch-genetische Architektur des hohen Alters als in sehr fundamentaler und robuster Weise als unfertig. „Die Bedeutung dieser in der Evolution angelegten Unfertigkeit des Alters wird umso größer, je länger wir leben und je schneller der gesellschaftliche Wandel sich vollzieht“ (Baltes 2001). Mit zunehmender Geschwindigkeit des gesellschaftlichen Wandels und je umfassender, alltags- und berufsrelevanter die betroffenen Inhalte sind, umso größer ist die objektiv vorhandene und subjektiv erlebte Unfertigkeit des Einzelnen. Somit gerät der Alternsprozess, der mit zunehmendem Lebensalter zunehmend mehr Zeit, Übung und kognitive Unterstützung für das Erlernen neuer Dinge benötigt, allmählich wieder in eine Defizitsichtweise hinein. An den Erkenntnissen der Hirnforschung wird deutlich, wie sich die Plastizität des Gehirns im Alternsprozess verändern kann und vor allem wie die hohe Variabilität und Heterogenität dabei für jedes einzelne Individuum differiert. „Gedächtnis ist ein dynamischer Prozess – wir speichern Informationen zustandsabhängig und wir rufen Information zustandsabhängig ab. (…) Die Zustandsabhängigkeit des Gedächtnisses bedeutet aber auch, dass sich unser Gedächtnis altersabhängig verändert – einmal, weil wir immer mehr Information mit zunehmenden Alter aufnehmen und zum anderen, weil unser Gehirn immer weniger in der Lage ist, Informationen mit der gleichen Präzision und sozusagen jugendlicher Frische aufzunehmen, wie dies in frühen Jahren der Fall war. Auch verändert sich natürlich unser Gedächtnis insofern, als wir mit zunehmendem Alter Gedächtnisinhalte immer wieder neu verknüpfen und damit neu integrieren und außerdem jeder Abruf eine Neueinspeicherung (Re-Enkodierung) zur Folge hat – die wiederum in der jeweils herrschenden Stimmung vorgenommen wird (Markowitsch 2002)“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 241). Obwohl sich mit zunehmendem Alter Funktionen wie z.B. Intelligenzleistungen verändern, hält sich dennoch jeder Mensch für identisch, für dieselbe Person, unabhängig vom Lebensalter. Die Bereiche der Veränderung sind in Bereiche zu differenzieren, die entweder dynamisch sind oder konservativ-beständig im Wesentlichen konstant bleiben. Es lassen sich Parallelen zur körperlichen Entwicklung herstellen: Der Körper ist bis zum frühen Erwachsenenalter auf Zuwachs und Zunahme angelegt, erreicht ein Plateau, das sich wiederum rückläufig entwickelt. Muskelmasse, Körpergröße und Hirnvolumen sind Bereiche, die bis in die dritte Lebensdekade Zunahmen zeigen. In diese Zeit fällt auch ein 131
Anstieg an Wissen, geistiger Flexibilität, sozialer Kompetenz und Reife, emotionaler Schwingungsfähigkeit und Lernbereitschaft. Darauf folgt eine Plateauzeit, die jedoch unterschiedlich bewertet wird, einerseits gibt es das Modell, in dem ab Mitte der dritten Lebensdekade die Leistungsfähigkeit (definiert als Kombination aus körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit) individuell abhängig nachlässt. Im optimistischeren anderen Modell bleibt die Leistungsfähigkeit bis ins Alter weitgehend konstant und fällt ab, jedoch auch individuell abhängig entweder mit 60 Jahren oder erst mit 90 Lebensjahren. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass jemand mit einer sehr guten Aufnahme- und Erinnerungsfähigkeit auch eine eher hohe Intelligenz besitzt. Das ist von Bedeutung, da im Allgemeinen ein direkter Zusammenhang zwischen Intelligenz und Gedächtnis angenommen wird. Intelligenz wird als multidimensionales Konstrukt betrachtet und sie wird in statisch-pragmatische (Synonyme: kristallisierte, pragmatische, power-Leistungen) und in dynamisch-geschwindigkeitsabhängige (Synonyme: flüssige, mechanische, speedLeistungen) Anteile differenziert. Fluide Intelligenz kennzeichnet das intellektuelle Potenzial, das vor allem beim Neuerwerb von Wissen und beim Lösen neuartiger Probleme bedeutungsvoll ist, während kristalline Intelligenz dagegen die Fähigkeit umfasst, zuvor erworbene Kenntnisse auf ein aktuelles Problem anzuwenden (vgl. Markowitsch/Welzer 2005, S. 241ff.). Fünf größere Dimensionen psychometrischer Intelligenz wurden identifiziert, um die strukturellen Eigenschaften von Intelligenz im höheren Erwachsenenalter erfassen zu können. Zur fluiden Intelligenz gehören logisches Denken, Gedächtnis und perzeptuelle Verarbeitungsgeschwindigkeit. Wissen und divergentes Denken sind der kristallinen Intelligenz zuzuordnen. Quer- und Längsschnittstudien zeigen, dass es im Alter eine zunehmende Zweiteilung des intellektuellen Entwicklungsverlaufs gibt: Die fluide Leistungsfähigkeit geht signifikant mit zunehmendem Alter zurück, während das kristalline Erfahrungswissen weitgehend stabil bleibt bzw. sich steigert. Dennoch ist insgesamt zu berücksichtigen, dass die Zu- und Abnahme intellektueller Leistungen einer erheblichen inter- und intraindividuellen Variabilität unterliegt (vgl. Bonner Längsschnittstudie des Alterns; Berliner Altersstudie; Meyer/Baltes 1996; Rudinger/Rietz 1995; Baltes 1998; Salthouse 1996 in: Markowitsch/Welzer 2005, S. 244). „Es kann nicht oft und intensiv genug betont werden, dass unser menschliches Gedächtnis zustandsabhängig und im Wechselspiel mit vielen anderen kognitiven, attentiven und Persönlichkeitsdimensionen arbeitet. (…) Je nachdem nun, was uns das Leben bringt, von welcher Art Emotionen wir eher geleitet werden, wird sich unsere Erinnerungsfähigkeit verändern und mit zunehmender Länge einer ‚Gestimmtheit’ die Wahrscheinlichkeit für das Erinnern bestimmter Gedächtnisinhalte verbessern und für andere verringern“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 244f). Markowitsch/Welzer arbeiten als interdisziplinäre Forschungsgruppe mit einem multimethodischen Untersuchungsansatz zu lebensgeschichtlich zentralen Erinnerungen sowohl hinsichtlich ihrer subjektiven Bedeutung als auch hinsichtlich ihrer neuronalen Korrelate. Autobiographische Gedächtnisinhalte werden in ihrer Genese, ihrer altersspezifischen Verarbeitung sowie in ihrer emotionalen Kodierung untersucht. In der ontogenetischen Entwicklung ist bekannt, dass Phasen hoher Verdichtung, in denen sich auf allen Betrachtungsebenen sehr viel ereignet, mit Phasen relativer Konstanz abwechseln. Phasen hoher Veränderungsdichte werden als Entwicklungssprünge eingeordnet und die Phasen relativer Konstanz als Konsolidierung neuer Erfahrungen und Kompetenzen eingeschätzt. 132
Erste Ergebnisse zeigen, dass bei älteren Menschen mit zunehmendem Alter (62-74 Jahre alt) eine große Bedeutung des jungen Erwachsenenalters auf der subjektiven Ebene, auf der Ebene neuronaler Aktivierungsmuster sowie ein Anwachsen evaluativer Komponenten des autobiographischen Erinnerns vorliegen. Es zeigt sich ein relativ geringes Aktivierungsniveau für Erinnerungen aus der frühen Kindheit; diese werden narrativ präsentiert. Markowitsch/Welzer schätzen diesen Befund als eine zunehmende Semantisierung älterer Erinnerungen im Lebensverlauf (vgl. ebd. 2005, S. 226ff.). Im Blick auf ältere Menschen lässt sich vorerst zusammenfassen, dass länger zurückliegende Ereignisse aus der Kindheit und dem mittleren Erwachsenenalter stabiler und intensiver erinnert werden als kürzer zurückliegende. Mit zunehmendem Lebensalter scheinen kürzer zurückliegende Erinnerungsinhalte unbedeutender zu werden und die evaluative Dimension des Erinnerns zuzunehmen. Das Anwachsen der evaluativen Komponente des autobiographischen Erinnerns zeigt sich sowohl in der narrativen Repräsentation als auch auf der Ebene der neuronalen Aktivierungsmuster. „Deutlich ist in der Gruppe der Älteren zudem das hohe Aktivierungsniveau für die Kindheit und die Phase des frühen Erwachsenenalters und zwar sowohl auf der Ebene der narrativen Repräsentation wie auf der Ebene der Aktivierungsmuster. Dieser Befund passt gut zu dem in der Literatur für dieses Alter vielfach beschriebenen ‚reminiscence bump’ (z.B. Schacter 1996)“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 230). Ein weiteres auffälliges Ergebnis für das autobiographische Gedächtnis älterer Menschen zeigt die relative Bedeutungslosigkeit von „recent memories“, vor allem im Vergleich mit den Menschen im jungen Erwachsenenalter, für die „recent memories“ auf der Ebene der subjektiven Bedeutungen und neuronaler Aktivierungsmuster hohen Bedeutungsgehalt tragen (vgl. ebd. 2005). Für den Alternsprozess erweisen sich die Erkenntnisse der großen Bedeutung des jungen Erwachsenenalters auf subjektiver Ebene als hoch relevant, ebenso das Anwachsen evaluativer Komponenten autobiographischer Erinnerungen sowie die von Markwotisch/Welzer herausgearbeitete Semantisierung älterer Erinnerungen im Lebensverlauf. Vom älter werdenden Menschen aus betrachtet, werden Erfahrungen aus anderen Lebensaltern in unterschiedlicher Bedeutsamkeit erinnert, präsentiert und wiederkehrenden Bewertungen unterzogen, so die Konsequenz der Forschung. Die hohe Bedeutung des jungen Erwachsenenalters mit dem dazu gehörigen Reminiszenzeffekt ist ebenso auf der Ebene der Aktivierungsmuster, also neuronal von starker Relevanz. Die Überlegungen aus dem vorherigen Teil (vgl. Draaisma 2004) können demnach dahingehend erweitert werden, dass die Bedeutung des jungen Erwachsenenalters für diejenigen Älteren beinahe akut nachfühlbar sind. Die Erfahrungen und Erlebnisse aus dieser Altersphase werden nicht einer emotionalen Relativierung über Semantisierungen ausgesetzt, sondern sie erhalten im Gegenteil eine gleich bleibend hohe Bedeutung, auch im aktuellen Lebens- und Alterszusammenhang. Für einen erfolgreichen Alternsprozess könnte die Frage bedeutend werden, wie welche Erlebnisse und Erfahrungen auf welchen Wegen in ähnlicher Weise eine entsprechend hohe Bedeutung erhalten könnten. Es erscheint überlegenswert über die gesamte Lebensspanne beeindruckende und beeinflussende Momente auf eine Weise erfahrbar zu machen, die starke Wirkung über einen langen Zeitraum zeitigen. Weiter kennzeichnend ist für die Erfahrungen des jungen Erwachsenenalters, dass diese nicht, wie die Erfahrungen aus den übrigen Lebensaltern evaluative Komponenten oder über eine zunehmende Semantisierung in eine emotionale Verarbeitung bzw. Bedeutungslosigkeit übergehen.
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Erfahrungen und Erlebnisse aus anderen Lebensaltern, die über das autobiographische Gedächtnis evaluativen und wiederkehrenden (Neu-)Bewertungen und Einordnungen zu Verfügung stehen, führen dazu, über die Lebensspanne sich verändernder Lebens- und Umweltbedingungen hinweg, die Kontinuität der eigenen Person zu wahren, aufrecht zu erhalten und weiter zu entwickeln. Erfahrungen, mit denen evaluativ und semantisierend vorgegangen wurde, stehen verarbeitet dem Aufbau einer Weisheitskompetenz zur Verfügung und werden so von Nutzen sein für eine stetige Selbstaktualisierung, wie sie auch von Schweppe eingefordert wird. Sie fordert ein bewusst dynamisches Verhältnis zur eigenen Lebensgeschichte und sieht dieses als Voraussetzung zur eigenen Lebensbewältigung im Alter an. „Alter lässt sich nicht mehr als Verlängerung von „Früherem“ und früher Gültigem leben. Auch alte Menschen geraten in ein bisher wenig bekanntes Maß an Veränderungsdruck“ (Schweppe 2000, S. 51), da Altern mitten in einem rapiden sozialen und gesellschaftlichen Wandel geschieht, der gerade für alte Menschen Umorientierungen in einem bisher unbekannten Maß bedeutet. Die Anpassungsleistungen, die das Wandlungskontinuum „autobiographisches Gedächtnis“ nach Markowitsch/Welzer ohnehin vorzunehmen in der Lage sind, kann für die Geschwindigkeit des gesellschaftlichen Wandels zu langsam sein. Damit würde es weder für das SOK-Konzept noch für die Herausbildung einer Weisheitskompetenz ausreichen. Für einen erfolgreichen Alternsprozess besteht also die Möglichkeit, Erinnerungen von gelebten Erfahrungen weitergehend evaluativen Momenten zu unterziehen, mit dem Ziel, die über die gesamte Lebensspanne gesammelten Erinnerungen und Erfahrungen danach abzusuchen, ob sie nicht für das aktuelle Leben im Alternsprozess neuerlich von Bedeutung werden könnten. Insbesondere die relative Bedeutungslosigkeit der „recent memories“ auf der einen Seite sowie die Erinnerungen mit dem besonders hohen Aktivitätspotenzial aus dem jungen Erwachsenenalter andererseits könnten wegen ihres einerseits auffälligen Nicht-Vorhandenseins und im Gegensatz dazu wegen ihrer starken Bedeutung noch einmal auf ihren Nutzen für die Beeinflussung eines erfolgreichen Alternsprozess reflektiert werden. Alter hat den Vorteil, aus einem großen Pool an gelebten Ereignissen, Erfahrungen über die gesamte Lebensspanne zugunsten einer aktiven Lebensgestaltung schöpfen zu können, wenn diese zur Präsentation und Reflexion bereitstehen. In den Erkenntnissen der Weisheitsforschung einerseits und den Erkenntnissen über Gedächtnisleistungen des autobiographischen Gedächtnisses sowie der sich verändernden Intelligenz im Alter andererseits liegen Potenziale, die der weiteren Reflexion bedürfen, weil die Verbindung von Weisheit und autobiographischer Entwicklung über das bloße Anschauen der Altersaktivitäten hinausweisen. Aktivitäten im Alter, die in Zeitbudgetstudien und Forschungen zu Aktivitätspotenzialen älterer Menschen empirisch erhoben werden, schätzen zu wenig ein, ob ältere Menschen das in ihrem Bedürfnis liegende an Aktivitäten überhaupt leisten können oder ob sie sich bewusst sind, was sie erbringen. Es gibt kaum Aussagen und Einschätzungen darüber, welche Bedeutung Aktivitäten im Alter für ältere Menschen haben.
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6.3 Aktives Alter zwischen Kompensation und Weisheit – Bewertung zwischen Teilzeit-Erwerbsarbeit und Produktivität im Alter Mit der Anerkennung des demographischen Wandels als gesellschaftliche Dimension geht zunehmend die Auseinandersetzung mit den Potenzialen und der Aktivität des Alterns und des Alters einher. Dabei ist ein Zusammenhang, der wiederkehrend herausgestellt wird, die wechselseitige Bedingtheit zwischen Produktivität und Aktivität alter Menschen. Produktivität bezieht sich einerseits auf die Zugehörigkeit älterer Menschen zur Erwerbsarbeit und ihre darin nachweisbare Intensität und andererseits auf ihr Engagement in Familie und privaten Netzen sowie bürgerschaftliches Engagement; Produktivität bezieht sich also auf Nützlichkeit für die Gesellschaft. Aktivität im Alter schließt auf alltägliches Tun und auf Tätigkeiten, mit denen ältere Menschen Zeit aktiv beschäftigt verbringen, wie z.B. Sport, Hobbys, Mediennutzung oder Kontakte, Unterhaltung und Veranstaltungen bzw. Schlafen, Körperpflege. Die Aktivitäten beziehen eher nicht die Zufriedenheit ein, noch wird eine Verbindung der Aktivität mit einem Sinn für den aktiv lebenden älteren Menschen hergestellt. Ältere Menschen werden bei dieser Betrachtung vom Standpunkt ihrer Produktivität oder ihren Aktivitäten als zur Gesellschaft zugehörig wahrgenommen oder bei entsprechend wenigen Aktivitäten als außerhalb der Gesellschaft befindlich oder randständig. Von der Logik der Erwerbsarbeitsgesellschaft sind diese Einschätzungen nachzuvollziehen. Doch vom Standpunkt des Alternsprozesses aus betrachtet, hat weder Produktivität noch Aktivität Aussagekraft über die Zufriedenheit eines älteren Menschen, der nicht im „luftleeren Raum“ aktiv, beschäftigt oder tätig sein will, sondern vor allem handelnd und sinnhaft strukturierend in der Welt lebt. Produktivität, so zeigt sich mit einem Blick auf die Eingebundenheit älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, bestätigt ohnehin nur die defizitäre Einordnung älterer Menschen, da in der Erwerbsarbeit gegenwärtig weder auf Produktivität noch auf „kristalline Kompetenzen“ oder Weisheitswissen älterer Menschen gesetzt wird. Auf kompetente, aktive sowie lebens- und berufserfahrene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird in deutschen Betrieben und Unternehmen kein Wert gelegt; nur 39% der über 55Jährigen sind überhaupt noch erwerbstätig. Die Zahl der bereits genannten 41% der Betriebe in Deutschland, die in ihren Belegschaften gänzlich auf über 50Jährige Frauen und Männer verzichten, zeigen die Defizitorientierung des Alterns, schon weit bevor das Alter mit der Festlegung des „offiziellen Verrentungszeitpunkts“ von 65 Jahren erreicht ist (vgl. BmFSFJ 2005). Der „inoffizielle“ Altersbeginn über Frühverrentungen und andere Regelungen liegt beim durchschnittlichen Renteneintrittsalter von bereits 60,5 Jahren (vgl. OECD 2005) (vgl. auch Kapitel 1). Nach einer aktuellen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) bieten Vorzeigeländer wie z.B. Finnland, Niederlande und Dänemark Arbeitszeitflexibilitätsregelungen über die gesamte Beschäftigungszeit, Weiterbildungsbeteiligungen durchgehend im Erwerbsverlauf oder integrierte Ansätze zur Reduzierung von Arbeitsbelastungen und zur Gesundheitsvorsorge an. Zahlreiche staatliche und betriebliche Maßnahmen für Ältere im Bereich der Arbeitsorganisation, Gesundheitsvorsorge und Qualifizierung für die Förderung der Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erfahren Ausbau durch gesonderte Investitionen. Dennoch mündet in diesen Ländern eine nicht unerhebliche Anzahl älterer Arbeitsloser in die Erwerbsunfähigkeit ein. Der Anteil der
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Arbeitslosen und Erwerbsunfähigen zusammen ist im Verhältnis zur Gesamtheit der 55 bis 64Jährigen in den drei Vergleichsländern höher als in Deutschland, so die IAB-Studie von 2006 (vgl. IAB-Kurzbericht 2006). Aktivitätspotenziale und aktive Beschäftigung älterer Menschen über formal erwerbsarbeitsgesellschaftlich abgesicherte Arbeitsverhältnisse, die ebenso die individuelle und gesellschaftliche Reproduktion wie die Selbstständigkeit sicherstellen, werden bisher nicht in ihrer tatsächlichen Bedeutung gesehen. Zunehmend stellt sich die Frage, was all die Millionen kompetenter und aktiver, mit einem umfangreichen Erfahrungs- und Reflexionswissen ausgestatteter Frauen und Männer vor dem Hintergrund ihrer lebenslang auf Erwerbsarbeit ausgerichteten Biographie konkret täglich tun sollten – einkaufen, Blumen gießen, fernsehen oder spazierengehen reicht nicht aus. Die Verbindung des Wissens um den demographischen Wandel und die Unermüdlichkeit einiger älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in ihren Berufstätigkeiten auf eine lebenslange Entwicklung und Optimierung ihrer Erwerbstätigkeit setzen konnten, warnen davor, diese Älteren als potenzielle Wissens- und Weisheitsträger in die Rentenphase gehen zu lassen. Als Beispiel sei auf die jüngeren Diskussionen um die Einführung der Senior-Professuren an Universitäten verwiesen. Während einerseits Finanzexperten die Emeritierungsmöglichkeit abschafften, soll nun andererseits der Verbleib von rentenfähigen Wissenschaftlern im Wissenschaftsbetrieb über die Einrichtung von Senior-Professuren wieder eingeführt werden, wobei besonders die Mittelbereitstellung (evtl. zu Lasten des wissenschaftlichen Nachwuchses) umstritten bleibt. Der Marktwert des Nobelpreisträgers Hänsch ist über die Ehrung enorm gestiegen und in Ländern, in denen es keine Altersbeschränkung für Erwerbstätigkeiten in der Wissenschaft gibt, wie z.B. den USA, gilt Lebensalter nicht als Kriterium für Produktivität. Mit Nobelpreisträgern als Professoren etwa gewinnt jede Universität an Prestige und Renommee und gleichzeitig verdeutlicht diese Besonderheit die Auffassung, es gebe die Möglichkeit, Berufstätigkeiten als Lebensaufgabe zu begreifen und womöglich bis ins hohe Alter beizubehalten. Für diesen Zusammenhang sind jedoch mehrere Aspekte zu berücksichtigen: die Art und Weise der Einbindung Älterer in die Institution, die Inwertsetzung und Einbindung des lebenslang erarbeiteten Wissens und Erfahrungsschatzes sowie Regelungen für die unabhängige Entwicklung des Nachwuchses (vgl. Hänsch in: Die Zeit Nr. 30/2006). Das Beispiel der Hochschullehrer und Hochschullehrerinnen zeigt die Möglichkeit, in bestimmten noch zu prüfenden Berufsfeldern weiterhin aktiv und kreativ sein zu können, sofern dieses von einem älteren Menschen gewollt ist. Es müsste ermöglicht werden, ohne in Gänze dem alltäglichen Druck und Wettbewerb ausgesetzt zu sein. Komplexes Wissen und Weisheitskompetenzen sind in vielen Berufszweigen bisher zu wenig ausgelotet; ihre Bedeutung könnte bei näherer Betrachtung über die bloße Beschäftigung und Produktivität älterer Menschen weit hinausreichen. Aktuell fordert das BmFSFJ ein grundsätzlich anderes Umgehen mit dem Thema Alter und Altern; es verlangt nach einem neuen Altersbild sowie einer kreativen und gleichzeitig lebensphasengerechten Organisation der Arbeit. Über Berufsbereiche hinaus zählen auch die stärkere Berücksichtigung der Bedürfnisse älterer Menschen im Alltag und der bessere Einsatz ihrer Fähigkeiten dazu. „Ältere Menschen sind ein Aktivposten, sie verfügen über reiches Erfahrungswissen, hervorragende Kompetenzen und wichtige Schlüsselqualifikationen. Das sind Potenziale, die wir derzeit noch viel zu wenig nutzen“, so das BmFSFJ (vgl. ebd. 82/2006). Ein stärkeres Engagement älterer Menschen bedeute neue Chancen für die Gesellschaft insgesamt. Es würde ein ver136
bessertes Miteinander der Generationen sowie neue Impulse für die Wirtschaft geben, so die Hoffnungen auf einen Paradigmenwechsel in der Betrachtung und Berücksichtigung älterer Menschen in der Gesellschaft. Spitzer formuliert aus Sicht der Hirnforschung für den alternden Menschen, Übergänge in die Rentenphase noch einmal neu zu überdenken und nur bei schweren körperlichen Arbeiten oder Schichten am Fließband vorgezogene Rentenphasen anzusetzen. Während bei erfüllenden Arbeiten, die eher den Kopf als den Körper fordern und nicht überfordern, längere Lebensarbeitszeiten mit eventuellen Stundenreduzierungen vorgesehen werden könnten, da sie für die Erhaltung der Plastizität des Gehirns von hoher Bedeutung sind. Eine aktive Auseinandersetzung mit der Welt unter Zuhilfenahme der zentralen Komponenten soziale Kontakte und Bewegung führen zur Erhaltung eines leistungsfähigen wandelbaren Gehirns. Als Beispiele für aktive alte Menschen, hebt Spitzer die Queen (80 Jahre alt) hervor, Helmut Schmidt (87 Jahre alt), der nach wie vor in sein Büro geht sowie den Papst oder Dirigenten, wie z.B. Lorin Maazel oder Zubin Mehta, die mit über 70 Jahren anstrengende Tourneen gestalten (vgl. Spitzer 2003). Der Musik wird darüber hinaus für den Alterungsprozess besondere Bedeutung zugewiesen, da sie die Areale im Gehirn deaktiviert, die für Angst und Stress zuständig sind. Gleichzeitig wird das Belohnungssystem aktiviert und das Gehirn kann sich in diesem guten Klima ständig entwickeln (vgl. ebd. 2003). Während das BmFSFJ mit den wirtschaftlichen Potenzialen Älterer als Aktivposten wirbt, die für ihre Weisheitskompetenzen, wie z.B. Erfahrungswissen und Schlüsselqualifikationen endlich stärker wahrgenommen und berücksichtigt werden sollten, entdeckt die Hirnforschung die Potenziale Älterer im Hinblick auf ihre Plastizität und die damit verbundenen Chancen auf ein langes Leben, wenn ausreichend soziale Kontakte, Bewegung und Musik dazu gehören und altersgerechte Arbeitsplätze die notwendige Aktivität älterer Menschen aufrechterhalten. Jüngere Untersuchungen und Diskussionen stellen Leitbegriffe hervor, die ein positives Bild des Alters und Alternsprozesses vermitteln wollen, indem Kategorien wie Produktivität, Engagement oder Aktivität die positive Dynamik eines Alternsprozesses ausdrücken, deren begriffliche Nähe zur Erwerbsarbeitsgesellschaft die Älteren nach wie vor an die Leistungsorientierungen und –anforderungen der Erwerbsarbeitsgesellschaft bindet. Es entsteht der Eindruck der Zufriedenheit und Unbesorgtheit aller in der Gesellschaft: So lange sich die Älteren aktiv, beschäftigt und engagiert zeigen, sind sie auch noch mit dabei, ohne hierbei grundsätzlich zu hinterfragen, was Alter und Alternsprozesse aus sich heraus und für sich zu einer guten Zeit im Leben werden lassen könnte. Es wird zu keinem Wechsel in der Betrachtung und der Einschätzung des Alters und Alterns kommen, so lange nicht Konsens entsteht zu überzeugenden Elementen für einen guten und mit neuen Sinnzusammenhängen verknüpften Alternsprozess – außerhalb von Erwerbsarbeit und Produktivität. Dabei hat bereits Kohli mit seiner Untersuchung von 1993 zum Engagement im Ruhestand die Suche nach Lebenssinn durch sinnvolle Tätigkeitsmuster als einen der Kerne der Diskussion über das Leben im Alter benannt. „Durch die starke Verlängerung des Ruhestands in den letzten Jahrzehnten hat sie noch mehr Gewicht gewonnen, ebenso durch das Abbröckeln traditionaler Sinnbestände im Zuge gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse. Lebenssinn ist zu einer zunehmend knapperen Ressource geworden“ (Kohli 1993, S. 13). Riley bezeichnete die entstehende Länge der Ruhestandsphase als „structural lag“, in der sich aufgrund der Ausdehnung der Lebensdauer und zunehmend frühere Verrentung im Lebensverlauf ein Mangel an sinnvollen Rollen für die Älteren entsteht (Riley 1991 in: 137
Kohli 1993). „Jede jüngere Ruhestandskohorte weist ein höheres Ausbildungsniveau und eine bessere Gesundheit auf, verfügt also über mehr Ressourcen für Aktivität und der Anspruch auf sinnvolle Aktivität dürfte sich als Funktion der gesellschaftlichen Individualisierungsprozesse erhöhen. (…) Es kann also vermutet werden, dass der Wegfall der Erwerbsarbeit insofern problematisch ist, als er auch einen Wegfall von Aktivitätsanregungen mit sich bringt – es sei denn, es gelinge, sie durch andere systematische Aktivitäten zu ersetzen“ (Kohli 1991, S. 21; Kohli/Kühnemund 2003). Diese müssten jedoch in einen neuen Sinnzusammenhang gebracht werden, da sie ansonsten in der strukturell verselbstständigten Dimension von Erwerbsarbeit verbleiben und dementsprechend die Defizitorientierung des Alterns verstärken. Zukünftig geht es um die Gestaltung eines Alternsprozesses, der viele unterschiedliche Formen und Elemente beinhaltet und neu ausbildet, die als Grundlage die Herausbildung von Tätigkeiten und Aktivitäten haben, die mit dem Altern entwickelt und entstehen sowie als sinnvolle Herausforderungen für den Alternsprozess betrachtet und eingeschätzt werden. Dies bedeutet, es gibt eine Vielzahl an Möglichkeiten, in der auch Erwerbsarbeit stattfinden könnte, die vielleicht ohnehin für einige Menschen ökonomisch erforderlich sein wird. Solche Erwerbsarbeit jedoch müsste von den Bedingungen her betrachtet und wertgeschätzt werden, die der Alternsprozess vorschreibt und nicht von der Leistungsorientierung der bisherigen Gesellschaft. Das könnte konkret bedeuten, das BmFSFJ ernst zu nehmen, nach dessen Berechnungen für Weisheitskompetenzen die gleichen oder mehr Kosten aufgewendet werden müssen als für andere Kompetenzen, die es im Unternehmen gibt. Die Wertschätzung des reichen Erfahrungsschatzes würde sich über eine entsprechende Entlohnung zeigen und zu einem neuen Altersbild führen, weil jemand mit seinen Qualifikationen und Kompetenzen optimal eingesetzt würde und diese im Arbeitsprozess präsentieren könnte. So wäre nicht die Leistungsstärke des schnelleren, sondern des über einen langen Zeitraum erworbenen und aufgebauten Wissens als Stärke zu bewerten und hervorzuheben. Zukünftig wird, angesichts kürzer werdender Lebensarbeitszeiten, kontinuierlich ansteigender Zahlen älterer Menschen und damit verbunden zunehmender Belastungen sozialer Sicherungssysteme, verstärkt die Frage aufkommen ob und wie es sich eine Gesellschaft leisten kann, vorhandene Zeit- und Kompetenzressourcen Älterer ungenutzt zu lassen. „Aktivität“, „Engagement“ und „Produktivität“ im Alter sind gefährdet, nicht mehr frei wählbare und sinnhaft strukturierende Anteile eines Lebens im Alter zu sein. Sie würden stattdessen aus gesellschaftlichen Notwendigkeiten heraus, vom nun normativen Charakter für die Gestaltung des Alters bis hin zu Überlegungen, Ältere in einer unentgeltlichen Wiederverpflichtung in gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten zu zwingen, verordnet, unabhängig von ihren Wünschen, Kompetenzen oder ihrem gesundheitlichen Zustand. Die Bedeutung wächst in naher Zukunft, eigenständige, aktive und selbstbestimmte Wege ins Alter zu konkretisieren, um später nicht einerseits über Verrentungen abgewertet zu werden und andererseits nicht nach gesellschaftlicher Notwendigkeit oder Belieben für z.B. Hilfen, Pflege oder Betreuung sowie anderen Betätigungen unfreiwillig aktiviert zu werden, ohne die Bedingungen mitformulieren zu können, unter denen derartiges Engagement stattfinden könnte (vgl. Kohli/Künemund 2003). Kohli/Künemund verweisen auf solche Tendenzen im Hinblick auf den steigenden Hilfe- und Pflegebedarf bei Hochaltrigkeit. Hier erscheinen Modelle in der Form „Ältere helfen Älteren“ wünschenswert und förderungswürdig, so werden z.B. in der Ehrenamtsdiskussion Ältere als vorrangige Zielgruppen identifiziert. 138
Familiäre Pflegeleistungen Älterer gegenüber hochaltrigen Eltern finden – als stabiler Faktor – nach wie vor im Spektrum inter- und intragenerationeller Hilfeleistungen statt. Die Ergebnisse des Alterssurveys von 2002 zeigen gleich häufige Pflegetätigkeiten in Ost- und Westdeutschland, die höhere Quote der pflegenden Frauen ist deutlich sichtbar. In der jüngsten Altersgruppe pflegen deutlich mehr Frauen und in der mittleren und höchsten Altersgruppe, in der die Pflege des (Ehe-)Partners in den Vordergrund tritt, relativiert sich der höhere Anteil der Frauen. Die Pflege außerhalb der Familie nimmt über die Altersgruppen zu, bei den Pflegenden betreuen 10% der 40-54Jährigen, 22% der 55-69Jährigen sowie 28% der 70-85Jährigen eine Person, mit der sie nicht verwandt sind. Der Zeitaufwand für die Pflegetätigkeit beträgt bei den über 55Jährigen im Durchschnitt 115 Stunden monatlich. Bei einem (Ehe-)partner kann der Zeitaufwand für die Pflege bei 240 Stunden im Durchschnitt liegen. Die Varianz ist extrem groß und in dieser Variante zu berücksichtigen (vgl. ebd. 2003). Die älteren Generationen zeigen darüber hinaus familiäre Solidarität zugunsten der erwachsenen Kinder und deren Familien sowohl durch finanzielle Unterstützungsleistungen als auch durch die faktische Ausübung von „Großeltern-Diensten“ zugunsten der Enkelkinder und ihrer Eltern. Anders stellt sich die Situation bei der Betreuung von (Enkel-)Kindern dar. 27% der 55-69Jährigen betreuen (Enkel-)Kinder, während die Älteren dieses nur zu etwa 16% überwiegend tun und die Jüngeren zu 12%, Unterschiede, die mit den unterschiedlichen Gelegenheitsstrukturen zusammen hängen. Im Bereich der Enkelkinderbetreuung sind mehrheitlich Frauen verantwortlich. Das Ehrenamt wird unterschieden in das „traditionelle“ soziale und politische Ehrenamt in Verbänden und Parteien ebenso wie das „neue“ Ehrenamt in selbst- oder fremdorganisierten Gruppen, das Ehrenamt auf gesetzlicher Grundlage sowie Funktionen ohne explizite verbandliche Anbindung, wie z.B. als Elternvertreter, Schöffe oder ehrenamtliche(r) BürgermeisterIn. Über die Altersgruppen zeigt sich im Alterssurvey ein deutlicher Rückgang der Beteiligung: Von 22% bei den 40-54Jährigen über 13% bei den 55-69Jährigen auf 7% bei den 70-85Jährigen. In den Sportvereinen findet sich mit knapp 4% noch die höchste Quote von ehrenamtlich Tätigen unter den 40-85Jährigen, es folgen gesellige Vereinigungen und kirchliche bzw. religiöse Gruppen mit jeweils 2% sowie die wohltätigen Organisationen (1%). Die älteren über 70jährigen Frauen sind häufiger in altersspezifischen Gruppierungen, wie z.B. Seniorenfreizeitstätten, Seniorentreffpunkten, Sport- oder Tanzgruppen aktiv. Das Engagement der älteren Männer bleibt auf den altersunspezifischen Bereich konzentriert, wie z.B. Sportvereine oder gesellige Vereinigungen (vgl. Kohli/Künemund 2003). Kohli/Künemund haben die Stunden berechnet, die monatlich bei den über 59jährigen Befragten in den drei primär unentgeltlichen Bereichen Ehrenamt (nur in Vereinen und Verbänden), Betreuung von (Enkel-)Kindern und Pflege zusammenkommen: Diese Summe beträgt monatlich 39715 Stunden. Diese Zahl hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung zwischen 60 und 85 Jahren, also auf knapp 15,3 Millionen Personen, ergibt eine Zahl von 3,5 Milliarden Stunden produktiver Tätigkeit. Bei einer Inwertsetzung dieser Stunden mit einem durchschnittlichen Wert von 11,80 Euro pro Stunde, ergibt sich ein Wert von 41,3 Milliarden Euro, den die 60-85Jährigen in der Bundesrepublik jährlich freiwillig und weitgehend unentgeltlich erbringen (vgl. ebd. 2003). Als derzeit eher noch Randphänomene aktiver gesellschaftlicher Beteiligung Älterer zeigen sich die neueren Formen gesellschaftlicher Partizipation, wie die Beteiligung an 139
politischen Interessenvertretungen Älterer etwa in Seniorenbeiräten bzw. -vertretungen oder Seniorenarbeit in Parteien und Gewerkschaften, an Seniorenakademien, Weiterbildungsgruppen oder an Seniorengenossenschaften und -selbsthilfegruppen. Der Anteil der Mitglieder liegt bei nur 3,5% und der Anteil der Aktiven sogar nur bei 0,8%. Diesen Gruppen kann eine gewisse Symbolfunktion und ein Modellcharakter für künftige Entwicklungen zugesprochen werden, dennoch werden sie bisher zu wenig aktiv von und mit älteren Menschen gestaltet (vgl. ebd. 2003). Mit dem Hinweinwachsen neuer Generationen in den Alternsprozess werden diejenigen mit einem insgesamt höheren Bildungsstand, besseren gesundheitlichen Voraussetzungen sowie einer gewissen materiellen Absicherung auch den Radius an Aktivitäten vergrößern, die weder an traditionelle Aktivitäten anknüpfen noch die neu entstandenen Formen gesellschaftlicher Beteiligung bedienen. Diese Entwicklung ist weitgehend offen. Bisher ist auch nicht abschätzbar, in welcher Art und Weise weitere ins Alter überwechselnde Frauen und Männer weiterhin einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten gewillt sind, indem sie eventuell weiter teilzeit-erwerbstätig sind oder in Form von Pflege- und Betreuungstätigkeiten oder über die Ausübung eines Ehrenamtes aktiv bleiben. Augenblicklich werden die produktiven Tätigkeiten und Unterstützungsleistungen Älterer nicht als „unverzichtbarer“ Beitrag wertgeschätzt, ansonsten wäre die Altersphase insgesamt höher und positiver bewertet. Doch im Moment des Realisierens zunehmender Anteile Älterer und damit verbunden eventueller Engpässe in Betreuung, Versorgung und Pflege sowie Mangels an qualifizierten Arbeitskräften in gesamtgesellschaftlicher Sicht, wird die Produktivität der Älteren notwendig und entsprechend höher bewertet werden. Bröscher/Naegele/Rohleder betonten bereits zu Beginn des neuen Jahrhunderts, in der Diskussion um die Gestaltung der nachberuflichen bzw. nachfamiliären Lebenszeit komme in den letzten Jahren den „produktiven Tätigkeiten“ besonderes Augenmerk zu. Die empirische Erfassung konzentriere sich dabei mit Blick auf den gesellschaftlichen Beitrag Älterer auf solche Tätigkeiten, die ökonomisch fassbare Werte schaffen, wie z.B. Alterserwerbstätigkeit, Pflegetätigkeiten, (Enkel-)Kinderbetreuung, soziale Netzwerkhilfe, Hausarbeit und ehrenamtliches Engagement (vgl. ebd. 2000). Ebenso haben Kohli/Künemund für eine Aufwertung dieser Tätigkeiten älterer Menschen eine Beispielrechnung durchgeführt, die den ökonomischen Wert Älterer verdeutlicht. Die Gefahr solcher Berechnung liegt darin, den Nutzen und Wert Älterer verrenteter Menschen nur wiederum daran zu messen, wie produktiv sie für die Gesellschaft sind, doch mit zunehmenden Alter wird jeder hilfe-, betreuungs- oder pflegebedürftiger und ist spätestens mit Eintritt ins vierte Lebensalter wieder außerhalb einer aktiven, produzierenden und somit bedeutenden gesellschaftlichen Rolle. Mit dem Übergang ins vierte Lebensalter beginnt spätestens die Ausgrenzung aus gesellschaftlichen Zusammenhängen erneut und die Diskussion um die Last und die Kosten älterer Menschen wird stärker, da das vierte Lebensalter das mit den größten Einbußen ist. Für zukünftige Lebensgestaltungen im Alter bieten sich Chancen, mit der Festlegung des Altersbeginns unabhängig davon zu werden, als gesellschaftlich unverzichtbar über den gesellschaftlich wertvollen Nutzen gemessen zu werden; nur so scheint zugleich die Defizitperspektive des Alterns überwindbar zu werden. Darüber hinaus wird so die Entwicklung eines Gesamtkonzeptes „Lebensqualität im Alter“ gefördert und die Klärung weiter getrieben, welche Elemente wie etwa Tätigkeiten und Fähigkeiten, ein gutes Leben im Alternsprozess gestalten. Bisher liegt hingegen im Alternsprozess die Chance, frei von den 140
Zwängen einer linear ökonomisch ausgerichteten Erwerbsarbeitsgesellschaft „neue“ Lebensformen zu entwickeln. An den 23% der Älteren, die nach Bröscher/Naegele/Rohleder erst ab dem 50. Lebensjahr ihr Engagement in unterschiedlichen Bereichen des Ehrenamts begonnen haben, zeigt sich das Potenzial, durchweg an unterschiedlichen Punkten im Lebensverlauf bereit für neue Entwicklungen zu sein sowie die Offenheit, Neues zu lernen (vgl. ebd. 2000). Im Verlauf der Verinnerlichung des Konzeptes oder des Denkens in Bezug auf lebenslanges Lernen ist Bedingung, dass zunehmend gesellschaftlich zur Selbstverständlichkeit wird, dieses Potenzial mindestens zu verdoppeln. Hierin liegen die Chancen auf Neugestaltung einer Phase im Leben von Menschen, die vieles an Entwicklungs- sowie Gestaltungsmöglichkeiten bietet, eine Chance, die jedoch zunächst als solche begriffen werden muss.
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7 Ein neues Generationenverhältnis verändert den Alternsprozess
Ende der 80er Jahre des 20. Jhds. sahen Böhnisch/Blanc, vor dem Hintergrund einer sich ausbreitenden konsumorientierten Gesellschaft und als Antworten u.a. auf die aufkommenden politischen Bewegungen, wie z.B. die Friedensbewegung und ökologische Initiativen Chancen auf neue intergenerative Beziehungen. Sie sahen solche Chancen, die jenseits von Wissenstransfer und Vermittlung traditioneller Werte auf eine gemeinsame Entwicklung und Lernen in einer sich verändernden Gesellschaft abzielten. Das war für diese Zeit eigenwilliges, zugleich jedoch erstrebenswertes und vorausschauendes Denken, das sich vorerst allerdings weder gesellschaftlich noch in professionellen Zusammenhängen weiter durchsetzte. Es steckt jedoch viel Potenzial für neue intergenerative Beziehungen in diesem Ansatz, da Böhnisch/Blanc jenseits des Hilfe- und Pflegeparadigmas von jung zu alt auf die Menge an Möglichkeiten wechselseitiger Entwicklung und Förderung unterschiedlicher Generationen verwiesen. Bis heute erscheint des Weiterdenkens wert, in generationenübergreifenden Kontakten viel mehr als nur einen Motor von Entwicklungen in der Gesellschaft zu sehen. Der demographische Wandel wird Alltag und Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens in einem bisher unvorstellbaren Ausmaß verändern, weil Alternsprozesse zum regulären normalen alltäglichen Bild gehören werden und nicht mehr zu ignorieren sind. Somit wird es auch möglich werden, im Altern die Besonderheit eines komplexen vielfältigen und langen Lebens- und Erfahrungsprozesses zu repräsentieren und Ressourcen für gesellschaftliche Gestaltungsprozesse zu sehen. Doch bevor dieses zu einer Art konstruktivem Zwang des Faktischen wird, könnte sich die Herausforderung der Freiwilligkeit und Möglichkeit zu wechselseitigem Beflügeln der Generationen, jenseits von eingeengten Wegen traditioneller Weitergabe von Werten und Normen, eher als optionale Chance und Probierfeld eignen, was alles an Gemeinsamem realisierbar sein könnte. Diese Möglichkeiten zur Verwirklichung Böhnischs und Blancs Konzeption generationenübergreifender wechselseitig gelebter Erfahrungszusammenhänge liegen zu Beginn des neuen Jahrhunderts auf der Basis insbesondere der Kerngedanken des Konzepts des lebenslangen Lernens vor. Dieses Konzept des lebenslangen Lernens eröffnet allen Menschen die Perspektive, sich als Lernende und zugleich aktive Gestalter jeder Situation zu betrachten: Das gilt gleichermaßen für zeitliche, räumliche, inhaltliche, soziale, bedürftige, hilflose, neue, unbekannte, fremde, schöne, unangenehme Erfahrungen und ist beliebig erweiterbar. Ältere Menschen müssen sich also auch nicht mehr als Träger bedeutenden Wissens für nachfolgende Generationen sehen, sie können es und diese Einstellung öffnet für neue intergenerative Erfahrungen. Asymmetrische Lehr-Lernverhältnisse zwischen Alt und Jung, zwischen Unerfahrenen und Erfahrenen, zwischen Mann und Frau, zwischen Lehrerin und Schüler sorgen für gegenseitiges Wahrnehmen und Voneinander-lernen-Können. Ältere haben dabei Wissen über einen langen Zeitraum erworben und verarbeitet sowie inzwischen komplexe Verarbeitungs- und Erfahrungsspeicher angelegt, die durch neue Bearbeitung mit Erfahrungen oder Wissen anderer Generationen neuen Bewertungen zur Verfügung gestellt werden können. 142
In solch einem Generationenverhältnis liegt mit dem Wechsel der Einstellung zu nachwachsenden und älteren Generationen die Chance, diese nicht mehr als Wissensvermittler sehen zu müssen. Vielmehr kreiert sich eine besondere Art von Wissen: komplex, weise, verarbeitet oder auch verschüttet, erfahren und kristallin sowie präsent, mit einer stetigen Option der Weiterentwicklung. Diese Art Lernen und Leben ist auch bei fortschreitender Hilfe- und Pflegebedürftigkeit selbstverständlich möglich und nötig.
7.1 Das Konzept des Lebenslangen Lernens als Wegbereiter neuer Generationenverhältnisse Baltes unterstreicht den Wandel der Gesellschaft zu einer kontinuierlichen Lerngesellschaft, in der Wissen schnell als überholt zu betrachten ist und somit die Idee lebenslanger Entwicklungsprozesse als „Dreh- und Angelpunkt“ gesellschaftlich begriffen werden müsste. „Die permanente Lerngesellschaft des kommenden Jahrhunderts erfordert eine neue Strukturierung der Institutionen, und zwar nicht des Bildungssystems! Das alte, eindimensionale, auf Kontinuität ausgerichtete Lebensverlaufsbild der Schule-Arbeit-FamilieRuhestand-Sequenz ist überholt“ (Baltes 2001). In Konsequenz schlägt er als Strukturmodell der Zukunft eine dynamische Parallelisierung des Lebensverlaufs vor, anstatt fortwährend weitere Sequenzierungen vorzunehmen. Einer der Gründe für die Hervorhebung und Diskussion von Bildung und lebenslangem Lernen seit 2000 ist die Erkenntnis, dass Wissen zunehmend schnell veraltet und von neuen Erkenntnissen abgelöst wird. Einschätzungen deuten auf eine Halbwertzeit bestimmten Wissens von etwa 5 Jahren hin (vgl. Landwehr 1997, S. 13). Wissen, Bildung und Lernen sind in neue Zusammenhänge zu stellen, um Zukunftsfähigkeiten für nachwachsende Generation herzustellen und zugleich für alle gegenwärtigen Generationen, um ihre Teilhabe zu sichern. Jeder in jedem Lebensalter sollte fähig sein, in dieser „beschleunigt wissensveraltenden“ Gesellschaft Leben aktiv gestalten zu können. Straub hebt die Wichtigkeit und den Charakter der Möglichkeiten von Bildung für die Ausgestaltung der Herausforderungen im Leben hervor. „Allgemeine Bildung, die Bildung zu einem Ganzen, befähigt den Menschen auf jeden Fall dazu, die wechselnden Herausforderungen im Leben zu bestehen, weil Bildung die Phantasie beschäftigt und dadurch zu geistiger Bildung verhilft“ (Straub 2004, S. 134). Bildung in einem so verstandenen Sinne sollte jedoch noch ein wenig konzeptionell differenzierter betrachtet werden, um so etwas wie einen „unendlichen“ Wissenskanon zu vermeiden und auch gezielter aus Wissen lebensbewältigungstaugliche Kompetenzen erarbeiten zu können. Bisher wird im Konzept des Lebenslangen Lernens jede zielgerichtete Lerntätigkeit verstanden, die einer kontinuierlichen Verbesserung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Kompetenzen dient. Dabei ist es keineswegs nur ein Aspekt von Bildung und Berufsbildung, sondern vielmehr als Grundprinzip gedacht, an dem sich Angebot und Nachfrage sämtlicher Lernkontexte auszurichten hat (vgl. www.bologna-berlin2003.de, S. 21). Die Durchsetzung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ fordert einen Paradigmenwechsel im Bildungssystem und in der Lernkultur insgesamt, um eine umfassende Strategie entwickeln zu können, nach der in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens auf individueller und institutioneller Ebene sowie privat und öffentlich lebenslange Lernprozesse als selbstverständlich angesehen, initiiert und realisiert werden. Die Beschleunigung der Herstellung 143
und gleichzeitig schnellere Überholung von Wissen stellt die Chance dar, neue kreative Formen der Lebensgestaltung in vielfältiger Weise ausprobieren zu können. „Lebenslanges Lernen“ als Konzept setzt auf aktives Lernen und wesentliches Ziel aller Bildungsbemühungen stellt die Befähigung zum selbstständigen Lernen dar sowie die Akzeptanz und Bereitschaft Lernen als lebenslange Entwicklung zu betrachten und zu fördern. Es geht darum, einen lebensumspannenden, lückenlosen Zusammenhang des Lernens und Wissens herzustellen, in dem die relative Gültigkeit der erworbenen Einsichten und Fähigkeiten selbstverständlich ist (vgl. Forum Bildung 2001, S. 8). Es ist als Querschnittsaufgabe für alle Bildungsbereiche zu verstehen, darüber hinaus sollten ebenso alle weiteren Bereiche des Lebens und Lernens erfasst werden, um sich der Komplexität von Lehr- und Lernprozessen in den unterschiedlichen Formen von Bildung, nämlich formeller Bildung, nichtformeller Bildung und informeller Bildung annähern zu können (vgl. ebd. 2001, S. 32). Rebel sieht einen Paradigmenwechsel in der Anwendung von Wissen: Mit dem Konzept des Lebenslangen Lernens stehen nicht mehr fachliche Inhalte im Mittelpunkt der Vermittlung, der Fokus würde auf ‚knowledge handling’ gelegt. Hiermit ist der aktive Umgang mit dem erworbenen Wissen gemeint. So fordert Rebel einen Wechsel im Verständnis von Bildung als ‚Wissensvorratsmodell’ hin zu einem ‚Wissenserneuerungsmodell’. Gelerntes Wissen wird durch weitere Lern- und Verarbeitungsprozesse in Wissen für das Leben verwandelt und daraus folgt für ihn, jeder Einzelne eigne sich Wissen im Hinblick auf Anwendung und Verständnis für den eigenen Lebenskontext an (vgl. Rebel 2001, S. 27). Diese Erkenntnis lässt sich auf die gesellschaftliche Entwicklung noch einmal insgesamt zeigen: „(...) eine konsequente Modernisierungstheorie setzt auch auf die Kategorie des Wissens über das ‚Nicht-Wissen’ und damit bewusst auf ein selektives, nicht omnipotent ausgeschmücktes Theoriemodell: ‚Nicht Wissen, sondern Nicht-Wissen ist das ‚Medium’ reflexiver Modernisierung’ (Beck 1996, S. 296)“ (Thole 2002, S. 52). Konsequenterweise könnte also jede im Lebensverlauf gewonnene Erfahrung und jedes Wissen als äußerst hilfreich für neue, unsichere gesellschaftliche und individuelle Erfahrung genutzt werden. Böhnisch verweist vor dem Hintergrund von Diskontinuitäten und Brüchen in Lebensläufen von Menschen darauf, in Krisenzeiten gesammelte Bewältigungsmuster und – erfahrungen in etwas wie soziale Schlüsselkompetenzen umzuwandeln. Hierin läge die Chance, das Konzept des „Lebenslangen Lernens“ biografisch nutzbar zu machen. „Angesichts des Strukturwandels der Arbeitsgesellschaft und der damit verbundenen Prozess- und Wechselhaftigkeit von biografischen Übergängen und Umbrucherfahrungen wird deutlich, dass Bewältigungserfahrungen in soziale Schlüsselkompetenzen (vgl. Klafki 1998) münden müssen, soll das Gebot des lebenslangen Lernens überhaupt biografisch umgesetzt werden können (vgl. Walther/Stauber 1999). Damit gehen Bildung und Bewältigung zunehmend ineinander über, wird der Beitrag der Sozialen Arbeit – als seismographischer Ort der Bewältigungsproblematik – zum Bildungsdiskurs wichtig“ (Böhnisch 2002, S. 204). Konkretisiert bedeutet dies, aus Entwicklungen und Erfahrungen soziale Kompetenzen zu entwickeln, die für neue Situationen im Lebensverlauf brauchbar sind. Soziale Arbeit und Bildung würden sich so in einem wechselseitigen Prozess gemeinsam an der aktiven Gestaltung von Lebensverläufen stärkend und konstruktiv beteiligen. Im Kontext der Diskussionen um Lebenslanges Lernen liegen große Chancen auf ein neues Verständnis im intergenerativen Zusammenhang. Ausgangspunkt sind Lepenies Überlegungen zu künftigen Lehr-Lernarrangements, die nicht mehr als linear verlaufend 144
entlang der Jung-Alt-Linie oder Schüler-Lehrer-Linie zu betrachten sind. Lernbeziehungen sind nunmehr asymmetrisch geprägt und das klare Arrangement – der eine weiß mehr als der andere und jedem ist deutlich, wer von wem zu lernen hat – findet kaum mehr Zustimmung. Mit der gesellschaftlichen Entwicklung werden zunehmend Problemfelder deutlich, in denen nicht klar ist, wer von wem überhaupt etwas für die Lösung des einen oder anderen Problemfeldes lernen könnte. Für diese Entwicklungen gibt es bisher keine historischen Vorläufer oder kulturellen Vorbilder, z.B. wie sich das Verhältnis der Generationen unter demographischen Randbedingungen verändern wird oder welche Zukunft Erwerbsarbeit hat. Auf diese und andere Fragen hat niemand auf der Welt Lösungen. „Hier müssen die Menschen gemeinsam lernen und es bleibt undeutlich, wer von wem lernen kann. (...) Es ist etwas anderes, ob man voneinander oder ob man miteinander lernt. Wenn man voneinander lernt, gibt es jeweils einen Kompetenzvorsprung oder einen Wissensbestand, den die eine Seite nachholen oder aufarbeiten kann. Miteinander lernen dagegen müssen Partner in Situationen, in denen keine Seite über einen solchen Kompetenzvorsprung verfügt. Man lernt voneinander in Zeiten kulturell unterschiedener Gewissheiten, man lernt in Zeiten geteilter Unsicherheit“ (Lepenies 2001). Lepenies bezeichnet diese Art des Lernens als „fuzzy learning“, damit ist gemeint, Kooperation und Gleichberechtigung an Stelle von Autoritätsausübung und Belehrung einzusetzen, damit Lernen für jeweilig alle Beteiligten in konstruktiven Zusammenhängen möglich wird. Die Diskussionen und Überlegungen zum Konzept des Lebenslangen Lernens eröffnen die Chance auf neue Formen des Zusammenlebens, wenn sie über die gesellschaftliche Nützlichkeit des Wissens für einen wirtschaftlichen Standortfaktor und über Wettbewerbsfähigkeit hinaus gedacht werden. So könnten auf Basis des Lebenslangen Lernens neue intergenerative Begegnungen und Formen des Miteinander-und-Voneinander-Lernens entstehen, die dazu führen könnten, den demographischen Wandel mit allen Mitgliedern gemeinsam gesamtgesellschaftlich zu gestalten. 7.2 Generationenverhältnisse liegen außerhalb der Lebensalter – Neuorientierung im aktiven Zusammenleben Für Böhnisch/Blanc gehörten Ende der 80er Jahre des 20. Jhds. zwei Erkenntnisse zu den Wesentlichen der Dekade: Die Austauschbarkeit der Generationen, die als Resultat der Relativierung der Lebensalter einzuordnen ist und das Ende der sozialen und kulturellen Stilllegung der älteren Menschen, die durch den absehbaren, ansteigenden Anteil an der Gesellschaft zu einer neuen Anspruchshaltung in Bezug auf Teilhabe und Aktivität führen würde. „Die Relativierung der Lebensalter als soziale Tendenz und die konsumtive Fiktion der Austauschbarkeit der Generationen vermengen sich zur Beliebigkeit und damit Unerheblichkeit der Generationenbezüge“ (Böhnisch/Blanc 1989, S. 80). Die Lebensphase Alter wäre demnach nicht mehr länger „die soziale und kulturelle Stilllegung der Alten“ (Böhnisch/Blanc 1989). Mit einem ansteigenden Anteil Älterer an der Gesellschaft stellen sich Ansprüche an Lebensqualität, aktive Teilnahme an sozialem und kulturellem Konsum mit allgemeinen gesellschaftspolitischen Ansprüchen und Forderungen sowie der Anerkennung eines entsprechenden gesellschaftlichen Status, der über die bloße Versorgungsfrage hinausgeht. „Alter wird wieder – nun im anderen Sinne – zu einem 145
‚Problem’, dessen Maßstab allerdings nicht mehr bei den Alten selbst, sondern im herrschenden Generationen- und Zeitverständnis der gesamten Gesellschaft liegt“ (Böhnisch/Blanc 1989). Der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zur Relativierung der Lebensalter war die zunehmende Nivellierung des Konsumverhaltens, das keiner besonderen lebensalterspezifischen Gesetzlichkeit mehr zu folgen scheint. Zunehmend sind traditionell lebensphasentypische Strukturen gesellschaftlicher Bildungs-, Ausbildungs- und Karrieresysteme in ihren Hierarchien und Abgrenzungen durchbrochen. Berufsfindungen und Berufseinmündungen gehen weit über das Jugendalter hinaus, Weiterbildung und Umstiege in andere Karrieren sind im Berufsleben häufiger. Das Sozialmerkmal „Lebensalter“ relativiert sich im besonderen im Hinblick auf Erfahrungsvorsprünge, die Ältere traditionell gegenüber Jüngeren in Anspruch nehmen konnten, denn einerseits würden die jüngeren Generationen mehr Neues lernen als zu früheren Zeiten, das die Älteren nicht kennen und deshalb auch nicht weitergeben könnten und andererseits ist viel von dem Wissen, was ältere Generationen früher gelernt haben, eben unter bis dato geltenden industriegesellschaftlichen Verwertungsgesichtspunkten eher wert- bzw. belanglos geworden, so Böhnisch/Blanc. Darüber hinaus sei an den Massenmedien, wie z.B. Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen zu erkennen, wie sich die Tendenz zu altersgruppenspezifischen Sendungen hin zu einem Angebot für möglichst alle Altersgruppen auflöse (vgl. ebd. 1989, S. 11). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen forderten sie damals eine Neubewertung des Generationenzusammenhangs insgesamt. Zentrales Problem und somit zentrale Herausforderung der Zukunft wäre dabei, eine Neudefinition des Alters zu finden, die eben nicht isolierend, „sondern integrativ einer gesellschafts- und verteilungspolitischen Neudefinition des gesamten Generationenzusammenhangs – in der Jugend, Erwerbsstatus und Alter auch in einer neuen Gegenseitigkeit verortet werden könnten – Priorität zu geben. Dies verlangt analog der Neubewertung der Jugend eine Neubewertung des Alters“ (Böhnisch/Blanc 1989, S. 120). Solch einen „neuen“ Zusammenhang zwischen den Generationen zu thematisieren und die Suche nach einer Neubewertung und Neudefinition des Zusammenhangs zwischen Alt und Jung sowie den Fokus auf die Entwicklung Gesellschaft zu legen, ist gesamtgesellschaftlich bis heute nicht durchgesetzt, obwohl die Erkenntnis bereits beinahe 20 Jahre alt ist. Als Illustration des Konzepts ihres neuen Generationenverhältnisses weisen Böhnisch/Blanc auf die ökosoziale Bewegung und die Frauenbewegung der 70er bzw. 80er Jahre des 20. Jhds. hin. Anhand dieser Bewegungen lässt sich die neue Betrachtungsweise des Generationen- und Zeitverständnis verdeutlichen, da in der ökosozialen und Frauenbewegung nicht nur Individuen einer Alterskohorte aktiv sind. Vielmehr finden sich anhand von Themenschwerpunkten in der Gesellschaft intergenerative Interessengruppen zusammen. Solche Konstrukte werten Böhnisch/Blanc als bedeutende Entwicklung, da sich die Altersgruppen an neuen Orten, in neuen Konstellationen mit neuen Hintergründen und Interessen begegnen, die sie verbinden. „Diese Ansätze (ökosoziale Bewegung und Frauenbewegung) eines neuen Generationen- und Zeitverständnisses folgen aber nicht mehr der traditionellen Generationenlogik, sondern sind allgemein zeitbezogen und verlaufen quer durch die Lebensalter. Sie orientieren sich an der Lebensthematik selbst – wenn auch im Schwanken zwischen Alltagspragmatik und sozialer Bewegung. Neben der lebensaltertypischen traditionellen Generationenbildung scheinen sich also heute lebensalterübergreifende ‚Zeitgenerationen’ im gleichen historischen Erleben der Lebensbedrohung zu formieren“ (Böhnisch/Blanc 1989, S. 107). Weitergedacht versteht dies jeden Einzelnen als immer 146
wieder dazu herausgefordert, unabhängig vom Alter, Geschlecht und sozialem Status, seine Lebensplanung zu überdenken, zu strukturieren und zu realisieren sowie als zentrales Element, überhaupt so etwas wie einen Lebensplan mit Zielen zu entwickeln. Jenseits des Bezugssystems normaler Erwerbsbiographie bzw. außerhalb normaler Erwerbsarbeitsverhältnisse ist jeder auf sich selbst als Individuum zurückverwiesen. Die Pluralisierung der Gesellschaft für Alterungsprozesse und Generationenverhältnisse gelten den Autoren als erhebliche Chance. „Je mehr sich auch die Ideen von sozialem Wandel und sozialem Fortschritt pluralisieren, desto mehr wachsen die Chancen dieses entsprechend vielseitigen Generationenbeitrages. Der Ausstieg im Alter erhält so einen neuen gesellschaftlichen Sinn“ (Böhnisch/Blanc 1989, S. 11). Ihre Hoffnungen konkretisierten die Wissenschaftler im Hinblick auf die Lebensweisen, Räume und Zeiten von Individuen, wobei sie u.a. auf die damalige Kultur der besetzten Häuser in deutschen Großstädten verwiesen. Die Unsicherheit über die eigene soziale Rolle sowie die Unschlüssigkeit über die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht bilden die Möglichkeit für neue Lebensweisen im urbanen Raum, in denen die Wohnung, das Viertel, die Treffpunkte zu Lebensmittelpunkten würden. Somit könnten sich auch Ansprüche auf ein Stück eigenes Leben entwickeln, der Anspruch auf die Verfügung über eigenes Geld, eigene Zeit, eigenen Wohnraum, den eigenen Körper, mit den damit verbundenen Möglichkeiten, sich aus der Abhängigkeit, Enge, Kontrolle und Fremdbestimmtheit zu befreien (vgl. ebd. 1989, S. 107). Dies bedeutet übertragen auf Alternsprozesse nicht mehr zwangsläufig Aussonderung aus gesellschaftlichen Zugehörigkeiten aufgrund des Ausscheidens aus einem Erwerbsarbeitsverhältnis, sondern eben auch die Chance, „sich in neue Lebensbezüge zu begeben, neue Entfaltungslinien zu entdecken, ohne vom ‚Mainstream’ des gesellschaftlichen Wandels erdrückt zu werden“ (Böhnisch/Blanc 1989, S. 11). Böhnisch/Blanc dachten sehr zukunftsorientiert und sahen die generationenübergreifende gesellschaftliche Dynamik der 80er Jahre als Triebfeder für die Entwicklung eines neuen Generationenverhältnisses und als Sinngebung für Alternsprozesse, die sich ihre Lebensmuster sozusagen aus der Kultur der besetzten Häuser hätten holen sollen. Sie übersahen dabei elementare gesellschaftliche Bedingungen, die zu dem Zeitpunkt weder generationsübergreifende Beziehungen noch den Alternsprozess als individuelle Entwicklungschance begünstigten. Die alternativen Bewegungen deuteten lediglich die Chance auf neue alternative Lebensformen neben einer nach wie vor vorherrschenden bürgerlichen „Mainstreambewegung“ an. Es gab wechselseitige generationenübergreifende Beziehungen und Bezüge, die jedoch von beiden Seiten nicht explizit als Entwicklungschance auf generationenübergreifende Beziehungen gesehen wurde. Dieses war weder Ziel noch Aufgabe der Friedens- oder anderer Bewegungen, sondern es waren eher Zufallsprodukte, die Chancen auf Vertiefung geboten hätten. Doch es gilt kritisch zu bedenken, inwieweit Ältere, auch gegenüber alternativ politischen Bewegungen Aufgeschlossene bereit gewesen wären, von jugendlichen HausbesetzerInnen zu lernen. In den 80er Jahren war für sehr wenige Menschen die demographische Entwicklung mit ihren Konsequenzen abschätzbar. Die gesellschaftlichen Bedingungen von Erwerbsarbeit wurden noch überwiegend im industriegesellschaftlichen Normalerwerbsverhältnis gedacht, in dem Alternsprozesse deutlich mehr mit Abbau, Defizit und „verdientem“ Ruhestand assoziiert wurden. Böhnisch/Blanc standen für die Verwirklichung einer Veränderung der Generationenverhältnisse und des negativen Altersbildes zu isoliert und konnten nicht die nötige Initiativfunktion für eine breitere Bewegung leisten. Ihr Ansatz ist jedoch nahezu 20 Jahre später aktueller denn je. 147
Mit Blick auf Kohlis Konzept des institutionalisierten Lebenslaufs, der ebenso bereits in den 80er Jahren des vorigen Jhds. fünf Dimensionen vorstellte, wird die Komplexität und die wechselseitige Abhängigkeit eines zu gestaltenden Lebenslaufs deutlich. Zu den fünf Dimensionen zählt er die Verzeitlichung (Orientierung am Lebensalter), Chronologisierung (chronologisch standardisierter Normallebenslauf) und die Individualisierung (Neuorganisation von Arbeit, Produktion und Familie führt zu neuen Möglichkeiten) als die bedeutenden Dimensionen. Darüber hinaus ordnet Kohli die Lebensphasen Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und Alter als vierte Dimension zu, die aus der erwerbsbezogenen Einteilung resultiert. Die fünfte Dimension betrifft die Neugestaltung von biographischen Handlungsmöglichkeiten, erwachsend aus Individualisierungsprozessen. Lebenslauf als Institution bedeutet einerseits eine Regelung des sequenziellen Ablaufs des Lebens und andererseits hierin eine Strukturierung der eigenen Wissensbestände, an denen sich die Individuen orientieren und ihr eigenes Leben zu planen haben (vgl. Kohli 1985). Kohli hob zehn Jahre später für die gesellschaftliche Entwicklung hervor, an den Rändern der Dreiteilung des Lebenslaufs in Vorbereitungs-, Arbeits- und Ruhestandsphase seien die Übergänge in das Erwerbsleben und aus dem Erwerbsleben heraus „länger, variabler, diffuser und unsicherer geworden“ (Kohli 1994, S. 134). Für die subjektive Erfahrung und die Konstruktion des Lebenslaufs bedeutet diese Entwicklung stärker als je zuvor, die Übergänge durch eigenes individuelles Handeln gestalten zu müssen. „Aus dem Zeitpunkt ist ein Zeitraum und aus dem quasi-mechanischen Ablauf eine reflexive Handlungsaufforderung geworden“ (Kohli 1994, S. 134). Bisher seien die gesellschaftlichen Vorgaben in Bezug auf die Ausgestaltung der Lebensphase Alter, die nun auch nicht mehr als „Restzeit“ angesehen werde, sondern als Lebensform jenseits der Erwerbsarbeit, die zum Gegenstand gesellschaftlicher Such- und Definitionsprozesse wird und „deren Ausgang bisher offen ist“ (Kohli 1994, S. 134). Noch einmal zehn Jahre später stehen Kohlis Dimensionen einmal mehr in der Selbstgestaltungsverantwortung eines Jeden: Nicht mehr nur die Übergänge sind länger, variabler, diffuser und unsicherer geworden, vielmehr betrifft es den durchgängigen Lebenszusammenhang in seiner Vielschichtigkeit. Die normative Regelung eines Lebensverlaufs war in Wegen und Übergängen, je nach sozialer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Lage, in die ein Subjekt hineingeboren wurde, weitgehend vorbestimmt. In einer nunmehr individualisierten und pluralisierten Gesellschaft ist das Subjekt dazu aufgefordert, „den sozialen Stand, in den es hineingeboren wird, in einen Selbsterworbenen umzuwandeln“ (Ecarius 1996, S. 253). Dabei bewegt sich der Einzelne durch altersspezifische Räume wie z.B. Kindertagesstätten, Schulen, Universitäten, Freizeit- und Produktionsstätten, die zudem sozial und geschlechtsspezifisch strukturiert sind. Hierbei handelt es sich um äußere Rahmenbedingungen, die mit kulturellen, sozialen und ökonomischen Ressourcen ausgestattet sind und durch deren Nutzung das Individuum seinen Lebensstil entfalten und gleichzeitig zur Reproduktion sozialer Ungleichheit beitragen kann (vgl. Ecarius 1995, S. 175 in: Ecarius 1996, S. 254). Ecarius weist explizit auf die Gefahren für die Gestaltung jedes einzelnen Lebenslaufs hin, der zu einem Risiko belasteten Projekt in jedem Lebensalter werden kann und deswegen besonderer Begleitung und Reflexion bedarf. „Die Gestaltung des Lebenslaufs vollzieht sich somit mehr und mehr partikular je nach Lebensform und Zeitpunkt im Leben des einzelnen. Damit steigen auch die Belastungsrisiken. Die Chance eines Mehr an Optionen bedeutet zugleich, die Konsequenzen seiner biographischen Handlungen selbst zu tragen und zu verarbeiten“ (Ecarius 1996, S. 254). Und das unter gesellschaftlichen Rahmenbe148
dingungen, die zunehmend Verhältnisse hervorbringen, die sich dem individuellen Zugriff verweigern bzw. auf die kein individueller Einfluss genommen werden kann. Es entstehen Risiko-, Konflikt- und Problemlagen, all das betreffend, was gesellschaftlich und politisch diskutiert und umstritten ist, wie z.B. Aushandlung der Löhne und Arbeitsbedingungen, Bereitstellung von Bildungs- und Betreuungsangeboten etc. (vgl. Karsten 2002). Solche individualisierte und pluralisierte Lebensführung verdeutlichen Böhnisch/Blanc schon im vorigen Jahrhundert an der Veränderung der „Normalbiographie“ von Frauen, wo sich die Entwicklung im Besonderen potenziert hat. Während früher die „Normalbiographie“ von Frauen um die Reproduktion konstruiert war, nämlich in Bezug auf Kindererziehung und Haushalt, führen Frauen inzwischen eine „widersprüchliche, familial-institutionell geprägte Doppelexistenz. Für sie gilt der Familienrhythmus immer noch und in der Mehrzahl der Fälle der Bildungs- und Berufsrhythmus auch schon, woraus sich konflikthafte Zuspitzungen und fortlaufend unvereinbare Anforderungen ergeben“ (Böhnisch/Blanc 1989, S. 212). Die seit den Überlegungen Böhnischs/Blancs veränderten Lebensbedingungen bzw. Anforderungen an einen individualisierten Lebenslauf haben auch Einfluss auf das Verhältnis der Generationen und zwar in inter- und intragenerativer Hinsicht. Hamburger ordnet gegenwartsorientiert ein, Generationsvorstellungen würden nunmehr als Medienbilder produziert und Mechanismen der Massenkommunikation sind mehr an der Entwicklung von Generationen beteiligt als das Vorhandensein derselben. Es ist also zu einer Entstandardisierung und Entkoppelung der Zeitmuster einer Generation im Sinne Mannheims gekommen, durch ihn definiert als Alterskohorte mit einem gemeinsamen Zeitbezug im Hinblick auf Orientierungs- und Handlungsmuster vor dem Hintergrund eines bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhangs sowie eines strukturierten Lebenslaufs. Dieser Generationenzusammenhang hat sich aufgrund des sozialen Wandels verändert, was unausweichlich den von Mannheim in den 20er Jahren des letzten Jhds. geprägte Generationenbegriff zu überdenken notwendig macht (vgl. Hamburger 2002, S. 243). Die Relativierung der Lebensalter (vgl. Böhnisch/Blanc 1989) führt zu einer Relativierung von Generationenzusammenhängen und mündet nach Böhnisch (1998) in einer Gesellschaft, die auf „Generation“ als Wissensvermittler oder Wertschöpfer einer Alterskohorte verzichten kann, so dass auch eine Integration bzw. Zugehörigkeit zur Gesellschaft eher über eine Biographisierung in Selbstschöpfung stattfindet, die in gewisser Unabhängigkeit von Lebensalteranforderungen gleichermaßen angestrebt und erzwungen wird, sobald industriegesellschaftliche Arbeitsordnungen nicht mehr als Voraussetzung dienen (vgl. Hamburger 2002, S. 243). Generation und Generationenverständnis zählen für Hamburger und Böhnisch zur Organisation und Struktur der Industriegesellschaft und Generation meint im Besonderen, so Böhnisch, den sozialen Kitt im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Dies bedeutet nunmehr, dass „aus der soziologischen Kategorie ein pädagogische und politische Herausforderung geworden ist, deren gesellschaftliche Funktionalität neu zu klären ist“ (Böhnisch 1998, S. 79 in: Hamburger 2002, S. 243). Generationenzusammenhänge erschienen auf Basis arbeitsgesellschaftlicher Erkenntnisse und Denkweisen als berechtigte Einordnungen für die Gleichheit der Gleichaltrigen und die Verschiedenheit der Jüngeren und Älteren. Es wurde von einem symmetrischen Verhältnis zwischen Gleichaltrigen und einem asymmetrischen Verhältnis zwischen Nachwachsenden und Erwachsenen ausgegangen, doch dieses Verständnis lässt sich so heute nicht mehr halten (vgl. Büchner 1996). Dafür wird eine Vielzahl von unterschiedlichen Generationenbezügen entstehen, von denen bisher nicht bekannt ist, wie sie gestaltet sein 149
werden, insbesondere welche neuen Bezüge zwischen jung und jung, alt und jung sowie alt und alt entstehen und welche wechselseitigen neuen Asymmetrien entstehen werden. Hamburger sieht darin die Entstehung eines sozialpädagogisch relevanten Vermittlungsproblems, wie die Orientierung am Selbst mit den generationstypischen gesellschaftlichen Erwartungen, die nach wie vor auch existieren, auch dann vereinbart werden kann, wenn die arbeitsgesellschaftlichen Voraussetzungen für die Erwartungen nicht mehr gesichert sind (vgl. Hamburger 2002, S. 243). Die Auflösung der Generationen und damit der Generationenverhältnisse einerseits und die gleichzeitig nach wie vor bestehende Suche nach Unterschieden in den Generationen und Generationenbezügen andererseits, sind für Hamburger zentrale Orientierungen in Bezug auf Lebensphasen und Lebensalter. „Einerseits ist die Kindheit verschwunden, die Jugend universalisiert, das Alter ausdifferenziert und der Erwachsene hat sich dazwischen aufgelöst. Entstandardisierung des Lebenslaufs. Andererseits gewinnen Generationen als Bezugspunkte für Orientierung an Bedeutung, das Verschwinden von Unterscheidungen lässt die Suche nach Verbindlichkeiten entstehen. Möglicherweise ist dabei die normative Kraft des Fiktiven noch stärker als die des Faktischen“ (Hamburger 2002, S. 246). Traditionelle Bildungsverhältnisse haben sich umgedreht und die Alten verfügen über große Speicher überholten und entwerteten Wissens, während die Jungen Wissen erworben haben, welches den Alten verborgen bleiben wird. Dennoch ist es erstmalig möglich, generationenübergreifend als Vater, Sohn und Großvater in das gleiche Rockkonzert zu gehen. „Und wer hätte es noch vor einigen Jahren möglich gehalten, dass Mutter, Tochter und vielleicht auch in diesem Fall die Großmutter das gleiche Fitnessstudio aufsuchen?“ (Schweppe 2002, S. 236). Böhnischs/Blancs Vision der Relativierung der Lebensalter und des Endes der Generationen Ende der 80er Jahre des letzten Jhds. als große Chance lebensalterübergreifenden Lebens hat sich bisher nicht als Selbstverständlichkeit eingestellt, dennoch gibt es Ansätze. Von Bedeutung und besonders vorausschauend wäre es gewesen, Begegnungen viel mehr zu initiieren und nicht auf eine Entwicklung zu setzen, die sich von allein verselbstständigt. In der Relativierung der Generationenstruktur zeigt sich die Möglichkeit, für eine qualitative Veränderung der traditionellen Generationenverhältnisse im Miteinander-Leben und Leben-Gestalten. Gleichzeitig ist wegen des steigenden Anteils und durch die Ausdehnung des Alters zu bedenken, nicht nur multiple Mehr-Generationen-Beziehungen zu schaffen, sondern ebenso verlängerte Abhängigkeitszeiträume durch eventuelle Pflege- und Versorgungstätigkeiten. Neue Strukturen werden das Generationenverhältnis in einer Welt bestimmen, in der die Generationen zunehmend weniger sehen, was und wie sie voneinander lernen könnten und gleichzeitig länger miteinander zu tun haben (vgl. Hamburger 2002, S. 246). Damit gerät die professionelle Generationenperspektive in das Blickfeld der Betrachtung: Fachkräfte Sozialer Arbeit werden nicht mehr nur als die Älteren jüngere nachwachsende Generationen unterstützen, beraten, erziehen und bilden. Sondern im Gegenteil: Professionelle Beziehungen werden zunehmend im umgekehrten Generationenverhältnis stattfinden. „Junge Professionelle werden zunehmend zu BildnerInnen, BegleiterInnen und UnterstützerInnen von AdressatInnen des mittleren und hohen Erwachsenenalters“ (Schweppe 2002, S. 234). Neue Qualitäten und Herangehensweisen sozialpädagogischer Arbeit kristallisieren sich heraus und bringen dramatische Umstrukturierungen mit sich. Die sich abzeichnenden Entwicklungen provozieren eine Neubestimmung im Hinblick auf den Generationenbegriff und das Handeln von Menschen in gleichen Generations- bzw. unterschiedlichen Generati150
onszusammenhängen. Dies gilt zukünftig als sozialpädagogische und politische Herausforderung, deren gesellschaftliche Funktionalität neu zu klären ist. Winkler formuliert die spezifischen Bedingungen der Moderne, die Erziehung verkomplizieren und hebt den beschleunigten Wandel sowie die hohe Geschwindigkeit der Wissensveraltung hervor. Hieraus folgt für die jüngere Generation die Konfrontation mit der Gewissheit, die Welt im Prinzip ohne Unterstützung durch vermittelnde Tätigkeit begreifen und gleichzeitig diese Welterkenntnis selbst schon wieder potenziell verwerfen zu müssen. Hamburger bezieht sich auf diesen Gedanken und fordert eine Drosselung der Geschwindigkeit bei gleichzeitigem Reflektieren der weiteren Ausgestaltung der Sozialpädagogik: „(...) schließlich kann man auch einer reflexiven Entschleunigung das Wort reden, wo weitere Beschleunigung auch ökonomisch vielfach sinnlos geworden ist. Die Sozialpädagogik hatte es ohnehin schon mit Menschen zu tun, die nicht mehr mitgekommen sind: in der Schule, in der Berufsausbildung, bei der Rationalisierung im Betrieb. Die Anforderungen, die mit der Geschwindigkeit von Veränderungen verbunden sind, verweisen auf Prinzipien des Sozialen. In ihm hat sich die Zeitdimension verselbstständigt: es kommt heute darauf an, schneller Abitur zu machen und Geld bekommen die Hochschulen nur für Studierende in der Regelstudienzeit; ‚shareholder values’ verlangen nach schnellerem Profit und das Internet ermöglicht schnellere Kommunikation; auch aus dem Beruf ist man schneller wieder draußen und bald soll man auch schneller sterben, nachdem das Leben so lang geworden ist“ (Hamburger 2002, S. 247). Deshalb erscheint Entschleunigung als ein Weg, um die neuen Paradoxien des Generationenverhältnisses für eine weitere aktive Gestaltung ohne die alten Abhängigkeiten der Generationen voneinander betrachten und analysieren zu können. Es geht also eher um das Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Veränderung in der Lebenszeit und nicht mehr um die Vermittlung des Generationenverhältnisses, das weder eindeutig noch geklärt ist. So pointiert Hamburger als eine zentrale Aufgabe der Sozialpädagogik, Zeiten zu eröffnen und als „Schonräume“ zur Verfügung zu stellen, in denen Lebensphasen und –situationen ausreichend Zeit zu ihrer Entwicklung erhalten. Aneignungs- und Bildungsprozesse, so die Erkenntnis, benötigen Zeit, um verarbeitet zu werden. „In dieser Situation kann es eine besondere Aufgabe der Sozialpädagogik werden, die Eigenständigkeit von Lebensphasen zu sichern, also die Zeit des Nichtwissens zu schützen, die Phase des Nicht-für-allesverantwortlich-sein-müssens zu pflegen, ebenso wie die Zeit für Verantwortung und Produktivität oder gelassene Integrität. (...) Zugleich aber bricht die Sozialpädagogik im Interesse ihrer Klienten das übernommene Ablaufschema auf, sichert und schafft Zeit für Aneignungsprozesse: Bildung und Ausbildung in der Jugendhilfe, für junge Erwachsene“ (Hamburger 2002, S. 247). Sie sichert Zeitschleifen im Leben von Menschen und berücksichtigt damit, in Zeiten von Nicht-Wissen erst einmal Wissen bilden zu können. Die Zeitschleifen sind selbstverständlich auch den älteren Generationen zur Verfügung zu stellen, damit sie sich in eventuell neu zu erlernenden Zeitmustern, wie sie z.B. die Rentenphase darstellt, zurechtfinden. Für die Gestaltung von Übergängen in die Rentenphase ginge es eben, sozialpädagogisch untypisch, nicht um das Nachholen von Bildungsprozessen in Richtung Erwerbsarbeit, sondern im umgekehrten Falle um die (Wieder-)Aneignung des eigenen Lebenssinns und damit verbunden die Ausgestaltung des Lebens ohne Erwerbsarbeitszwang. Mit dieser Umkehr gelangt die Bedeutung von Zeit in den sozialpädagogischen Fokus sowie der Einfluss, den eine bewusste Zeitgestaltung für Individuen und Gesellschaft sowie deren Handeln haben könnte. „Menschen leben und handeln nicht nur 151
im Raum, sondern auch in der Zeit. Handeln ist auf Ziele gerichtet, die in die Zukunft verweisen. Handlungsentwürfe beruhen auf der gedanklichen Vorwegnahme zukünftiger Entwicklungen und Möglichkeiten“ (Kohli 1994). Zukunft ist dabei unter zwei Aspekten von besonderer Bedeutung, einmal als verlässliche Grundlage des Handelns im Sinn einer Weiterführung der Gegenwart und gleichzeitig als Chance für oder Zwang zur Veränderung. Mit der gesellschaftlichen Entwicklung rücken die biografischen Strukturen in den Vordergrund, die handelnden Menschen vorgegeben sein können, in denen sie sich eingerichtet haben und an denen sie sich abarbeiten. Das Verhältnis zwischen Kontinuität und Veränderung in der Lebenszeit ist dabei zu jeder Zeit durch weitere dynamische gesellschaftliche Wandlungsprozesse veränderbar, was die permanente Entwicklungsbereitschaft neuer Handlungsoptionen erfordert. Die Entwicklungsbereitschaft bezieht sich dabei nicht allein auf die individuelle Ebene, sondern es sind ebenso auch die gesellschaftlich-institutionelle Ebene und deren Veränderbarkeit, die in die Betrachtung miteinbezogen werden müssten (vgl. ebd. 1994, S. 119). Es ist deutlich geworden, in den sich relativierenden Generationenverhältnissen liegen Möglichkeiten und Chancen, die die Lebensqualität der älteren sowie der nachwachsenden Generationen deutlich verbessern könnten. Vor allem auch im Hinblick auf die quantitativen Verschiebungen zugunsten der älteren Lebensalter wird die Initiierung gezielter Initiativen zu einem Mehr an Möglichkeiten gemeinsamer Lebensgestaltung unabdingbar. In neuen wechselseitig gedachten Lehr-Lernverhältnissen eröffnen sich Chancen, lebensalterunabhängig das jeweilig verborgene Wissen der einen Kohorte der anderen weiterzugeben, ohne Bezug zu Nützlichkeit oder gesellschaftlicher Verwertbarkeit herstellen zu müssen.
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8 Weder Optimierung noch Kompensation allein führen zu Weisheit
Für die Entwicklung von Bedingungen, die ein gutes Leben im Alter und Alternsprozess ermöglichen sollen, ist ein Bündel an unterschiedlichen Elementen und Aspekten auf verschiedenen Ebenen, jeweils individuell und gesellschaftlich zu betrachten und nach Relevanz kurz- und langfristig zu verändern. Auf bloße Selbstentwicklung und –regulierung zu hoffen, erscheint wenig zielführend, da sich Einstellungen und entsprechend dazugehörige Strukturen sowie der Umgang mit sowohl Zeit als auch Alter(n) strukturell verselbstständigt und verhärtet haben. Damit wird es von Bedeutung, aktiv darüber zu reflektieren sowie daraufhin geplant und agierend Entscheidungen zu verändernden Bedingungen zu treffen. Eine differenzierte Vielzahl reflektierter Einstellungen und Sichtweisen ließ sich zusammenfügen, die auf die Schaffung eines guten selbstbestimmten, selbstständigen und unabhängigen Lebens im Alterungsprozess abzielt und nun vorliegt. Im Folgenden werden die zentralen vorgestellten und reflektierten Aspekte noch einmal betrachtet, um sie in ihrer übergeordneten Komplexität weiter zu denken. Die bearbeiteten Aspekte gestalten gemeinsam eine vielschichtige komplexe Aufgabe für ein UmDenken gesellschaftlicher Alternsprozesse. Die Herausforderung liegt darin, über Umdenkprozesse ein Ideal eines guten Lebens im Alter zu formulieren und in Sichtweite zu einem Neu-Denken bestehender Konzepte und Institutionen zu kommen, indem folgende Elemente zentral enthalten und verwirklicht sind. Eine neue Lebensgestaltung im Alternsprozess wird nur gelingen, wenn neues Wissen bezüglich des Alterns zu neuen Positionierungen, Einschätzungen und Konsequenzen führt:
Die Zeit-Bewegung setzt sich für Entschleunigung und neue Zeitformen ein. Soziale Zeiten sind weiter zu entwickeln und als Ausgangspunkt zeitlicher Erfordernisse zu leben. Das Soziale bestimmt die Zeit. Die Entstehung der Zeit für den eigenen Lebenszusammenhang führt zu einer neuen Entscheidungs- und damit Lebensqualität. Ein autobiographisches Gedächtnis liefert den Stoff für die Gesamtschau eines Lebens und ermöglicht eine lebenslange Verbindung über Speicherung und Aktivierung von Erinnerungen. Weisheitskompetenz bedeutet Erhalt und Ausgleich der lebenslang erworbenen Fähigkeiten im Alterungsprozess. Aktives Altern und Produktivität im Alter zielen auf einen Lebenssinn und sind nicht als gesellschaftliche Sinn- und Aufgabenerfüllung zu verstehen. Lebenslanges Lernen eröffnet die Chance, sich selbst als unfertig im Sinne weiteren Lernens und Entwickelns wahrzunehmen und somit kompetent für neue Lebenszusammenhänge werden zu können statt als „rollenloser“ alter Mensch weiterzuleben, der seine Bedeutung für die Vermittlung von Traditionen für die nachwachsende Generation weitgehend verloren hat. Neue intergenerative Zusammenhänge entstehen, die auf wechselseitige Lehr-Lernzusammenhänge abzielen und Inspiration bedeuten können. 153
All diese Aspekte zusammen gestatten ein neues Leben im Alternsprozess zu gestalten. Sie haben den gemeinsamen Fokus, aus dem direkten Zusammenhang zur Einschätzung und Betrachtung gesellschaftlichen Zeitverstehens hervorgegangen zu sein. Damit wären die Veränderung des Lebens in der Zeit sowie vorhandene aktive Zeitstrukturen und Zeitformen zugunsten einer neuen Lebensqualität umzugestalten. Der Rückgriff auf das reichlich „gefüllte“ autobiographische Gedächtnis mit den gespeicherten Erfahrungen und Erinnerungen stellt eine Ressource für aktive Lebensgestaltung dar, indem Kontinuitäten erinnert und wieder aufgenommen werden oder Brüche vorgenommen werden im Hinblick auf etwas Neues, das begonnen wird oder Überholtes, das beendet wird. Die Herausforderung besteht, seinen eigenen speziellen Alternsprozess zu gestalten, dazu gehört ebenfalls, die Chance Altersverluste über die von Baltes vorgestellte „pragmatische Weisheitskompetenz“ nicht nur auszugleichen, sondern Auswählen zu lernen, welche Aspekte für das Altern neu von Bedeutung werden könnten. Der Gewinn des SOK-Konzeptes kann nur darin liegen, über die Pragmatik in Richtung Kompensation von Altersverlusten eben einen Gewinn in der Kompetenz ein ganzes langes, bereits gelebtes Leben neu zur Auswahl zu haben. Weisheit im Alter ist über seine Konzeption hinaus als komplexes Kompetenzbündel zu betrachten, das so positiv besetzt wiederum als Ausgangpunkt für gute Bedingungen im Alter eingeordnet werden kann. Die bereits existenziell gefüllte Zeit älter werdender Menschen stellt eine Vielfalt an Erfahrungen und Erlebnissen dar, die in allen möglichen Kombinationen als Kontinuitäten oder Brüche im Leben eingeordnet, betrachtet und weiter gelebt werden. Die Altersphase bietet die Chance, das eigene Verhältnis zur Lebenszeit und Lebensgestaltung zu überdenken und zu einem neuen aktiven selbst gewählten Verhältnis zur Zeit zu kommen, da jeder Tag als Zeit entsteht, die sich den Älteren eröffnet und in einem individuellem Eigen-Sinn ausgefüllt werden kann. Die in solchen Lebensphasen entstehende Zeit ist nicht mehr im Horizont gesellschaftlicher Pflichterfüllung oder Produktivität einzuordnen. Diesen Perspektivwechsel kann jedoch bisher kaum jemand vornehmen, da Menschen in unserem Kulturkreis, selbst bei nicht aktiver Teilnahme am Erwerbsleben, über ihre gesamte Lebenszeit in verselbstständigte erwerbsarbeitszeitliche Strukturen eingebunden sind. Das Konzept des Lebenslangen Lernens böte mit seiner Durchsetzung die durchgängige Teilhabe und Mitgliedschaft an Gesellschaft, da sich Selbsteinschätzungen des „nochnicht-fertigen“ und sich weiterentwickelnden Menschen eröffnen, der potenziell täglich hinzulernt oder Altes modifiziert. So werden prinzipiell unbeschränkt neue LehrLernbegegnungen möglich und jedem Menschen großes Weiterentwicklungspotenzial unterstellt, das davon abhält, sich im Alter als Traditions- und Wissensvermittler für die jüngere Generation einzuschätzen, die mit diesem Wissen jedoch nichts aktuell gesellschaftlich anzufangen weiß. Die unterstellte Rollenlosigkeit der Alten und der Jungen in der Gesellschaft führt zu neuen bisher unüblichen Begegnungsmöglichkeiten und wechselseitigen Erlebnis- und Erfahrungsaustauschvorgängen. Alternativ entstehende Generationenverhältnisse werden genauso selbstverständlich über die verschiedenen Lebensalter von jung bis hochaltrig und zu neuen Zeitordnungen vor allem in Sozialräumen führen können. „Wertegebundene“ Tätigkeiten, wie z.B. Sorge, Zuwendung, Anerkennung, Liebe, Vertrauen, Würde, Solidarität haben keinen Zeit- noch geldwerten Preis und werden zukünftig viel mehr als zuvor Gradmesser für die Lebensqualität aller Menschen einer Gesellschaft sein. Deutlich wird in dem hergestellten Zusammenhang von Zeit und Alter die Notwendigkeit eines unbestimmten Kontingents von Zeit für jede soziale Situation. Weitere gesell154
schaftliche Übereinstimmungen wären über den individuellen Zeitbedarf zu erzielen, den jeder Mensch für die Ausgestaltung und Entwicklung seiner eigenen sozialen Situationen benötigt. Grundsätzliche Überlegungen beziehen sich auf die Einschätzung des Lebens allein auf Basis ihrer zeitlichen Dimension, die zu neuen Lebensqualitäten führen würde. Das autobiographische Gedächtnis stellt das Vermögen bereit, die persönliche Existenz in einem Raum-Zeit-Kontinuum zu platzieren, mit einer Vergangenheit, auf die zurückgeblickt werden kann, die wiederum der Gegenwart vorausgegangen ist. Nach Tulving dient das Vermögen der „mentalen Zeitreisen“ dem Zweck, Orientierungen und Erkenntnisse für zukünftiges Handeln zu gewinnen. Erlerntes und Erfahrenes kann auf diese Weise für die Gestaltung und Planung von zukünftigem Handeln genutzt werden. Das autobiographische Gedächtnis ermöglicht Planung, Einschätzung, Vorwegnahme und Realisierung von Situationen im zukünftigen Lebensverlauf eines Menschen, die ihrerseits mit bereits gemachten Erfahrungen verbunden werden, um sich für ein der Lebenssituation angemessenes Handeln entscheiden zu können. Im weiteren Zusammenhang wird bedeutsam, genau dieses Vermögen für ein gutes Leben im Alter aktiv zu nutzen. Erinnerungen von gelebten Erfahrungen können einer erneuten evaluativen Betrachtung unterzogen werden, um über die gesamte Lebensspanne gesammelte Erinnerungen und Erfahrungen danach abzusuchen, ob sie nicht für den aktuellen Alternsprozess neuerlich von Bedeutung werden könnten, etwa in Form von Planungen oder Aktivitäten. Im Alter kann aus einem großen Pool an gelebten Ereignissen, Erfahrungen über die gesamte Lebensspanne zugunsten einer aktiven Lebensgestaltung geschöpft werden. Lebenssinn ist zu einer zunehmend knapperen Ressource geworden mit der Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung auf der einen Seite und den zunehmend früheren Ausgliederungen aus Erwerbsarbeitsstrukturen auf der anderen Seite. Die Altersphase als soziales Konstrukt umfasst einen individuell und gesellschaftlich langen Zeitraum und benötigt Ideen zur Ausschöpfung ihrer Potenziale. Diese Entwicklung wird nicht ohne gesellschaftliche und individuelle Aktivierung von Suchbewegungen neuer sinnvoller Ressourcen bezüglich des Lebenssinns im Alterungsprozess möglich. Dennoch, so ein doch überraschendes Fazit, steht nicht die Suche nach bisher unbekannten Strukturen und die Entwicklung weiterer innovativer Ansätze im Vordergrund des Nachdenkens über zukünftiges Gestalten der letzten Lebensphase. Unter der normativen Setzung „gutes Leben“ jenseits von 60 erscheinen hinreichend Denkansätze und Sinnkonstrukte entwickelt, Alter zukünftig als Chance und Herausforderung zu betrachten. Offen bleiben weitreichende Vernetzungen, Umsetzungen und Realisierungen der Ideenfülle.
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Teil III: Ein „gutes Leben“ zu jeder Zeit im Alternsprozess. Emotionen und Erinnerung als Garanten einer guten Entwicklung im Alternsprozess – Veränderung und Kontinuität der Bedeutung des Alterns in der Lebenszeit
9 Emotionen im Lebensverlauf entscheiden über die Qualität des Alterns
Die folgenden Überlegungen gelten der Frage des Verfügbarhaltens und Verfügbarmachens von Erinnerungen. Die Erfahrungen des bisher gelebten Lebens, die in Form von Erinnerungen bewusst und unbewusst vorhanden bzw. gespeichert sind, heißt es für ein Leben im Alter neuen Bewertungsschleifen zugänglich zu machen. So könnte eine aktive Lebensgestaltung im Alter von der Auseinandersetzung getragen sein, welche Erfahrungen und Erinnerungen im bereits gelebten Leben weiterhin von Bedeutung sein sollen oder erst wieder werden, welche Kontinuitäten weiter geführt werden könnten und was an, für das eigene Leben aktuell, bedeutsamen Aktivitäten wieder oder neu aufgenommen werden müsste. Menschen müsste es gelingen, eine individuelle Reflexionsebene zu schaffen, um in der Rentenphase zunächst aus dem zu schöpfen, was bedeutsamer Lebensinhalt war, jedoch eventuell über Erwerbsarbeit und Familienphase in den Hintergrund geriet und wieder entdeckt werden könnte. Darüber hinaus gälte es zu erlernen auf Neues zugehen zu können, um Aktivität und Zufriedenheit im dritten und vierten Lebensalter bestimmen zu können. Überlegungen zu Emotionen, ihrer Wertigkeit und Bedeutung für den Einzelnen werden zunächst angestellt, um zu erfassen, wie sehr sie das aktuelle Leben eines jeden einzelnen Menschen beeinflussen und formen. In der jüngsten Diskussion arbeitet besonders Nussbaum Macht und Einfluss der Emotionen für jeden Menschen heraus und eröffnet damit Chancen, sich den Beurteilungen eines alternden Menschen in Bezug auf sein eigenes Leben zu nähern. Nach ihren Überlegungen wird es darum gehen, vor dem Hintergrund der Bedeutung der Emotionen für den Einzelnen, das bis zum Verrentungszeitpunkt gelebte, zurückliegende und beurteilte Leben neuen Bewertungen in emotionaler Hinsicht zu öffnen, um nach den gefühlten Kontinuitäten und Brüchen zu sehen und sie Neubewertungen zur Verfügung zu stellen. Neubewertungen gemachter Erfahrungen oder eigener Gedanken können für den Prozess des Alterns hilfreich sein, weil dies bedeutet, sich neuen Dingen, Tätigkeiten und Erfahrungen gegenüber zu öffnen. Ebenso gilt es die Bewusstheit zu schaffen, die erlernten und nun für den aktuellen alltäglichen Gegenwartsbezug irrelevanten überkommenen Zeitmuster in Frage zu stellen und aktiv den eigenen Wünschen und bewusster Planung anzupassen. Alles bis zum Verrentungszeitpunkt Erlebte und Erworbene an Erfahrungen, Wissen, Erinnerungen, Getanem steht zur Disposition und Veränderung im Hinblick auf die Bedeutung der Emotionen und kann über die weitere Entwicklung für ein gutes Leben im Alter entscheidend sein. Welzer hingegen stellt heraus, Erinnerungen eines Menschen hätten mit der eigenen Vergangenheit kaum etwas zu tun. „Was ein Mensch erinnert, hat extrem wenig mit seiner Vergangenheit zu tun“ (Welzer 2004). Das Gedächtnis sei keineswegs ein verlässliches Archiv, da es Eindrücke auswählt, ergänzt und sogar neu formt, um für das Überleben in der komplexen Welt nützlich zu sein. „Das ganze Leben ist eine Erfindung“ als Kernaussage weist darauf hin, Erinnerung eines Menschen können sehr wenig mit seiner Vergangenheit zu tun haben. Dennoch bleibt der Rückgriff auf Vergangenheit für eine Orientierung in der Gegenwart bedeutsam (vgl. Welzer 2004, In: http://zeus.zeit.de/text/2004/13/P-Welzer). Die Konstruktion des eigenen Lebens, das je nach Erfordernissen in der Lage ist, Erfahrun158
gen und Erinnerungen neu zu ordnen und unter dem Motto: „das Leben ist eine Erfindung“, weiter zu überformen und entsprechend für den Nutzen in der Gegenwart bereitzustellen, können für die Einschätzung und Bewertung des individuellen Lebens im Alter zukunftsweisende Bedeutung erlangen. In genau diesen Suchbewegungen im Übergang vom Erwerbstätigen zum TeilzeitErwerbstätigen oder Tatsächlich-Rentner sind die Ausgestaltungsmöglichkeiten insbesondere über die Weiterentwicklung und Förderung gesellschaftlicher Strukturen nicht nur als individuelle Herausforderung zu betrachten. Es geht langfristig darum, eine gesellschaftliche Perspektive einzunehmen, die den demographischen Wandel nicht nur als eine individuell zu bewältigende biographische Leistung einschätzt, sondern jenseits von Erwerbsarbeit und Nützlichkeit eines jeden gesellschaftlichen Mitglieds darüber hinaus für erwerbsarbeitsgesellschaftliche Strukturen sorgt, die jeden Menschen in der Gesellschaft lebenslang einbindet und berücksichtigt. Dazu gehört ebenfalls, Strukturen zur Verfügung zu stellen, die in jeder Phase eines Lebens Bedingungen für die Gestaltung eines „guten Lebens“ bereithalten. Nussbaum eröffnet mit ihrer Aufforderung, Emotionen ihren Wert zu geben, eine individuelle Perspektive, die gesellschaftlich gelten sollte. Darüber hinaus formuliert Nussbaum eine gesellschaftliche Perspektive, die den Anspruch enthält, über erworbene Kompetenzen ein „gutes Leben“ in der Gesellschaft gestalten zu können, unabhängig von Nationalitäten, kulturspezifischen und Lebensalter bedingenden Unterschieden. Nussbaum formuliert dies als die „Priorität des Guten“: Die Aufgabe des Staates kann nicht richtig erfüllt werden, „wenn sie nicht auf einer umfassenden Theorie des Guten und der guten Lebensführung basiert“ (Nussbaum 1999, S. 32). Der auf diesem Denken basierende, von Nussbaum entwickelte, sogenannte Fähigkeitenansatz ist auf seine Nützlichkeit im Hinblick auf eine Gesellschaftsgestaltung im Sinne der Entwicklung einer überalterten Gesellschaft insgesamt erst noch einzuschätzen. Für den Moment erscheint zunächst erst einmal zentral, Emotionen in ihrem Wert für ein Leben im Alter zu bestimmen. 9.1 Die Entdeckung der Emotionen für ein gutes Leben im Alter Emotionen aus der Vergangenheit sind bedeutsam für die Zukunft. Sie sind Urteile und tragen Spuren der Geschichte eines Menschen. Je älter ein Mensch ist, desto mehr sagt auch seine Empfindungswelt etwas über die Einstellung zu seinem Leben und zu seinen Erinnerungen aus. Das bedeutet, Emotionen sind bedeutend für den Zusammenhang von Altern und die Entstehung von Lebensqualität im Alternsprozess. Menschen begegnen jeden Tag neu der Aufgabe, darüber zu entscheiden, wie sie in der Welt leben wollen. Diese Entscheidungen sind sie in der Lage zu treffen, da sie über Emotionen verfügen. Mit den Emotionen, denen Nussbaum Intelligenz unterstellt, können Menschen wiederkehrend für einen weiteren neuen Tag über ihr Handeln und Tun entscheiden. „When we wake up, we have to figure out how to live in that world of objects. Without the intelligence of the emotions, we have little hope of confronting that problem well” (Nussbaum 2001, S. 16). Den Emotionen wird damit eine herausragende Bedeutung und Aufgabe im Leben von Menschen zugesprochen, die bisher nicht in solchem Ausmaß an Einfluss eingeschätzt wurde. Nussbaum trifft diese Aussage im Rahmen einer individuellen und gesellschaftlichen Vorstellung einer guten, den Fähigkeiten entsprechenden Le-
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bensgestaltung, die gleichermaßen für Frauen und Männer gilt und in der sie die Rolle der Emotionen besonders berücksichtigt. Die Bedeutung der Emotionen wird ihrer Ansicht nach viel zu wenig für die Herstellung eines „guten menschlichen Lebens“ thematisiert und in ihrer Bedeutung wahrgenommen. Dagegen erscheint für sie die Gestaltung solchen Lebens als bedeutendste Zielsetzung. „Diese Auseinandersetzung ist von großer Dringlichkeit, da die Emotionen nicht nur von vielen Traditionen, sondern auch von dem Rationalitätsverständnis her, das unser öffentliches Leben beherrscht, dem Rationalitätsbegriff des ökonomischen Utilitarismus, als Feinde der Vernunft verurteilt werden“ (Nussbaum 1999, S. 131). Dabei wird jedoch übersehen, Menschen handeln nicht bevorzugt rational oder treffen isolierte Entscheidungen. Weder nur empfundene Emotionen noch isolierte Vernunft geben den Ausschlag. Menschen handeln auf Basis einer Vielzahl nicht trennbarer Kriterien und Emotionen spielen hierfür eine bedeutende Rolle, ohne dass diese bisher, nach Nussbaum, hinreichend erforscht und in diesem Zusammenhang bekannt wären. Nussbaum bemüht sich um Offenlegung und ein philosophisches Verständnis von Gefühlen, indem sie mehrere Elemente zusammenfügt: Sie versteht Emotionen nicht als rohe irrationale Kräfte, sondern sieht sie als intelligente und differenzierende Persönlichkeitselemente, die eng mit Wahrnehmung und Urteilsvermögen zusammenhängen und nicht als irrational (in einem normativen Sinn) einzuordnen sind; die Stärke der Emotionen kann durch Sozialisation und Lebensweise beeinflusst werden. Vor diesem Hintergrund hat jeder Mensch selbst zu entscheiden, „(…) welche Formen des Auslebens von Gefühlen im Rahmen einer gesamten Lebensweise fruchtbar und richtig sind, und dass wir allen Menschen ohne Ansehen des Geschlechts die Fähigkeit zu diesen Gefühlen vermitteln sollten“ (Nussbaum 1999, S. 136). Insgesamt betont Nussbaum die Vielzahl an unterschiedlichen Lebensgeschichten einzelner Menschen und sie hebt die Unterschiedlichkeit der menschlichen Emotionen zu den von Tieren hervor, die viel komplexer und im Verlauf von Zeit über die Gegenwärtigkeit hinaus, vielschichtiger und differenzierter werden. „Die Lebensgeschichten der einzelnen variieren und die Emotionen tragen Spuren ihrer Geschichte. Menschliche Emotionen unterscheiden sich insofern von den Gefühlen der meisten anderen Tiere, als das gegenwärtige Objekt nicht vereinzelt dasteht, sondern die Spuren geliebter, gefürchteter oder verhasster Objekte aus der eigenen Vergangenheit trägt, wobei die Vergangenheit etwas von ihrer Herrlichkeit oder ihrem Schrecken auf die Gegenwart überträgt“ (Nussbaum 2002b, S. 182). Emotionen und die Art und Weise wie ein Mensch sie in sich trägt und empfindet, werden also von Erlebnis zu Erlebnis und je nach Einordnung sozial überformt und tragen in dieser besonderen individuellen Erfahrung die Spuren der Geschichte des einzelnen Menschen. Ähnlich stellen Markowitsch/Welzer die Spezifika der Emotionen beim Menschen heraus: Emotionen sind nicht nur Teil eines autonom ablaufenden Reaktionsmusters, sie liefern zudem die Daten für die Bewertung eines Körperzustandes und damit steht für die möglichen Handlungen nach der unmittelbaren Reaktion eine größere Variationsbreite zur Verfügung. Gegenüber dem bloßen unbewussten Vorhandensein bietet das Empfinden einer emotionalen Reaktion einen handlungsökonomischen Gewinn und Überlebensvorteil, da die eigene Reaktion eingeschätzt werden kann. Aus dieser Bewertung können Schlüsse gezogen werden, welches Handeln zukünftig in analogen Situationen angebracht ist. „Solche sekundären Emotionen unterliegen als erfahrungsabhängige natürlich vielfältigen kultu160
rellen und sozialen Prägungen; sie sind also kultur- und zeitspezifisch“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 172). Emotionen gelten als Kommunikatoren nach innen und außen, in denen sich Wertigkeiten von Erfahrung mitteilten, die sozial erlernt werden. Die je unterschiedliche Intensität und Verlaufsform einer emotionalen Äußerung wird von Stern (1999) „vitality contour“ genannt und schreibt allen gefühlten bzw. wahrgenommenen Aktivitäten mit einer zeitlichen Struktur solche Vitalitätskonturen zu. Jede Emotion hat eine primäre Funktion der Einschätzung, ob etwas als bedrohlich oder als freundlich einzuordnen ist und eine sekundäre Funktion „Vitalitätskontur“, die in längeren sozialen Interaktionen transportiert wird, in denen es um die Herstellung von Gemeinsamkeit geht. So wären z.B. ironische Mitteilungen oder gespielte Enttäuschungen ohne das bedeutungsschaffende Zusammenspiel emotionalen Ausdrucks und Vitalitätskonturen nicht möglich (Markowitsch/Welzer 2005, S. 180). Emotionen sind mit ganz bestimmten Überzeugungen verbunden, die Dingen und Menschen außerhalb des eigenen Ichs mehr oder weniger großen Wert bzw. entsprechende Bedeutung beimessen. „Diese Bewertungen bedeuten, seine eigene Bedürftigkeit einzugestehen und die Tatsache anzuerkennen, dass man sich nicht selbst genügt. Und jetzt können wir Genaueres über die kognitive Dimension der Gefühle sagen: Sie befähigen den Menschen, eine bestimmte Art von Wert und Wichtigkeit wahrzunehmen. Und daher sind Gefühle (für diejenigen, die solchen Dingen einen Wert beimessen) ein notwendiger Bestandteil einer umfassenden ethischen Sichtweise“ (Nussbaum 1999, S. 152). Für Hartmann ist an der Definition der Gefühle, wie Nussbaum sie vornimmt von Bedeutung, die ihnen innewohnenden Urteilskraft und die damit verbundene Anerkennung der Bedürftigkeit, die dem Menschen verdeutlicht, keine vollständige Kontrolle aufgrund der Emotionen über die Welt zu bekommen: „Gefühle (...) involvieren Urteile über wichtige Dinge, Urteile, die einen äußeren Gegenstand als relevant für unser Wohlbefinden einschätzen (appraise) und damit unsere Bedürftigkeit und Unvollständigkeit gegenüber einer Welt anerkennen, die wir nicht vollständig kontrollieren“ (Nussbaum 2001 in: Hartmann 2005, S. 114). Es geht um spezielle Urteile, in denen sich zwei anthropologische Elemente verbinden, so Hartmann, zum einen die Angewiesenheit auf den jeweiligen Absichten und Wünsche entgegenkommende Welt und zum anderen das Unvermögen, die damit verbundenen Abhängigkeiten in kontrollierender Absicht zu manipulieren. „Der Liebende akzeptiert seine Angewiesenheit auf einen anderen und verzichtet aus freien Stücken auf kontrollierende Maßnahmen“ (Hartmann 2005, S. 115). Emotionen sind also gleichzeitig wertend und außerhalb einer vollständigen Kontrolle für denjenigen, der sie zu einem bestimmten Zeitpunkt als seine Empfindungen definieren kann. In Rückbezug auf Proust, der Emotionen als „geological upheavals of thought” bezeichnet, nimmt Nussbaum diesen Ausdruck als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen: Emotionen markieren das Leben als uneben, unsicher und drücken die Wertigkeit und Bedeutung des Denkens aus. Weitere Charakteristika von Emotionen sind ihre komplizierte kognitive Struktur, ihre teilweise narrativ strukturierte Erscheinung. In Bezug auf manche Dinge (objects) überdauert die Bedeutung und erscheint sowohl endlos in die Vergangenheit als auch Zukunft. „Past loves shadow present attachments, and take up residence within them. This, in turn, suggests that in order to talk well about them we will need to turn texts that contain a narrative dimension, thus deepening and refining our grasp of ourselves as beings with a complicated temporal history” (Nussbaum 2001, S. 3). 161
Insbesondere die Erinnerungen und Erfahrungen älterer Menschen in der Gesellschaft können in dieser Sichtweise als besondere Zugänge in die Vergangenheit betrachtet werden, da die Älteren von ihrem subjektiven Erleben und ihren eigenen gespeicherten emotionalen Bedeutungen zu den in der Vergangenheit gelebten „Dingen“ verbindende emotionale Linien in die Gegenwart und somit in die Zukunft herstellen können. Assmanns Unterscheidung eines kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses berücksichtigt genau diese intergenerative wechselseitige kulturelle Bezogenheit aufeinander. Während das kulturelle Gedächtnis als Sammelbegriff für alles Wissen im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und für jede Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht, gilt das kommunikative Gedächtnis als eine Art Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft. Das kommunikative Gedächtnis ist an die Existenz lebendiger Träger und Kommunikatoren von Erfahrung gebunden und umfasst in etwa einen Zeitraum von 80 Jahren. „Der Zeithorizont des kommunikativen Gedächtnisses wandert entsprechend mit dem fortschreitenden Gegenwartspunkt mit“ (Assmann 1988 in: Welzer 2001d, S. 13). Es kennt keine Fixpunkte, die es an eine sich mit fortschreitender Gegenwart entsprechend weiter ausdehnende Vergangenheit binden würde. Eine dauerhafte Fixierung könnte nur durch eine kulturelle Formung, also über organisierte und zeremonialisierte Kommunikation über die Vergangenheit erfolgen und in ein kulturelles Gedächtnis übergehen. Eine weitere Besonderheit des kommunikativen Gedächtnisses ist seine Alltagsnähe sowohl bezüglich der jeweiligen Kommunikatoren als auch bezogen auf die Vergangenheit, um die es geht (vgl. ebd. 2001d). In den Erinnerungen und Erfahrungen werden vor allem auch Bewertungen und Einschätzungen transportiert, die überhaupt erst Verbindungen herstellen. So ist für Nussbaum klar, ein Intellekt ohne Emotionen ist sozusagen wertblind und somit fehlte jedem Intellekt ohne Emotionen auch der Sinn für die Bedeutung und den Wert von Menschen, der in den Gefühlen enthaltenen Urteilen steckt (vgl. Nussbaum 1999, S. 157). Darüber hinaus betonen Emotionen die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen und zeigen die Welt als eine, in der alle am Glück und Unglück des anderen teilhaben. Emotionen verlangen den Respekt gegenüber dem Leben eines jeden Menschen, der unabhängig vom Alter betrachtet wird als ein eigenes Zentrum von Erfahrungen und vor allem auch emotionalen Erfahrungen (vgl. ebd. 1999, S. 159). Emotionen und deren Bedeutung für das Denken eines Menschen beziehen sich auf Erfahrungen, die früher im Leben gemacht wurden und als die emotionale Erfahrung eines Erwachsenen konstituierend eingeschätzt werden können. Insbesondere weist Nussbaum auf „experience of attachment, need, delight, and anger“ (Nussbaum 2001, S. 6) hin und bezieht sich explizit auf den prägenden Charakter früher Erfahrungen. „Early memories shadow later perceptions of objects, adult attachment relations bear the traces of infantile love and hate“ (Nussbaum 2001, S. 6). Insgesamt verfolgt Nussbaum die Absicht, die Konstruktion eines analytischen Rahmens zu leisten, der für Emotionen in ihrer philosophischen Betrachtung zu einer allgemeinen Gültigkeit führt. Wie und in welcher Form Emotionen für den Prozess des Alterns konkret bedeutend(er) werden können, ist differenzierter zu betrachten, indem Emotionen als soziale Konstrukte und Werturteile eingehender analysiert werden.
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9.2 Emotionen und ihre Verlässlichkeit für eine aktive Lebensgestaltung im Alter Im weiteren Verlauf differenzierter Argumentation wird die Urteilskraft zentral, die Nussbaum Emotionen als Qualität zuspricht, da sie den Menschen auf seine eigene Unvollständigkeit und Bedürftigkeit stößt und die das Vorhandensein von Bereichen innerhalb und außerhalb der eigenen Person verdeutlicht, die nicht vollständig oder absolut zu kontrollieren sind. „Emotions, I shall argue, involve judgements about important things, judgements, in which, appraising an external object as salient for our own well-being, we acknowledge our own neediness and incompleteness before parts of the world that we do not fully control” (Nussbaum 2001, S. 19). Die Zuschreibung intelligenter Wertigkeit eröffnet Nussbaum die Möglichkeit, Emotionen nicht weiter wie bisher in der Geschichte der Philosophie geschehen, in ethischen Fragen kaum zu berücksichtigen. Von Bedeutung ist dabei die Erkenntnis, Emotionen als in Verbindung mit Wertvorstellungen Erlernte zu betrachten, die ebenso anerzogen wie auch abgelegt werden können. Nach Nussbaum wäre es möglich, Emotionen als instabil einzuschätzen, da sie Gedanken sind, die den instabilen äußeren Dingen Bedeutung beimessen. In dieser Perspektive würde jedoch „das wirklich Gute und Wertvolle in einem menschlichen Leben verpasst“ (vgl. Nussbaum 1999, S. 140), da die mit Gefühlen verbundenen Werturteile in ihrer Bedeutung für die praktische Vernunft nicht genug berücksichtigt wären. Die praktische Vernunft, die auf die mit Gefühlen verbundenen Werturteile verzichten will, wird nicht das „wirklich Gute und Wertvolle eines endlichen menschlichen Lebens“ (vgl. ebd. 1999) je bemerken und erreichen können. Für Hartmann stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wodurch sich aber Urteile des Gefühls von normalen oder ‚gefühllosen’ Urteilen unterscheiden, deren Existenz Nussbaum durchaus auch zugesteht. Beide Urteilsformen sind bewertend Strukturierte und beide bewerten ihre jeweiligen Gegenstände als gut oder schlecht, als nützlich oder unnütz. Einzig die Urteile des Gefühls, so könnte der Unterschied identifizierend werden, richten sich auf bedeutende Gegenstände, die benötigt werden und als wesentlicher Bestandteil des menschlichen Wohlbefindens einzuordnen sind. Dennoch können auch Tätigkeiten, Personen oder Gegenstände für noch so wertvoll eingeschätzt werden, wenn sie nicht von Bedeutung sind, wird ihnen nicht mit Gefühlen begegnet. „Es ist damit unsere spezifische Wahrnehmung der intentionalen Gegenstände unserer Urteile, durch die sich Urteile des Gefühls von gefühllosen Urteilen unterscheiden“ (Hartmann 2005, S. 116). Für Hartmann wird damit die Verwobenheit des Urteilsbegriffs mit der Wahrnehmung im Denken Nussbaums sichtbar. Hartmann stellt sich die Frage nicht nur nach den Unterschieden zwischen Gefühlsurteilen und „neutralen“ Urteilen, sondern grenzt diese Urteile bezüglich ihrer Intensität voneinander ab, ohne jedoch die allumfassende grundsätzliche Bedeutung als Qualifizierung eines Lebens hin zu einem guten und wertvollen in seiner Dimension zu begreifen. Es ist nicht so sehr die Intensität als vielmehr eine grundsätzliche Veränderung bzw. Verbesserung eines Lebens, in dem auf die Bedeutung der Emotionen für die Gesamtheit des Menschen und insbesondere seines Denkens gesetzt wird. „Gefühlsurteile scheinen intensiver zu sein als neutrale Urteile, da sie uns stärker involvieren und mitreißen. Aber wodurch sind intensive Gedanken gekennzeichnet? Denken wir sie häufiger? Geben sie, anders als neutrale Gedanken, Anlass zu weiterführenden Gedanken? Rufen sie Erinnerungen in uns wach, wecken sie Erwartungen? Nussbaum gibt auf diese Fragen keine befriedigende Antwort“ 163
(Hartmann 2005, S. 119). Diese Fragen zu beantworten bzw. sie in diese Richtung zu stellen, liegt außerhalb Nussbaums Intentionen. Ihr geht es nicht um das Erkennen der Unterscheidung der Gedanken, die entweder „neutral“ oder „wichtig, jedoch ohne emotionale Bedeutung“ oder „besonders emotionale Gedanken“ sein können und daher bedeutender oder entscheidender für den Lebenszusammenhang, es geht um die Betonung der Intelligenz der Emotionen. Vielmehr dreht es sich um die Erkenntnis, über die nähere Auseinandersetzung mit Emotionen, die Veränderbarkeit des Denkens wahrzunehmen und als Chance für die eigene Entwicklung zu sehen. Emotionen formen die Landkarte des mentalen und sozialen Lebens. Emotionen sind viel bedeutender für den Menschen und seine Gedanken im Hinblick auf ihre Intelligenz und Wertigkeit bezüglich der menschlichen Entwicklung und vor allem auch in ethischphilosophisch reflektierter Hinsicht als bisher wissenschaftlich zu Kenntnis genommen. Die Auseinandersetzung mit Emotionen und ihre Bedeutung für gesellschaftliche Zusammenhänge insgesamt fordert Nussbaum ein. „A lot is at stake in the decision to view emotions in this way, as intelligent responses to the perception of value. If emotions are suffused with intelligence and discernment, and if they contain in themselves an anwareness of value or importance, they cannot for example easily be sidelined in accounts of ethical judgement, as so often they have been in the history of philosphy” (ebd. 2001, S. 1). Nussbaum bezieht sich auf Sens komplexere normative Theorie über das Denken und Urteilen. Dieser stellt den Bezug zu Gefühlen, in denen sich Teile des Denkens und Urteilens verkörpern, bewusst her. „Die Welt, aus der die Gefühle verbannt werden, ist eine verarmte Welt, in der es keine obersten Ziele, sondern nur noch Ich-Zustände gibt. Dies ist nicht nur eine sehr fragwürdige Norm für eine Konzeption des guten Denkens, sondern auch ein leeres Universum, das die Interessen eines Menschen nicht lange an sich binden und seine Sinnsuche nicht zu befriedigen vermag“ (Nussbaum 1999, S. 156). Liebe, Trauer, Mitleid und Dankbarkeit gelten dabei als Richtschnur menschlichen Handelns und zeigen sich als hinreichende Bedingungen für den Wert von Emotionen. Viele Philosophen gehen von der Möglichkeit aus, Emotionen in der engen Verbundenheit mit Urteilen einordnen zu können oder in manchen Fällen Emotionen sogar für identisch mit Urteilen zu halten. Das Problem liegt nun darin, Emotionen als Urteile für nicht angemessen zu halten. „Sie sind falsch, weil sie außen stehenden Personen und äußeren Ereignissen, die nicht vollständig durch die Tugend oder den rationalen Willen der Person kontrolliert werden können, einen zu großen Wert beimessen“ (Nussbaum 1999, S. 139). Emotionen sind das Eingeständnis der Unvollkommenheit und Verletzbarkeit des Menschen. An folgenden Beispielen stellt Nussbaum dieses dar: „Angst geht mit dem Gedanken einher, dass in Zukunft schlimme Dinge passieren können und dass man nicht in der Lage ist, sie zu verhindern. Trauer geht mit dem Gedanken einher, dass einem jemand oder etwas weggenommen wurde, das sehr wichtig war; Zorn mit dem Gedanken, dass jemand anderes etwas stark beschädigt hat, an dem man sehr hängt; Mitleid mit dem Gedanken, dass jemand anderes ohne eigenes Verschulden sehr zu leiden hat; Hoffnung mit dem Gedanken, dass das eigene Wohlergehen in wichtigen Bereichen nicht steuerbar ist“ (Nussbaum 1999, S. 139). Angst, Trauer, Zorn, Mitleid und Hoffnung drücken unterschiedliche Emotionen aus, an denen sich die Unvollkommenheit und Bedürftigkeit des Menschen zeigt, da all diese Emotionen ohne eigenes absichtsvolles Handeln aufgrund von Zufällen erlebt werden können. Der Mensch erlebt und handelt nicht nur sich selbst gegenüber, sondern bedeutungsvoll in und der Welt zugewandt. Damit entsteht seine Ausgeliefertheit an Zufälle. 164
Dazu kommt die zwischenmenschliche Wechselseitigkeit über Bindungen zu Kindern, Eltern, nahen Angehörigen, Mitbürgern oder gegenüber „Dingen“, mit denen ebenfalls emotionale Bindungen eingegangen werden können. „(…) das ist der von den Gefühlen bearbeitete Stoff; und da diese Bindungen jederzeit durch einen Zufall zerstört werden können, machen sie das menschliche Leben verletzbar, denn eine vollständige rationale Kontrolle ist weder möglich noch aufgrund des Wertes dieser Bindungen für den betreffenden Menschen (selbst von deren Standpunkt) wünschenswert. Diese Gefühle sind also gewissermaßen Öffnungen in den Wänden unseres Ichs“ (Nussbaum 1999, S. 139). Emotionen sind in ihrer Bedeutung für einen Lebenszusammenhang nicht zu unterschätzen und zwar in mehrfacher Hinsicht: Sie bedeuten Werte und Urteile für einen Menschen und sein Denken. Damit können sie handlungsmotivierend und –leitend sein und als eine Art Wegweiser in einem Leben begriffen werden. Im Unterschied zu einem überwiegend rational reflektierenden Vorgehen bedeuten solche Emotionen auch Offenheit und damit Ausgeliefertheit an Zufälle, durch die wiederum emotionale Bindungen entstehen oder zerstört werden, an denen jeder Mensch nur zu einem Teil aktiv beteiligt ist. Es kommt für die Möglichkeiten einer aktiven Lebensgestaltung darauf an, nach den individuell und gesellschaftlich empfundenen Emotionen und nach damit verbundenen Werturteilen zu suchen, die über die Länge eines Lebens angenommen und verworfen oder weiterentwickelt wurden. Dazu zählen ebenfalls die Bindungen über emotionale Bedeutungen, die es gab oder die immer noch bestehen und für den aktuellen Lebenszusammenhang nur noch über Erinnerungen von emotionaler Bedeutung sind. Für älter werdende Menschen werden die mit Emotionen verbundenen Erfahrungen, das Denken und Handeln individuell von größerer Bedeutung für die Gestaltung der Zukunft. Gesellschaftlich lässt sich am gegenwärtigen, beinah unbeweglich defizitären Altersbild die Kraft emotional gebundener Werturteile zeigen. Nussbaum ordnet die Bedeutung der Emotionen für Menschen sowohl im wissenschaftlichen Denken als auch im Leben eines jedes Einzelnen als unterschätzt ein. Emotionen sind nicht nur als Beigabe psychologischer Mechanismen eines rational denkenden Menschen zu begreifen, sondern sie sind komplexe und ungeordnete Teile des rationalen und denkenden Selbst. „Emotions are not just the fuel that powers the psychological mechanism of a reasoning creature, they are parts, highly complex and messy parts, of this creature’s reasoning itself” (Nussbaum 2001, S. 3). Emotionen ist eine sehr viel größere Bedeutung menschlichen Seins beizumessen, Konsequenzen für die Ethik und Ästhetik einer Gesellschaft sowie für das politische Denken inbegriffen. „If we think of emotions as essential elements of human intelligence, rather than just as supports or props for intelligence, this gives us especially strong reasons to promote the conditions of emotional wellbeing in a political culture: for this view entails that without emotional development, a part of our reasoning capacity as political creature will be missing” (Nussbaum 2001, S. 3). Emotionen verfügen über einen reichen kognitiven und intentionalen Inhalt, sie sind nicht als blinde Zwänge zu betrachten, die weder eine Wahlmöglichkeit bieten noch über Intelligenz verfügen. Mit Nussbaum bietet sich an, Emotionen als Formen bewertender Gedanken oder bewertendes Denken (evaluative thought) zu betrachten und das bedeutet, sich mit der Frage nach ihrer Rolle in einem Leben und insbesondere in einem guten Leben im Alternsprozess auseinander zu setzen. Hierzu gilt es, Ideen zu entwickeln und die Betrachtung eines guten Lebens im Alter mit erweiterten Kriterien neu zu denken. Die Hervorhebung von und Auseinandersetzung mit Emotionen meint jedoch nicht, klar eingrenzen 165
zu können, welchen Anteil Emotionen an der moralisch-ethischen Entwicklung einer Gesellschaft haben sollten. Nussbaums Intention ist es, die Bedeutung der Emotionen für die Entwicklung individuellen und gesellschaftlichen Lebens hervorzuheben mit der Einschränkung, dies in keinem Fall als Verteidigung oder Herstellung einer allgemeingültigen gesellschaftlichen normativen Betrachtungsweise einzuordnen (vgl. ebd. 2001, S. 11). Drei Einwände in Bezug auf die Auseinandersetzung mit Emotionen im philosophischen Zusammenhang werden von Nussbaum in der von ihr gewählten Betrachtungsweise hervorgehoben und könnten als einschränkend für den Gesamtzusammenhang ihrer Überlegungen gelten:
„Emotions reveal us as vulnerable to events that we do not control (...). So the emotions seem to be too partial or unbalanced, and one might suppose that we could do better with the guidance of more detached forms of reasoning (...). Third, emotions seem to be characterized by ambivalence toward their objects. In the very nature of our early object relations, there lurks a morally subversive combination of love and resentment, which springs directly from the thought that we need others to survive and flourish, but do not at all control their movements” (Nussbaum 2001, S. 12f).
Emotionen machen Menschen ungeschützt aufmerksam auf die Ereignisse, die Bedeutung für sie haben und nicht von ihnen kontrollierbar sind. Offensichtlich könnte es also vorteilhafter für einen Menschen sein, auf andere unvoreingenommene und verlässlichere Dimensionen zu setzen bzw. rationales und somit sicheres Denken als Bezugspunkt zu benutzen. Ein weiterer Einwand gegen die hohe Wertschätzung der Emotionen bezieht sich auf die gegensätzlichen Emotionen, die ein und derselben Sache entgegengebracht werden können. Im dritten Punkt weist Nussbaum auf die emotionale Ambivalenz hin, die als moralisch umstürzlerische Kombination aus Liebe und Ärger gesehen werden kann: Menschen wissen, dass sie andere Menschen benötigen, um zu überleben und sich weiterzuentwickeln, aber niemand kann die Bewegungen eines anderen kontrollieren und so befinden sich Menschen in gegenseitigen Abhängigkeiten. Am Beispiel der Emotion „Liebe“ werden die Zusammenhänge deutlich: Wenn Liebe immer oder nur häufig mit Hass gemischt wird, gibt es eine Anzahl Gründe, solchen Emotionen moralisch nicht zu trauen und andere Regeln zu bevorzugen, die weniger unsicher sind. Liebe ist ohnehin eine der Emotionen, die seit jeher moralisch eine Gefahr darstellen kann: wegen ihrer Voreingenommenheit und der extremen Form der Ungeschütztheit und Verletzlichkeit, die sodann in Verbindung mit Eifersucht und Zorn steht. Die Aufgabe besteht darin, sich mit diesen Einwänden auseinander zu setzen und zu reflektieren, in welcher Art und Weise Emotionen sozialisiert und vermittelt werden könnten, so dass trotz der Unwägbarkeiten Vorstellungen psychologischer Gesundheit daraus resultieren, die die Bereitschaft stärken, in wechselseitiger Abhängigkeit miteinander zu leben. Dennoch bliebe die Rolle der Emotionen sogar mit diesem formulierten Anspruch an ein gutes ethisches Leben zu unbedeutend, unklar und oberflächlich. Nussbaum vertritt die Absicht, Emotionen und Moralität miteinander zu verbinden. Ihre Wahl für die Stärkung ihrer Argumentation fällt auf die Abgrenzung der Emotionen Mitgefühl und Liebe. Mitgefühl stellt eine Emotion dar, die andere Menschen zum Objekt der intensiven Fürsorge bestimmt. Für die Entwicklung einer ethisch-moralischen Sichtweise birgt dies einerseits 166
Optionen und andererseits Probleme, gilt doch Mitgefühl als bedeutend für ethische Aufmerksamkeit und menschliches Verstehen (vgl. Nussbaum 2001, S. 13f). Die Bedeutung der Emotionen für menschliches Leben und Verstehen zeigt sich in Nussbaums Denken deutlich, doch diese Bedeutung in eine Kategorie moralisch-ethischen Lebens zu verankern, erweist sich aufgrund der Komplexität der Emotionen als Herausforderung. Das Verstehen von Emotionen und ihre Beziehung zur Urteilsfähigkeit, bewertende Dimensionen sowie die Kindheitsgeschichte eines jeden Menschen werfen eine Reihe normativer Fragen auf und gleichzeitig liegen hierin die Ressourcen für ihre Lösung. Die Analyse der Emotionen übernimmt moralische Aufgaben, da für jeden Menschen klarer wird, welche Probleme, Emotionen und Sichtweisen für ihn aktiv veränderbar sind und welche nicht. Menschen bevorzugen überzeugende Bilder, wenn es um gesellschaftliche Veränderungen geht, die Nussbaum anstrebt. Mit ihrer Emotionenanalyse verfolgt Nussbaum einen gesellschaftlichen Normenwechsel dahingehend an, mehr Lebensqualität der Gesellschaft bzw. politischen Gemeinschaft zu erreichen, wenn die emotionale und fantasievolle Gesundheit der Menschen mehr geachtet, sichergestellt und angestrebt würde (vgl. Nussbaum 2001, S. 16). Damit Emotionen zukünftig stärker für die Entwicklung individuellen Lebens beachtet und einbezogen werden, ist es von Bedeutung ihre soziale Konstruiertheit zu verstehen. Mit dem Verständnis, Emotionen als soziale Konstruktion zu sehen, wird es möglich, Emotionen neu für den individuellen Lebenszusammenhang einzuordnen. Nussbaum vergleicht Emotionen mit gesellschaftlichen Bräuchen und Gewohnheiten. „Ebenso steht es mit den Bräuchen: Wenn sie dem Wohlergehen oder der Gerechtigkeit nicht förderlich zu sein scheinen, werden sie von uns beanstandet. Körperliche Schwäche und Tod sind zwar unabwendbar, aber deshalb gelten sie normalerweise nicht als etwas Positives. Und dass etwas angemessen und richtig ist, zeigt von sich aus noch nicht, dass es angeboren, unseren Bräuchen gemäß oder notwendig ist“ (Nussbaum 2002b, S. 166b). Nussbaums Auffassung von Emotionen ist eng mit neueren Interpretationen verbunden, die von Gefühlen als sozialen Konstrukten ausgehen. In Verbindung mit gesellschaftlich erlernten Überzeugungen können emotionale Erfahrungen überhaupt erst entstehen, so die These. „Überzeugungen aber werden erlernt, und zwar in der Gesellschaft. Daher lassen sich sowohl die Tatsache, dass ein Mensch Gefühle hat (und nicht ein stoisches Leben führt) als auch das spezielle Repertoire von Gefühlen, über das er verfügt, am besten dadurch erklären, dass die Gesellschaft, in der der betreffende Mensch aufgewachsen ist, untersucht und befragt wird, was zu denken ihn diese Gesellschaft gelehrt hat“ (Nussbaum 1999, S. 166f). Darüber hinaus wird der Zusammenhang zwischen emotionalen Erfahrungen und Urteilen in Bezug auf die Wichtigkeit von „äußeren Gütern“ betont. Darunter versteht man Menschen und Dinge, die außerhalb der eigenen Person liegen und von dieser nicht „vollständig gelenkt“ werden können. Die allgemein abhängige Struktur menschlichen Lebens von Elementen, die nicht unter dem individuellen Einfluss stehen wie z.B. Sterblichkeit, Anfälligkeit für Krankheit und Erschöpfung sowie Abhängigkeit von knappen Gütern ist in irgendeiner Form wahrscheinlich in jeder Gesellschaft anzutreffen und mit bestimmten emotionalen Urteilen verbunden. „Die Gesellschaft gibt den Gefühlen eine bestimmte Bedeutung und Färbung“ (Nussbaum 1999, S. 167). Emotionen stellen also das Einverständnis von Bedürftigkeit und Abhängigkeit dar und können als Gradmesser für die Bedeutung von Elementen für Menschen gelten, die außerhalb ihrer selbst liegen und mit denen sie nicht vollständig eigenständig und unabhängig aktiv umgehen können. „Bis zu 167
einem gewissen Grad haben alle Menschen solche Bindungen an unzuverlässige äußere Dinge. (…) Doch lässt sich feststellen, dass kontingente gesellschaftliche Gegebenheiten beeinflussen können, in welche Richtung sich diese Bindungen entwickeln. (…) Die Gefühle, so erinnern wir uns, sind mit Urteilen in Bezug auf die Wichtigkeit äußerer Dinge verbunden, die man nicht völlig steuern kann. Nun gibt es offensichtlich einige wichtige Merkmale menschlichen Lebens, die niemand jemals völlig zu steuern vermag. Man kann sich nicht unsterblich machen, man kann nicht erzwingen, dass die eigenen Kinder gesund und glücklich sind, man kann nicht Glück in der Liebe erzwingen. Aber die Gradunterschiede, die es hinsichtlich sozialer Autonomie und Gestaltungsmacht zwischen Männern und Frauen gibt, wirken sich auf das Maß aus, in dem das Gefühl der Machtlosigkeit den eigenen Lebensweg bestimmt“ (Nussbaum 1999, S. 169). Am Beispiel aktiver gesellschaftlicher Gestaltungsmöglichkeit und Einflussnahme zwischen Männern und Frauen macht Nussbaum die Bedeutung der Emotionen als Gradmesser für die eigene Einschätzung der Möglichkeiten aktiver Teilnahme und des Erwirkens von Handlungsspielräumen deutlich. In Bezug auf ihre Ideen wird nun in einer tieferen Dimension deutlich, wie Emotionen als gelernte Werturteile und somit Einschätzungen über den eigenen Stellenwert gesellschaftliche Teilhabe fördern oder behindern. In Bezug auf zu gestaltende Alternsprozesse würde es bedeuten, die gefühlte gesellschaftliche Einschätzung zum Altern, die mit Abbau und Verfall verbunden ist, als Gradmesser zu verändern. Bisher ist jeder noch so gesunde, aktive und jung gebliebene alte Mensch dem Urteil ausgeliefert, im Sinne eines Beitrages zur Gesellschaft nichts mehr „wert“ zu sein. Dies führt zur Verdrängung der an sich selbst wahrgenommenen altersbedingten Veränderungen, die jeder alternde Mensch als Herausforderung zur Gestaltung anzunehmen hat, um den eigenen Alternsprozess bewältigen zu können. Die Bewertung durch die in der Gesellschaft aktiv produzierten Werturteile über alte Menschen führt gegenwärtig in einer wechselseitigen Entwicklung zu einer Gesellschaft, die beinahe ausschließlich produktive Jugendlichkeit favorisiert. Indem Nussbaum den Einfluss der Wahrnehmungen und Überzeugungen auf die Emotionen verdeutlicht, zeigt sich jedoch weder die Unterlegenheit des Gefühlslebens unter starke soziale Veränderungen noch die soziale Konstruiertheit der Emotionen in irgendeinem bisher bedeutungsvollen Sinn. Durch den Nachweis eines erlernten Gefühlsrepertoires jedoch eröffnet sich grundsätzlich die Möglichkeit, Emotionen zu verändern, indem die Überzeugungen, auf denen sie beruhen, modifiziert werden. „Es könnte jedoch einige Überzeugungen geben, die sich bei einem Lebewesen, das mit einer ungewissen Welt interagiert, nachgerade unvermeidlich herausbilden. Das sind Überzeugungen, die für die ganze Lebensform dieses Wesens so maßgeblich sind, dass die Vorstellung, sie können wegfallen oder in signifikanter Weise verändert werden, kaum Sinn hat“ (Nussbaum 2002b, S. 175). Es drängt sich beinahe auf, diese Überzeugungen im Hinblick auf ihre tatsächliche Verwendbarkeit und Nützlichkeit individuell und gesellschaftlich zu thematisieren und zu analysieren und auf diese unterschiedlichen Anforderungen im Lebensverlauf zu beziehen. Die bisherigen Überlegungen münden für Nussbaum in einem Bild von Menschen, die sich fragen, was in ihrem Interesse liegt und die für sich ein Leben anstreben sollten, in „wirklicher“ Rationalität zu leben. Zugespitzt ist gefordert, weder einen engen ökonomischen „Interessen“-Begriff zu verwenden noch nur nach eigener maximaler Bedürfnisbefriedigung zu streben. Menschen sollten die Frage unter dem Aspekt betrachten, als rationale Wesen Interesse daran zu haben, ein „reiches und erfülltes Leben“ zu führen und inner168
halb dessen alle menschlichen Tätigkeiten, die Wert in sich tragen, zu einem mehr oder weniger einheitlichen Ganzen zusammenfügen zu können (vgl. Nussbaum 1999, S. 174). Diese Aussage deutet für jeden Einzelnen in der Auseinandersetzung eine Fülle an Fragen nach den Interessen und nach der eigenen „wirklichen“ Rationalität, die selbstverständlich Emotionalität und ihre Urteilskraft für das Erreichen eines „reichen und erfüllten“ Lebens einbeziehen. Darüber hinaus wird bedeutsam, welche menschlichen Tätigkeiten in welcher Art und Weise Wert für den eigenen und auch den gesellschaftlichen Zusammenhang darstellen und wie eine reflektierende und daraufhin verändernde Position eingenommen werden könnte. Mit der Feststellung der sozialen Konstruiertheit ist wiederum eine Verselbstständigung der Strukturen verbunden, die es erschwert, eine von außen betrachtende Perspektive einzunehmen. Vor allem in Bezug auf Alternsprozesse erscheint es eine große Herausforderung, zu entscheiden, auf welche Art und Weise Denken und Einschätzungen richtig und angemessen sind für ein gutes Leben im Alternsprozess. Darüber hinaus reicht die Einbeziehung der individuellen Ebene für einen Perspektivenwechsel nicht aus, da gleichermaßen die gesellschaftlichen Werturteile und Überzeugungen für die Gestaltung eines „reichen und erfüllten“ Lebens zur Reflexion herangezogen werden müssten. Nussbaum bezieht sich in ihrer Theorie der Emotionen auf Mahler und bei Proust auf dessen Erzähler, der schlussfolgert, bestimmte Wahrheiten über menschliches Sein könnten nur in literarischer Form erzählt werden. Nussbaum greift dies auf und fordert dazu auf, Literatur und andere Kunst in moralphilosophische Überlegungen mit einzubeziehen. „If we accept his view of what emotions are, we should agree, to the extent of making a place for literature (and other works of art) within moral philosophy, alongside more conventional philosophical texts. Once again: an account of human reasoning based only upon abstract texts such as are conventional in moral philosophy is likely to prove too simple to offer us the type of self-understanding we need” (Nussbaum 2001, S. 3). Abstrakte Texte aus der Moralphilosophie erscheinen Nussbaum beinahe zu einfach, um die Komplexität der Emotionen und die Herausforderungen des notwendigen „Selbst-Verstehen“ für das menschliche Sein zu erreichen. Die gesellschaftliche Ebene hat Nussbaum in der Ausgestaltung des FähigkeitenAnsatzes formuliert, der ausgehend von der Zusammenarbeit mit Sen, zu einem von ihr selbst weiter entwickelten gesellschaftlichen Ansatz geführt hat. Der Fähigkeiten-Ansatz (approach of capabilities) ist in der Entwicklungsarbeit entstanden und hat als Oberziel, für jeden einzelnen Menschen Voraussetzungen zu schaffen, die es ihm ermöglichen, in allen wichtigen Lebensbereichen „gedeihlich“ zu leben. Dazu gehört die Entwicklung des Verständnisses, was zu „gedeihlichem“ Leben gehört, um dieses angemessener fördern zu können. „Ein Rationalitätsideal, das auch die Gefühle einschließt, ist ein Teil der Idealvorstellung von einem gedeihlichen Leben. Daher lassen sich aus meinen Schlussfolgerungen direkte Empfehlungen für die Politiker ableiten, indem diesen gesagt wird, was unterstützungs- und förderungswürdig sei. Dies wird vermutlich in vielerlei Hinsicht die Gestaltung der Institutionen (insbesondere im Bereich der Bildungs- und Familienpolitik) beeinflussen. Mit anderen Worten, wenn wir uns vom klassischen Liberalismus verabschieden und uns stärker für das Gute und die Selbstverwirklichung der Menschen interessieren, müssen wir sehr intensiv über die Bedingungen des Guten nachdenken, um Institutionen zu schaffen, die die Menschen so weit bringen, dass sie zumindest über die Voraussetzungen für ein gutes Leben verfügen“ (Nussbaum 1999, S. 164). Von Bedeutung ist die Verknüpfung des Guten mit der Selbstverwirklichung des Menschen und den gesellschaftlich dafür neu zu 169
denkenden und gestaltenden Ebenen der Verwirklichung über die Institutionen. Insgesamt zielt Nussbaum darauf ab, wieder und wieder darauf aufmerksam zu machen, gesellschaftliche Überzeugungen und Emotionen als wesentlichen Bestandteil jedes gesellschaftlichen Denkens und Tuns zu verstehen und entsprechend für die Entwicklung einer für den Menschen und seine Selbstverwirklichung förderliche Gesellschaft einzutreten. „Wir brauchen ein ideales Denken, um gerechte Institutionen zu konzipieren. Aber wenn dem so ist und wenn viele Konzeptionen von vernünftigem Denken (auch die von Rawls) fälschlicherweise die Gefühle vernachlässigen, dann müssen wir, um gerechte soziale Institutionen zu bekommen, mehr über Gefühle nachdenken“ (Nussbaum 1999, S. 166). Für Nussbaum ist von Bedeutung, Gefühle nicht als „blinde und rohe“, sondern als intelligente Formen einer wertenden Wahrnehmung zu begreifen, die eng mit Überzeugungen verknüpft sein sollten, wenn nicht sogar mit ihnen identisch sind. Nach dieser Logik beginnen Emotionen mit der in der häuslichen Sphäre empfundenen Liebe und Dankbarkeit und gelten als eine notwendige Voraussetzung für eine angemessene Wahrnehmung der Bedürfnisse von weiter entfernt lebenden Menschen: „(…) dass sich die Gefühle auf einzelne Menschen und nicht auf Klassen richten, dass sie dadurch aber den Sinn und das oberste Ziel von Klassenaktionen aufzeigen; dass auch die Verbindung der Gefühle mit außermoralischen sexuellen Energien eine wertvollen Beitrag zum privaten und öffentlichen Leben leisten kann; dass es, auch wenn wir wissen, es im Rahmen bestimmter Institutionen mit unvollkommenen Menschen zu tun haben, gute Gründe dafür gibt, diesen Komponenten unserer Rationalität ernsthafteste Aufmerksamkeit zu widmen“ (Nussbaum 1999, S. 166) zeigt als weitere Dimension die enge Verwobenheit zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen Individuum und Gesellschaft, in der jede Äußerung immer auch emotionengebunden ist. Im Nachdenken über Alter und Alternsprozesse findet man sich mit Nussbaums Argumentation in einem komplexen, sehr weitreichenden Bezugsystem. Ihr geht es um die Entwicklung eines überprüfenden moralphilosophischen Gebäudes, in dem das weithin geübte Ignorieren von Emotionstheorien ausdrücklich überwunden wird. Das beinhaltet, Emotion auf allen Ebenen von der Kindheitsentwicklung und Alltagsbewältigung bis hin zum kulturellen Überbau in ihrer Bedeutung zu erkennen. „It does mean, however, that we cannot ignore them, as so often moral philosophy has done. It means that a central part of developing an adequate ethical theory will be to develop an adequate theory of emotions, including their cultural sources, their history in infancy and childhood, and their sometimes unpredictable and disorderly operation in the daily life of human beings who are attached to things outside themselves” (Nussbaum 2001, S. 2). Deutlich erkennt auch Nussbaum, eine Einigkeit über die geeignete Richtung des Wandels zu erzielen, gerät zur größeren Herausforderung. Kein „archimedischer Punkt“ ist identifizierbar, auf den man sich bedingungslos beziehen kann und die Zwänge zur Veränderung sind nicht von unabwendbarer Notwendigkeit, „sondern von unseren eigenen ethischen Überzeugungen und Entscheidungen, von unseren inneren Verpflichtungen auf Gerechtigkeit und Gleichheit, von unserem Gefühl für das, was menschlichen Gedeihen ist und sein sollte“ abhängig (Nussbaum 2002b, S. 21f). Mit dem Wissen um die soziale Konstruktion von Emotionen wird eine Freiheit gewonnen, den Argumenten von Menschen zu folgen, die zu dem Urteil gelangen, bestimmte Traditionen seien in vielerlei Hinsicht töricht, unangemessen oder drückend und sollten verändert werden. Nussbaum weist auf die Verantwortung hin, die mit der Freiheit um die soziale Konstruktion einhergeht. Sich ihr zu 170
entziehen, fällt nur allzu leicht, wodurch jedoch Gesellschaften unentschlossen bleiben und geneigt, trotz der erlangten Freiheit alles so zu belassen wie bisher. Veränderungen von Traditionen, die sich nicht länger bewähren, geraten zur großen Herausforderung, sobald Entscheidungen über die „neue Richtung“ bzw. „Angemessenheit“ getroffen werden müssen (vgl. ebd. 2002b, S. 21f). Die grundsätzliche Erkenntnis, von der ausgehend das Leben älter werdender Menscher besonderen Wert und besondere Wertschätzung über die Bereitstellung jeglicher Ressourcen zu ihrer Weiterentwicklung erfahren sollte, deutet sich mit der „Erkenntnis, dass jeder Mensch eine eigene Lebensgeschichte hat und dass eine gute Planung darauf abzielen sollte, diese Geschichten zu verstehen, so dass jedem einzelnen Menschen die volle Ausübung seiner Fähigkeiten ermöglicht wird“ (Nussbaum 1999, S. 160). Mit jedem Lebensjahr wird diese Geschichte jedes einzelnen Menschen länger und damit reichhaltiger. Weitergedacht bedeutet dies, den Menschen in der Gänze seiner Erfahrungen und emotionalen Erinnerungen als in die Vergangenheit gestreckt und dadurch zugleich als Potenzial für die Entwicklung einer Zukunft zu betrachten. Das Interesse richtet sich darauf, welche Fähigkeiten insbesondere ausgebildet werden müssten, um diesem Anspruch auch gesellschaftlich gerecht zu werden. In welcher Art und Weise könnte, so die weiteren Überlegungen, auf so etwas wie „Emotionspotenziale“ älterer Menschen auch in Bezug auf ihre Erinnerungen zurückgegriffen werden, um die Herausbildung und Ausübung ihrer Fähigkeiten für einen guten Alternsprozess zu initiieren und zu unterstützen.
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10 Erinnerungen des Lebensverlaufs bestimmen die Qualität des Alterns
Neue Forschungserkenntnisse aus vielen, bisher eher wenig den Alternsprozess berücksichtigenden Disziplinen, wie z.B. der Hirnforschung tragen dazu bei, Altern als Prozess zu gestalten, in der die Entwicklung von Lebensqualität auf neue Weise herausgefordert erscheint. Erinnerungen, die aus Erfahrungen im Lebensverlauf gewonnen werden und aufgrund ihrer Bedeutung für den individuellen Lebenszusammenhang in den Langzeitspeicher des Gedächtnisses übergehen, können für den Alter(n)szusammenhang Bedeutung erlangen. Aus den gemeinsamen Erkenntnissen der Hirnforschung und Sozialpsychologie ist die Hervorhebung der Zustandsabhängigkeit des Gedächtnisses von Bedeutung sowie die Erkenntnis, dass das Gedächtnis im Wechselspiel kognitiver, attentiver und vieler anderer Persönlichkeitsdimensionen arbeitet, entsteht und sich verändert. „Je nachdem nun, was uns das Leben bringt, von welcher Art Emotionen wir eher geleitet werden, wird sich unsere Erinnerungsfähigkeit verändern und mit zunehmender Länge einer ‚Gestimmtheit’ die Wahrscheinlichkeit für das Erinnern bestimmter Gedächtnisinhalte verbessern und für andere verringern“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 244f). Die Erinnerungsfähigkeit von im Leben gemachten oder zu machenden Erfahrungen hängt also im hohen Maße davon ab, inwiefern eine Gestimmtheit vorliegt oder anders formuliert, emotionale Einordnungen der Erfahrungen erfolgen, um ihre Bedeutung auszudrücken und sie erinnerungsfähig zu machen. Dieses ist bis ins hohe Alter möglich und kann somit für ein Leben im Alter von Bedeutung werden. Weitere Erkenntnisse aus Hirnforschungszusammenhängen, deren unmittelbare Bedeutung noch nicht erfasst scheint, die dennoch als Hintergrundwissen für die Entwicklung einer neuen Sichtweise im „Erfahrungen-Sammeln“, nützlich sein könnten, betreffen die Ausstattung des Gehirns mit einem Überschuss an neuronaler Hardware, die erst mit den Erfahrungen, die ein Mensch macht, darüber entscheiden, welche Kontaktstellen letztlich gebraucht werden. Es ist also vom Beginn des menschlichen Lebens kein genetischer Code festgelegt, sondern erst eine ausreichende Stimulierung über Erfahrungen in bestimmten „Zeitfenstern“ der Entwicklung entscheiden über z.B. die Ausprägung der Sprache oder des Gesichtssinns (vgl. Markowitsch/Welzer 2005, S. 150). Das Gedächtnis ist so gesehen nichts anderes als die Umsetzung von Umwelterfahrungen in die sich organisierende neuronale Struktur des sich entwickelnden Lebewesens, es wird als das „Zentralorgan der Weltbewältigung“ bezeichnet. Bis ins hohe Alter bilden sich neue Nervenzellen, wenn Menschen etwas dafür leisten. Die Verbindungen zwischen Nervenzellen, die Synapsen, verändern sich mit der Erfahrung und so entstehen neue Spuren im Gehirn. Langfristig können sich auch die „Landkarten“ verändern, die es durch Erfahrungen angelegt hat. Das Gehirn verändert sich also durch Erfahrungen, die ein Mensch macht. Diese Plastizität ist ein Leben lang verfügbar und je eher Faktoren wie z.B. körperliche Bewegung, Musik, Aktivitäten und soziale Kontakte im Leben eine Bedeutung bekommen, desto beweglicher bleibt auch die Lernfähigkeit des Gehirns. Freiwilligkeit und Spaß sind dabei Voraussetzungen, ansonsten erscheinen Lernbemühungen eher kontraproduktiv. Soziale Kontakte bekommen eine besondere Bedeu172
tung, da angeregte Diskussionen und Austausch mit anderen dazu beitragen, dass sich neue Nervenzellen bilden und das Gehirn wandelbar bleibt (vgl. Spitzer 2003). Das autobiographische Gedächtnis ist in der Entwicklung das sich als letztes entwickelnde und so bleibt das Gehirn außergewöhnlich das am längsten unfertige Organ des Menschen. Doch in diesem damit verbundenen Entwicklungspotenzial und der Offenheit für die formenden Einflüsse natürlicher und sozialer Umwelten liegt der Grund für seinen Überlebensvorteil, da sich kein anderes Lebewesen den unterschiedlichen und ständig verändernden Umweltbedingungen so gut anpassen kann wie der Mensch. Die Struktur des Gehirns und seine Organisationsprinzipien sind auf Potenzialität angelegt und nur von dieser Ausgangsstruktur her genetisch determiniert. „Wir können als Neugeborene so wenig, weil wir später so viel können müssen“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 20). Von Bedeutung für einen lebenslang verlaufenden Alternsprozess lässt sich an der Entwicklung des Gehirns synonym zeigen: Der Mensch kann so lange als „unfertig“ betrachtet werden, wie seine Bereitschaft und Offenheit für neue Erfahrungen vorhanden ist, die als Weiterentwicklung oder Anpassungsleistungen an seine sich verändernde oder neue Anforderungen stellende Umwelt einzuordnen sind. Darüber hinaus wächst mit den Erfahrungen, die im Verlauf des Lebens gemacht werden, ein Pool an vielen Erfahrungen, die aufgrund ihrer (emotionalen) Bedeutung für den Menschen in seinen Langzeitspeicher überführt werden. Halbwachs setzte sich aus Sicht der entstehenden Soziologie bereits 1925 mit der Bedeutung des sozialen Gedächtnisses auseinander und bearbeitete die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Gesellschaft und Individuum bei der Entstehung von Erinnerung. „Es gibt einerseits einen räumlichen, zeitlichen und allgemeiner einen gesellschaftlichen Rahmen. Dieses ganze von stabilen und dominanten Vorstellungen erlaubt es uns in der Tat, uns nachher willkürlich an die wesentlichen Ereignisse unserer Vergangenheit zu erinnern“ (Halbwachs 1985, S. 147). Und mit jedem Erinnern an Situationen würde die ursprüngliche Erinnerung überformt, so die Überlegungen Halbwachs und da Erinnerungen überwiegend in sozialen Kontexten reproduziert werden, entstehen Konstruktionen, die sodann in einem bestimmten, Raum, einer bestimmten Zeit und einem bestimmten gesellschaftlichen Rahmen lokalisiert werden können. Erinnerungen dürfen also nicht als getrennte Bilder wahrgenommen werden, sondern sie unterliegen vielmehr einer Kontinuität von einer zur anderen. Und der Autor bezeichnet Erinnerungen „gewissermaßen als den beweglichen Reflex eines sozialen Raums, einer sozialen Zeit und eines sozialen Milieus“ (Halbwachs 1985, S. 147). Gedächtnisleistungen als Verarbeitung und Anpassungsleistung an die Umwelt und dieses als Vermögen zur Weiterentwicklung des Einzelnen bis ins hohe Alter auf der einen Seite und die Überformung gemachter Erinnerung über Rekonstruktionen in einem gesellschaftlichen Zusammenhang als Anpassung über Weiterentwicklung der Gegenwart auf der anderen Seite sind Ausgangspunkte für eine aktive Gestaltung des Alternsprozesses. Aus der Überlegung, Bedürfnisse aus der Gegenwart würden an die Vergangenheit herangetragen, gelangte Halbwachs zu der Annahme, kollektive Erinnerung hätte eigentlich nichts mit der Vergangenheit zu tun, sondern sie sei dazu da, gegenwärtige soziale Bedürfnisse und soziale Befindlichkeiten widerzuspiegeln (vgl. ebd. 1985). Und damit wäre Erinnerung bzw. die Konstruktion der Erinnerung eine Art gesellschaftlicher Anpassungsleistung an eine Gegenwart, von der nicht gewiss ist, ob und wie sie bewältigbar sein könne. Vergangenheit in Form gemeinsam konstruierter Erinnerungen wird somit ein Wegweiser für die Gestaltung des Lebens in der aktuellen Gegenwart. Mit dieser Perspektive kommt dem 173
Alter eine neu zu bewertende Bedeutung in gesellschaftlicher Hinsicht zu, da alte Menschen auf Basis ihrer langen Vergangenheit immens zur Gestaltung von Gegenwart und Entwicklung von Zukunft beitragen können. Im Folgenden wird die Konstruktion gemeinsamer gesellschaftlicher Vergangenheit und ihre Bedeutung für ein gesellschaftliches Leben näher betrachtet. Dies gilt als Ausgangspunkt für das Nachdenken über den Einfluss eines aktiven Alternsprozesses, in dem Alter als Träger der Weitergabe kulturell benötigten Wissens eingeschätzt wird. Gleichzeitig erscheint es bedeutsam, die Relevanz gesellschaftlichen Erbes für den eigenen individuellen Alternsprozess auszuloten. 10.1 Entwicklung eines gemeinsamen Lebens über die soziale Konstruktion gemeinsamer Erinnerungen Erinnerung gilt als Topographie der Zeit und als Filter der individuellen Geschichte und Erfahrung. Die Wahrnehmung und Interpretation der eigenen Vergangenheit und der Gesellschaft, zu der ein Einzelner sich zugehörig fühlt, steht als Ausgangspunkt für individuelle und kollektive Identitätsentwürfe und welche Handlungen in der Gegenwart – mit Blick auf die Zukunft – Präferenz enthalten. Die individuelle Erinnerung lässt sich nicht von sozialen und historischen Rahmenvorgaben lösen, die den Wahrnehmungen und Erinnerungen erst eine Form geben. Viele Aspekte der Vergangenheit wirken bis in gegenwärtige Emotionen und Entscheidungen hinein. Transgenerationelle Weitergaben von Erfahrungen, so Welzer, lassen sich identifizieren, die bis in die Biochemie der neuronalen Verarbeitungsprozesse der Kinder und Enkel reichen. Uneingelöste Zukunftshoffnungen aus vergangenen Zeiten können plötzlich und unerwartet handlungsleitend und geschichtsmächtig werden. „Transgenerationelle Weitergabe, Ungleichzeitigkeit von Orientierungen, Wünschen und Hoffnungen, unbeglichene Rechnungen vielerlei Art bilden die subjektive Seite der Textur der Erinnerung. Die Praktiken des Alltags im Umgang mit den Dingen, die selbst Geschichte und Erinnerung transportieren – Architektur, Landschaft, das Interieur z.B. einer Kneipe, Geräusche, Gerüche, haptische Eindrücke – bilden ihre objektbezogene Seite. Es geht also um all das, was absichtslos, nicht-intentional, Vergangenheit und Vergangenheitsdeutungen transportiert und vermittelt“ (Welzer 2001d, S. 12). Erinnerungsfähigkeit macht den Menschen erst zum Menschen, so fragwürdig dieses kritisch gesehen auch sein mag, so Assmanns Einschätzung. Ohne Erinnerungsfähigkeit jedoch wäre es nicht möglich, ein Selbst aufzubauen und mit anderen Menschen als Individuum in einen kommunikativen Prozess einzutreten (vgl. ebd. 2001, S. 103). Menschen weisen in evolutionärer Hinsicht einen entscheidenden Vorteil auf, sie können ihre Erinnerungen in zweierlei Hinsicht in eine funktional effizientere Ebene heben. Sie verfügen über die Fähigkeit, sich selbst in einem Raum-Zeit-Kontinuum situieren zu können, was bedeutet sich die eigene Umwelt planmäßig erschließen und auswerten zu können: „Während ohne reflexives Gedächtnis Reize und Reaktionen, Anforderungen und Antworten unmittelbar aufeinander folgen, eröffnet die Fähigkeit zum bewussten Erinnern einen prinzipiell unendlichen Raum von Aufschüben zwischen den jeweiligen Anforderungen und den möglichen Reaktionen darauf. Ein reflexives Gedächtnis ermöglicht das Warten auf bessere Gelegenheiten, das Überstehen problematischer Situationen, das Entwickeln effizienterer Lösungen, kurz: Es erlaubt Handeln, das auf Auswahl und Timing beruht. Ein solches Ge174
dächtnis schafft Raum zum Handeln und entbindet vom unmittelbaren Handlungsdruck“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 12). Ein reflexives Gedächtnis ermöglicht weiter, Gedächtnisinhalte zu externalisieren und aus dem Organismus heraus zu verlagern. Menschen könnten ganz einzigartige Formen der Repräsentation von Gedächtnisinhalten schaffen: Angefangen von einfachen Markierungen von Nahrungsverstecken über die Entwicklung symbolischer Austauschformen durch sprachliche Kommunikation bis hin zur Herausbildung von Schriftsprachen, zeigen sich die einzigartigen Formen der Repräsentation von Gedächtnisinhalten. Einerseits haben Menschen sich durch diese Externalisierungen der Gedächtnisinhalte dem Handlungsdruck entzogen und andererseits können sie Informationen aufbewahren und kommunizieren sowie Erinnertes weitergeben. Mit der Erfindung der Schrift sind sie sogar in der Lage, den Menschen etwas zu hinterlassen und mitzuteilen, mit denen sie räumlich und zeitlich überhaupt nicht verbunden sind. Es gibt also einen Fundus an gespeichertem Wissen, „der die Beschränkung der direkten Kommunikation radikal überwindet. (…) Die Schaffung einer Möglichkeit der kulturellen Weitergabe von Erfahrungen im Medium der sprachlichen Kommunikation, so Tomasello, beschleunigt die langsame biologische Evolution mit den Mitteln des Sozialen“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 13). Die sich permanent steigernde Entwicklungsgeschwindigkeit der Evolution geht auf die menschliche Existenzform zurück, Erkenntnisfortschritte zur Bewältigung von Umweltanforderungen über Zeiten und Räume hinweg weitergeben zu können. Die jeweils nachfolgende Generation kann auf höheren Erfahrungsniveaus ihre Entwicklungsmöglichkeiten entfalten. Die Steigerung von Entwicklungsmöglichkeiten geht zentral auf das Vermögen zurück, Gedächtnis zu externalisieren und im sozialen Raum verfügbar zu machen. „Deshalb spielen sich in den evolutionär extrem kurzen 200000 Jahren der Existenz des Homo Sapiens sapiens die rasanten technologischen und kulturellen Fortschritte ab, die wir bei sicher immer noch beschleunigender Weitergabegeschwindigkeit buchstäblich Tag für Tag erleben. Alles dieses geht auf jenen Entwicklungssprung zurück, den ein reflexives Gedächtnissystem ermöglicht (…)“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 14). Von besonderer Bedeutung für das reflexive Gedächtnis bzw. die Entwicklung des individuellen autobiographischen Gedächtnisses erweist sich die Kompetenz, in distinkte Zonen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden und sich als individuelle Person dazu in Relation setzen zu können. Dieses Vermögen entwickelt sich ontogenetisch spät und fällt mit dem Alter des Spracherwerbs zusammen. Die Fähigkeit zum autobiographischen Gedächtnis und zum Erzählen einer Lebensgeschichte ist die am längsten reifende und zuletzt erreichte der zu erwerbenden Kompetenzen im Bereich der unterschiedlichen Gedächtnisformen. Diese lange Entwicklungszeit der Kompetenz eines autobiographischen Gedächtnisses beginnt mit dem Spracherwerb und ist erst im Jugendalter vollständig entwickelt. Nach Markowitsch/Welzer gilt dies als ein sehr komplexer Vorgang, „der von biologischen und soziokulturellen Bedingungen gleichermaßen bestimmt ist“ (ebd. 2005, S. 14). Die Besonderheit des autobiographischen Gedächtnisses liegt darin, nicht nur individuelle und organismusinterne Funktionen zu haben, sondern sich zugleich im Zusammensein mit anderen heranzubilden und „jene Suggestion einer lebenslangen Kontinuität des ‚Ich bin Ich’ bereitzustellen, die in individualisierten Gesellschaften überhaupt erst Synchronizität, Kommunikation und Verlässlichkeit ermöglicht“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 15). Halbwachs hat 1925, ohne auf Hirnforschungserkenntnisse zurückgreifen zu können, oder noch zu diesem Zeitpunkt überhaupt diese positiv zu werten, die gesellschaftliche 175
Konstruiertheit der Erinnerungen bearbeitet und hervorgestellt. „Wenn die Vergangenheit wieder erscheint, dann macht es recht wenig aus zu wissen, ob sie in meinem Bewusstsein oder in anderen wiederkehrt. Warum kehrt sie zurück? Würde sie wiederkehren, wenn sie sich nicht konservierte? Offenbar untersucht man in der klassischen Theorie des Gedächtnisses nicht ohne Grund, wie Gedächtnisinhalte bewahrt werden, nachdem sie erworben wurden, bevor man ihr Wiedererinnern behandelt. Wenn man die Konservierung der Gedächtnisinhalte nicht durch Hirnprozesse erklären will (eine freilich recht obskure Erklärung, die zu schweren Bedenken Anlass gibt), dann scheint sich kaum eine andere Alternative zu bieten als zuzugeben, dass die Erinnerungen als psychische Zustände im Geiste unbewusst schlummern, um dann wieder bewusst zu werden, wenn man sie zurück ruft. Derart würde die Vergangenheit nur scheinbar vernichtet und sie würde nur scheinbar verschwinden“ (Halbwachs 1985, S. 22; Original 1925). Halbwachs Ausgangspunkt betraf also insgesamt die Frage nach den Erinnerungen, angefangen vom Ereignis über die Speicherung des Ereignisses bis zur Wiederkehr als Erinnerung, von der er annahm, sie sei nicht mehr gleichbedeutend mit dem Ereignis selbst, sondern entsprechend gefestigter in ihrer rekonstruierten Gestalt „Erinnerung“. „Die Ereignisse sind Erinnerungen, aber der Rahmen ist gleichfalls aus Erinnerungen gebildet. Zwischen ihnen gäbe es den Unterschied, dass die letzteren stabiler sind und dass es von uns in jedem Augenblick abhängt, sie wahrzunehmen, dass wir uns ihrer bedienen, die ersteren wiederzufinden und zu rekonstruieren“ (Halbwachs 1985, S. 144). Die Erinnerungen wurden von dem Autor für stabiler gehalten, da die Rekonstruktion Bemühung und Gestaltung und einen Aufmerksamkeitsprozess gegenüber der eigenen Person erfordert, um die Erinnerungen bilden zu können. In der Weiterentwicklung dieser von Halbwachs ausgehenden Überlegungen hat sich im Rahmen der Erkenntnisse des Sozialgedächtnisses die Einordnung durchgesetzt, Erinnerungen als Konservierungsmöglichkeit von Ereignissen über die Rekonstruktion dieser zu betrachten. Sie gelten gegenwärtig als der „Stoff, aus dem Erfahrungen, Beziehungen und vor allem das Bild der eigenen Identität“ (Assmann 2001, S. 103) gemacht sind, selbst wenn diese Erinnerungen nicht „wahr“ sind, was durchaus relativierend von Assmann eingeräumt wird. Erinnerungen werden erst durch ihre sprachliche Thematisierung aufbereitet und konserviert und bilden so das Rückrat einer impliziten Lebensgeschichte. „Der Großteil unserer Erinnerungen schlummert in uns und wartet darauf, durch einen äußeren Anlass ‚geweckt’ zu werden. Dann werden diese Erinnerungen plötzlich bewusst, gewinnen noch einmal eine sinnliche Präsenz und können unter entsprechenden Umständen in Worte gefasst und zum Bestand eines verfügbaren Repertoires geschlagen werden“ (Assmann 2001, S. 103). Und mit jedem Lebensjahr, das für einen Menschen zu seiner eigenen Lebensgeschichte hinzukommt, erlebt er neue Ereignisse, die zu dem Pool an Erinnerungen hinzugefügt und durch kommunikative Rekonstruktion zu neuer Bedeutung für den eigenen Lebenszusammenhang werden können. Die evolutionsbedingte Entwicklung eines autobiographischen Gedächtnisses hat dabei zu mindestens zwei wesentlichen individuellen und gesellschaftlichen Entwicklungen geführt, die viel expliziter für die Gestaltung des Alternsprozesses genutzt werden könnten. Die Arbeit des Gedächtnisses ist funktional für die Gegenwart und manchmal auch auf die Zukunft (vgl. Markowitsch/Welzer 2005, S. 40). Der Bezug zur Vergangenheit über die Rekonstruktion der Erinnerung führt zum Auffinden von Lösungen für gegenwärtige Probleme und hat über die Nutzung der Externalisierungs-
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möglichkeit jedes Einzelnen zu einer gemeinsamen Entwicklung der Gesellschaft auf jeweilig höheren Ebenen geführt. Die Autobiographie jedes einzelnen Menschen wächst und entsteht über soziale Kommunikationen und infolge dessen hängt die Entwicklung jedes Menschen jeweilig auch in ihrer qualitativen Entwicklung von anderen ab. „Die Fähigkeit zum autobiographischen Gedächtnis ist insofern eine eindeutig soziale Kompetenz, als sie in der sozialen Kommunikation im Zusammensein mit anderen mittels ‚memory talk’ (Katherine Nelson) und ‚conversational remembering’ (David Middleton) herangebildet wird. Aber sie ist auch deswegen sozial, weil die Autobiographie jenen Fixpunkt im Fluktuieren der Rollen und Situationen darstellt, der einem selbst und anderen die Vergewisserung bietet, dass man es über Zeiten und Räume und Geschichten hinweg stets mit ein und demselben Ich zu tun hat und dass dieses auch in Zukunft noch dasselbe sein wird. Das autobiographische Gedächtnis gehört mithin nicht dem Individuum allein, sondern ist zugleich eine soziale Institution, die die Synchronisierungserfordernisse moderner Gesellschaften sicherstellt“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 21). Mit der Ausdifferenzierung und gleichzeitigen Zunahme der Komplexität von Gesellschaften werden die Entwicklungs- und Ausbildungszeiten für nachwachsende Generationen länger, so dass das autobiographische Projekt jedes Einzelnen über weniger Fixpunkte verfügt und die Leistung somit komplexer wird. Erst im jungen Erwachsenenalter kann jene autobiographische Position eingenommen werden, die einem selbst und anderen zeigt, „dass man übertemporal ein und derselbe war, ist und bleiben wird“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 21). Die Entwicklung des Gehirns und des Gedächtnisses finden nicht als autonom ablaufende biologische Prozesse statt, sie werden vielmehr nach Maßgabe sozialer und kultureller Determinanten geformt und in sozialen Interaktionen gestaltet (vgl. ebd. 2005, S. 22). Markowitsch/Welzer haben in ihren Betrachtungen vor allem die Entwicklung des Gehirns von Anbeginn des Lebens bis hin zur ausgereiften Kompetenz des autobiographischen Gedächtnisses dargestellt. Den Nutzen des autobiographischen Gedächtnisses für die Herstellung eines zusammenhängenden kontinuierlichen Lebens heben sie zwar hervor, die Wirksamkeit und Notwendigkeit eines autobiographischen Gedächtnisses kann jedoch für Alternsprozesse noch einmal nachdrücklicher betont werden. Ohne autobiographisches Gedächtnis wäre es nicht möglich, eine Existenz als Mensch zu konstituieren, da die dafür notwendige Intersubjektivität und Möglichkeit zur Externalisierung gemachter Erfahrungen nicht möglich wäre. Erfahrungen könnten nicht sozial und kommunikativ verarbeitet und für den individuellen vergangenen Zusammenhang sowie in der Bedeutung für das gegenwärtige Leben rekonstruiert und eingeschätzt werden. Mit dem Wissen um die soziale, kulturelle und historische Bestimmtheit des autobiographischen Gedächtnisses wird es möglich, bis ins hohe Alter insbesondere Wert auf die weitere Entwicklung dieses Gedächtnisses zu legen, da mit ihm die individuelle Kontinuität gewährleistet wird. Der alternde Mensch kann sich über den sozialen Austausch als entwicklungsfähiges Individuum vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen wahrnehmen. Ältere Menschen werden damit gleichzeitig auch für die Gesellschaft zu aktiven MitgestalterInnen, da sie über Erinnerungen und die Möglichkeit zur Rekonstruktion aus längst vergangenen Zeiten verfügen. Die jeweilig gegenwärtige Gestalt des autobiographischen Gedächtnisses ist in seiner Entwicklung selbst ein Produkt gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse. Autobiographisierungen und Individualisierungen gelten in dominant statischen gesellschaftlichen Verhältnissen und Machtgefügen eher geringer ausgeprägt als in komplexeren und vielfäl177
tigeren Konstellationen. Die Anpassungsleistungen von Menschen sind in Gesellschaftsformen, die über vorbestimmtere und starrere Vorgaben verfügen, nicht vielfältig und differenziert entwickelt, da der gesellschaftliche Platz und Spielraum festgelegter ist. Es hängt also nicht nur an der Motivation und liegt nicht nur in der Verantwortung des Einzelnen, sich entsprechend zu entwickeln und eigene Wege zu suchen. „Die Dynamisierung und Individualisierung des Lebenslaufs im Zuge der Etablierung moderner Gesellschaften ist also eine Voraussetzung für jene Form des autobiographischen Gedächtnisses, wie wir sie für ‚natürlich’ halten“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 15). Je nach vergangenen Gesellschaftsformen, die ein Mensch im Verlauf seines Lebens miterlebte und mitgestaltete, wurde sein autobiographisches Gedächtnis bewegt und beeinflusst. Diese Erkenntnis heißt, ältere Menschen sind von unterschiedlichen Gesellschaftsformen geprägt und haben unterschiedliche Anpassungsleistungen vollbringen müssen. Es gibt folglich nach wie vor verschiedene Prägungen autobiographischer Gedächtnisse einerseits und Potenziale für weitere Entwicklungen andererseits, die für die Rekonstruktion von Erinnerungen von Bedeutung sein könnten. Soziogenese und Psychogenese gelten als zwei Seiten desselben Vorgangs, Veränderungen im Gesellschaftsgefüge beeinflussen auch das Verhalten sowie die Einstellungen eines Menschen (vgl. Markowitsch/Welzer 2005). Mit der wachsenden Interdependenz der Menschen wächst auch der Aneignungsbedarf der komplexen Sozial- und Kommunikationsbeziehungen zu einer dauerhafteren Aufgabe, „weshalb sich historisch eine Ausdifferenzierung zwischen Kindheits-, Jugend- und Erwachsenenalter mit je unterschiedlichen Verhaltensstandards verzeichnen lässt. Die Phasen vor dem Erreichen des Erwachsenenstatus werden, zumindest in westlichen Gesellschaften, deshalb immer länger, weil die Einübung in die qualifikatorischen und habituellen Standards der sozialen Umwelt immer mehr Entwicklungszeit erfordert“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 17). Für den Zusammenhang älter werdender Gesellschaften könnte das bedeuten, die bisher in Bezug auf komplexer werdenden Sozial- und Kommunikationsbeziehungen „vergessenen Lebensalter“ jenseits der Verrentung aktiv einzubeziehen. So könnte, der These Markowitsch/Welzer folgend, die Ausdehnung der Altersphase dazu führen, qualifikatorische Standards für eine sozial alternde Umwelt zu gestalten, um eine sich dynamisch entwickelnde Beweglichkeit des autobiographischen Lebens bis zum Lebensende durchzusetzen und zu erreichen. Die Bildung eines sich lebenslang weiterentwickelnden autobiographischen Gedächtnisses zeigt sich eng mit einem wechselseitigen Austausch und kontinuierlicher Anpassung zwischen Individuum und Gesellschaft verwoben. Dabei werden bestimmte Ereignisse und Erfahrungen zu Erinnerungen und bleiben für Menschen im Verlauf ihres Lebens auch in wiederkehrenden Rekonstruktionen für die weitere Gestaltung ihres autobiographischen Gedächtnisses von Bedeutung. Oder sie treten an unbestimmten Momenten wieder auf und ihr Einfluss für den weiteren autobiographischen Verlauf kann überprüft werden. Diese Erkenntnis lässt sich in Bezug auf Alternsprozesse und Erinnerungsrekonstruktionen weiter ausdifferenzieren, um Alternsprozesse positiv in Erinnerungshinsicht und autobiographischer Weiterentwicklung beeinflussen zu können. Für einen in dieser Weise aktiv zu denkenden und gestaltenden Prozess könnte die Unterscheidung der Gedächtnisformen des kulturellen, kommunikativen und sozialen Gedächtnisses notwendig sein. Die Besonderheit des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses liegt in ihren vorwiegend intentionalen Bearbeitungen von Vergangenheit. „Es geht hier um bewusste oder zumindest bewusstseinsfähige Praktiken der Kommunikation 178
und Formung von Vergangenheit“ (Welzer 2001d, S. 15). Das soziale Gedächtnis ist in Bezug auf Burkes Definition als die Gesamtheit der sozialen Erfahrungen der Mitglieder einer Wir-Gruppe einzuschätzen, die im Rahmen sozialgeschichtlichen Erinnerns auf die Praxis mündlicher Tradition zurückgreift, den Bestand an konventionellen historischen Dokumenten wie Memoiren, Tagebücher etc., ebenso wie gemalte oder fotographische Bilder, kollektive Gedenkrituale sowie geographische und soziale Räume zur Bildung eines sozialen Gedächtnis einbeziehen kann (vgl. ebd. 2001d, S. 15). Welzer schränkt die Weite der Definition ein, indem er alles, was ebenso dem kommunikativen oder kulturellen Gedächtnis zugeordnet werden kann, streicht: Das soziale Gedächtnis umfasst danach vor allem vier Medien sozialer Praxis der Vergangenheitsbildung, auf die es sich vor allem bezieht: Interaktionen, Aufzeichnungen, Bilder und Räume und zwar solche, die nicht zu Zwecken der Traditionsbildung hergestellt wurden und eben Geschichte transportieren sowie im sozialen Gebrauch Vergangenheit bilden (Welzer 2001d, S. 16). Das soziale Gedächtnis in seiner definitorischen Weite ermöglicht den Bezug auf im Alltag jedes Menschen stattfindende Erinnerungsbildungen, von denen ungeklärt ist, inwieweit sie über die Gruppe hinaus von Bedeutung sind und entweder für das kulturelle oder kommunikative Gedächtnis gesamtgesellschaftlich tragfähig werden. Das ist erst einmal nicht notwendig, da es vor allem um die Erinnerungen und das Gedächtnis jedes Mannes und jeder Frau geht, die ein Gesamt an sozialem Gedächtnis in der Gesellschaft bilden und ausmachen. Die Rekonstruktion der Erinnerung bezieht sich auf die Vorstellung, Erinnerungen können nur befestigt werden, wenn sie in permanent neuen Akten wiederhergestellt werden. Rekonstruktive Erinnerung gestaltet sich als eine plastische und variable Tätigkeit, die in Abhängigkeit von den Bedürfnissen der sich wandelnden Gegenwart aus der Vergangenheit ständig Anderes wieder hervorholt. Neurowissenschaftler haben inzwischen die Vorstellungen vom Gedächtnis als einem schützenden Behälter für Erinnerungen zugunsten der Konzeption eines schöpferisch wandelbaren und damit auch grundsätzlich unzuverlässigen Netzwerkes ersetzt (vgl. Assmann 2001, S. 109). Mit dieser Sichtweise vom Gedächtnis als wandelbarem und im Grunde unzuverlässigem Netzwerk im Hintergrund, arbeitet Assmann bestimmte Merkmale für individuelle Erinnerungen heraus: 1. 2.
3.
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„Sie sind grundsätzlich perspektivisch, das heißt standortgebunden und darin unaustauschbar und unübertragbar. Sie existieren nicht isoliert, sondern mit den Erinnerungen anderer vernetzt sowie mit den im kulturellen Archiv gespeicherten Bildern und Daten. Durch ihre Kreuzung, Überlappung und Anschlussfähigkeit angelegte Struktur bestätigen sie sich gegenseitig. Damit gewinnen sie nicht nur Kohärenz und Glaubwürdigkeit, sondern sie wirken auch verbindend und gemeinschaftsbildend. Für sich genommen sind sie fragmentarisch, begrenzt und ungeformt. Was als Erinnerung aufblitzt, sind in der Regel isolierte Szenen ohne Vorher und Nachher. Erst durch Erzählungen erhalten sie eine Form und Struktur, durch die sie zugleich ergänzt und stabilisiert werden. Sie sind flüchtig und labil. Manche Erinnerungen ändern sich im Lauf der Zeit und mit der Veränderung der Person und ihrer Lebensumstände, andere verblassen oder gehen ganz verloren. Insbesondere verändern sich die Relevanzstrukturen und Bewertungsmuster im Laufe des Lebens, so dass ehemals Wichtiges nach und nach unwichtig und ehemals Unwichtiges in der Rückschau wichtig werden kann. Die in Erzählungen ge179
bundenen und oft wiederholten Erinnerungen sind am besten konserviert, allerdings verlieren sie durch Routinisierung viel von ihrer ursprünglichen Erfahrungsqualität und können auch zu Deckerinnerungen werden, die den Zugang zu einer vorausgegangenen Erfahrung gänzlich versperren“ (Assmann 2001, S. 117f). Erinnerungen sind in ihrem Wert für den Lebensverlauf von Menschen über die gesamte Länge des Lebens nicht zu unterschätzen, so belegen die differenzierten Überlegungen Assmanns und es wirken mehrere wesentliche Elemente, die vordergründig gegensätzlich erscheinen. Vor allem die Zerbrechlichkeit bzw. Flüchtigkeit von Erinnerungen auf der einen Seite und ihre Relevanz für einen kontinuierlichen Lebenszusammenhang auf der anderen Seite. Je nach Rekonstruktion und Reflexion, je nach Position und Personen sowie abhängig von der Bewusstheit der Erinnerung, verändert sich ein und dieselbe Erinnerung, ohne jedoch falsch zu werden. Die Berücksichtigung von körperlichen Erinnerungen als weiterer Beitrag zur Bildung des sozialen Gedächtnisses wird neben die bereits genannten Erinnerungen gestellt. Anders als bei den über beständige sprachliche Wiederholungen gebildeten Erinnerungen, festigen sich körperliche Erinnerungen über die Intensität des Eindrucks. „Retention steht für die Vorstellung einer körperlichen Dauerspur der Erinnerung, die (…) über lange Zeitintervalle unverändert konserviert wird; (…) die sinnlichen Erinnerungen sind geprägt von der Kraft des Affekts, dem Druck des Leidens, der Wucht des Schocks. Sie haften im Gedächtnis, ganz unabhängig davon, ob sie zurückgerufen werden oder nicht“ (Assmann 2001, S. 107). Körperliche Erfahrungen können also neben den kommunikativ rekonstruierbaren Erinnerungen, als neue parallele Ebene eingeschätzt werden, da sie wegen ihrer Intensität unabhängig von ihrer sprachlichen Rekonstruktion nicht-intentional wiederkehrend im Lebensverlauf auftauchen können. Für diesen Zusammenhang ist allerdings zu berücksichtigen, die körperliche und alle weiteren Erfahrungsebenen verfügen über viele wechselseitige Berührungspunkte und gegenseitige Einflussnahmen. Die Eingeschränktheit kommunikativer Vermittelbarkeit körperlicher Erfahrungen hat Bedeutung in Bezug des „Auf-sichselbst-Zurückgeworfensein“, das sich mit einer körperlichen Erfahrung vermittelt. Für den Alternsprozess könnte diese Erkenntnis im Hinblick auf zunehmende Hilfe- und Pflegebedürftigkeit zu berücksichtigen sein, da die mit dem vierten Lebensalter verbundene Gefahr der Multimorbidität genau die Erfahrung überwiegend körperlicher Veränderungen mit sich bringen kann. Mit besonders grausamen und traumatischen Erlebnissen im Lebensverlauf stellen sämtliche Erfahrungen gemeinsam eine neue Dimension der Bearbeitung dar. Koch hat sich mit Erinnerungskonzepten visueller Art und insbesondere in Bezug auf die in jüngerer Vergangenheit populär gewordene Repräsentation des Holocausts in Erzählung und Visualisierung auseinandergesetzt. Die Anzahl der auf Video festgehaltenen und aufgezeichneten Erinnerungserzählungen ist deutlich gegenüber vergangenen Zeiten gestiegen. „Obwohl wir wissen, dass nicht alle Erinnerungen und Aussagen wahr sind – in dem Sinne, dass sie ‚true to the facts’ wären, - nehmen wir doch an, dass sie authentisch sind – vielleicht Fehlerinnerungen, aber keine expliziten Erfindungen. Das Interesse ist groß für diese Art der Erinnerungen: daran, wie sie funktionieren und wie sie in die Welt kommen, denn wir nehmen an, dass sie uns nicht nur etwas über die Geschichte verraten, sondern gleichermaßen etwas über die Erinnerung“ (Koch 2001, S. 123). Bezugnehmend auf die Bewertung der Erlebnisse als Traumata, beschreibt Koch das Dilemma in dem die Visualisierung der Holocaust180
Erzählungen verwoben bleibt: „Das Trauma verschließt die Vergangenheit in der Zukunft als etwas, das wieder und wieder zurückkehren wird, als unfreiwillige Erinnerung – unfähig vergessen zu werden und unfähig bewusst erinnert zu werden und in einen Prozess des Durcharbeitens überführt zu werden. Der Schrecken des Traumas ist seine Unfreiwilligkeit – es ist vom Subjekt, vom Ich abgesperrt und trifft es wie eine Kraft von außen“ (Koch 2001, S. 128). Im traumatisierten Zustand von Erinnerungen stehen mehrere Ebenen wie z.B. die körperliche und die über kommunikative hergestellten Erinnerungen in eben wiederkehrend bewusster und unbewusster, also intentional aktivierte und eben zufällig einen Menschen überkommende Erinnerung nebeneinander. Die Besonderheit traumatisierter Menschen liegt in ihrem Erinnerungsdilemma, nicht in der Lage zu sein, sich intentional zu erinnern, während sie gleichzeitig von Bildern der Vergangenheit überflutet werden. Diese beiden Ebenen zusammenzubringen, würde für die „zerrissene Persönlichkeit“ dieser Menschen Genesung bedeuten. Trauma bedeutet, unfähig zu sein, sich zu erinnern und nicht, das als „wirklich“ anzunehmen, was erinnert wird. Dennoch zeigt sich die Faszination von Traumakonzepten insbesondere in den Darstellungen des Holocaust (vgl. ebd. 2001, S. 132). Erinnerung kann also niemals nur als ein „Spiegel“ der Vergangenheit betrachtet und eingeschätzt werden. „Sie ist immer perspektivisch, verzerrt und voll blinder Flecken“ (Koch 2001, S. 131). Erinnerungen und Lebensgeschichten sind deswegen nicht als Erfindungen einzuschätzen, sondern als die Möglichkeit Kontinuitäten im Lebensverlauf herzustellen. Jedes Individuum lernt mit einer neu kommunikativ hergestellten Variation bestimmter Vergangenheitselemente die Möglichkeit, individuell Erlebtes als Plattform für neue Erfahrungen und Veränderungen in der Gegenwart vorzunehmen. In Bezug auf die Erkenntnisse aus der Traumataforschung Kochs lässt sich insbesondere für besonders schmerzvolle und nicht bearbeitete oder nicht zu verarbeitende Erfahrungen, wie sie sich bei Holocaustüberlebenden zeigen, die hieraus resultierende Zerrissenheit hervorheben. „Die schmerzvolle Erfahrung bleibt, dass die Leben der meisten Überlebenden immer noch fragmentiert, dass ihre Erinnerungen immer noch zertrümmert sind. ‚Something still stimmt nicht’, wie es ein Überlebender beschrieben hat“ (Koch 2001, S.131). Kommunikative Rekonstruktion von Erinnerungen kann nicht mit allen Erfahrungen, die im Lebensverlauf eines Menschen gemacht werden, zur Herstellung eines kontinuierlichen Lebensverlaufs führen. Es gibt Erfahrungen, die unberücksichtigt bleiben, die trotz des Wissens um ihr gemeinschaftliches Vorhandenseins nicht gesellschaftlich bearbeitbar werden und eben in jedem „Erinnerer“ individuell verschlossen und nur nicht intentional zugänglich sind. Das soziale Gedächtnis einer Gesellschaft ist vielfältig breit und tief in seinen Erfahrungen und Erlebnissen. Es umschließt sehr viel mehr als nur die Erinnerungen, die als kommunikatives und kulturelles Gedächtnis einer Gesellschaft eingeordnet werden können. Mit den Überlegungen zum sozialen Gedächtnis wird es möglich, individuellen Erinnerungen die Bedeutung zuzugestehen, die jenseits von Formalisierungen z.B. durch Gedenkstätten oder andere kulturelle Formen liegen und dennoch in ihren gesellschaftlichen Einflüssen nicht zu unterschätzen sind. Alten Menschen ist mit den gesellschaftlichen Entwicklungen ihre Rolle als Wissensvermittler und Weitergeber gesellschaftlich notwendiger Traditionen mehr und mehr verloren gegangen, Modernisierungen in den Übergängen einer agrarwirtschaftlich dominierten Gesellschaft zu einer industriegesellschaftlich dominierten und weiter zu einer überwiegend dienstleistungsgesellschaftlich orientierten Erwerbsarbeitsgesellschaft hat Menschen ihr lebenslang erworbenes Wissen für jeweilige Arbeitsbe181
reiche als „nicht mehr gefragt“ dargestellt. Ihre Kompetenzen für die Weiterentwicklung einer Gesellschaft und ihr verbindendes Element zwischen dem, was in der Vergangenheit von Bedeutung war und auch in Gegenwarten wiederkehrend von diesem Wissen für die Herstellung von Kontinuitäten notwendig sein könnte, wurden nicht einmal bedacht. Mit dem sozialen Gedächtnis als Denkansatz im Hintergrund kann explizit herausgearbeitet werden, auf welche Art und Weise alte Frauen und Männer sehr wohl weiterhin Träger der Weitergabe kulturell notwendigen Wissens sind. 10.2 Alte Menschen sind Träger der Weitergabe kulturell benötigten Wissens Von jeder Gesellschaft bleiben nur Erinnerungen und nur das an ihnen, was die Gesellschaft in der gegenwärtigen Zeit mit ihrem gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann und will. Gesellschaftliches Denken gilt wesentlich als ein Gedächtnis, dessen vollständiger Inhalt nur aus kollektiven Erinnerungen besteht, deren Relevanz für die gegenwärtige Zeit bestätigt wurde oder noch wird. Die Gesellschaft lässt dabei alle Ideen zu, auch die ältesten, unter der Voraussetzung, „dass es sich um Ideen handelt, d. h. dass sie in ihr Denken hineinpassen und dass sie noch die Menschen von heute interessieren und diese sie verstehen“ (Halbwachs 1985, S. 390). Dies wirft die Frage auf, wer für das Erinnern und Weitergeben sowie die Auswahl der Ideen und Erinnerungen verantwortlich zeichnet und sich daran aktiv beteiligt. Bislang liegt weder eine Theorie noch eine Deskription der Weitergabe von Geschichte im Gespräch zwischen den Generationen vor, so Welzer, dennoch haben generationsübergreifende und innerfamiliäre Erinnerungsrekonstruktionen als identitätsstiftend für eine intergenerative „Wir-Gruppe“ sowie darüber hinaus als Träger der Vergangenheit in die Gegenwart zu gelten (vgl. Welzer 2001c, S. 168). Wineburg hat sich im US-amerikanischen Raum mit dem Prozess historischen Erinnerns auseinandergesetzt und fordert über die theoretische Auseinandersetzung eine empirische Ebene ein, die konkret dem näher kommt, wie Gesellschaften sowohl auf der gesellschaftlichen als auch individuellen Ebene erinnern. „(…) Bis heute gibt es nur wenige Versuche, zu verfolgen, wie der Prozess historischen Erinnerns im Leben gewöhnlicher Menschen verläuft: Wie verhält es sich mit dem sprichwörtlichen Mann auf der Straße, der ja in gewisser Weise das ‚kollektive Gedächtnis’ verkörpert (oder eben nicht verkörpert)? Ohne einen solchen Blickwinkel verwechseln wir die Produktion kultureller Erzeugnisse mit deren Konsumtion. Versuche, ein kollektives Gedächtnis zu konzipieren, das keinen empirischen Träger hat, werden unweigerlich auf den Sandbänken von Reduktionismus und Essentialismus auflaufen“ (Wineburg 2001, S. 203). Für das Verstehen, wie Gesellschaften erinnern, werden sowohl eine „Makro- als auch Mikroanalyse kultureller Weitergabeprozesse“ notwendig. Gesellschaften haben jedoch erst damit begonnen, ihre Daten zu verstehen. Individuelle und gesellschaftliche Weitergabeprozesse über empirische Herangehensweisen zu analysieren und dadurch sichtbar zu machen, würde vor allem auch die direkte Beteiligung und den wechselseitigen Austausch der unterschiedlichen Generationen, vor allem auch der Älteren zum Vorschein bringen. Für diesen Zusammenhang ist darüber hinaus die Erkenntnis von Bedeutung, die ontogenetische Entwicklung bei Menschen finde in einem soziokulturellen Raum statt, „der durch den jeweils erreichten Zustand der Vor182
gängergeneration gestaltet ist. Jede Generation beginnt, wenn man so will, ihre Entwicklung auf einem jeweils höheren Gesamtniveau als ihre Vorgängergeneration. Dieser Vorgang, neuerdings als ‚Wagenhebereffekt’ (ratchet effect) bezeichnet, kommt allerdings nicht daran vorbei, dass es basale biologische Entwicklungsvoraussetzungen gibt, die – jedenfalls bislang – auch durch noch so beeindruckende kulturelle Innovationen nicht übersprungen werden können“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 17). Der „Wagenhebereffekt“ wird durch einzigartige Plastizität des menschlichen Gehirns erst möglich. Die Entwicklung, Reifung und Formung des Gehirns hängt anders als bei anderen Säugetieren in großem Ausmaß von den Umwelteinflüssen des sich entwickelnden Menschen ab. Menschen werden als eigentlich „zu unfertig“ geboren und in ihrer weiteren Entwicklung ab der Geburt fallen genetisch angelegte Ausreifungsprozesse mit sozialen Ausformungsprozessen zusammen. „Kein anderes Lebewesen verfügt über eine vergleichbare Neuroplastizität, kein Gehirn ist bei der Geburt so unfertig wie das des Menschen, keines besitzt eine vergleichbar großes Entwicklungspotenzial für die Adaptierung an verschiedene und sich verändernde Umweltbedingungen“ (Markowitsch/Welzer 2005, S. 18). Dieses Entwicklungspotenzial überhaupt optimal entfalten zu können, wird durch den soziokulturellen Raum und die darin lebenden Menschen gewährleistet, die über aktive Reproduktions- und Erziehungsprozesse nachwachsende Generationen in ihrer Entwicklung befördern. Im Sinne des Wagenhebereffekts zeigt sich dabei einerseits die jeweilige Weiterentwicklung auf einer höheren Ebene und andererseits belässt solche Sichtweise den Ausgangspunkt jeweilig bei der Vorgängergeneration. Die erwachsenen oder älteren Menschen sind diejenigen Vermittler, die es der nächsten Generation überhaupt erst ermöglichen, eventuell eine weitere Stufe der Entwicklung mitzugestalten und zu erreichen. Während ältere Generationen gegenwärtig aufgrund ihrer im Lebenslauf zunehmenden Rückständigkeit nicht mehr so sehr in ihrer Rolle als Wissens- und Traditionsvermittler betrachtet werden, wird ihre Rolle als grundlegende Wissens- und Kompetenzbildner, die sich ebenfalls lebenslang weiter entwickelt, vollkommen übersehen. Darüber hinaus sind die „unsichtbaren“ Vermittlungsprozesse zu berücksichtigen: Sowohl Bewusstsein als auch Unbewusstes ist an „externe Bildspeicher des kulturellen Archivs“ angeschlossen, von denen jeder überall und jederzeit umgeben ist und die individuellen Erinnerungsbilder eines Menschen unweigerlich mitformen (vgl. Assmann, S. 113). Gegenwarten, an die Menschen sich erinnern, gelten ebenso wie die Gegenwarten, aus denen sie sich erinnern, als soziale Konstruktionen einer bedeutsamen Welt des Erlebens und Handelns. Durch Erinnerung werden sie kollektiv in Erinnerung gehalten und mit jeder neuen Erinnerung wiederum geformt. Als entscheidendes Medium der Vermittlung und Konstruktion wird die Kommunikation betrachtet. Und auf welche und auf wie viele der vorhandenen Medien zurückgegriffen wird, unabhängig ob „sprachliche Überlieferungen oder Schriftliches, skulpturale oder architektonische Manifestationen oder andere Formen der bildlichen Vergegenwärtigung“ (Keppler 2001, S. 137), ist unbedeutend. Für Keppler zählt allein das Vorhandensein eines Mediums, in dem sich ein einzelner Akt der Erinnerung vollziehen könnte, als Wegweiser über Zeit und Raum einer einmaligen Gegenwärtigkeit hinaus (vgl. ebd. 2001, S. 137). Die Übermittlung bestimmten Wissens und kulturell notwendiger Kompetenzen, die gesellschaftlich über Erinnerungskonstruktionen weitergegeben bzw. gebildet und entsprechend gegenwärtigen Anforderungen angepasst werden, konstituieren sich ebenso in kleineren Zusammenhängen. Keppler untersuchte anhand von Familien die Prozesse der Wei183
tergabe und stellte eine empirische Wissensbasis her. Ihr Ausgangspunkt war die Überlegung, für Familien gelte in einem begrenzteren Rahmen, was für Kulturen in einem sehr viel umfassenderen Rahmen gilt. „Ohne eine kontinuierliche Praxis der Erinnerung an die eigene Vergangenheit könnten Familien keine verlässliche Form ihrer eigenen Gegenwart sichern. Diese Prozeduren der kommunikativen Erinnerung vollziehen sich als Akte der Selbstthematisierung der Familie als Familie“ (vgl. ebd. 2001, S. 138). Im Rückgriff auf Halbwachs’ Bezeichnung eines „Familiengedächtnisses“ wird davon ausgegangen, jede Familie besitze ihre von ihr allein zu bewahrenden Erinnerungen und ihre Geheimnisse, die sie nur ihren Mitgliedern offenbart. Diese Erinnerungen können gleichzeitig als Modelle, Beispiel und Lehrstücke des Lebens betrachtet werden. Es drückt sich die allgemeine Haltung der Gruppe aus und es wird nicht nur nicht die eigene Vergangenheit reproduziert, sondern zugleich die Wesensart der Familie repräsentiert und ebenso deren Eigenschaften und Schwächen (vgl. Halbwachs 1985, S. 210 in: Keppler 2001, S. 138). Familien nutzen Formen kommunikativer Vergemeinschaftung und darin besonders bedeutsam die erinnernde Rede, so die Erkenntnis. In der erinnernden Rede wird das hervorgebracht, was gegenwärtig im familiären Leben aus der Vergangenheit des Lebens zählt und Vergangenheit entsteht, in dem über sie gesprochen wird. „In Gesprächen, im mündlichen Austausch von Erfahrungen, in Rückbezügen auf Ereignisse, die jeder auf seine Weise erlebt hat, bildet sich jener gemeinsame Bezugshorizont, den wir Vergangenheit nennen. Durch gemeinsamen Austausch bauen sich verschiedene Gruppengedächtnisse auf – das Gedächtnis der Familie ebenso wie das einer Schulklasse, der Kriegsjahrgänge, das Gedächtnis der Vertriebenen, der Exilanten“ (Keppler 2001, 142). Und im voranschreitenden Leben der Generationen werden fortwährend neue Vergangenheiten produziert, die an Stelle überholter Vergangenheiten rücken. Keppler beschreibt diesen Prozess mit den Worten „Erinnerungen und Vergessen greifen ineinander“. Gleichzeitig sorgt generationenübergreifende Kommunikation dafür, über die Zeit festgehaltene Erinnerungen entstehen zu lassen und sie zu konservieren, um das Selbstverständnis und ihrem Handeln Orientierung zu geben (vgl. ebd. 2001, S. 241). Wineburg verdeutlicht die Vielfältigkeit (historischen) Erinnerns und der Quellen im alltäglichen Erleben. Amerikanische Kinder seien unter keinen Umständen von Vergangenheit unbeeinflusst, denn nachdem sie eine Dekade lang Thanksgivings und Martin Luther King Days gefeiert hätten, sind sie zweifellos Experten für amerikanische Kultur und Geschichte (vgl. ebd. 2001, S. 185). Menschen begegnen jeden Tag einer Vielzahl von Quellen, aus denen etwas über Vergangenheit gelernt werden könnte. Jeder Mensch wächst in einem Zuhause auf, in dem erstens eine eigene Geschichte und zweitens eine eigene Perspektive auf historische Ereignisse und ihre Bedeutung bestehen. Das historische Bewusstsein wird über die Geschichte der Eltern geformt und über die Zugehörigkeit zu ethnischen, sozialen und religiösen Gruppen und deren Geschichte. „Wir gehören Kirchen an, Vereinen und Nachbarschaften, die sowohl unser kollektives als auch unser individuelles Geschichtsbewusstsein einfärben. Wir besuchen Museen und Stätten nationalen Gedenkens. Wir sitzen vorm Fernseher und absorbieren, meist unbewusst, eine unablässige Folge historischer Bilder“ (Wineburg 2001, S. 185). Jeder Mensch lebt innerhalb der historischen Entwicklung seiner Gesellschaft und ist als ein Teil dieser Historie zu betrachten. Das soziale Gedächtnis verfügt, so lässt sich festhalten, über eine Vielzahl an Kristallisationspunkten, an die sich Erinnerung heften kann, z.B. bestimmte Daten und Feste, Namen und Dokumente, Symbole, Monumente oder einfach Gegenstände des Alltags. Dem 184
Generationengedächtnis kommt in diesem Zusammenhang des sozialen Gedächtnisses und des Erinnerns eine besondere Bedeutung zu, da das Generationengedächtnis ein übergreifenderes Phänomen darstellt: „Eine Altersgruppe wird gemeinsam geprägt durch herausragende historische Ereignisse, durch Sprech- und Denkweisen, durch Vorbilder und Mitmenschen, durch Utopien und Traumata. Dies Gedächtnis lebt, solange die Angehörigen einer Generation leben, es ist unmittelbar mit seinen Trägern, den Zeitzeugen einer Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft, verbunden und reicht in der Regel nicht weiter zurück als etwa 80 Jahre“ (Keppler 2001, S. 142). Nach Halbwachs wird nicht nur ein bestimmtes Ereignis aus dem Familienleben erinnert, sondern gleichzeitig wird auch auf die Urteile zurückgegriffen und traditionellen Ideen, die in der Familie vorherrschend sind und den Familiengeist bestimmen. „Der Gedächtnisrahmen der Familie besteht mehr aus Vorstellungen, denn aus Gesichtern und Bildern; Vorstellungen von Personen und Vorstellungen von Tatsachen, die in diesem Sinne einzigartig und historisch sind, die im übrigen aber alle Kennzeichen eines Denkens besitzen, das einer ganzen Gruppe und selbst mehreren gemeinsam ist“ (Halbwachs 1985, S. 241). Bisher ist nicht vollkommen geklärt, wie sich das kollektive Gedächtnis bildet, erhält und verlängert bzw. wie die Einheit dieser drei Vorgänge des Bildens, Erhaltens und Verlängerns als sozialer Prozess zustande kommt. So untersucht Keppler vor allem die Prozeduren der Übermittlung, die ein Erinnern möglich machen und fragt, welche Mittel und soziale Praktiken die Mitglieder einer Gemeinschaft haben, um ihre Vorstellung von Vergangenheit zu vermitteln und zu bewahren. Sie zeigt, alle Mittel und Praktiken sind kommunikativ oder mit kommunikativen Praktiken verbunden (vgl. Keppler 2001, S. 145). Erst im kommunikativen Austausch erhalten die Fakten und Bilder ihre Relevanz und Prägekraft, damit werden Erinnerungen in Familie durch Gespräche am Leben erhalten, tradiert und geformt. Es existiert keine Ordnung, so die bedeutsame Erkenntnis, in der Familien ihre Geschichte begehen und keine chronologische Folge, sondern vielmehr eine Ordnung der Aktualisierung. Die gemeinsame Vergegenwärtigung widmet sich nachrangig der Vergangenheit, vielmehr steht ein Vorgang der Bestätigung der Einstellung zu wichtigen Angelegenheiten des Lebens, die sich in der Familie über die Zeiten hinweg durchgehalten hat, im Vordergrund. Eine Familie verfügt jedoch nie über ihre „gesamte“ oder „vollständige“ Vergangenheit, sie ist beschränkt auf das sichere Wissen über die Vergangenheit und Gegenwart, die sie in Form der Erzählbarkeit dialogischer Geschichten präsent hat (vgl. Keppler 2001, S. 156). Zwei Grundformen erinnernder Kommunikation werden bei Keppler unterschieden. Die eine Grundform bezieht sich auf die Vergangenheitsrekonstruktionen, die „en passant“ (vgl. ebd. 2001) erfolgen. Dazu gehören Rekonstruktionen unterschiedlicher Ausprägung, die z.B. bei Tischgesprächen stattfinden. „Dabei handelt es sich um Erinnerungssequenzen, die nicht eigens das Thema einer Unterhaltung sind, sondern einer anderen gesprächsförmigen Aktivität (zunächst) untergeordnet bleiben, also zum Beispiel im Verlauf einer Diskussion zu belehrenden oder illustrierenden Zwecken eingesetzt werden. Je nach Gesprächskontext können sie sich jedoch auch verselbständigen und zum Hauptthema werden“ (Keppler 2001, S. 146). Die andere Grundform familiärer Vergangenheitsrekonstruktionen findet im Rahmen familiärer Veranstaltungen statt, die als solche der Wiederbelebung einer länger zurückliegenden oder jüngeren Vergangenheit dient, z.B. bei Geburtstagen, Verwandtenbesuchen, Familienfeiern, Familientreffen oder bei Dia-Abenden. Während „Enpassant“-Rekonstruktionen eher die Aufgabe haben, ein Bewusstsein der gemeinsamen 185
oder gemeinsam als relevant erachteten Geschichte zu erwecken oder wachzuhalten, widmet sich die zweite Grundform eher in Form längerer Erinnerungssequenzen der deutenden und wertenden Ausgestaltung vergangener Gegenwarten. Die wiederkehrend von früher erzählenden Geschichten stellen eine für die Gemeinschaft ganz wesentliche identitätsstiftende Funktion dar. Familien schaffen sich einen Gesprächsrahmen, in dem das Dasein als Familie zum hauptsächlichen Thema ausgewählt wird (vgl. Keppler 2001, S. 147). Familien thematisieren Vergangenheit zu unterschiedlichsten Anlässen und dabei ist die gemeinsame Praxis des conversational remembering (Middleton/Edwards 1991) als etwas völlig Selbstverständliches zu betrachten, die keines Vorsatzes und keines festgelegten Ausgangs bedarf. Das Thema kann beliebig gewechselt oder abgebrochen werden. Jeweilige historische Ereignisse werden nicht vom Akteur selber ins Gespräch gebracht, sondern häufig eher von den Angehörigen der Nachfolgegeneration, die etwas nachfragen. Welzer bezeichnet die Aufforderung zum Erzählen als auf den ersten Blick paradox, da die Geschichten bereits ausgetauscht wurden und nicht zum ersten Mal thematisiert werden. „Damit ergeht eine auf den ersten Blick paradoxe Aufforderung an den historischen Akteur: Er möge doch erzählen, was seine Zuhörer schon kennen“ (Welzer 2001c, S. 162). Darüber hinaus müssen die Erinnerungen der nachfragenden Angehörigen nicht einmal richtig sein und gelten dennoch als Erzählaufforderung für den historischen Akteur. „Dass dessen Erinnerung an die Erinnerungen des Vaters zum Thema (…) falsch ist, stellt weder ein Erzählhindernis dar noch ist es untypisch für ‚jene Geschichten, die man als Kind von seinen Eltern oft erzählt bekommen hat und bei denen man, gerade, weil sie einem immer wieder von den Erwachsenen erzählt wurden, nie so ganz genau hingehört hat’ (Keppler 1994)“ (Welzer 2001c, S. 162). Beim „falschen Erinnern“ der Erinnerungen anderer handelt es sich nicht um ein Problem des unaufmerksamen Zuhörens, sondern vielmehr um das Phänomen eines jeden, aus dem Gehörten eigene Versionen der Geschichte (weiter) zu entwickeln, so Welzer. „Der Umstand, dass sich Kinder und Enkel ihren ganz eigenen Reim auf die Geschichten machen, die sie von ihren Eltern und Großeltern gehört haben, das sie diese nicht nur auf ihre Weise interpretieren, sondern oft völlig neu gestalten, ergänzen oder entstellen“ (Welzer 2001c, S. 162) ist von herausragender Bedeutung für die Entwicklung und Gestaltung z.B. generationenübergreifender Beziehungen innerhalb des Familienverbandes und für den Stellenwert, den ein älteres Mitglied in der Familie einnehmen könnte. Kommunikative Vergegenwärtigungen vergangener Erlebnisse in der Familie sind nicht nur als Aktualisierung und Weitergabe dieser einzuschätzen. Es ist die der Familie eigene gemeinsame Praxis, in der sie sich als Gruppe definieren, die über eine spezifische Geschichte verfügt. An ihr haben alle einzelnen Mitglieder teil und sie verändert sich auch nicht in der Wahrnehmung der an der Rekonstruktion beteiligten Familienmitglieder (vgl. Welzer 2001c, S. 163). Dabei können die einzelnen Familienmitglieder durchaus verschiedene Versionen der „Familiengeschichte“ im Gedächtnis haben; da sich das Familiengedächtnis eben in der gemeinsamen Praxis des conversational rememberings stetig aufs Neue realisiert, bildet sich ein Rahmen, in dem sichergestellt ist, alle Beteiligten glauben, sich an dasselbe auf dieselbe Weise zu erinnern. Nach Welzer stellt das Familiengedächtnis eine synthetisierende Funktionseinheit dar, die mittels der Fiktion eines gemeinsamen Erinnerungsinventars die Kohärenz und Identität der intimen Erinnerungsgemeinschaft „Familie“ sicherstellt (vgl. ebd. 2001c, S. 164).
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Die kommunizierten Geschichten sind keineswegs vollständig, konsistent und linear, im Gegenteil bestehen sie häufig eher aus Fragmenten und bieten in dieser Gestalt Anknüpfungspunkte für unterstützende, unterbrechende und korrigierende Kommentare und Ergänzungen. Es existiert keine Familiengeschichte am Stück, es gibt dieses große zusammenhängende Ganze nicht, so Kepplers Erkenntnisse und es kann auch nicht erwartet werden, wenn die Erkenntnis ernst genommen wird, dass das Gedächtnis einer familiären Gemeinschaft an gelegentliche Momente des jeweiligen Sich-Erinnerns gebunden wird (vgl. Keppler 1994 in: Welzer 2001c). Familiengedächtnisse basieren also zusammengefasst nicht auf der Einheitlichkeit des Inventars seiner Geschichten, sondern auf der Einheitlichkeit und Wiederholung der Praxis des Erinnerns sowie auf der Fiktion einer kanonisierten Familiengeschichte. „Ihre synthetisierende Funktion wird immer aufs Neue realisiert, allerdings nur so lange, wie es gut geht: denn bekanntlich funktionieren Familien keineswegs immer als Kommunikations- und Erinnerungsgemeinschaften und häufig zerbrechen sie ja auch, mit der Folge, dass die Vergegenwärtigung einer gemeinsam geteilten Vergangenheit unmöglich wird“ (Welzer 2001c, S. 164). Bedeutsam wird, die vorliegenden Erkenntnisse, die sich insbesondere auf Familien beziehen und im Rahmen von generationenübergreifenden Familienkonstellationen erhoben und ausgewertet wurden, ebenfalls für weitere intergenerationelle familienähnliche Konstellationen zu öffnen, die auf Zeit zusammenleben und gemeinsame Vergangenheiten bilden. Die Erkenntnisse zu Familiengedächtnissen können, weitere Untersuchungen müssten erfolgen, ebenfalls für inter- und intragenerativ bedeutsame Beziehungen und Freundschaften im Hinblick auf identitätsstiftende Zukunftsgestaltung nützlich sein und in diese Richtung bearbeitet werden. Bei intergenerationellen Gesprächen ist die Verknüpfung von individuell-siutativer Geschichte mit einem viel weiteren Hintergrund zu berücksichtigen und insofern gehen neben den unmittelbaren und einmaligen Bedingungen der empirischen Erzählsituation auch sehr allgemeine und übersituative Modelle von Wahrnehmung und Interpretation in sie ein. Es ist nicht nur ein konkreter älterer Mensch, der einem konkreten jüngeren Menschen etwas erzählt, sie sind jeweils auch Mitglieder generationell unterschiedlich definierter Kollektive, Mitglieder verschiedener Erinnerungsgemeinschaften, die miteinander sprechen. Für das gegenseitige Verstehen müssen mündlich weitergegebene Geschichten Raum für die aktive Aneignung durch den Zuhörer geben. Nach Welzer beinhalten die mündlich repräsentierten Geschichten Lücken und Leerräume, damit der Hörer sie mit Elementen aus seiner eigenen Vorstellungswelt und mit Fragmenten seines Wissens auffüllen kann. „Erst dann kann er sich die erzählte Geschichte zu eigen machen – wobei freilich die Geschichte von einer fremden zu einer eigenen wird, das heißt: zu einer neuen Geschichte“ (Welzer 2001c, S. 171). Diese Vergangenheitsbildungen verlaufen nach dem Prinzip der Montage. Dabei zeigt sich, die emotionale Dimension der Vermittlung und die bildhafte Vorstellung bekommt im Prozess der Tradierung von Vergangenheit einen dominanteren Anteil als kognitiv repräsentiertes Wissen. Dieses Wissen weicht zugunsten des Bemühens um einen Nachvollzug der erzählten Geschichten zurück. Und je weniger an Fakten vorhanden ist, desto mehr entsteht eine neue Dimensionierung der erzählten Geschichte, in dem die Leerstellen aufgefüllt werden. „Gerade Geschichten, in denen alles unklar ist – Zeit, Ort, Handelnde, Kausalzusammenhänge etc. –, öffnen einen weiten Raum für die je individuelle imaginative Reinszenierung der von den Eltern und Großeltern berichteten Erlebnisse und bieten zugleich die geschmeidigste Möglichkeit, die fiktive Einheitlichkeit des Familienge187
dächtnisses sicherzustellen. Wo nichts Konkretes gesagt wird, wo ‚leer’ gesprochen wird, ist das Potenzial für Einverständnis am größten. Oft scheint es denn auch eher die emotionale Dimension, die atmosphärische Tönung des Berichts zu sein, die tradiert wird, während die inhaltlichen Zusammenhänge – situative Umstände, Kausalitäten, Abläufe etc. – frei verändert werden, so wie es für die Zuhörer und Weitererzähler am meisten ‚Sinn macht’“ (Welzer 2001c. S. 178). Der Prozess kommunikativer Tradierung von Geschichte verläuft nach dem Prinzip der Montage, indem unterschiedlichste narrative und bildhafte Versatzstücke mit ganz verschiedenen historischen und subjektiven Zeitkernen aneinandermontiert werden können. Dieses beständige Ergänzen und Montieren kann als Prozess der Verlebendigung betrachtet werden. Gedächtnisse von Familien und anderen Erinnerungsgemeinschaften beschränken sich nicht auf ein begrenztes und fixiertes Inventar von Erinnerungsstücken, es wird kombiniert und ergänzt im Prozess einer permanenten Überschreibung im Rahmen des conversational rememberings (vgl. Welzer 2001c, S. 178). In jeder Gesellschaft werden Ereignisse, Sachverhalte, Wissensinhalte und Erfahrungen in intersubjektiv verbindlicher Weise unter verschiedenen Sinnkriterien thematisiert, vermittelt, bewältigt und tradiert. Die Frage nach aktiver und bewusster Vermittlung stellt sich dabei als zentrales Problem dar. Anhand der Forschungen zum Familiengedächtnis und intergenerationeller Vermittlung zeigt sich die gemeinsame Gestaltung bzw. Montage einer Vergangenheit, deren Anspruch auf Vollständigkeit, historische Richtigkeit, umfassende Information oder objektive Einschätzungen nicht eingelöst wird. Ältere Menschen als Träger kulturell benötigten Wissens haben einen Stellenwert als Mittler und gleichzeitig Konstrukteure in ihrem Prozess gemeinsam mit den nachfolgenden Generationen. Für intergenerationelle Zusammenhänge, die über die Bildung eines Familiengedächtnisses hinausgehen, liegen Chancen vor allem in der Diskussion, Förderung und Bildung gemeinsamer Werte, die übergenerational für alle gesellschaftlich tragfähig sind und einen Schwerpunkt auf Herstellung emotionaler Kontinuitäten gemeinsam mit allen gesellschaftlichen Mitgliedern legen, anstatt darauf zu setzen, historische Vergangenheit und Kultur möglichst objektiv weitertragen zu wollen. Bereits Halbwachs nahm an, soziale Kräfte würden sich oft in Richtung des Wunsches orientieren, der in jedem Fall das individuelle Sein um alle die Arten von Empfindsamkeit und Denkweisen anwachsen lässt, die von anderen Menschen übernommen werden und bereichernd sein könnten. Und in Betrachtung der Vergangenheit wären jene Zwangsgefühle der Gegenwart verschwunden und alles, was in der Berührung mit menschlichen Gruppen an Angenehmen enthalten war, würde zum Vorschein kommen. In diesen Augenblicken würde jeder die Größe seiner Schuld gegenüber den Menschen erkennen, die im Leben eine Rolle spielten und es bedauern, ihre Bedeutung nicht zu jenem Zeitpunkt erkannt zu haben, da es noch Zeit war. „So bietet uns in einem Sinne das von uns konstruierte Bild der Vergangenheit ein der Wirklichkeit besser entsprechendes Bild der Gesellschaft. In einem anderen Sinne aber ist es ungenau, nämlich insofern dieses Bild den ursprünglichen Eindruck wiedergeben sollte. Es ist zugleich unvollständig, da die unangenehmen Züge ausgelöscht oder gemildert sind und überbetont, da neue, von uns einst nicht bemerkte Züge, hinzugefügt wurden. Auf jeden Fall ist die Gesellschaft daran interessiert, uns so im Rückblick den in ihr enthaltenen Reichtum an Wohlwollen entdecken zu lassen, den sie verschlossen halten muss, solange sie ihre Autorität aufrecht zu erhalten nötig hat. Man versteht, dass sie uns einlädt, die Rauheit der Konkurrenz und die Strenge der Gesetze in 188
der Vergangenheit zu vergessen, wenn in der Gegenwart weder die Konkurrenten noch die Verpflichtungen mehr die gleichen sind“ (Halbwachs 1985, S. 160). Die Konstruktion der Vergangenheit in der Gegenwart ist in Bezug auf die Vergangenheit unvollständig. Dagegen erscheint die Konstruktion für die Entwicklung der Gegenwart in genau dieser Form der Montage von Bedeutung, damit alle „Erinnerungskonstrukteure“ gemeinsam zu gleichen Anteilen aus der Vergangenheit das lernen können, was sie gegenwärtig zulässt. Erinnerung handelt nicht von Wahrheit, sondern leistet vielmehr für Gegenwart und Zukunft die Vergewisserung der emotionalen Bedeutung dessen, was in der Vergangenheit gelebt wurde und in der Gegenwart über Rekonstruktionen zu einer lebenslangen Kontinuität führt. Die Festlegung der emotionalen Bedeutung von gesellschaftlich oder kulturell zurückliegenden Ereignissen kann jedoch zeitübergreifend nur mit Menschen unterschiedlichen Alters erfolgen, um möglichst viel gegenwärtig hervorzubringen und weiter mit in die Zukunft tragen zu können. 10.3 Im Alter werden „Zeitreisen“ in die eigene Vergangenheit zur Unternehmung Mit jedem Lebensjahr, das ein Mensch lebt, sammeln sich große Mengen an Erfahrungen über Ereignisse und Erlebnisse im Lebensverlauf, die über aktive Erinnerung oder nicht intendiert an die Oberfläche des Bewusstseins gelangen und erst einmal nur für den eigenen Gedankenzusammenhang verfügbar sind. Erinnerungen an vergangene Ereignisse fallen ohne eigenes Zutun an und es bleibt die Entscheidung eines Menschen, ob er sie anderen zur Rekonstruktion offenbart, ob er sie lieber bei sich behält und für den eigenen gegenwärtigen Lebenszusammenhang in Betracht zieht oder weiter verwendet. Die große Mehrheit der Menschen, so Halbwachs, ist in mehr oder weniger häufigen Zeitabschnitten für das empfindlich, was als „Heimweh nach der Vergangenheit“ bezeichnet werden könnte (vgl. ebd. 1985, S. 154). Menschen unternehmen entweder ungewollt oder ganz bewusst aufgrund dieses Heimwehs gedankliche (Zeit-)Reisen in das eigene vergangene Leben. Den eigenen Erinnerungen werden damit Bedeutungen im Lebensverlauf zugewiesen und mit den „Zeitreisen“ werden Erlebnisse über ihr einmaliges Erleben hinaus in das gegenwärtige Leben übernommen. Den Erinnerungen wird Raum zur Entfaltung gegeben und obwohl bisher nur bei der erinnernden Person gespeichert, können sie nicht noch einmal „von vorne“ neu und unbekannt erlebt und nachempfunden werden. Sie sind mit jedem Erinnern weiter davon entfernt, ihre „Unschuldigkeit“ wiederzubekommen, trotz ihrer Weiterentwicklung mit jedem Erinnern über neue Einsichten und Reflexionen. Ereignisse und Fakten können als Erinnerungen im Langzeitgedächtnis ein ganzes Leben lang bewahrt werden. Das episodische Gedächtnis enthält bewusst reflektierte und auf die eigene Person bezogene Informationen. Diese sind kontextgebunden, es sind also Informationen über Zeit und Ort der erinnerten Ereignisse verfügbar. Menschen verfügen mit ihrem expliziten Gedächtnis über das besondere Vermögen, „mentale Zeitreisen“ machen zu können, indem sie sich an episodische Informationen erinnern (vgl. Markowitsch 2001, S. 223). Eine weitere Besonderheit im Erinnerungskontext ist die Hervorhebung des einzelnen Menschen, der Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung bleibt, jedoch in Abhängigkeit der Rahmung, über die seine Erinnerung organisiert wird (vgl. Assmann 1992, S. 36). Und unter anderem deshalb ist wenig darüber bekannt, wie Menschen ihre eigene Person z.B. in 189
das aktuelle oder historische Geschehen kontextualisieren (vgl. Wineburg 2001, S. 183). Geschichte wird hochgradig selektiv erinnert, so die Einschätzung. „Es ist nicht einfach so, dass die Details historischer Ereignisse im Lauf der Zeit verblassen, sondern das, was von der Vergangenheit erinnert oder vergessen wird, wird permanent durch Gegenwartsereignisse und –deutungen überformt: das reicht von staatlicher Erinnerungspolitik über Filmund Romanhandlungen bis hin zu eher ungeformten sozialen Bedürfnissen, einige Elemente der Vergangenheit zu verwenden und andere in einer Art Latenzzustand ruhen zu lassen“ (Wineburg 2001, S. 202). Die äußerlichen Überformungen sind noch einigermaßen einschätzbar, da sie von außen an Einzelne oder Wir-Gruppen herangetragen werden. Offen bleiben die Überformung der individuellen Erinnerungen und deren Selektion für bewusstes oder unbewusstes Einschätzen als bedeutend für den eigenen Lebens- und Erinnerungskontext. Die ursprüngliche Konzeption des Familiengedächtnisses nach Halbwachs beinhaltet die Ausweitungsmöglichkeit auf das kollektive Gedächtnis einer Gesamtheit von Menschen und dennoch sind es die Individuen, die sich erinnern. Und in dieser Menge gemeinsamer, sich aufeinander stützender Erinnerungen sind es nicht dieselben Erinnerungen, die jedem je am deutlichsten und intensivsten erscheinen. Jedes individuelle Gedächtnis gilt als ein „Ausblickspunkt“ auf das kollektive Gedächtnis und dieser Ausblickspunkt wechselt je nach Position, die Individuen darin einnehmen (Welzer 2001c, S. 166). Jede soziale Gruppe hat ein kollektives Gedächtnis und die Erinnerungen der einzelnen Mitglieder sind mit einem kulturellen, sozialen und historischen Rahmen versehen und deshalb sind Erinnerungen zugleich individuell und kollektiv. „Die einzelnen Generationsangehörigen nahmen ihre Vorfahren und deren Geschichten mithin jeweils von einer anderen Zeitstelle aus wahr, was aber im Rahmen des Familiengedächtnisses so lange nicht zur Geltung kam, bis eine unabweisbare Evidenz zutage trat, die das sorgsam kultivierte fiktive Bild vom Vorfahren radikal in Frage stellte – und zwar für jeden Beteiligten auf eigene Weise“ (Welzer 2001c, S. 166). Im generationenübergreifenden Kontext rückt die Position der subjektiven Zeitstelle in den Mittelpunkt, die eine größere Bedeutung bekommen kann, wenn der Zeitkontext im Zusammenhang mit dem Geschehen relevant wird und nur einer der Beteiligten einen Zugang zu dem jeweiligen Zeitpunkt als aktiv Beteiligter am Zeitgeschehen hatte. Jeder Mensch, der über einen längeren Zeithorizont in die Vergangenheit verfügt, trifft Entscheidungen darüber, welche Erinnerungen für das kollektive Gedächtnis als identitätsstiftende Erinnerung zur Rekonstruktion und Montage für die Gruppe förderlich und welche hinderlich wäre. Der Beitrag aktiver und bewusster identitätsstiftender Erinnerungen obliegt also zum Teil in der Verantwortung älterer Mitglieder einer Gruppe bzw. ist eingebunden in den Ereignissen und Erlebnissen, welche ihr Leben in der Vergangenheit umfassten. Daneben sind es Rekonstruktionen und Montagen, die die Vergangenheitsbildung ausmachen, an der jedes Mitglied einer Gruppe beteiligt ist und deren identitätsstiftende Rolle ebenso Relevanz für deren Gegenwart und Zukunft aufweist. Darüber hinaus gibt es Erinnerungen, die ein Mensch bei sich behält und trägt, so dass sie einer Rekonstruktion weder aktiv noch passiv zur Verfügung stehen. Dennoch sind sie wegen ihres verborgenen Wirkens für die Familien- oder Gruppenidentität von Bedeutung. Die Erinnerungen, über die Menschen verfügen und die sie aus einem großen Pool an, wegen der Fülle des Materials, kaum rekonstruierbaren Erinnerungsmaterials schöpfen, werden mit dem Voranschreiten der Zeit und darin enthaltenen kontinuierlichen Ereignissen ebenso überformt. Die Fülle der in einem höheren Lebensalter gespeicherten Erinne190
rungen kann im Alter in Bezug auf das träumerische Gedächtnis (vgl. Halbwachs 1985) als wertvoller Beitrag zum Leben eingeschätzt werden. Jedem Menschen wird durch seine Erinnerungen die Möglichkeit eröffnet, sich außerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft zu stellen und sich mit einer „Zeitreise“ auf die Wege des vergangenen Lebens zu begeben, ohne auf Akteure aus den erinnerten Zeiten angewiesen zu sein und unabhängig von den Personen, die den Menschen gegenwärtig umgeben. „Wir werden die Natur dieser Umbildungsarbeit an der Vergangenheit bei der Träumerei vielleicht besser verstehen, wenn wir nicht vergessen, dass unsere Einbildungskraft selbst im Moment des Reproduzierens der Vergangenheit unter dem Einfluss des gegenwärtigen Sozialmilieus bleibt. In einem Sinne hilft uns das kontemplative bzw. träumerische Gedächtnis (memoire-reverie) aus der Gesellschaft herauszutreten; das ist einer der seltenen Augenblicke, wo wir uns vollständig isolieren können, da ja unsere Erinnerungen und zumal die ältesten, uns ganz allein gehören, weil diejenigen Menschen, die sie in uns genauso gut wie wir selber lesen könnten, entweder verschwunden oder verstreut sind“ (Halbwachs 1985, S. 156). Die Besonderheit in der Betrachtung liegt darin, über Rekonstruktionen und Montagen von Erinnerungen nicht mehr die Bedeutung oder einen Nutzen für das gegenwärtige Leben zu verfolgen. Im Falle der („Zeitreisen“-)Träume steht die Betonung des Gefühls der Erinnerung im Vordergrund. „(…) ist es im Fall der Träumerei nicht das Handeln, sondern das Gefühl, das die Erinnerungen heraufbeschwört“ (vgl. ebd. 1985). Erinnerungen im Alter haben nicht ausschließlich eine „Nutzenorientierung“ für die Gegenwart, sie sind vielmehr als ein großes Potenzial des eigenen emotionalen Lebens zu betrachten und geben jedem älteren Menschen die Möglichkeit, den eigenen individuellen Weg, unabhängig zeitlicher Abfolgen, wieder und wieder emotional und in der Bedeutung der Erfahrung für das Leben aktiv aufzusuchen. Ältere Menschen haben die Chance, dem Zugriff der Zeit zu entfliehen, in dem sie ihre selbst gewählten und bereits erlebten Zeiten aufsuchen, die bereits viele Jahrzehnte zurückliegen und auch gesellschaftlich nicht mehr aktuell sind. „Sicher, wir bestreiten nicht, dass für einen Menschen am Ende seines Lebens etwas Süßes damit verbunden ist, (…) in der Phantasie zurückerlangen zu können, was die Wirklichkeit nicht mehr geben kann: sich daran zu erinnern, was man war, an die Freuden und das Leid, die Menschen und Dinge, die ein Teil von uns selber waren“ (Halbwachs 1985, S. 151). Dabei gelingt es älteren Menschen eher und in besonderer Weise, mit den „Zeitreisen“ auch gegenwärtige Bedingungen abzuschütteln, da altersübergreifende Rekonstruktionen von Vergangenheit nicht den „Geist einer Zeit“ erfassen können. Die Schwierigkeiten liegen hier nicht so sehr bei dem, was man dafür wissen muss, als vielmehr bei dem, was nicht dazugehört und vergessen werden müsste. Für ältere Menschen gilt eine gewisse „Ungezwungenheit“ in Bezug auf die sie umgebende Gesellschaft. Mit der Freisetzung aus erwerbsarbeitsgesellschaftlichen Strukturen entsteht die Möglichkeit für einen älteren Menschen, die sich weiter ausdifferenzierende Vielfältigkeit und Komplexität gesellschaftlicher Strukturen über das Vermögen „Zeitreisen“ zu unternehmen, aus dem eigenen Leben auszusperren. Bereits Halbwachs sah darin einen großen Vorteil von Altersprozessen, nicht mehr dauerhaft im Handlungs- und Aktivitätszwang zu stehen. Zugleich liegt darin allerdings auch die Gefahr verborgen, ältere Menschen aus gesellschaftlichen Entwicklungen auszuschließen, ein Faktum, das sicherlich auch zur Defizitorientierung des Alters beitrug. „Die Gesellschaft scheint auf der Schwelle seines (des alten Menschen: Anmerkung C. M.) Innenlebens stehen zu bleiben“ (vgl. ebd. 1985, S. 158). Die Aktivität älterer Menschen besteht darin, auswählen zu können, wie und 191
in welcher Weise Teilhabe an gesellschaftlichen Ereignissen und Strukturen erfolgen könnte, während die Stärke der Betrachtung darin liegt, bereits im individuell gelebten Leben emotionale Lebensqualität über „Zeitreisen“ herzustellen. Die Vorteile, eigene Erinnerungswelten bzw. eigene Vergangenheiten aufzusuchen, liegen in der Freiheit, sie so oft wie der ältere Mensch will, auszuwählen und nach Belieben denjenigen Zeitabschnitt in der Vergangenheit „aufzusuchen“, in den sich jemand versetzen möchte. Es hängt von dem eigenen Bedürfnis ab, dort vorhandene und wichtige Personen einzubeziehen, also die passende Menschenkonstellation auszuwählen. In der gegenwärtigen Gesellschaft dagegen ist der individuelle Platz genau bestimmt und in ihm die Art der Eingebundenheit, der jemand unterliegt. Mit einer „Zeitreise“ verschafft das Gedächtnis die Illusion, mit Personen oder Gruppen zu leben, die nur so lange vorhanden sind, wie es die Vorstellung als positiv einschätzt. Wenn Erinnerungen unangenehm werden oder belastend sind, können die Erinnerungen gewechselt oder das Gegenwartsleben mit einem Realitätsgefühl reaktiviert werden. Die Vergangenheit hat dabei den weiteren Vorteil der Losgelöstheit von Bedingungen und Verhaltenserwartungen: „Das kommt daher, dass die Menschen, an die wir uns erinnern, nicht mehr existieren oder in unseren Augen, das sie sich mehr oder weniger von uns entfernt haben, eine tote Gesellschaft bilden, auf jeden Fall eine von derjenigen, in der wir leben, so sehr verschiedene, dass die meisten ihrer Imperative außer Kraft gesetzt sind. (…) Wir können uns an Orte und Zeiten erinnern, die von dem Ort und der Zeit, in der wir leben, verschieden sind, weil wir die einen wie die anderen in einen sie alle umschließenden Rahmen hineinstellen. (…) Zwischen den Menschen knüpfen sich Freundschafts- und Solidaritätsbeziehungen an und erhalten sich. Sie sind aber auch in ihrem Verhältnis zueinander Konkurrenten; daher rühren viele Leiden, Befürchtungen, Feindschaften, Hassgefühle. Nun hat aber die Konkurrenz der Gegenwart diejenige von einst ersetzt; wir wissen sehr wohl, dass beides nicht miteinander vereinbar ist“ (Halbwachs 1985, S. 158). Differenzen zwischen vergangenem und gegenwärtigem Leben entstehen vor allem auch, weil Menschen von heute für die unmittelbare und die weitere Zukunft von Bedeutung sind oder werden. Ausmaß und Entwicklungsrichtungen bleiben dabei ungewiss; jeder Mensch kann aufgrund von Begegnungen mit anderen Menschen sowohl Gutes als auch Schlechtes für sein eigenes Leben erfahren, es entwickelt sich im Verlauf. Erinnerungen bieten jedoch noch einiges mehr für die Lebensqualität der Menschen, es können gedanklich Befriedigungen, Illusionen und Verklärungen als eine Art Zuflucht illusioniert werden, die nichts zu gegenwärtigen Situationen beizutragen haben, sondern Abwechslung zum alltäglichen Leben bieten. Im Verlauf dieser Überlegungen stellt sich die Frage, in welchen Momenten Menschen eine besondere Vorliebe für die Vergangenheit empfinden und „Zeitreisen“ besonders notwendig werden. Halbwachs betrachtet die Welt des Alters als eine der Vergangenheit besonders zugewandte Lebensphase, in der nicht länger ein tägliches Mehr an Erinnerungen anfällt. Vielmehr erwächst eine Sensibilität für die individuelle Vergangenheit, die sehr weit zurückreicht und die ältere Menschen nun verstärkt nutzen können. „Obwohl es Abschnitte unseres Daseins gibt, die wir gern herausgeschnitten sähen, obwohl wir nicht sicher sind, ob wir unser gesamtes Leben als solches noch einmal von vorn beginnen möchten, ist doch eine große Anzahl von uns Menschen durch eine Art retrospektives Wunder davon überzeugt, dass die Welt heute farbloser und weniger interessant als ehemals und besonders in der Zeit unserer Kindheit und Jugend sei“ (Halbwachs 1985, S. 153). 192
Die Vergangenheit eines alten Menschen wird, so Halbwachs, in seiner Dimension der Erfahrung und damit erworbenen Kompetenz für das Leben unterschätzt. Für diese Argumentation bezieht er noch die Perspektive der Achtung vor alten Menschen aufgrund ihrer im langen Leben gemachten Erfahrungen und Erinnerungen ein und verknüpft damit die Bewertung des Alten als „Verwalter“ einer lebhaften Vergangenheit (vgl. ebd. 1985). Mit dieser Fähigkeit, über die eigene Vergangenheit zu verfügen, verbinden sich auch Bewertungen und Einschätzungen dessen, was früher erlebt wurde und in welcher Art und Weise Leben eingeschätzt und aktiv gestaltet werden konnte. Mit dem Vermögen der „Zeitreisen“ kann nicht nur auf einer emotionalen Ebene zurückgeblickt werden. Über den entfernteren Standpunkt und mit der Fülle der gegenwärtigen Erfahrungen können darüber hinaus Ereignisse oder Personen neu eingeschätzt werden und emotionale Neuverknüpfungen erfolgen. „Es ist darum nicht schlecht, dass er, wenn er vom Handeln ausruht und sich wie ein Wanderer zurückwendet, um den zurückgelegten Weg zu überblicken, dort all das entdeckt, was die Ermüdung, die Anstrengung, der aufgewirbelte Staub und die Mühe um rechtzeitige Ankunft ihn zu betrachten hinderte. Wird man sagen, dass eine solche Schau, von einem etwas entfernteren Standpunkt, der Realität mehr entspricht? Das mag sein. Wenn wir auf diese Art, nachträglich unsere Gefährten, unsere Freunde, unsere Eltern urteilen, sind wir vielleicht gerechter gegen sie. Die Gesellschaft zeigt uns vielleicht im gegenwärtigen Augenblick nur ihre am wenigsten anziehenden Seiten: erst auf die Dauer verändert sich unser Eindruck durch die Überlegung und die Erinnerung“ (Halbwachs 1985, S. 160). Der Mensch lebt in der gegenwärtigen Welt und es ist deutlich, die jeweils individuell eigene Vergangenheit existiert nicht mehr und ist uneinholbar für die Gegenwart vergangen. Das „Jetzt“ ist die Wirklichkeit und es ist für ein gutes Leben hilfreich, sich der „wirklichen“ gegenwärtigen Welt, in der ein älterer Mensch lebt, kontinuierlich offen zugewandt zu halten. Dennoch ist die Frage, inwieweit diese Anpassung bis in das hohe Alter gesellschaftlich überhaupt ermöglicht wird und ob nicht deshalb „mentale Zeitreisen“ für die Herstellung eines gesamten Lebenszusammenhangs, in der mehr Zeit in der Vergangenheit liegt als in der Zukunft, für eine qualitätsvolle Verbesserung des gegenwärtigen Lebens notwendig sein könnten. Darüber hinaus ist zu bedenken, in welcher Art und Weise die Bedeutung des Alters in der Gegenwart in Wertschätzung einer langen Vergangenheit auf eine besonders beschützenswerte und förderliche Position gehoben werden könnte. Menschen wenden sich der verschwundenen Zeit in Abständen zu und verweilen dort niemals lange, so Halbwachs. „(…) der Mensch, wenn er in der Gesellschaft wie eine Sprungfeder dauernd gespannt wäre, wenn sein Horizont sich auf seine Zeitgenossen beschränkte und zumal auf diejenigen von ihnen, die ihn umgeben, wenn er sich ständig ihren Gewohnheiten, ihrem Geschmack, ihren Meinungen und Interesses anbequemen müsste, sich wohl den gesellschaftlichen Gesetzen beugen könnte, sie aber als harte und ständige Notwendigkeit empfinden würde; er würde in der Gesellschaft ein Zwangsinstrument sehen und durch keinen edlen und spontanen Impuls zu ihr hingedrängt werden“ (Halbwachs 1985, S. 159). Halbwachs, dessen Erkenntnisse als zentraler Ausgangspunkt für die Erkenntnis der sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses gelten, trug in erheblichem Maße dazu bei, zu einem sehr frühen Zeitpunkt bereits die Entwicklung bis ins hohe Alter zu berücksichtigen. Die Bedingtheit des „gegenwärtigen Zeitgeistes“, dem er ausgesetzt war, zeigt sich in seiner Begründung für die Hinwendung älterer Menschen zu ihrer Vergangenheit: Ältere seien bezüglich ihrer Teilhabe an Gesellschaft eher auf Rückzug bedacht und nicht mehr an neuen Erfahrungen interessiert. Deshalb sei die Hinwendung in die Vergangenheit 193
über „Zeitreisen“ ihre Art, weiterhin gesellschaftliche Mitglieder zu bleiben. Die wechselseitige Bedingtheit des Menschen in temporärer Hinsicht liegt zum einen im Vermögen des episodischen Gedächtnisses, welches über Zeit und Raum hinweg Ereignisse abspeichern kann und zum anderen darin, ohne Vergangenheit über zu wenig Gestaltungsspielräume in der Gegenwart zu verfügen. Ohne Vergangenheit drängt es niemanden in die Zukunft, da die Möglichkeiten der Vergangenheit die Spannung für die Gegenwart und Zukunftsgerichtetheit über die emotional abgespeicherten Erfahrungen ausmachen.
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11 Die Bedeutung der Emotionen als Werturteile in der Erinnerungskonstruktion
Soziale Kontinuitäten im Leben von Menschen lassen sich nur herstellen, wenn das Gedächtnis mehr als nur zur Klärung unmittelbaren Handelns von Menschen eingeschätzt und genutzt wird. Vergangenheit und Gegenwart verfügen über den zeitlichen Aspekt hinaus über unterschiedliche Wertigkeiten gegenüber der Einschätzung und Reflexion von Erlebnissen und Erfahrungen im Leben. Aus der Gegenwart betrachtet, kann Vergangenheit rekonstruiert und mit jeder Rekonstruktion verändert werden, um in ihrer Einschätzung und Wertigkeit für den gegenwärtigen Lebenszusammenhang Kontinuitäten herzustellen, die es im Verlauf des Lebens im linearen Vorwärtsschreiten in der Zeit so nicht gab. Kontinuität wird bedeutungsvoll in der Rückschau, damit ein Mensch sich in seinem Lebensverlauf als ein und dieselbe Person wahrnehmen kann. Von Relevanz ist in dieser Rekonstruktionsrückerinnerung nicht mehr die Aneinanderreihung von Ereignissen in der richtigen Reihenfolge, vielmehr werden die Erinnerungen montiert und konstruiert im Sinne einer emotionalen Wertigkeit und Bedeutung für das Leben und den weiteren Lebensverlauf. Erinnernde Rückschau in die Vergangenheit schafft Vergewisserung über das eigene Leben in der Zeit, deren emotionale Einschätzungen insbesondere Entscheidungen im gegenwärtigen Leben beeinflussen und tragen werden. Über Rekonstruktionen erfahren Erinnerungen eine Bedeutungsaufwertung, die sie in der vergangenen Wirklichkeit als Ereignisse noch gar nicht besaßen. Vergangene Ereignisse werden durch ihr Erinnern in der Gegenwart auf eine neue Art bedeutungsvoll. Im Grunde ist es nicht möglich, Erinnerungen zu verlieren, sie kommen unbewusst oder können aktiv rekonstruiert werden. Je nach sozialer Wir-Gruppe, in der Erinnerungen aus unterschiedlichen Phasen oder Abschnitten erinnert werden, können auch längst verloren geglaubte Erfahrungen wieder aufgenommen und rekonstruiert sowie mit neuer Bedeutung versehen werden. Selbst längst vermeintlich Vergessenes kann für die Gegenwart wieder Anstoß zu neuen Aktivitäten oder Einstellungswechseln hervorrufen. Markowitsch schildert einen Fall, in dem ein Mann einen Unfall erlitten hatte und daraufhin in seiner Gedächtnisleistung so beeinträchtigt war, dass es ihm selbst nach vier Jahren nicht gelang, Ereignisse aus seiner Vergangenheit zu erinnern, während sein Welt- oder Allgemeinwissen noch erhalten war bzw. relativ schnell wieder aufgefrischt werden konnte. „Ihm gelang es, Informationen über sein früheres Leben neu zu erlernen. Dies bedeutete aber, dass er sie so rekapitulierte, als handele es sich um Informationen über einen ihm unbekannten Dritten. Die ‚Neutralität’ dieses Wissens über seine Person spiegelte sich auch in der Affektlosigkeit wider, mit der er es erzählte“ (Markowitsch 2001, S. 230). Dieses Beispiel verdeutlicht, Erinnerungen ohne emotionalen Bezug sind inhaltsleer und bleiben beziehungslos für diejenige Person, die sich z.B. an ein bestimmtes Erlebnis nicht mehr erinnern kann, selbst wenn es zu einer Rekonstruktion kommt. Ohne (emotionale) Bedeutung kann keine Beziehung zur Kontinuität des Lebensverlaufs und somit zu der eigenen Individualität hergestellt werden. Solche Erinnerung bleibt fremd und wird als nicht zugehörig zum eigenen Lebenskontext eingeschätzt. Ohne Zuweisung von Bedeutung bzw. Emotion bleibt eine Erinnerung jedoch nicht nur fremd, sondern sie ist auch nutzlos im 195
Hinblick auf das mit ihr verbundene Werturteil. Menschen haben jeden Tag Entscheidungen darüber zu treffen, wie sie leben wollen, was an Aktivitäten sie dafür einsetzen und mit welcher Motivation, Intensität und Bedeutung sie diese ausführen könnten. Emotionen bilden hierzu den Bezugspunkt, aufgrund derer Menschen etwas tun. Ohne eine emotionale Verbindung bleibt jedes Denken und Tun inhalts- und bedeutungsleer für einen Menschen. Nussbaum stellt die Bedeutung der Emotionen in den Vordergrund jedes Lebenszusammenhangs und betont ihren Werturteilscharakter, der menschliches Handeln fundiert und motiviert. Emotionen und ihre Positionierung als Werturteilseinschätzung des Intellekts (vgl. Nussbaum 1999) beeinflussen die Gestaltung des Lebens im Alter. Dies geschieht in Verbindung zu einem lebenslangen Kontext von Erfahrungen, die das soziale Gedächtnis eines Individuums gestalten und über Erinnerungen ebenfalls mit der emotionalen Bedeutung und einer weiteren Verwendung in der Gegenwart rekonstruiert werden. Mit der Hervorhebung der Emotionen im Erinnerungsbezug wird dem vergangenen Leben von Individuen seine bedeutende Rolle für den Alternskontext in der Gegenwart zugewiesen. In der Verbindung von gestern, heute und morgen sind die Informationen eines Menschen über die emotionale Bedeutung auch neuronal nicht als neutrale Wissenseinheit abgelegt, sondern als weitmaschiger Verbund angelegt, der ganze Informationsgebilde einschließt (vgl. Markowitsch 2001, S. 138). Darüber hinaus ist die Erkenntnis der lebenslang möglichen Bildung neuer Nervenzellen bei aktiver Lebensführung für die gesellschaftliche Konstruktion eines neuen Altersbildes nützlich. Die Verbindungen zwischen Nervenzellen und die Synapsen verändern sich mit Erfahrungen und es entstehen neue „Spuren“ im Gehirn. Langfristig können sich auch die „Landkarten“ verändern, die durch Erfahrungen neuronal gebildet werden. Das Gehirn, so ein Fazit, verändert sich durch Erfahrungen, die ein Mensch macht. Die Plastizität ist ein Leben lang verfügbar und je eher Faktoren wie z.B. körperliche Bewegung, Aktivitäten und soziale Kontakte im Leben eine Bedeutung bekommen, desto beweglicher bleibt auch die Lernfähigkeit des Gehirns. Freiwilligkeit und Spaß gelten als weitere Voraussetzungen für den Erhalt der Entwicklung der Gehirnaktivität. Weitere Forschungserkenntnisse heben die Auswirkungen sozialer Kontakte mit angeregten Diskussionen und sozialen Austausch für die Bildung neuer Nervenzellen und damit der Wandelbarkeit des Gehirns hervor (vgl. Spitzer 2003). Umweltinduzierte Plastizität und Adaptivität stehen für universelle Vorgänge, die auf sensorischer, motorischer und kognitiver Ebene gleichermaßen feststellbar und sowohl im heranreifenden, im erwachsenen wie alternden Individuum von Bedeutung sind. Sie liefern eine Erklärung für Individualität und Besonderheiten, wie sie sich gerade bei menschlichen Individuen in größter Vielfalt zeigen (vgl. Markowitsch/Welzer 2005, S. 112). Menschen können sich, so weiß man heute, bis in hohe Lebensalter verändern und über neue Erfahrungen und neues Wissen neue Kompetenzen entwickeln, die dazu beitragen, die „Landkarte ihrer Erfahrung“ zu verändern. Als unterstützende Komponenten erweisen sich Freiwilligkeit, Spaß, Bewegung und Aktivitäten sowie Anregungen über soziale Kontakte. All dies sind Elemente, die selbstverständlich im gesamten Lebensverlauf eines Menschen vorkommen und als Grundbedingungen für ein gutes Leben gelten sollten. Die gezielte Bereitstellung dieser Bausteine für die Erhöhung der Lebensqualität gilt als eine der Aufgaben der Zukunft, damit verbunden ist darüber hinaus jeweils die wechselseitige Beeinflussung individueller und gesellschaftlicher Perspektiven, ohne die ein qualitativ hochwertiges Leben im Alternsprozess nicht durchzusetzen sein wird. 196
Rückzugstendenzen, die Älteren mindestens seit 1925 (vgl. Halbwachs 1985) unterstellt und zugeschrieben werden und gegenwärtige empirische Nachweise darüber, Ältere würden mindestens 19 Stunden (vgl. Engstler u.a. 2004) täglich in der eigenen Häuslichkeit verbringen, zeigen die gesellschaftliche Starrheit in Bezug auf Altersbilder und die Perspektiven Älterer, aktiv in Gesellschaft eingebunden zu bleiben. Die Erkenntnisse der Hirnforschung gilt es deshalb noch einmal stärker in den Vordergrund zu rücken, um älter werdenden Menschen Perspektiven zur kontinuierlichen Teilhabe an gesellschaftlichen Entwicklungen zu ermöglichen. Selbstverständlich besteht mit zunehmendem Lebensalter die Gefahr, hilfe- und pflegebedürftig(er) zu werden und gravierende Alterseinschränkungen balancieren zu müssen. Dies kann sich zuspitzen und zu einer hohen Abhängigkeit älterer Menschen von anderen Menschen, z.B. Angehörigen oder Pflegekräften sowie der gesamten Gesellschaft führen, einer Gesellschaft, die bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit den Umgang professionell und formal geregelt hat. Mit entstehenden Unterstützungs- und Hilfsbedürftigkeiten verliert jedoch niemand die Bedeutung seines eigenen gelebten Lebens, dieses steht weiterhin in vollem Umfang zur Verfügung. Über die Möglichkeiten der Rekonstruktion eigener Erinnerungen und gemachten Erfahrungen wird jedes Wertschätzen von Lebensjahren und Erfahrungen zum wertvollen Gut für das gegenwärtige Leben. Und dieser Wert steigt noch angesichts der Gefahr, im vierten Lebensalter an einer Demenz zu erkranken und seine Erfahrungen und Erinnerungen zu verlieren. Das soziale Gedächtnis dient dabei als Pool, der nicht nur für den Einzelnen in Form von individuellen „Zeitreisen“ zu einem bedeutungsvollen Erlebnis gerät, vielmehr ermöglichen die Rekonstruktionen aktive Teilnahme an gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen. Ältere Menschen haben dabei nicht unbedingt die Aufgabe von weisen Alten, die die kulturell bedeutsamen Traditionen einer Gesellschaft weitergeben, sie verfügen vielmehr über die Kompetenzen, Leben über die vielfältigen Phasen mit ihren spezifischen Anforderungen zu überblicken und dies vor dem Hintergrund unterschiedlicher Bedingungen, die sie gesellschaftlich über ihre gesamte Lebensspanne in irgendeiner Art und Weise selbst belebt und mit gestaltet haben. Die Besonderheit des Alterns liegt in ständiger Weiterentwicklung von Perspektiven auf lebenslang erworbene und neu hinzukommende Erfahrungen, die über emotionale Einschätzungen wiederkehrend für einen gesamten Lebenszusammenhang von Bedeutung werden können. Ältere Menschen tragen mit der Konstruktion von Vergangenheit und dem sozialen Gedächtnis in einem erheblichen Maß dazu bei, das kulturelle Gedächtnis zu formen und zu gestalten. Trotz zunehmender Vielfältigkeit, Komplexität und Geschwindigkeit verfügen ältere Menschen nicht „nur“ über die Vergangenheit, vielmehr können sie zu aktiven Mitgestalterinnen und Mitgestaltern von Gegenwart und Zukunft werden.
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Teil IV: Aussichten auf ein „gutes Leben“ im Alter
12 Bedingungen für ein lebenslang „gutes und erfülltes Leben“ liegen in der Bereitstellung gesellschaftlicher Möglichkeiten zur Kompetenz – die Gesellschaft gestaltet optimale Bedingungen für Mitglieder jeden Lebensalters
Alternsprozesse sind veränderbar und es gibt mit dem demographischen Wandel eine quantitativ vorhersehbare gesellschaftliche Entwicklungsperspektive, mit der Chance, die Lebensphase Alter sowohl individuell als auch gesellschaftlich mehrperspektivisch differenziert in den Blick zu nehmen und zu verändern. Alles was an gedanklichen Konstrukten notwendig ist, um das traditionelle Bild von individuellem und gesellschaftlichem Altern zu verändern, erweist sich im Diskussionskontext als bereits vorhanden. Insgesamt belegen die vorliegenden Ergebnisse die Existenz einer Vielzahl an Einschätzungen und Reflexionen, die mit dem Fokus auf Alternsprozesse in gesellschaftlichen und individuellen Zeitzusammenhängen die Herausforderung des Lebens im Alter positiv zu gestalten. „Was immer wir tun, tun wir als Wesen, von denen jedes ‚Eines’ ist und von anderen getrennt seinen eigenen Weg durch Raum und Zeit geht“ (Nussbaum 1999, S. 58). Jedes Individuum versucht seinen eigenen Weg durch das raumzeitliche Bedingungsgefüge zu gestalten, das ihm zur Verfügung steht. Diese Wege werden entlang emotionaler Bedeutungszuweisungen angelegt und erweitert, die über Erfahrungen und Erinnerungen gebildet werden. Und dennoch ist auch jeder einzelne ältere Mensch Teil einer Gruppe, die insbesondere mit der demographischen Entwicklung zunehmend größer wird, welche ganz und gar nicht als eine Vielzahl an Einzelfällen eingeschätzt werden sollte. Altern ist bisher viel zu singularisiert in Zeit und Raum gelebt und gestaltet worden, nicht zuletzt wegen der im historischen Verlauf eher geringen Anteile Älterer. Im Hinblick auf die individuelle Situation leben älter werdende Menschen, je älter sie werden, bisher selbstverständlich mit einer allmählich verschwindenden sozialen Altersgruppe und fallen deswegen gesellschaftlich noch weniger in den Blick. Die Herausforderung besteht, Alter und Alternsprozesse individuell und gesellschaftlich über neue Verankerungen in Zeit und Raum zu gestalten. In diesem Zusammenhang werden mit dem Schwerpunkt zeitlicher Dimensionen die in ihr liegenden Chancen geöffnet. Reflexionen über die Struktur und Organisation von Zeit brachten Ergebnisse hervor, die Chancen und Gefahren der Lebensphase Alter bezogen auf wesentliche Dimensionen so durchdrangen, dass Veränderungen zugunsten eines guten und erfüllten Lebens im Alternsprozess in beachtlicher Zahl vorhanden sind. „Die praktische Vernunft hat eine einzigartige architektonische Funktion. Sie durchdringt alle Tätigkeiten und Pläne im Hinblick auf deren Realisierung in einem guten und erfüllten menschlichen Leben“ (Nussbaum 1999, S. 60). Nicht nur die Vernunft trägt dazu bei, die Lebensphase Alter zu überdenken und zu analysieren, um neue Erkenntnisse hervorbringen zu können. Darüber hinaus ist das erhebliche Anwachsen der Gruppe der Älteren zu berücksichtigen. Mit ihren zunehmenden Anteilen wird die Herstellung der Lebensqualität für die Lebensphase „Alter“ Gradmesser für die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt. Denn „alles, was wir tun, tun wir als soziale Wesen; und unsere eigene Lebensplanung ist eine Planung 200
mit anderen und für andere“ (Nussbaum 1999, S. 60). Für sowohl die individuelle Berücksichtigung als auch die gesellschaftliche Dimension wird eine Vorstellung benötigt, die insgesamt tragfähig und lebenswert für eine Gesamtheit an Gesellschaft ist. Auf der Basis ihres Denkens und Planens wird eine gesellschaftliche Übereinstimmung und Vorstellung benötigt, wie ein gutes und erfülltes menschliches Leben aussehen könnte und welche Dimensionen des Reflektierens und Veränderns hier relevant werden. Nussbaum hat in ihren Überlegungen auf genau die gesellschaftliche Dimension der Bildung einer Leitvorstellung und damit verbunden eine Veränderung in Richtung von mehr Lebensqualität aller Menschen in allen Gesellschaften gesetzt. „Denn erst wenn wir eine, sei es noch so vage und allgemeine Vorstellung davon haben, welches die wichtigen Tätigkeiten im menschlichen Leben sind und welche Unterstützung sie zu ihrer Entfaltung benötigen, können wir immerhin ansatzweise angeben, welche Rolle die verschiedenen Arten der von anderen Menschen geleisteten Fürsorge in einer Gesellschaft wie der unseren – mit unseren Ressourcen und mit unserer Geschichte – vielleicht verwirklicht wird. Erst dann ist es auch möglich, immerhin ansatzweise die Frage zu stellen, welche materielle Unterstützung für die erwünschte und gutgeheißene Form der Fürsorge nötig ist, und die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um denen, die zur Fürsorge wirklich imstande sind, diese Art der Unterstützung verfügbar zu machen“ (Nussbaum 2002b, S. 210). Die Besonderheit dieser Perspektive liegt darin, von der Hervorhebung der Bedeutung des Menschen in der Gesellschaft ausgehend, Entscheidungen darüber zu treffen, welches zentrale Elemente im menschlichen Leben sein könnten. Bevor nicht Entscheidungen darüber erfolgen, ist es Nussbaums Ansicht nach nicht möglich, etwas über das Ausmaß und die Intensität gesellschaftlicher Fürsorge zu bestimmen, da der Wert dieser Leistungsart nicht deutlich und auch nicht anerkannt würde. Nussbaum formuliert ihre Forderungen nach einer „Konzeption des guten menschlichen Lebens“ im Rückgriff und auf der Basis aristotelischen Denkens. Entsprechend ihrer Überlegungen geht es darum, die Konzeption auszuformulieren und über den FähigkeitenAnsatz zu konkretisieren, um zu einer globalen Betrachtungs- und Einschätzungsweise zu kommen, wie ein „gutes Leben“ für jedes Individuum in der „Weltgesellschaft“ hergestellt und gesichert werden könnte. In der „Konzeption des guten menschlichen Lebens“ geht es sowohl um die gute Verfassung des Körpers als auch um das gute soziale Miteinander. Weiter trifft Nussbaum im aristotelischen Denken auf eine Konzeption der politischen Herrschaft, der zufolge Ausbildung und Erhaltung der Bedingungen des „guten Lebens“ umfassend zu unterstützen sind und eine Unterstützung, die Freiheit und Gleichstellung aller BürgerInnen gewährleisten muss. Als drittes Element setzt sie auf eine institutionelle Grundstruktur, die am Privateigentum festhält und zugleich zwei Einschränkungen vornimmt. „Die eine ist das Gemeineigentum, die andere ein neues Verständnis von Privateigentum als etwas Vorläufigem, das beim Geltendmachen von Bedürftigkeit zurückzutreten hat. Es ist schwierig, sich diese Regelungen in den konkreten Details vorzustellen. Aber soweit ist klar, was gemeint ist“ (Nussbaum 1999, S. 27). Nussbaums Ansatz gilt der Herstellung von Gerechtigkeit, nicht nur bezogen auf einzelne Gesellschaften, sondern als globales Anliegen für eine Weltgesellschaft. Hierin liegt insbesondere die Herausforderung, ein Fernziel, in dem Freiheit und Gleichstellung aller Bürgerinnen und Bürger über die Konzeption der politischen Herrschaft erreicht werden. Zugleich stellt diese Idee in Gesellschaften die Art der Ausbildung, institutionelle Strukturen sowie das Verhältnis zwischen
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Gemeineigentum und Privateigentum in Frage, die als zentrale Elemente zugunsten der Herstellung von Bedingungen eines „guten Lebens“ gelten. Aufgaben des Staates können nur wahrgenommen und angemessen ausgefüllt werden, wenn sie auf einer Theorie des menschlich Guten und der guten Lebensführung basieren, so Nussbaum. „Die aristotelische Konzeption besagt, dass die Aufgabe des Staates sowohl auf Breite als auch auf Tiefe angelegt ist. Auf Breite insofern, als sie das gute Leben nicht nur einer kleinen Elite, sondern aller Mitglieder der Gesellschaft im Auge hat. Sie hat das Ziel, die Lebensumstände eines jeden Mitglieds über eine bestimmte Schwelle hinaus auf eine Stufe zu heben, auf der es ihm möglich ist, ein gutes Leben zu wählen und zu führen. Auf Tiefe insofern, als sie es nicht nur mit Geld, Grund und Boden, Chancen und Ämtern zu tun hat, also mit den Gütern, die traditionell vom Staat verteilt werden, sondern mit der Totalität der Fähigkeiten und Tätigkeiten, die das gute menschliche Leben ausmachen“ (Nussbaum 1999, S. 33). Dafür wird jedoch eine umfassende Theorie benötigt sowie Übereinstimmung darüber, was des menschlich Guten ist und was für eine gute Lebensführung notwendig ist. Die Konzeption zielt nicht darauf ab, Menschen dazu zu bringen, auf eine ganz bestimmte Weise für den Staat zu funktionieren. Menschen sollen zu bestimmten Tätigkeiten befähigt werden, die sowohl ausgebildet werden als auch die Bereitstellung von Ressourcen zu ihrer Ausübung, sofern es dem Wunsch des Menschen entspräche, diese zu tun. „Die Entscheidung ist ihnen überlassen. Und eine der Fähigkeiten, die die aristotelische Regierung am meisten fördert, ist die Entscheidungsfähigkeit: die Fähigkeit, sich dafür zu entscheiden, alle diese Tätigkeiten in Übereinstimmung mit der eigenen praktischen Vernunft auszuüben“ (Nussbaum 1999, S. 41). Der Ansatz Nussbaums hat die Besonderheit, möglichst Bedingungen zu formulieren, die Anspruch auf die Herstellung von Fähigkeiten haben, über die alle Menschen, unabhängig von Sprache, Land, Kultur und Gesellschaftsform verfügen. Gleichzeitig müssten diese Bedingungen allen Menschen aktive Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen und dazu führen, diese für selbstverständlich zu halten. Die Berücksichtigung der Unterschiedlichkeit der Lebensalter nimmt Nussbaum nicht in den Blick, was für die Förderung der Entscheidungsfähigkeit aller Menschen im Hinblick auf erwünschte Tätigkeiten vorerst auch nicht relevant scheint. In der „Konzeption eines guten Lebens“ sieht Nussbaum gesellschaftlich die Basis freier und gleichgestellter Bürgerinnen und Bürger. Ihnen werden die notwendigen Bedingungen für die Ausübung von Entscheidungsfreiheit und für die Betätigung der praktischen Vernunft zur Verfügung gestellt. Als Grundbedingungen für die Anwendung praktischer Vernunft sieht Nussbaum die Vermittlung von Erziehung, die Mitwirkung am politischen Leben sowie den Ausschluss entwürdigender Arbeitsbedingungen. „Und diese (BürgerInnen: Anmerkung C. M.) würden nur dann als Gleichgestellte behandelt, wenn das Leben eines jeden mit Phantasie betrachtet wird und wenn als Folge dessen jeder das erhält, was er oder sie braucht, um fähig zu sein, ein reiches und im vollen Sinne menschliches Leben zu führen, soweit es die natürlichen Möglichkeiten zulassen“ (Nussbaum 1999, S. 45). Nussbaums Orientierung an der Gestaltung eines guten Lebens liegt nicht neben oder jenseits einer erwerbsarbeitszentrierten Gesellschaft, sondern mitten in ihr. Sie stellt keinen direkten Bezug her, dennoch wird der Ausschluss entwürdigender Arbeitsbedingungen als Verhinderungsgrund praktischer Vernunft und somit der Ausübung von Entscheidungsfreiheit hervorgehoben. Erziehung, Mitwirkung am politischen Leben und gute Arbeitsbedingungen sind also Elemente, die als Ausgangsbedingungen für freie und gleichgestellte Bürgerinnen
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und Bürger zu gelten haben, damit jeder Mensch das erhalten kann, was benötigt wird, um ein gutes Leben im „vollen Sinne menschlichen Lebens“ führen zu können. Mit Bezug auf die Lebensphase Alter bedeutet dies, insbesondere die Wertigkeit jedes Menschen in der Gesellschaft zu betonen und darauf zu setzen, Fähigkeiten auszubilden, die unabhängig von Erwerbsarbeit brauchbar für eine aktive Lebensgestaltung zu jeder Zeit sind. Die „Konzeption des Guten“ erweist sich als stark, jedoch vage und zwar nicht zuletzt aufgrund der Vielzahl an Spezifikationen, die auf verschiedene Weise zuzulassen sind. Es werden zwar alle für das menschliche Leben konstitutiven Umstände von Menschen geteilt, dennoch erfahren sie in den verschiedenen Gesellschaftsformen unterschiedliche Ausprägungen. Angst vor dem Tod oder Freude am Spiel, freundschaftliche Beziehungen oder Verbundenheiten mit anderen Menschen sowie die Erfahrung von körperlichen Bedürfnissen sind nicht in einer vagen und allgemeinen Form vorhanden und gefestigt, sondern sie sind unter spezifischen und historisch gewachsenen kulturellen Bedingungen entstanden. Sie prägen über die in diesen Bereichen geläufigen Vorstellungen auch das Erleben und die Entscheidungen der Menschen zutiefst (vgl. Nussbaum 1999, S. 73). So wird bei den Aristotelikern auf die Ausbildung und Pflege bestimmter geistiger Fähigkeiten Wert gelegt und diese allgemeinen Fähigkeiten werden durch viele verschiedene konkrete Ausbildungsgänge auf vielfältige Weise entwickelt. Den Lernenden wird eine gewisse Flexibilität zugestanden, entsprechend der Fähigkeiten und Bedürfnissen der Lernenden. In Bezug auf Marx kennzeichnet Nussbaum den Menschen aufgrund seiner bestimmten Grundfähigkeiten einerseits und durch seine erstaunliche Bedürftigkeit andererseits, die sie als „Reichheit menschlicher Bedürfnisse“ bezeichnet. „Die Wesenskräfte des Menschen existieren als Bedürfnisse, die nach Erfüllung streben und für ihre wirklich menschliche Entwicklung einer starken und vielfältigen Unterstützung durch die Menschen und die Natur bedürfen. Das Gute für dieses menschliche Wesen kann immer nur durch ein System komplexer Abhängigkeitsbeziehungen zwischen dem handelnden Subjekt und instabilen Elementen wie Freunden, Angehörigen, Nahrung, Wasser und einer Gemeinschaft von Mitbürgern erreicht werden“ (Nussbaum 1999, S. 85). Menschliches Handeln vollzieht sich in einer vielschichtigen Interdependenz und die Aufgaben des Staates, der als eine Gemeinschaft von Gleichen zur Herstellung des möglichst „besten Lebens“ für jeden einzelnen Menschen wirkt, zielt mit seinen komplexen Maßnahmen darauf ab, die Bürgerinnen und Bürger z.B. beim Essen, Fortbewegen, Lieben und Entscheiden so zu unterstützen, dass sie ihre Grundfähigkeiten in voll entwickelte menschliche Fähigkeiten verwandeln und somit die für sie bedeutenden Tätigkeiten ausüben können (Nussbaum 1999, S. 85). Tätigkeiten, die für die Erfüllung der Reichheit ihrer Bedürfnisse von den Bürgerinnen und Bürgern selbst entdeckt werden, können aufgrund ihrer Freiheit, ihrer Möglichkeit und Förderung der Grundfähigkeiten in menschliche Fähigkeiten ausgebildet werden. Nussbaum und Sen (1990) haben einen „Ansatz der Fähigkeiten“ (approach of capabilities) entworfen, der sich wiederum auf aristotelische Ideen bezieht. Der Staat ist beauftragt, eine komplexe affirmative Funktion zu erfüllen, in der alle BürgerInnen mit allem zu versorgen sind, was als Notwendigkeit eingeschätzt wird, um ein Leben in menschlicher Würde führen zu können. Ihre Argumentationen beziehen sich auf den politischen Kontext des Weltinstituts für Entwicklungsforschung. Sie grenzen sich ab von der Tendenz des Neoliberalismus, der einen „schlanken“ Staat begünstigt und Freiheit mit ausgereifter Vertragsfreiheit verwechselt sowie gegen den Ableger des Utilitarismus, der die nationale Lebensqualität in Beziehung auf das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt misst. „Anders als die 203
Neoliberalen bestehen Anwender des ‚Ansatzes der Fähigkeiten’ darauf, dass die bedeutendsten Ausprägungen menschlicher Freiheit materielle Vorbedingungen besitzen und dass es dem Staat zufällt, deren Vorsorge zu treffen. Und anders als die ökonomischen Utilitaristen insistiert der ‚Zugang der Fähigkeiten’ darauf, dass jegliche Person zu den Bedingungen eines menschenwürdigen Lebens berechtigt ist und dass ruhmreiche Produktsummen oder auch Mittelwerte eine große Armut am unteren Rand der Gesellschaft nicht ausgleichen“ (Nussbaum 2002a, S. 3). Der Ansatz der Fähigkeiten geht von einer umfassenden Vielfalt menschlicher Funktionen aus, auf die sich der Staat zu konzentrieren hat, indem er die Kompetenz für diese Funktionen allen zugänglich macht. Damit stellt sich die Frage danach, wieviel jeder Person tatsächlich an Zeit und Raum vor dem weiten vielfältigen Spektrum eines Lebens in unterschiedlichen Lebensphasen mit wechselnden Bedürfnissen gegeben werden kann. Ökonomische Sichtweisen hingegen verfolgen das Ziel, die Entwicklung eines Landes am Total oder Mittelwert der Entwicklung des Wohlstandes zu messen und diesen zu maximieren. „Lebensqualität“ eines Landes wird ökonomisch typischerweise durch sein Pro Kopf-Bruttosozialprodukt gemessen, wodurch die erheblichen Ungleichheiten im Mittelwert nicht sichtbar werden. Darüber hinaus wird auch nicht deutlich, in welchem Maße charakteristische Ziele einer sozialen Gesellschaft wie z.B. Gesundheitsvorsorge, Erziehung und politische Teilnahme verfolgt und durchgesetzt werden (vgl. Nussbaum 2002a, S. 1). Nussbaum/Sen haben sich für ihren „Ansatz der Fähigkeiten“ (approach of capabilities) vom Humanismus-Denken bei Marx beeinflussen lassen. Dieser setzte sich seinerseits intensiv mit Aristoteles auseinander und entlehnte ihm den Gedanken, menschliches Funktionieren benötige zu seiner Verwirklichung materielle Bedingungen, deren Fehlen Menschen dazu zwänge, auf einer bis zur bloßen tierischen zurückreichenden Ebene der Existenz zu leben. Nussbaum bezieht sich auf Green, der in der zweiten Hälfte des 19. Jhds. ebenfalls auf Aristoteles verwies, um zu angemesseneren politischen Konzeptionen für gesellschaftliche Entwicklungen zu kommen. Green bezog sich erstens auf die materiellen Grundlagen der Freiheit, zweitens die Bedeutung von jeder und jeglicher Person und drittens darauf, nicht nur auf ein Ziel beschränkt zu sein, sondern viele Ziele als politische Gestaltung von Lebensqualität zu verfolgen. „Materielle Grundlagen der Freiheit“ bedeutet, in Verantwortung des Staates die Voraussetzungen materieller Vorbedingungen zu schaffen, die es allen BürgerInnen ermöglicht, ein vollgültiges menschliches Leben zu führen. „‘Freiheit’ bedeutet einen nichtssagenden Begriff, einfach einen leeren Raum, es sei denn, sie meint tatsächliche, materielle Freiheit (ability), oder was Sen und ich Kompetenz (capability) nennen, um ein weites Spektrum von menschlichen Funktionen zu verfolgen“ (Nussbaum 2002a, S. 2). Die genannten Ziele beziehen sich auf jede einzelne Person in einem staatlichen Zusammenhang und nicht bloß auf eine Produktsumme oder den Mittelwert einer Wohlstandsberechnung. In Bezug auf den dritten Punkt gilt die Annahme, ein „blühendes menschliches“ Leben enthalte viele verschiedene Teile, die nicht miteinander vergleichbar oder abwägbar sind. „Die Aufgabe eines aristotelisch aufgefassten Politikers besteht darin, eine Gruppe von menschlichen Tätigkeiten zu identifizieren, die für ein florierendes menschliches Leben absolut zentral sind, und dann sicher zu stellen, dass die Kompetenz für dieses Zentrum allen Bürgern zugänglich ist“ (Nussbaum 2002a, S. 2). Der Ansatz der Fähigkeiten basiert auf der Annahme, eine Kompetenz (capability) bedeute eine Bedingung, zu etwas fähig zu sein. Nach Nussbaum gibt es bestimmte Funktio204
nen, die im menschlichen Leben zentral und gegenwärtig absolut notwendig sind, wenn der Mensch ein menschenwürdiges Leben führen soll. Eine weitere Annahme ist diejenige, auf die sich Marx bei Aristoteles bezog: Es gibt etwas, das die Ausführung dieser Funktion menschlich macht und vom tierischen Vermögen abhebt. Am Beispiel eines verhungernden Menschen veranschaulicht sich dies: Ein verhungernder Mensch gebraucht Nahrung in einer nicht völlig menschlichen Form, es geht nur noch ums Überleben, die vielen sozialen und mit Vernunft verknüpften Kennzeichen menschlicher Nahrung können nicht auftreten. Menschliche Sinne können im Falle ihrer Nicht-Entfaltung hingegen wiederum nur auf einem unvermittelten tierischen Niveau arbeiten, wenn sie nicht durch eine angemessene Ausbildung kultiviert wurden, z.B. durch das Vergnügen zum Spiel und zur Selbstdarstellung oder durch wertvolle Beziehungen mit anderen. „Die Kernidee des menschlichen Wesens scheint die eines würdevollen freien Wesens zu sein, das imstande ist, sein oder ihr eigenes Leben zu umreißen, mehr als dasjenige Wesen, dem es passiv vorgegeben wird und das in der Welt in der Art einer ‚Schar’ oder ‚Herde’ herumgestoßen wird“ (Nussbaum 2002a, S. 3). Der Ansatz der Fähigkeiten macht jede Person zu einem separaten Träger von Wert und über die Ausbildung von Kompetenzen wird die Basis für jeden Einzelnen geschaffen, in eigener Verantwortung ein freier und gestaltender Mensch über die Länge seines Lebens werden und sein zu können. Auf der Basis ihres Denkens erstellte Nussbaum eine Liste, die den Anspruch erhebt, als Grundlage für die fundamentalen konstitutionellen Berechtigungen zu dienen, welche jede Nation im Sinne einer bestimmten Schwelle für jeden Menschen schützen sollte. Die nachfolgend zitierte Liste über die zentralen menschlichen funktionalen Kompetenzen stellt einen breiten Konsens über kulturelle Grenzen hinweg dar und wurde ursprünglich ganz konkret als Vergleichsmaßstab für die Lebensqualität entwickelt bzw. zur Beantwortung der Frage, was „vollendetes gutes Leben“ für ein menschliches Wesen zwischen den Nationen und innerhalb von nationalen Regionen oder Gruppen bedeutet. Nach der Entwicklung der Grundfähigkeiten des Menschen differenzierte Nussbaum diese 2002 weiter aus und wies sie als zentrale menschliche funktionale Kompetenzen aus. Der bedeutende Unterschied zwischen den Grundfähigkeiten von 1999 und den zentralen menschlichen Kompetenzen von 2002 liegt neben der Bezeichnung in der damit verbundenen erweiterten Bedeutung der Grundfähigkeiten, die auch die Möglichkeiten zur Verwirklichung erhalten sollten. Darin liegt die Relevanz der Weiterentwicklung der Grundfähigkeiten zu zentralen menschlichen funktionalen Kompetenzen, die individuell und gesellschaftlich viel mehr als Aufgabe der Ausbildung und Entwicklung eingeschätzt und deren Möglichkeit zur Verwirklichung vorgehalten werden sollte.
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Tabelle 6: Grundfähigkeiten des Menschen und zentrale menschliche funktionale Kompetenzen nach Nussbaum 1. Leben
2. Körperliche Gesundheit
3. Körperliche Unversehrtheit
Die Grundfähigkeiten des Menschen (1999) Die Fähigkeit, ein volles Menschenleben bis zum Ende zu führen; nicht vorzeitig zu sterben oder zu sterben, bevor das Leben so reduziert ist, dass es nicht mehr lebenswert ist. Die Fähigkeit, sich guter Gesundheit zu erfreuen; sich angemessen zu ernähren; eine angemessene Unterkunft zu haben; Möglichkeiten zu sexueller Befriedigung zu haben; sich von einem Ort zu einem anderen zu bewegen Die Fähigkeit, unnötigen Schmerz zu vermeiden und freudvolle Erlebnisse zu haben.
4. Sinne, Vorstellung und Gedanke
Die Fähigkeit, die fünf Sinne zu benutzen, sich etwas vorzustellen, zu denken und zu urteilen.
5. Gefühle
Die Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unser selbst zu haben; diejenigen zu lieben, die uns lieben und für uns sorgen und über ihre Abwesenheit traurig zu sein; allgemein gesagt: zu lieben, zu trauern, Sehnsucht und Dankbarkeit zu empfinden.
6. Praktische Vernunft
Die Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen + kritisch über die eigene Lebensplanung nachzudenken.
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Die zentralen menschlichen funktionalen Kompetenzen (2002a) Die Möglichkeit besitzen, bis zum Ende eines menschlichen Lebens von normaler Dauer zu leben und nicht vorzeitig sterben oder vor jenem Zeitpunkt, in dem das eigene Leben so reduziert ist, dass zu leben nicht mehr wertvoll erscheint. Die Möglichkeit zu einer guten Gesundheit besitzen, einschließlich Fortpflanzungsgesundheit; angemessen ernährt werden und eine angemessene Unterkunft besitzen.
Die Möglichkeit, sich frei von Ort zu Ort zu bewegen; vor gewaltsamen Angriffen sicher sein, einschließlich Vergewaltigung und Gewalttätigkeit in der Familie; die Gelegenheit zur sexuellen Befriedigung besitzen und eine Auswahl hinsichtlich der Fortpflanzung treffen zu können. Die Kompetenz haben, empfinden, sich vorzustellen, denken und ergründen zu können – und diese Dinge in einer ‚wirklich menschlichen’ Weise ausführen. Sie wird durch eine angemessene Erziehung gebildet und kultiviert und ist keineswegs auf die Schreib- und Lesefähigkeit auf fundamentale mathematische und wissenschaftliche Übung eingeschränkt. Die Möglichkeit besitzen, die Einbildungskraft und den Verstand in Verbindung mit der Erfahrung zu benutzen und Werke und Ereignisse nach der eigenen Entscheidung hervorzubringen, sie seien religiöse, literarische, musikalische oder andere. Die Gelegenheit haben, den eigenen Verstand auf Arten anzuwenden, die durch Garantien der freiheitlichen Äußerung in Beziehung auf die sowohl politische als auch künstlerische Rede geschützt werden und die freiheitliche Ausübung der Religion. Die Gelegenheit zu lustvollen Erfahrungen besitzen und nutzlose Schmerzen zu vermeiden. Das Vermögen zur Sympathie mit Dingen und Menschen außerhalb unser selbst besitzen; jene lieben, die uns lieben und für uns sorgen, und während ihrer Abwesenheit Kummer empfinden; im allgemeinen das Begehren lieben, um Dankbarkeit bekümmert sein und berechtigten Ärger erfahren; die eigene emotionale Entwicklung nicht durch Angst und Furchtsamkeit ruiniert sehen. (Diesem Vermögen nachhelfen, bedeutet, Formen der menschlichen Gemeinschaftsbildung zu unterstützen, von denen nachgewiesen werden kann, dass die in ihrer Entwicklung wesentlich sind.) Fähig sein, eine Vorstellung von dem Guten zu entfalten und sich in der Planung des eigenen Lebens in kritischer Reflexion darauf zu verpflichten.
7. Zugehörigkeit
Die Fähigkeit, für andere und bezogen auf andere zu leben, Verbundenheit mit anderen Menschen zu erkennen und zu zeigen, verschiedene Formen von familiären und sozialen Beziehungen einzugehen.
8. Andere Lebewesen
Die Fähigkeit, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben und pfleglich mit ihnen umzugehen. Die Fähigkeit, zu lachen, zu spielen und Freude an erholsamen Tätigkeiten zu haben. Die Fähigkeit, sein eigenes Leben und nicht das von jemand anderem zu leben. Die Fähigkeit, sein eigenes Leben in seiner eigenen Umgebung und seinem eigenen Kontext zu leben.
9. Spiel 10. Die Kontrolle über die eigene Umgebung
Die Möglichkeit besitzen, mit anderen und in Zuwendung zu anderen zu leben, sie zu erkennen und für ihren Belang Interesse zu zeigen; sich in verschiedenen Formen des sozialen Austausches engagieren; fähig sein, sich die Situation eines anderen zu vergegenwärtigen. (Diese Kompetenz schützen bedeutet, Institutionen zu schützen, die solche Formen der Zugehörigkeit einrichten und unterhalten und auch die Freiheit der Versammlung und der politischen Rede zu schützen.) Die sozialen Hintergründe der Selbstachtung und NichtErniedrigung besitzen; die Gelegenheit haben, als eine würdige Person behandelt zu werden, deren Wert mit anderen gleich ist. Dies schließt Vorkehrungen der NichtDiskrimination auf der Basis von Rasse, Geschlecht, sexueller Orientierung, ethnischer Zugehörigkeit, gesellschaftlichem Rang, Religion und religiöser Herkunft ein. Das Vermögen haben, in der Sorge für und in Beziehung auf Tiere, Pflanzen und Naturwelt zu leben. Das Vermögen haben zu lachen, zu spielen und erholsame Tätigkeiten zu genießen. Politisch: Die Möglichkeit haben, effektiv an politischen Entscheidungen teilzuhaben, die das eigene Leben regulieren; das Recht der politischen Teilnahme, des Schutzes der freien Rede und der freien Assoziation genießen. Materiell: Die Möglichkeit haben, Besitz zu unterhalten und Besitzrechte auf einer Gleichheitsbasis mit anderen zu genießen; das Recht haben, Beschäftigung auf einer Gleichheitsgrundlage mit anderen zu suchen; von der Möglichkeit ungerechtfertigter Suche und Einnahme frei zu sein.
(Nussbaum 1999; 2002a, S. 4) Alle zehn Kategorien der Liste sind in ihrer Bedeutung zentral und nicht untereinander austauschbar. Dennoch bestehen vielschichtige und komplexe Verbindungen zwischen den einzelnen Punkten. In der Gesamtheit der Verwirklichung entsteht ein komplexer qualitätsvoller Lebenszusammenhang. „Die nicht reduzierbare Pluralität der Liste schränkt zugleich die gegenseitigen Ausgleichsmöglichkeiten ein, die vernünftigerweise zu akzeptieren sind. Dabei sind die Themen auf vielfältige Weise miteinander verknüpft“ (Nussbaum 2002a, S. 5). Die Fähigkeiten und Möglichkeiten bezüglich der Themen „Leben, Körperliche Gesundheit, Körperliche Unversehrtheit, Sinne, Vorstellung und Gedanken, Gefühle, Praktische Vernunft, Zugehörigkeit, Andere Lebewesen, Spiel und Kontrolle über die eigene Umgebung“ sind inhaltlich in jeweilig angemessenen Kontexten auszugestalten. Nussbaums Ansinnen ist die Herstellung eines global formulierten Anspruchs an eine weltgesellschaftliche Entwicklung und die Herstellung qualitätsvoller Lebenszusammenhänge. Konkretisiert für den vorliegenden Zusammenhang bedeuten die Themen ebenfalls, Festlegungen vor dem Hintergrund allen erarbeiteten spezifischen Wissens im Kontext „Alter und Alternsprozesse“ zu einem qualitätsvollen Leben im Alter zu entwickeln. Insofern ist die Aufstellung ein zentraler Ausgangspunkt, der die Einarbeitung und Berücksichtigung der Spezifika in Bezug auf die Lebensphase Alter und ihre Chancen, die bisher formuliert wurden, zulässt und ihnen eine Form der Verwirklichung geben könnte. 207
Nussbaum fordert mit der Formulierung ihrer Kompetenzen Bedingungen ein, die vordergründig als gesellschaftliche Basisgrundlagen beinahe als banal gelten, wie z.B. die Möglichkeit sich frei von Ort zu Ort zu bewegen oder das Recht auf eine angemessene Ernährung bzw. eine angemessene Unterkunft oder die Tatsache, mit anderen und in Zuwendung anderer Menschen leben zu können. Abgesehen von ihrer Intention, diese Kompetenzen als weltweit geltende Bedingungen und Möglichkeiten durchsetzen zu wollen, könnte dies bedeuten, überall unter unterschiedlich schwierigen Bedingungen eine Basisversorgung zu gewährleisten. Doch Nussbaum fordert mehr ein als nur die Bereitstellung von Grundlagen, vielmehr geht es um die Ausbildung der Möglichkeit zur Fähigkeit über Qualitäten in Bezug auf die Themen der Liste wie z.B. Leben, körperliche Gesundheit, Gefühle etc. nachdenken, empfinden und gestalten und auf Basis einer Vorstellung vom Guten ein individuell gestaltetes und „erfülltes“ Leben führen zu können. Zwei Kompetenzen, die so bezeichnete praktische Vernunft und die Verbundenheit mit anderen Menschen, gelten für Nussbaum wegen ihrer besonderen Bedeutung als herausragend. Die praktische Vernunft und die Verbundenheit mit anderen Menschen sind vor den anderen Forderungen insofern zu erfüllen, als sie diese organisieren und deren Verwirklichung das Menschliche erst gestaltet. Das Wechselspiel zwischen den eigenen Sinnen und dem Gebrauch menschlicher Gedankenfähigkeit und Planung führen allein zu einer vollkommenen Anwendung, während die Berücksichtigung nur der Sinne oder nur des Verstandes nicht zu vollständigen Entscheidungen führen kann. Verstandesgebrauch, der allein für sich selbst reflektiert und Umstände sowie Bedürfnisse anderer unberücksichtigt lässt, präsentiert unvollkommene Formen von Humanität, so Nussbaum (vgl. ebd. 2002a, S. 5). Die Verwirklichung des Ansatzes der Fähigkeiten beginnt im politischen Bereich und zwar unter den Bedingungen, Menschen materiell und erzieherisch in die Lage zu versetzen, die notwendigen Kompetenzen angemessen entwickeln zu können. Die Fähigkeiten sind als Ansprüche zu begreifen und sollten miteinander zu verbindende soziale und politische Pflichten auslösen. Für Nussbaum existieren dabei drei Basisfähigkeiten: Zuerst nennt sie „die eingeborene Ausstattung von Individuen, die notwendig ist, um die fortgeschritteneren Fähigkeiten zu entwickeln, dabei ein Fundament von moralischem Belang. Zum zweiten gibt es interne Fähigkeiten: dies bedeutet, Zustände der Person, die als persönlich anhängige auch hinreichende Bedingungen darstellen, um die übrigen Funktionen zu erfüllen. Die meisten erwachsenen Menschen besitzen die interne Kompetenz dafür, ihre Stimme zu geben, für religiöse Freiheit und die Redefreiheit – gleichgültig, ob ihre Regierung ihnen auch das Stimmrecht verliehen hat oder jene Freiheiten zu schützen bereit ist. Schließlich gibt es kombinierte Fähigkeiten, die als interne Kompetenzen definiert werden können, kombiniert mit den geeigneten externen Bedingungen, um ihre Funktion auszuüben. (…) Die Liste stellt demnach eine Abfolge von kombinierten Kompetenzen dar“ (Nussbaum 2002a, S. 5). Alle Kategorien auf Nussbaums Liste sind auf allen Ebenen zu verwirklichen und zu fördern, nicht nur interne oder nur äußere Kompetenzen sind auszubilden, vielmehr geht es gleichermaßen um Inneres, Umwelten und Kombinationen in möglichst vielfältiger Art und Weise, die eine „gute und erfüllte“ Lebensweise bedingen. Der Staat steht in der Verantwortung, eine aktive Rolle bei der Verwirklichung der Fähigkeiten zu übernehmen, indem er allen Bürgerinnen und Bürgern die notwendigen materiellen und konstitutionellen Bedingungen garantiert (vgl. ebd. 2002a, S. 5).
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Für die Ausgestaltung der Lebensphase Alter bilden die Berücksichtigung der Besonderheiten von und des besonderen Wissens um Alternsprozesse die Grundlage allen individuellen und gesellschaftlichen Handelns. Die angeborene Ausstattung mit fortgeschritten ausgebildeten Fähigkeiten im Lebensverlauf, den internen Fähigkeiten sowie die kombinierten Fähigkeiten als kombinierte Kompetenzen definiert, stellen den komplexen Ausgangspunkt für aktiv gestaltendes, selbstständiges und selbstbestimmtes Leben und Handeln von Individuen dar. Mit geeigneten externen Bedingungen kann der Mensch so zu einer aktiven Lebensgestaltung mit Vollständigkeitsanspruch bezüglich des Handelns in praktischer und emotionaler Ausgewogenheit gelangen. Für die Entwicklung von Menschen als Einzelne und für Gesellschaften insgesamt ist die aktive Förderung der ohnehin bestehenden wechselseitigen Beeinflussung und Angewiesenheit von Individuen auf Gesellschaft und von Gesellschaften auf Individuen in ihrer Komplexität als nicht endende Entwicklung zu verstehen. Mit diesem Verständnis wird die Gestaltung eines Lebens im Alter dynamischer, da sich auch explizite kulturelle oder traditionelle Werte nach ihrer Aktualität für gesellschaftliche Zusammenhänge befragen lassen müssen. Die Weiterentwicklung individueller und gesellschaftlicher Alternsprozesse zugunsten der Verwirklichung eines Netzes an Kompetenzen, die alternsförderliche Bedingungen betreffen, steht somit im Vordergrund. Ein alter Mensch ist nicht allein schon deshalb wertvoll, weil er alt ist und lange Zeit für die Gesellschaft „nützlich“ im Erwerbsarbeitsverwertungssinn war, vielmehr hat seine Wertigkeit mit seiner Existenz an sich zu tun. Jeder alte Mensch ist wie jeder andere Mensch Teil der Gesellschaft, die sich um die Gestaltung eines guten Lebens für jeden auf Basis seines aktivierten und geförderten Fähigkeiten-Kompetenzen-Bündels bemüht. In Rückbezug auf die aristotelische Auffassung staatlicher Aufgaben bestehen diese vor allem darin, alle Hindernisse zu beseitigen, die zwischen Bürgerinnen und Bürger einerseits und der vollen Entfaltung ihrer Fähigkeiten andererseits stehen. „Diese Aufgabe wird dann weit hinausgehen über eine Neuverteilung der Ressourcen. Sie wird im Allgemeinen radikale institutionelle und gesellschaftliche Veränderungen umfassen“ (Nussbaum 1999, S. 43). Im FähigkeitenAnsatz verbirgt sich ein vollständiger Rollenwechsel bisheriger Aufgaben einer Gesellschaft im Hinblick auf die Verantwortung für die Entfaltung und Entwicklung einzelner Individuen. Diese leben in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten und passen sich den dominierenden wirtschaftlichen Verhältnissen an, anstatt im Sinne ihrer eigenen Ziele und Wünsche zu handeln, die sie mit dem Aufwachsen und Hineinleben in eine bestimmte Gesellschaft entwickelten. Nussbaum kontrastiert für ihren Rückbezug auf aristotelische Argumentationen und ihre Forderungen nach Stärkung der einzelnen Individuen die Lebens- und Entscheidungssituationen eines Arbeiters im Utilitarismus und Liberalismus. Die Abhängigkeit eines Arbeiters im Utilitarismus verhindert die Entwicklung eigener Wünsche und die Vorstellung eines besseren Lebens sowie das Streben danach. Dennoch wird der Arbeiter trotz seiner schlechten Lage weitaus weniger unzufrieden sein als er sollte. Wegen niedriger Bezahlung und unzureichender Arbeitsbedingungen wird die Entwicklung von Wünschen für ein besseres Leben geradezu behindert. So wird der Arbeiter weder zu einer radikalen Kritik an seiner materiellen Lage kommen noch eine Umverteilung fordern, um seine Lage grundlegend zu verändern. Liberale würden die Frage nach den Ressourcen oder Grundgütern wahrscheinlich etwas tiefer führen. Der Liberale würde nicht nur fragen, wie der Arbeiter seine Lage einschätzt, sondern welche Ressourcen ihm tatsächlich zur Verfügung 209
stehen. Wenig wahrscheinlich ist, dass die Frage nach den Ressourcen zu einer Kritik an den Produktionsverhältnissen insgesamt führt, die für Marx als das Haupthindernis erschienen, dass Arbeiter wirklich menschliche Funktionen entfalten könnten. „Wenn er genügend Dinge hat, so hat er nach Auffassung des Liberalen alles, was er braucht und er wurde gleich behandelt. Der Liberale geht der Sache bezeichnenderweise nicht weiter nach, sucht die Hindernisse für ein gutes Leben nicht in der Struktur der täglichen Interaktion des Arbeiters mit anderen und fragt nicht, ob dessen Leben ihn überhaupt befähigt, von den ihm zugeteilten Ressourcen einen wirklich menschlichen Gebrauch zu machen“ (Nussbaum 1999, S. 43). Nussbaum setzt nicht nur auf ein radikal verändertes Denken im Hinblick auf die Verwirklichung einer neuen Lebensqualität, die Männer und Frauen mit Fähigkeiten und Kompetenzen ausstattet, um eigene Ziele, angelehnt an die Themenliste „zentraler menschlicher funktionaler Kompetenzen“, zu verwirklichen, vielmehr hebt sie die wechselseitige Abhängigkeit einer Staatsform und der dazugehörigen Ökonomie hervor, die im Verlauf ihrer Entwicklung ihren Nutzen für Bürgerinnen und Bürger zugunsten ökonomischen Zugewinns aufgegeben hat. Ein Leben von Menschen mit ihren Bedürfnissen und Recht auf Verwirklichung eines der Vorstellung entsprechenden guten Lebens und Verpflichtung darauf, dieses in kritischer Reflexion individuell zu planen, wie Nussbaum in Punkt 6 ihrer Fähigkeiten-Liste für die „Praktische Vernunft“ einfordert, erscheint weder in einer dem Utilitarismus noch dem Liberalismus verpflichteten ökonomischen Gesellschaft möglich. Ein Ideal gesellschaftlicher Entwicklung mit Menschen in einer gemeinschaftlichen Perspektive, von denen jeder Einzelne die Fähigkeit und Kompetenz erlangt, sich lebenslang entwickelnd und reflektierend und damit möglichst umfassend aktiv gestaltend zu leben, gilt als die Zielsetzung Nussbaums. Die Bedeutung und der Wert eines Menschen zeigen sich bereits durch seine bloße Existenz. In der Mehrzahl bilden Menschen Gesellschaften, die mit ihrer individuellen Entfaltungsmöglichkeit für eine hohe Lebensqualität aller Mitglieder sorgen. Die Lebensqualität von Gesellschaften zeichnet sich nicht durch den monetären Gewinn oder die Vorherrschaft ökonomischer Verhältnisse über die politisch gebildete Regierung aus. Als Beispiel zieht Nussbaum den skandinavischen Ansatz zur Messung des Wohlergehens heran, der zugrunde legt, Menschen als aktive Wesen in einer Reihe von verschiedenen Bereichen zu betrachten, die gut leben und handeln möchten. Basis dieses Denkens ist die Vielfältigkeit des Maßstabs in Bezug auf das Wohlergehen von Menschen, in der auch keine Komponente als Ersatz für eine andere gelten kann. Die Pluralität und Komplexität von Möglichkeiten zur Erreichung eines bestimmten Standards von Lebensqualität wird hervorgehoben. Ein gutes Leben wird nicht über die Erfüllung je einer Dimension erreicht, sondern ist ein dynamischer Prozess wechselseitiger Entwicklung und bisher erst in ihren Anfängen (vgl. ebd. 1999, S. 81). Denkt man wissenschaftlich oder im engeren Sinne als Sozialpädagogin über die Problematik menschenwürdigen Alterns nach, erscheint dies kurzsichtig und wirkungslos, solange man auf die Einbettung in einen größeren Kontext verzichtet. Diesen Anspruch herauszuarbeiten, erscheint als zentrales Anliegen der vorliegenden Arbeit: Altern muss im gesamten Lebenszusammenhang gesehen und gedacht werden. Und für die volle Entfaltung der Fähigkeiten aller Bürgerinnen und Bürger in ihrer sozialen Umwelt gilt es, zuerst einen Prozess des Um- und Neu-Denkens für die Entwicklung eines Ideals zu beginnen! Auf solche Metaebene kommt es an, bevor radikale institutionelle und gesellschaftliche Veränderungen realisiert werden können. In der Verwirklichung des Fähigkeiten-Ansatzes liegt 210
vor allem die Herausforderung, Mitgliedern einer Gesellschaft ihre Forderung nach Verantwortung für ihre individuelle Entwicklung zum eigenen Anliegen werden zu lassen und gleichermaßen geht es darum, die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung für die Entfaltung und Entwicklung ihrer Mitglieder zu verdeutlichen und Initiativen anzustreben. Die einzelnen Mitglieder und die gesellschaftlichen Institutionen benötigen eine Konkretisierung des Ideals auf der Basis gebildeten Wissens über die Erreichung von Lebensqualität in jedem Lebensalter, um sich „radikal“ förderlich verhalten zu können. Die Aufgaben einer Gesellschaft liegen darin, Verantwortung für die Entfaltung und Entwicklung einzelner Individuen zu übernehmen. Dies zeigt sich vor allem in den Bemühungen um die aktive Einbindung und lebenslange Förderung all ihrer Mitglieder in allen Lebenslagen und Lebensaltern. In der Herstellung und Reflexion notwendigen Wissens über Alter und Alternsprozesse und ihre elementare Verbindung zu Zeit, Zeitstrukturen und neuem Denken über Zeit wird deutlich, dass eine Fülle an neuen Kontexten hergestellt werden kann, die die Lebensqualität im Alternsprozess herstellen und sichern helfen. Das Ziel der Herstellung und Sicherung guten Lebens im individuellen und gesellschaftlichen Alternsprozess wird gesellschaftliches Denken entscheidend verändern. Das Prinzip „guten Lebens“ müsste initiieren, Wissen darüber bilden zu können, welchen Wert jede Sekunde, Minute und Stunde eines Tages, gegenwärtig, zukünftig oder auch im Rückbezug auf Vergangenes für Menschen in höherem Lebensalter hat und kommende Entscheidungen zur Auswahl und Gestaltung der eigenen Zeit beeinflusst. Mit der Veränderung gesellschaftlichen Denkens über die Lebensqualität von Alternsprozessen anhand qualitativer Zeithorizonte können neue Angebote und Institutionen gestaltet werden. Die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Zeitordnung im Fokus von Alternsprozessen, die ebenfalls zeitstrukturiert ablaufen, zeigt die Abhängigkeiten und komplexen Zusammenhänge einer Gesellschaft von ökonomisch dominierten Bedingungen. Diese führten einst dazu, resistente zeitliche Strukturierungen zu begünstigen, die Menschen in unterschiedlichen Lebensaltern von der Lebensqualität einer Gesellschaft ausschlossen. Die älteren Menschen haben dabei selbst nicht die Chancen, die zeitliche Bedingtheit auf die ökonomischen Strukturen überhaupt wahrzunehmen und ohne diese Wahrnehmung verfügen sie nicht über eigene Möglichkeiten und Fähigkeiten, aktive TeilnehmerInnen an gesellschaftlichen Zeitveränderungsprozessen zu werden. Gesellschaften schadet es prinzipiell, wenn sie nicht auf der Basis sich abzeichnender Entwicklungen wie z.B. dem demographischen Wandel langfristig über ideelle Vorstellungen einer gesellschaftlichen Entwicklung nachdenken, um Menschen vor allem in höheren Lebensaltern die Chance zu eröffnen, Fähigkeiten als aktiv Handelnde in ihrer Zeit zu entwickeln. Die Lebensphase Alter verfügt über Zugriffe auf Zeit, wie sonst keine andere Altersphase. Deshalb geht es darum, sich als aktiv gestaltend in seiner jeweilig aktuellen Gegenwart und Zukunft sowie in einer Kontinuität zur Vergangenheit mit dem Blick in seine eigene Endlichkeit wahrnehmen zu können. Verbindungen zum eigenen Leben in alle Zeiten können aktiv balanciert werden und eventuell zu neuen Bedeutungen und Wertigkeiten führen. Die Reflexionen zur Zeit in Verbindung mit der Lebensphase Alter bringen die unterschiedlichen Auswirkungen der geltenden Zeitordnung für ältere Menschen zu Bewusstsein. Der Ausschluss der älteren Generationen war Ausgangspunkt der Überlegungen, da die Zeitordnung von den jeweilig geltenden ökonomischen Strukturen durchdrungen sind und sich verselbstständigt haben. Zeit ist gegenwärtig in Arbeits- und Reproduktions- bzw. den Gegenpol Freizeit eingeteilt und dieses Zeitmuster schließt nur die Teile der Gesell211
schaft ein, die in den Erwerbsarbeitsprozess eingebunden sind. Kinder, Rentnerinnen und Rentner, erwerbslose Frauen und Männer sind von der Erwerbsarbeitsgesellschaft zeitlich ausgeschlossen und haben ihr Leben selbstverständlich nach dem Zeitmuster der Erwerbsarbeitsgesellschaft eingerichtet. Sie erhalten und unterstützen das System gewissermaßen, ohne von der Zeitstrukturierung in irgendeiner Art und Weise zu profitieren, eher im Gegenteil: Zeitbedürfnisse von außerhalb der Erwerbsarbeit stehenden Mädchen und Jungen, Frauen und Männern sowie alten Frauen und alten Männern bleiben, häufig zu deren Nachteil, unberücksichtigt. Täglich wiederkehrend droht der Verlust der Lebensqualität und des Lebenssinns, da trotz der regulären Ausgliederung aus dem Erwerbsarbeitsleben und deren feststehender Absehbarkeit kaum jemand das Ausmaß an unbesetzter Zeit antizipieren kann. Über Verrentungsprozesse ist die kontinuierliche Teilhabe an den Strukturen der Erwerbsarbeitsgesellschaft und den eigenen erlernten Zeitmustern unterbrochen. Die übrigen hiervon betroffenen Gruppen, wie z.B. Kinder und Jugendliche oder Erwerbslose befinden sich in einem fortwährenden Prozess entweder des Hineinwachsens oder der Wiedereingliederung in die Strukturen der Erwerbsarbeitsgesellschaft, ein permanent unabgeschlossener Prozess. Jede und jeder Ältere benötigt Fähigkeiten und Kompetenzen, mit neuen Zeitsituationen aktiven Umgang zu erlernen. Über die Verrentung wird er oder sie sozusagen gezwungen, die bestehende gesellschaftliche Zeitordnung persönlich zu überwinden und zumindest für sich zu verändern. Die Gefahr der Vereinzelungen älterer Menschen entsteht mit dem Übergang in die Rentenphase, da die dominante Zeitordnung der Gesellschaft alternative Lebenszeitplanungen und –gestaltungen nicht unterstützt oder fördert und nicht auf sie eingestellt ist. Rentnerinnen und Rentner haben jedoch kaum Chancen, ihre bisherige Zeitordnung zu verlernen und als regulär aus dem Erwerbsarbeitsleben der Gesellschaft „Entlassene“ eine für ihr Leben sinnvolle Zeitordnung zu erlernen, die auch nicht nur Exklusion aus der übrigen Gesellschaft bedeutet, sondern Geltung als weiterhin gleichwertige wertvolle Mitglieder verleiht. Auf Basis eines ökonomisierten linearen Zeitverständnisses, unabhängig davon, ob industrie- oder dienstleistungsgesellschaftlich organisierte Beschäftigungsverhältnisse gesellschaftlich überwiegen, führt die dem Alter verordnete Unproduktivität ganz von selbst in ein defizitäres Verständnis von Alter. Der alte Mensch bleibt demnach ein in der Rentenphase unproduktiver Mensch, unabhängig davon, was und welche Leistungen er jeden Tag erbringt. Insgesamt ist in der Auseinandersetzung mit Lebenszeiten und Leben in der Zeit die Frage nach der Vollständigkeit des Lebens aktiver zu thematisieren. Je mehr Zeit jemand in seinem Leben hinter sich lässt und über Rückblicke Kontinuitäten herstellt, desto eher kann die ablaufende Zeit als die kürzer werdende Zukunft vor jemandem liegen. Mit Blick in die Zukunft stellt sich die Frage nach den Ereignissen, Zielen und Plänen und ebenso Einschätzungen, welche Entwicklungen in welcher Zeit und zu bestimmten Zeitpunkten erreicht wurden sowie ob und wann Erfahrungen bereits hätten gemacht werden müssen. Die Vollständigkeitsfrage ist auch die Beschäftigung mit dem Lebensende und der Berücksichtigung des Lebensendes als Element des Lebens. Alternsprozesse enden letztendlich tödlich. Dies hat als weitere Herausforderung zur Gestaltung des Lebens im Alter zu gelten. Fragen nach der Bedeutung der möglichen Endlichkeit des Lebens und nach der Bedeutung des Todes sowie die Bewertung, ob und wie das Lebensende für jeden einzelnen älteren Menschen das eigene Leben inklusive seiner Endlichkeit beeinflusst und in der Wertigkeit verändert, haben weiteren Einfluss auf die Lebensphase Alter. Dafür wird es notwendig, eine viel be212
wusstere Auseinandersetzung mit dem Tod und den Auswirkungen auf Alternsprozesse zu fördern. Die Lebensphase Alter ist nicht zuletzt aufgrund des Näherrückens des eigenen Lebensendes wenig populär. Das erscheint als einer der Gründe, warum das „Alter“ bisher außer dem Verrentungszeitpunkt keinen Orientierungspunkt als Beginn der Lebensphase zugewiesen bekommt. Chancen zur aktiven Gestaltung eines etwa 30 Jahre andauernden dynamischen Prozesses können für den Alternsprozess nur eingefordert werden, wenn es einen gesellschaftlich festzulegenden Zeitpunkt gibt, an dem das Alter beginnt. Dieser Beginn ist unabhängig vom Übergang in Verrentung und sozusagen dem Ausschluss aus der Erwerbsarbeit zu setzen, um Altern aus der Erwerbsarbeitsabhängigkeit und Altern von Erwerbsarbeitsverbindungen als deutlich differenziert zu betrachtende Lebensphase einordnen zu können. Ein gesetzter Zeitpunkt würde gezielte Maßnahmen, Angebote und Institutionalisierungen zulassen, anstatt wie bisher Überlegungen, Analysen und Reflexionen für eine Gruppe vorzunehmen, die, sich solange nicht als alt einschätzen, bis sie unverkennbar hilfe- und pflegebedürftig sind. Alter umfasst ein drittes und ein viertes Lebensalter, von dem einen zum anderen gibt es schleichende Übergänge, die gesellschaftlich zu gestalten sind, um Einschränkungen abmildern zu können. „Alt werden“ kann unter den heutigen gesellschaftlichen Voraussetzungen ein Lebensabschnitt werden, in dem ein lebenslanger Entwicklungsprozess auch unter zunehmenden Einschränkungen, Wechsel zwischen Alltäglichkeit und Ereignis, Einordnung und Rückgriff in Bezug auf Vergangenheit bewusst, aktiv und als Herausforderung im Leben zu betrachten sind. Die Altersphase kann die Lebensqualität von Menschen erhöhen, wenn das gesellschaftlich gewollt ist, denn im Altern liegen zuvor ungeahnte Chancen auf ein gutes Leben, das es jedoch zu konstituieren gilt. Die Lebensphase Alter als Garant von Lebensqualität zu begreifen und entsprechend zu gestalten, kann als die wirklich einschneidende gesellschaftliche Veränderung der Zukunft gelten. Jede Reform oder jedes neue Denken und jedes neue Angebot oder Anpassung von Institutionen an älter werdende AdressatInnen kann nur über die geforderte Qualität verfügen, wenn alle Besonderheiten aller Lebensalter mitgedacht werden. Die Durchdringung bestehender Denkentwürfe in Bezug auf die Perspektive „Zeit“ hat im Verlauf vorliegender Arbeit zu neuem Denken für die Konstituierung von Lebensqualität in Alternsprozessen geführt. Neue Einschätzungen sollten entstehen, die zusammengenommen dem Altern neue Horizonte eröffnen und Auswirkungen auf den Umgang im Hinblick auf zeitliche und lebensalterzeitliche Perspektiven zeitigen. Die Zeit-Bewegung stellt, so dürfte einsichtig geworden sein, gesamtgesellschaftlich den Umgang mit den linearen und ökonomisch verselbstständigten Zeitstrukturen in Frage und setzt sich für neue Zeitformen und Entschleunigung ein. Insbesondere Kinder auf der einen Seite und Alte auf der anderen Seite ökonomisierter Zeit können als Zeitpioniere der Gesellschaft gelten, die aufgrund ihrer Position über die Chance verfügen, entweder bisher noch eigene Zeitmuster entdecken zu können oder endlich eigene Zeitmuster wieder zu suchen und auszuprobieren. Die Wiederentdeckung eigener sozialer Zeiten könnte als Ausgangspunkt gesamtgesellschaftlicher zeitlicher Entwicklungen betrachtet werden. Gesellschaft könnte entdecken, wie lange soziale Situationen brauchen, um für alle Beteiligten erfüllend zu sein und somit unterschiedliche Zeitbedarfe von Menschen mit unterschiedlichen Geschwindigkeitsbedürfnissen wahrzunehmen und zu berücksichtigen. Ein weiterer grundlegender Beitrag zur Veränderung von Zeitstrukturen hebt auf die Umkehr der Perspektive von Zeit ab: Zeit vergeht nicht, sie entsteht. Entstehende Zeit 213
kommt aus der Zukunft und wird zur Gegenwart, ihr charakteristisches Merkmal ist ihre Unverplantheit und Unbeschriebenheit. Zeit, die entsteht, gehört erst im Augenblick des Auftretens zum eigenen Lebenskontext und wiegt dementsprechend schwerer, da nicht selbstverständlich von ihrer Ankunft ausgegangen werden kann. Die Quantität vorbeilaufender Zeit, die von der Gegenwart in Vergangenheit übergeht, ohne sie direkt zu beachten, verschwindet im Entstehenskontext zugunsten der Zeit, die ausgefüllt werden könnte, weil ihre Einmaligkeit über den Entstehenskontext greifbarer wird. Diese Sichtweise der Entstehung von Zeit kann den eigenen Lebenszusammenhang im Hinblick auf neue Entscheidungs- und damit Lebensqualität verändern. Der Stellenwert der Bereiche Aktivität und Produktivität im Alter bekommt nur eine hohe Bedeutung im Alternszusammenhang zugewiesen, wenn eine sinnhafte Verbindung zum Leben eines jeden älteren Menschen nachgewiesen werden kann und Strukturen nicht im Sinne einer Weiterführung lebenslang erbrachter Erwerbstätigkeitsstrukturen überdauern. Aktivität und Produktivität im Alternsprozess stehen darüber hinaus in der Gefahr als Gradmesser der Eingebundenheit Älterer in gesellschaftliche Kontexte bewertet zu werden. Solange Aktivitäts- und Produktivitätsbewertungen nicht mit damit verbundenem Sinn oder anderen Einschätzelementen wie z.B. Spaß oder Unterhaltung nachgefragt werden, erscheint eine Einschätzung der Lebenszufriedenheit oder Veränderungen angebotener Aktivitäten im Alter erschwert. Dies führt eher zu Nicht-Wissen, was und welche Aktivitäten für Menschen in Alternsprozessen als Lebensqualität erhöhend empfunden werden. Das Konzept des Lebenslangen Lernens eröffnet für ein Leben im Alter große Chancen, sich wiederkehrend nach Herausforderungen im Leben umzusehen. Neues zu lernen, Begonnenes weiterzuführen, nichtverstandenes Wissen oder unverarbeitete Erfahrungen als zum gesamten Lebenszusammenhang sich weiter entwickelnder Mensch gehörend, gerät zur Lebensqualität. Zugleich können neue Kompetenzen für neue Lebenssituationen erworben werden, somit gehen ältere Menschen als aktiv Gestaltende in neue Situationen und fordern mit ihrem kompetenten Selbstbild viel mehr an Selbstständigkeit und Selbstbestimmung ein als bisher. Darüber hinaus liegen im Kontext des lebenslangen Lernens Chancen für die Entstehung neuer intergenerativer Zusammenhänge, die auf wechselseitige Lehr-Lernzusammenhänge abzielen und Inspirationen für unterschiedliche Generationen bedeuten. Die vorgestellten Elemente verändern, so die Absicht, gesellschaftliche Sicht- und Denkweisen auf Alternsprozesse. Ihre Besonderheit sollte darin liegen, aus den Überlegungen und Betrachtung gesellschaftlichen Zeitverstehens hervorgegangen zu sein. Noch bevor Zeitstrukturen und Zeitformen verändert werden, besteht die Notwendigkeit, Zeit und ihre Auswirkungen auf die Qualitäten des Lebens alter Menschen zu reflektieren. Mit diesem neuen Blick auf Zeit wird es bereits deutlich erleichtert, mehr Lebensqualität in Alternsprozesse zu bekommen, da nicht die Zeitstruktur zur Veränderung ansteht, sondern die Perspektive. Vor allem Lebensgestaltung im Alter ist auf Um- und Neudenken angewiesen und nicht so sehr auf Zeitstrukturreform. Individuelle Lebensgestaltung im Alter liegt vor allem in der Wertschätzung und im Erkennen des mit gespeicherten unbewussten und bewussten Erinnerungen angefüllten autobiographischen Gedächtnisses als die Ressource. Auf mehreren Ebenen wird die Möglichkeit zur Erinnerungsrekonstruktion bedeutsam. Ältere Menschen und ihre Erinnerungen werden als soziales Gedächtnis von Gesellschaft identifiziert. Ihr autobiographisch gespeichertes Wissen wird intergenerativ bzw. intragenerativ in der Rekonstruktion verantwort214
lich für die Weitergabe kulturell bedeutenden Wissens, das als solches bisher noch nicht in Erscheinung getreten ist. Ein langes Leben mit reichen Erfahrungen, widerfahren oder bewusst aufgesucht, birgt große Auswahl, in die ein Mensch selbst in Form gedanklicher „Zeitreisen“ zurückkehren kann. Hier rekonstruiert er Erlebnisse nur für sich in einer anderen Zeit, zumindest gedanklich unter Rückgriff auf unterschiedliche Emotionsmuster, die zu dem Ereignis existieren und bereichert seine Gegenwart. „Pragmatische Weisheitskompetenz“ als Ausgleich und Optimierung von Altersverlusten beinhaltet für älter werdende Menschen die Gewissheit, selbstständig und selbstbestimmt ausgleichend auf den eigenen Lebenszusammenhang einwirken zu können und gleichzeitig im Zusammenhang mit lebenslangen Lern- und Erfahrungsprozessen komplexe Kompetenzen bis ins hohe Lebensalter zu sichern und bis zu einem gewissen Grad neu entwickeln zu können. Die Gefahr zunehmender Angewiesenheit auf Hilfen von außen hat dabei als Herausforderung zur Gestaltung des Alternsprozesses zu gelten, die selbstverständlich unter Rückgriff auf fachlich professionelle Unterstützungsleistungen abzumildern ist. Zunehmende Hilfe- und Pflegebedürftigkeit, die vor allem für das vierte Lebensalter erwartbar ist, gehört zum Leben im Alternsprozess hinzu. Die gesellschaftliche Verantwortung liegt darin, eine besonders schützenswerte Lebensphase mitzugestalten, die auf den Erhalt und die Verbesserung der Lebensqualität in einer besonders ungeschützten und hilfebedürftigen Phase menschlichen Lebens setzt. Die Bedingungen, unter denen hilfe- und pflegebedürftigen älteren Menschen konsequent selbstständiges und selbstbestimmtes Leben ermöglicht wird, stehen dabei kontinuierlich in Frage. Mit Entstehung der Lebensphase Alter war historisch gleichzeitig die Konstruktion eines rückzugsbedürftigen und ruhebedürftigen Menschen entstanden, der des Handelns und des Sammelns neuer Erlebnisse und Erfahrungen „müde“ ist. Die vorliegenden Elemente für ein gutes Leben im Alter zeigen: Es besteht die Herausforderung, nicht nur ein gutes Leben im Alter individuell und gesellschaftlich zu planen und zu gestalten, sondern darüber hinaus sämtliche Vorstellungen bezüglich des Alters und der Alternsprozesse zu durchbrechen, da in ihnen zahlreich verselbstständigte destruktive Defizitperspektiven verborgen sind. Für die Gestaltung sowohl individuellen als auch gesellschaftlichen Lebens wird es notwendig, mehrperspektivische und vielschichtige Lernprozesse zu initiieren, die auf das lebenslange Entwicklungs- und Entfaltungsbedürfnis jedes Menschen setzen und die Vollständigkeit eines Lebens mit all den Ereignissen und Erfahrungen, die von Bedeutung sein könnten, gestaltbar machen. Menschen benötigen für ein Leben und seine kontinuierlichen Herausforderungen in unterschiedlichen Lebensaltern eine Vielzahl an Fähigkeiten, die es ermöglichen, aus jeder Situation und ihren Bedingungen dem Prinzip „gutes Leben“ aktiv folgen zu können.
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