Emil Zopfi
Die Weltraumbasis
beim Roten Haus
oder
Ein Traum von
Wirklichkeit
Bilder von Hanno Rink
Rowohlt
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Emil Zopfi
Die Weltraumbasis
beim Roten Haus
oder
Ein Traum von
Wirklichkeit
Bilder von Hanno Rink
Rowohlt
rororo rotfuchs Herausgegeben von Renate Boldt und Gisela Krahl
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg, Oktober 1985
Copyright © 1983 by Benziger Verlag, Zürich-Köln
Umschlagillustration Mathias Faber
rotfuchs-comic Jan P. Schniebel, Copyright © 1985 by
Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Umschlagtypographie Manfred Waller
Alle Rechte an dieser Ausgabe vorbehalten
Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany 780-ISBN 3 499 20402 9
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Irgend etwas hat sich verändert, denkt Stefan. Ir gend etwas. Aber ich komme nicht drauf. Es ist still in der Wohnung. Sonntagmorgen. An Mamas Zimmertür hängt eine rote Karte. Bitte nicht stören! Nichts Besonderes also. Papas Zimmertür ist nur angelehnt. Büro steht auf einer grünen Karte. Das Zimmer ist leer. Drinnen riecht es nach Zigarettenrauch. Ein halbvolles Glas Wein steht auf dem Arbeitstisch. Papierrollen und weiße Blätter liegen herum. Also auch nichts Beson deres. Stefan geht in die Küche. Marmelade, Butter, eine Milchpackung und ein Korb mit Brötchen stehen auf dem Küchentisch bereit. Neben dem Teller liegt eine gelbe Karte. Stefan liest. Er liest sehr langsam. Lieber Stefan. Es ist spät geworden. Wir schlafen etwas länger. Sei bitte leise. Kuß. Mama. Sie sind müde. Vor Mittag werden sie also nicht aufstehen, denkt Stefan. Auch das ist nichts Besonde res. Am Sonntag schlafen sie oft lange. Er beißt ein Brötchen an, trinkt etwas Milch aus der Packung. Aber er hat keinen Appetit. Er nimmt die gelbe Karte und geht in sein Zimmer zurück. Mama hat ihm einmal eine Schachtel besorgt, in die die farbigen Karten passen, von denen immer 4
ein kleiner Stapel neben dem Telefon bereitliegt. Für Notizen. Für Mitteilungen. Stefan sammelt alle Karten in seiner Schachtel schön der Reihe nach. Auch die Karten, auf die Papa Zeichnungen kritzelt, wenn er telefoniert, hebt er auf. Wir sind eine Lochkartenfamilie, denkt Stefan. Lochkarten nennt Mama die Karten, die sie von der Arbeit nach Hause bringt. In diese Karten kann man nämlich kleine Löcher stanzen. Die Computer, mit denen Mama arbeitet, können die Löcher lesen. Sie bedeuten Buchstaben oder Zahlen. Stefan ist stolz, daß Mama diese komplizierten Dinge versteht. Er blättert in seiner Lochkartensammlung. Die allererste Karte hat er schon so oft gelesen, daß er sie auswendig weiß. Liebster! Heute abend komme ich später nach Hause. Wir haben dringende Arbeit zu erledigen. Ich umarme Dich. Susanna. Das hat Mama Papa geschrieben. Damals, als Ste fan mit seiner Sammlung begonnen hat. Wie lange mag das schon her sein? Zwei Jahre? Drei Jahre? Oder noch länger? Eigentlich hat Mama schon lange nicht mehr ›Lieb ster‹ geschrieben, fällt Stefan ein. Hat sich also etwas verändert? Er denkt lange nach, aber er kommt zu keinem Ergebnis. Stefan schiebt die Schachtel mit den Karten ins Gestell zurück. Er geht zum Fenster. Auch draußen ist 5
alles wie jeden Sonntagmorgen. Die geteerten Wege um den Block, auf denen sonst Kinder mit Fahrrädern umherflitzen oder Rollschuh fahren, sind verlassen. Auf dem Parkplatz stehen die Autos in Reih und Glied. Später wird eines nach dem andern wegfahren, und gegen Mittag wird der Platz leer sein, so daß man prächtig Fußball spielen könnte. Aber das darf man nicht. Am Sonntag schon gar nicht. Und die andern Kinder sind dann ohnehin mit ihren Eltern weggefah ren. Im kleinen Park auf der anderen Seite der Bach mattstraße geht ein Mann mit einem Hund spazieren. Der Hund schnuppert am Boden, dann verschwindet er im Gebüsch und bellt. Hinter dem Gebüsch ver sperrt ein hoher Bretterzaun den Zugang zu einem wildbewachsenen Grundstück. Es ist eine verlassene Baustelle. Genau dort, wo der Hund verschwunden ist, gibt es einen Durchgang, den nur Stefan kennt. Er ist erleichtert, als der Mann den Hund ruft und ihn an die Leine nimmt. Hinter Gebüsch und hohen Erdhaufen versteckt liegt nämlich eine geheime Weltraumbasis. Von seinem Zimmer aus kann Stefan das große Raumschiff sehen, das dort startbereit steht. Seine XAMAX-808. Die große runde Kapsel ruht auf vier hohen Teleskopbeinen. Seitlich führt eine Bord leiter auf die Kommandoplattform hinauf. Auch dort hat sich nichts verändert. Oder doch...? Gleich neben der Weltraumbasis steht ein großes Backsteinhaus. Das Rote Haus, nennen es die Leute. 6
Seit vielen Monaten steht es leer. Stefan erinnert sich, wie Arbeiter Möbel, Teppiche und Bettzeug auf einen Lastwagen verladen haben. Dann wurde um das ganze Grundstück samt dem Roten Haus der Bretterzaun errichtet. Das Haus blieb leer. Jemand warf Fenster scheiben ein, Türen wurden ausgehängt, Läden schlugen im Wind auf und zu, bis sie schief hingen. Und nun steigt Rauch aus dem Kamin des Roten Hauses. Das ist neu. Eine feine bläuliche Rauchfahne, die sich im Dunst über der Stadt verliert. Stefan holt eine Karte und schreibt hastig eine Mit teilung. Er schreibt nur wenig, denn jedes Wort macht ihm Mühe. Stefan schreibt nicht gern. Binn drausen. Stefan. Schreibt man ›Binn‹ wirklich mit doppeltem n? Auch das Wort ›drausen‹ kommt ihm irgendwie falsch vor. Aber Stefan hat jetzt keine Zeit, sich das zu überlegen. Er legt die Karte neben das Telefon. Im Lift drückt er den Knopf E. Der Lift setzt sich in Bewegung. Jetzt befindet sich Stefan in der Landefähre und schwebt von seinem Raumlabor hinab zur Weltraumbasis.
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Das rote Backsteinhaus gehörte früher, bevor der Zaun errichtet wurde, zum Dorf. Das Dorf ist eigent lich schon längst kein richtiges Dorf mehr. Es ist rundherum mit der Stadt zusammengewachsen. Die kleinen, ineinandergeschachtelten Häuser mit dem Kirchturm in der Mitte sind von hohen Wohnblocks umgeben. Die engen Gassen des Dorfes sind Stefan unheimlich. Er hat Angst vor den Dorfbanden. ›Die Kaffer‹ nennen sie sich, weil man das Dorf auch ›Kaff‹ nennt. Sie tragen schwarze Lederjacken und knattern auf ihren Mopeds durch die Gassen. Manch mal fahren sie auch durch die Neubausiedlungen. Stefan überquert die Bachmattstraße. Im Park schaut er sich um. Als er sicher ist, daß ihn niemand beobachtet, kriecht er durchs Gebüsch zum Bretter zaun, schiebt dort ein loses Brett zur Seite und schlüpft hindurch. Die Lücke im Zaun verschließt er sorgfältig wieder. Nun ist Stefan auf seiner Weltraumbasis. Hier fühlt er sich sicher. Hier ist er immer allein. Niemand außer ihm kennt den Durchschlupf durch den Zaun. Er hat ihn entdeckt. Auch die Weltraumbasis, die dahinter liegt, hat er entdeckt. Sie ist sein Geheimnis. Stefan ist von der feuchten Erde schmutzig gewor den. Es hat geregnet. Schlechtes Wetter für einen Start, denkt er. Also macht er nur einen Kontrollgang. Die Tür des Basiscomputers steht offen und
schwingt im Wind hin und her. Alle Sicherungen sind herausgeschraubt. Die weißen Köpfe liegen auf der Erde verstreut. Stefan sammelt sie ein und wäscht sie am Tümpel. Dann schraubt er sie wieder ein. Er dreht an einem Hebel, der sich nur noch schwer bewegen läßt. Ein, aus, ein, aus... Sand knirscht im Getriebe des Computers. Jemand hat sich da zu schaffen gemacht. Stefan schließt die Tür und klemmt ein Stück Holz in den Spalt, damit sie geschlossen bleibt. Jemand hat also versucht, am Computer etwas ka puttzumachen, obwohl Stefan mit Filzstift auf die Tür geschrieben hat: Nicht Berüren! Leben gefar! Und dieser Jemand hat sogar darunter geschrieben: 3 Fehler! Pfui! Ein Spion! denkt Stefan. Oder Weltraumpiraten! Ja, Weltraumpiraten sind gelandet, haben die Basis ausspioniert und versucht, den Computer zu zerstören. Doch sie sind in eine Falle geraten. Drei Fehler, haben sie hingeschrieben. Doch sind das gar keine Fehler. Es ist Stefans Geheimcode, der auf die Weltraumpiraten abschreckend wirkt. Beinahe wie Todesstrahlen. Sofort haben sie sich in ihre Raumpiratenkapsel geflüchtet und sind wieder gestartet. Auch Stefans Lehrerin sagt, diese Fehler sind zum Davonlaufen! Unter alten Säcken hat Stefan eine Leiter versteckt. Zum Glück haben die Weltraumpiraten sie nicht entdeckt, sonst hätten sie das Raumschiff besteigen 10
können. Und dann, wer weiß, wären sie mit XAMAX 808 auf und davon. Er hebt die schwere Eisenleiter hoch und hängt sie an die Bordleiter, die oben an der Seitenwand des Raumschiffs befestigt ist. Dann steigt er hinauf bis zur letzten Sprosse unter dem etwas abgeschrägten Dach. Das ist die Kommandoplattform. Eigentlich hat ihm Mama verboten, auf das Raumschiff zu steigen. Nicht einmal durch den Zaun schlüpfen dürfte er, denn überall hängen Schilder. Baustelle. Jeder Zutritt für Unberechtigte untersagt. Niemand weiß, daß hier gar keine Baustelle mehr ist, sondern eine Weltraumbasis. Nur Stefan weiß es. Selbst Mama, die sich in technischen Dingen aus kennt, spricht nur vom verwilderten Bauplatz, vom alten, verrosteten Betonsilo, den Stefan nicht bestei gen darf, vom defekten Schaltkasten, vom umgekipp ten Betonmischer, der eines Tages ganz umstürzen und Stefan erdrücken könnte. Vor langer Zeit hatte es auch so ausgesehen, als werde hier gebaut. Stefan erinnert sich noch schwach. Hohe Stangen zeigten die Umrisse eines Wohnblocks an, der noch viel größer werden sollte als die andern rundherum. Das war kurz bevor die Arbeiter die Möbel aus dem Roten Haus weggeschafft und den Bretterzaun errichtet hatten. Dann wühlten Bagger die Erde auf. Die Erdhügel entstanden und der Tümpel. Und dann hörten sie plötzlich auf, fuhren weg und nur einige Maschinen blieben zurück. Der Betonsilo, ein 11
Kran, ein Betonmischer und der Schaltkasten. Stefans Weltraumbasis! Die Bauerei damals war nur Tarnung für den Auf bau der Basis. Die Weltraumpiraten und Spione sollten glauben, es werde ein weiterer Wohnblock gebaut. Auch die Leute in den Wohnblocks und im Dorf sollten es glauben. Sogar Mama und Papa glaubten es. Papa sagte nämlich oft: »Bald wird da drüben auch noch ein Betontatzelwurm hinkommen.« Ein Betontatzelwurm! So nennt er die Wohnblocks, weil sie lang und schmal sind und auf Betonpfeilern stehen, die aussehen wie dünne Tausendfüßlerbeine. Nur Stefan weiß, daß hier nie ein weiterer Betontat zelwurm gebaut wird. Er ist nämlich der Kommandant der Weltraumbasis. Der Schaltkasten ist sein Compu ter, der Betonmischer das Radioteleskop, der Kran der Startturm und der Betonsilo das Raumschiff, mit dem er manchmal Ausflüge in den Weltraum unternimmt. Von der obersten Sprosse der Bordleiter aus kann er auf die Kommandoplattform steigen. Aber jetzt getraut er sich nicht. Alles ist naß und glitschig. Er hält sich fest und schaut über Erdhaufen und Gebüsch hinweg zum Roten Haus hinüber. In einem Fenster brennt Licht. Das ist verdächtig. Vielleicht hat sich im Roten Haus ein Spion eingenistet, der mit Fernrohren oder Infrarotaugen oder Radar die Weltraumbasis beobachtet. Aber Stefan kann niemanden entdecken hinter dem Fenster. Er klopft mit der Faust an die Wand des 12
Raumschiffs. Es gibt einen hohl dröhnenden Ton. Das ist das Signal für die Betontatzelwürmer! Sie erwachen, strecken sich, gähnen, schütteln ihre langen dünnen Betonstelzbeine, drehen ihre Köpfe träg gegen das Rote Haus, strecken ihre breiten Nasen in die Höhe und schnuppern nach dem Rauch, der immer noch aus dem Kamin aufsteigt. Sie fletschen ihre grauen Betonzähne, und wenn Stefan wollte, könnte er ihnen das Zeichen zum Fressen geben. Die Autos auf dem Parkplatz würden sie verspeisen, die Verkehrsschilder an der Bachmattstraße, die Parkbän ke und die Tafeln: Rasen betreten verboten Hunde an der Leine führen Durchgang für Unberechtigte verboten Und dann würden sie ein Loch in den Bretterzaun nagen, das Rote Haus rundum beschnuppern und schließlich mit krachendem Gebiß die Backsteinmau ern zermalmen. Anschließend würden sie am Tümpel ihren Durst löschen. Stefan klopft dreimal gegen die Wand des Raum schiffs. Sofort beruhigen sich die Betontatzelwürmer, erstarren und werden wieder zu gewöhnlichen Wohn blocks. Stefan sieht, daß nun auch in ihrer Wohnung Licht angegangen ist. Also ist Papa aufgestanden. Plötzlich spürt er Hunger. Vorsichtig steigt er die Bordleiter hinab.
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Beinahe wäre Stefan auf den Boden hinunter gefal len. Mit einem Fuß tastet er nach einer Sprosse, doch die Eisenleiter, die er unten eingehängt hat, ist weg. Einfach weg. Zum Glück hält er sich fest. Es gelingt ihm, sich wieder hochzuziehen. Irgend jemand hat die Leiter weggenommen, als er auf der Kommandoplatt form gewesen ist. Raumpiraten vielleicht. Sie haben ihn umzingelt und die Leiter geraubt. Nun ist er gefangen, denn ohne Leiter kommt er nicht auf den Boden. Die Wände und die Teleskopstützen des Raumschiffs sind naß und glitschig. Hinunterzuspringen getraut sich Stefan nicht. Langsam steigt er die Bordleiter hinauf. Vielleicht schaut Papa drüben aus dem Fenster und sieht ihn winken. Bei Papa im Büro brennt Licht. Oft steht er in letzter Zeit am Fenster neben dem Tisch mit den Zeichnungen, eine Zigarette zwischen den Lippen, und schaut hinaus. Stefan kann sich nicht erinnern, daß er ihn früher so dort stehen sah. Papa arbeitete in der Stadt und kam meist spät am Abend nach Hause. Seit jedoch die grüne Karte Büro an der Tür seines Zimmers hängt, geht er nicht mehr weg. Er sitzt am Tisch, arbeitet an seinen Zeichnungen oder schaut aus dem Fenster. Auch mit Papa hat sich etwas verändert. Stefan winkt. Doch vielleicht sieht Papa gar nichts, 14
wenn er so am Fenster steht. Denn oft bemerkt er nicht mal, wenn seine Zigarette ausgeht. Vielleicht sieht er nur die Betontatzelwürmer. Wie sie erwachen, sich bewegen, wie sie mit mahlenden Kiefern fressen oder wie sie ihre Flügel aufspannen und hoch über der Stadt in den Wolken einen Tanz aufführen. Und wie sie dann, schwupp, wieder auf ihre Plätze zurückflie gen und erstarren. Stefan klopft auf das Raumschiff. Aber die Beton tatzelwürmer bewegen sich nicht. Dafür hört er eine Stimme. »Achtung, Achtung. Angriff auf Raumschiff XAMAX-808.« Stefan trommelt mit beiden Fäusten gegen die Wand des Raumschiffs, so daß es laut dröhnt. Aber die Betontatzelwürmer bewegen sich nicht. Er hört, wie die Tür des Basiscomputers aufklappt. »Raumschiff XAMAX-808 kann nicht mehr star ten. Du bist besiegt«, ruft die Stimme wieder. Es ist eine Mädchenstimme. Eine Spionin also. Stefan steigt das Blut in den Kopf. Er zieht sich auf die Kommandoplattform und hält sich fest, damit er auf der glitschigen Fläche nicht ausrutscht. Er hört, wie die Spionin unten die Eisenleiter ein hängt. Dann klettert eine kleine Gestalt in einem gelben Regenmantel und gelben Stiefeln flink die Bordleiter herauf. Wenn nur Papa jetzt nicht herüber schaut. Im Büro brennt immer noch Licht. Doch 15
Stefan weiß, daß er nichts sieht, auch wenn er am Fenster steht. Höchstens jene seltsamen Figuren, die er manchmal rasch auf ein Blatt Papier kritzelt. »Hallo! Dich habe ich schön erwischt!« Ein Gesicht taucht auf. Unter der gelben Kapuze quellen rote Kraushaare hervor. Das Gesicht des Mädchens ist voller Sommersprossen. Sie sehen aus wie die Rostflecken, die das Raumschiff bedecken. »Ergibst du dich?« »Pah«, macht Stefan und schaut weg. Eigentlich ist er aber froh, daß es nur das Mädchen war, das ihm die Leiter weggenommen hat und nicht die Raumpiraten. Oder gar die Kafferbande aus dem Dorf. »Ich möchte auch auf dem Raumschiff spielen«, sagt das Mädchen. »Das ist gar kein Raumschiff«, gibt Stefan trotzig zurück. »Das ist nur ein alter Betonsilo. Und über haupt ist es verboten, hier heraufzuklettern.« »Warum bist du denn hier?« fragt das rothaarige Mädchen. Stefan gibt keine Antwort. Das Mädchen zieht sich auf die Plattform. Sie steht auf, steckt die Hände in die Hosentaschen und schaut Stefan an. »Hast du Angst?« fragt sie. Stefan bleibt stumm. Aber er nimmt allen Mut zu sammen und steht langsam auf. Sie sehen sich an. Eigentlich sieht das Mädchen ganz nett aus. Es hat eine kleine Stupsnase und helle, grünliche Augen. 16
Nach einer Weile fragt Stefan: »Warum glaubst du, daß das ein Raumschiff ist?« »Ich habe Fotos gesehen in einer Zeitung. So Din ger mit vier Beinen, die auf dem Mond landen kön nen. Und da unten ist ja auch der Name angeschrie ben. XAMAX-808.« »Ja, richtig...« Stefan hat sich für sein Raumschiff einen Namen ausgedacht, den man überhaupt nicht falsch schreiben kann: XAMAX. Man kann jeden Buchstaben umkeh ren, sogar das ganze Wort kann man umkehren, von rechts nach links oder von links nach rechts schreiben, und es heißt immer gleich. Und ist immer richtig. Unten am Raumschiff hat er es mit Filzstift ange schrieben. Er hat sich also verraten. »Wo wohnst du?« fragt das Mädchen. Stefan zeigt zu den Betontatzelwürmern hinüber. Das Mädchen zeigt mit dem Daumen über die Achsel zum Roten Haus. »Ich wohne dort. Deshalb möchte ich auch hier spielen.« Vielleicht ist sie wirklich eine verkappte Spionin. Stefan hat schon einen Film gesehen am Fernsehen, in dem eine Spionin vorgekommen ist. Rote Haare hatte sie auch gehabt. Nur war sie anders angezogen, elegant, so wie Mama, wenn sie zur Arbeit geht. Drüben am Roten Haus geht ein Fenster auf. Ein Mann beugt sich heraus und winkt. »Sonja komm sofort herunter.« Der Mann hat rote Haare und einen roten Bart. 17
»Ja, sofort«, ruft das Mädchen zurück. Sonja. Sie spuckt in hohem Bogen über die Kommando plattform hinab. Dann klettert sie die Bordleiter hinunter. »Sonja heißt du also«, ruft ihr Stefan nach. Sie bleibt unten stehen. »Ja, und du?« »Ich heiße Stefan.« »Tschau, Stefan«, ruft Sonja. Dann verschwindet sie im Gebüsch. Die Eisenleiter hat sie nicht mehr weggenommen. Auch Stefan steigt hinab. Er versteckt die Leiter an einem andern Ort und deckt sie mit herumliegenden Brettern und Steinen zu. Ja, es hat sich einiges geändert.
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Achter Stock. Stop. Keller. Stop. Parterre, erster, zweiter, dritter, vierter, fünfter, sechster, siebenter Stock. Stop. Die Landefähre gehorcht jedem Knopf druck. Die Knöpfe leuchten auf und zeigen so die Höhe an. Die Distanz zwischen der Weltraumbasis und dem Raumlabor. In Millionen Kilometern ange geben, Stefan dirigiert die Landefähre hinauf, hinab. Liftspiel nennen es die andern Kinder im Wohnblock. Wehe, wenn einen der Hauswart dabei erwischt. Stefan weiß, daß einen der Hauswart nicht erwi schen kann, wenn man es richtig macht. Geht die Tür im zweiten Stock, wo er wohnt, dann drückt man acht. Zwischen vier und fünf stoppt man, und während er die Treppe hinaufrennt, fährt man gemütlich zurück zum Parterre und macht sich aus dem Staub. Nur ein Knopf ist gefährlich: Alarm! Der rote Alarmknopf reizt Stefan. Er möchte wis sen, was passiert, wenn man ihn drückt. Aber er getraut sich nicht. Einmal, denkt er, werde ich ihn drücken. Alarm, Tür auf und dann ab die Post! Im siebenten Stock riecht es nach Sonntagsbraten. Stefan steigt aus, zieht die schmutzigen Stiefel aus, nimmt sie in die Hand und betritt die Wohnung. Er schnup pert. Tatsächlich. Der Duft nach brauner Sauce mit gedämpften Zwiebeln und Karotten dringt aus der Küche. Papa steht am Herd, hebt den Deckel von einem Kochtopf. Dampfschwaden hüllen ihn ein. Er 19
hat eine braune Schürze umgebunden, auf der ein Satz in Schreibschrift steht. Stefan liest. Die Liebe geht durch den Magen. »Guten Tag«, sagt Papa. »Wo bist du gewesen?« »Hast du meine Karte nicht gesehen?« »Doch«, sagt Papa. »Aber...« Er rührt ein Stück Butter in den Kartoffelstock. Vielleicht habe ich wieder Fehler gemacht, geht es Stefan durch den Kopf. Er ist erleichtert, als Papa weiterfährt: »Es ist gut, daß du geschrieben hast, daß du draußen bist. Aber ich hätte gerne gewußt wo.« »Ach, nur schnell auf dem Mars«, sagt Stefan. »Ach so, auf dem Mars. Dann ist es ja nicht so schlimm.« »Warum?« »Ich fürchtete schon, du seist auf dem Mond gelan det. Dort wird jetzt gerade frischer Rasen angesät. Das hätte dann wieder Ärger gegeben.« Stefan staunt. »Auf dem Mond wird Rasen angepflanzt?« »Ich glaube. Jedenfalls habe ich bemerkt, daß der Mond immer grüner wird. Bald wird er grasgrün sein. Dann werden sie dort oben Plattenwege anlegen für die Astronauten und eine ganze Rakete voller Schilder hochschießen. Bitte Rasen nicht betreten.« Stefan vergißt vor Staunen die Stiefel hinzustellen. Papa muß sich wieder dem Kochen widmen. Er gibt noch etwas Milch in den Kartoffelstock, dann hebt er den Deckel von der Bratpfanne und probiert mit einem Löffel die Sauce. Auf dem Tisch liegt ein 20
dickes Kochbuch aufgeschlagen. Eine blaue Lochkar te steckt darin. Stefan liest laut. Menü: Bouillon mit Ei Rindsbraten mit Kartoffelstock Rosenkohl Käse Vanilleeis mit heißer Schokolade »Mm«, macht Stefan. Das Wasser läuft ihm im Mund zusammen. »Das hast du aber schnell gelesen«, lacht Papa. Stefan nimmt die Karte. Sie kommt in seine Samm lung. »Feiern wir etwas?« fragt er. Papa überlegt einen Augenblick. »Deine Landung auf dem Mars«, sagt er dann. Stefan trägt seine schmutzigen Stiefel ins Bade zimmer. »Du könntest die Hände waschen und dann den Tisch decken«, ruft ihm Papa nach.
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Mama sitzt in einem Sessel am Fenster und liest Zeitung. Stefan läßt einen Teller durchs Wohnzimmer fliegen, rund um den Tisch, auf und ab, zwischen Stuhlbeinen hindurch, bis er leise auf dem grünen Tischtuch landet, genau am richtigen Platz. Auf dem grünen Mondrasen, in dem sogar bunte Blumen blühen. Sechsmal landet ein fliegender Teller. Drei flache Mannschafts-Ufos und drei dicke TransportUfos. Eß- und Suppenteller. Dann folgen glitzernde Projektile, gleich bündelweise und landen präzis ausgerichtet neben und vor den fliegenden Tellern. Messer, Löffel, Gabel und Dessertlöffelchen, Mama liest immer noch. Sie trägt den violetten, langen Morgenrock, und die Haare hat sie unter einem Tuch zusammengeknotet. Stefan schleicht sich leise von hinten an und hält ihr die Augen zu. »Stefan«, sagt Mama und läßt die Zeitung sinken. Sie duftet nach Bad, Seife und Parfüm. Stefan hält Mama umfangen. »Du bist wieder auf den Betonsilo gestiegen«, sagt sie vorwurfsvoll. »Ich mußte mein Raumschiff kontrollieren«, ver teidigt sich Stefan. »Du weißt doch, daß ich es nicht gern habe, wenn du auf den alten Baumaschinen herumkletterst. Du könntest herunterfallen oder dich an den rostigen Teilen verletzen.«
»Die Weltraumpiraten haben meinen Basiscompu ter kaputtgemacht. Ich mußte ihn reparieren, sonst kann das Raumschiff nicht starten. Und dann mußte ich noch eine Spionin vertreiben.« »Eine Spionin?« Mama legt die Zeitung weg und schaut Stefan an. »Meinst du das Kind im gelben Mantel, das mit dir auf dem Silo war? Das ist also ein Mädchen.« Stefan wird verlegen. Mama hat ihn also beobachtet. Sie hat auch Sonja gesehen. Wenn sie aus dem Fenster schaut, sieht sie nicht seltsame Figuren wie Papa, den grünen Mond oder die Betontatzelwürmer. Sie sieht Stefan auf den alten, verrosteten Baumaschinen herumklettern, was ja eigentlich verboten ist, und statt einer Spionin sieht sie nur ein Mädchen in gelben Stiefeln und einem gelben Regenmantel. »Wie heißt sie denn?« fragt Mama. »Sonja«, sagt Stefan. »Sonja. Ein schöner Name. Und wo wohnt sie?« »Im Roten Haus.« »Dort im roten Backsteinhaus? Ich dachte, das stehe leer.« Mama sieht Stefan streng an. »Ich möchte nicht, daß du dich mit irgendwelchen Kindern aus dem Dorf herumtreibst.« »Sonja ist...«, sagt Stefan schnell ... ist schon in Ordnung, wollte er weiterfahren, aber dann fällt ihm ein, daß sie ja eine Spionin ist. »Sonja ist schuld, daß mein Basiscomputer nicht mehr läuft.« 24
»Das ist doch nur ein alter Schaltkasten. Der taugt ohnehin nichts mehr.« Einmal hat Stefan eine ganze Schachtel voller Be standteile aus dem Schaltkasten herausgeschraubt und nach Hause gebracht. Mama hat ihm erklärt, wie sie heißen. Schmelzsicherungsköpfe Dreiphasenschalter Starkstromklemmen Überstromschutz Siliziumgleichrichterdioden Auch diese schwierigen Wörter stehen auf einer Lochkarte. Mama hat sie ihm vorgeschrieben, und Stefan hat versucht, sie abzuschreiben. Eine mühsame Arbeit war das, viel schwieriger als die Dinger mit Schraubenzieher und Beißzange aus dem Kasten herauszukriegen. Aber nun weiß er wenigstens Bescheid. Papa hätte er nicht fragen können. Papa versteht nichts von Computern, elektrischem Strom und so. Mama dagegen versteht alles. Oder beinahe alles. Computer. Motoren. Kraftwerke. Eisenbahnsi gnalanlagen. Einmal hat sie sogar den Fernsehapparat geflickt. Und den Staubsauger. Mama versteht auch etwas von Raketen, Satelliten, Ufos, Weltraumsonden. Mama ist Ingenieur von Beruf. Vielleicht sagt man auch Ingenieurin. Sie sieht nicht anders aus als die Frauen im Block, die tagsüber ihre Kinderwagen zum kleinen Park hinüberschieben, dort auf den Bänken sitzen und stricken. Vielleicht ist sie ein wenig 25
eleganter angezogen. Und sie geht schneller, beson ders am Morgen, wenn sie zum Parkplatz läuft und in ihr Auto steigt. Stefan wünscht sich, daß Mama einmal zu seiner Weltraumbasis hinüberkommt, daß sie den Computer in Gang setzt, so daß seine Lampen brennen und der Schalter sich wieder mühelos bewegen läßt. Und er wünscht sich, daß sie dann mit ihm auf das Raum schiff steigt. Er würde mit ihr einen Start unterneh men, er würde mit Mama im ganzen Sonnensystem herumsausen, vorbei am Mars bis hinaus zu den fernen Planeten Saturn, Uranus, Neptun und Pluto. Und nach der Landung müßten ihnen die Betontat zelwürmer noch einen Tanz in den Wolken vorführen. Doch Mama hat wenig Zeit. Oft ist sie müde, wenn sie nach Hause kommt. Und in ihren Kleidern würde sie wohl nicht durch das Loch im Zaun schlüpfen. Aber am meisten betrübt ihn, daß sie gar nicht glaubt, daß Stefan Kommandant der Weltraumbasis ist, daß sie immer nur von den alten Baumaschinen spricht. Deshalb sagt er nichts mehr. Er hält sie nur noch umfangen, während sie weiter in der Zeitung liest, bis Papa aus der Küche ruft: »Zu Tisch bitte!« Er trägt auf einem Tablett Suppe, Weingläser und eine Flasche herein. Sie setzen sich an den Tisch. Papa schenkt Wein ein und erzählt, was ihm beim Kochen für Mißge schicke passiert sind. Der Braten ist auf einer Seite angebrannt, der Kartoffelstock ist zu flüssig geraten. 26
Doch das Essen schmeckt trotzdem großartig. Papa schenkt Wein ein und hebt das Glas. »Auf die große Veränderung«, sagt er. Seine Hand zittert ein wenig. »Hast du schon getrunken?« fragt Mama leise. Stefan hat das Gefühl, sie sehe Papa vorwurfsvoll an. Etwas liegt in der Luft, das spürt er. Papa zögert. Dann sagt er: »Ja. Kochen macht eben durstig. Also...« Sie stoßen an. Dann beugt sich Mama zu Papa und gibt ihm einen Kuß. »Ich hab's ja nicht so gemeint.« Auch Stefan stößt an mit seinem Glas. »Auf die große Veränderung«, sagt er laut. Beide sehen ihn überrascht an. »Weißt du denn, was sich verändert hat?« »Ja. Im Roten Haus wohnen wieder Leute«, sagt Stefan. »Sonja.« Mama lächelt. »Ja, richtig. Aber auch bei uns hat sich etwas geändert. Papa wird von jetzt an zu Hause bleiben. Er wird hier arbeiten und auch für dich das Mittagessen kochen. Ich komme über Mittag nicht mehr nach Hause.« Sie stoßen nochmals an, küssen sich, aber ihre Ge sichter sind nicht fröhlich. Stefan ißt schweigend weiter. Wenigstens kann Papa ganz ordentlich kochen, denkt er.
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Stefan sucht seinen Hammer. Dann sucht er die Schachtel mit den Nägeln. Sie ist ausgeleert. Die Nägel sind auf dem Teppich verstreut. Stefan sammelt sie ein. Dann sucht er ein Brett. Im Wandschrank findet er unter Stofftieren, Computerpapier, alten Fasnachtsmasken und einem Papierdrachen versteckt ein Stück Sperrholz. Nun sucht er die Schachtel mit den Bestandteilen des Basiscomputers. Endlich findet er sie unter dem Bett. Ausgeleert. Er sammelt die Sicherungsköpfe und Schalter und Klemmen und Drahtstücke ein und bläst den Staub weg, der sich auf den Teilen angesammelt hat. Stefan möchte sich für sein Raumlabor einen Com puter basteln. Mama soll ihm dabei helfen. Aber Mama sitzt in ihrem Zimmer am Schreibtisch und blättert in einem Buch. Sie sagt: »Es ist Sonntag, Stefan. Heute darfst du nicht hämmern.« Und dann sagt sie noch: »Dein Zimmer sieht ja gar nicht aus wie ein Raumlabor. In einem Raumlabor herrscht peinli che Ordnung. Räume also erst mal dein Zimmer auf.« Dazu hat Stefan überhaupt keine Lust. Er geht zu Papa, der am Tisch beim Fenster sitzt und ein kleines weißes Blatt bemalt. Er gibt keine Antwort, als ihn Stefan anspricht. Lange schaut er nur aufs Blau. Dann mischt er ganz schnell in seinem Malkasten eine wässrige gelbliche Farbe, trägt sie mit raschen Pinsel strichen auf und sieht zu, wie sie trocknet. 28
»Laß mich bitte in Ruhe, Stefan«, sagt Papa leise. »Ich male mit Aquarellfarben. Das ist ziemlich heikel.« Er nimmt einen Schluck Wein. Die Flasche, die er nach dem Mittagessen mit ins Zimmer genommen hat, steht auf dem Tisch. Sie ist leer. Stefan blättert in seiner Lochkartensammlung. Es gibt rote, blaue, gelbe, grüne und weiße Karten. Stefan kennt viele auswendig, und so macht ihm auch das Lesen wenig Mühe. Mein Flugzeug kommt Freitag um 16 Uhr 20 an. Holst du mich ab? Bis dann. Ich umarme dich. Susanna. Diese Karte hat Mama geschrieben. Mama fliegt oft weg für ein paar Tage. Geschäftsreise nennt sie es. Baumann hat angerufen wegen den Plänen. Ich mußte nochmals ins Büro. Auf bald. Christian. Stefan erinnert sich an Baumann. Papa hat für ihn Häuser gebaut. Betontatzelwürmer. Manchmal schien es, als habe Papa Angst vor Baumann. Aber nun wird er nicht mehr anrufen. Wie es scheint, zeichnet Papa ja auch keine Pläne mehr. Er zeichnet und malt nur noch jene seltsamen Figuren. Mondbasis Alpha I Raumschiff Enterprise Odyssee 2000 Abenteuer im Weltall Das ist eine Karte für Stefan. Es sind die Titel der Weltraumfilme, die er am Fernsehen gesehen hat. 29
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Mama hat sie ihm vorgeschrieben. Stefan hat sie dann auf eine zweite Karte abgeschrieben. In seinem Geheimcode. Spiegelverkehrt, sagte Mama. Er sollte es nochmals versuchen, schön von links nach rechts. Papa hat ihn getröstet: »Auch die Araber schreiben von rechts nach links. Vielleicht hast du ein bißchen arabisches Blut, daß du oft Buchstaben oder ganze Wörter umkehrst, Stefan.« Stefan hat nicht verraten, daß das sein Geheimcode ist, mit dem er die Weltraumpiraten vertreiben kann. Und andere Gefahren. Nur Frau Federspiel weiß es. Seit er jene Karte verkehrt abgeschrieben hat, muß er nämlich jede Woche einmal zu Frau Federspiel in die Stunde. Damit er lernt, seinen Geheimcode nur dann anzuwenden, wenn es nötig ist. Mama sagt, Stefan sei ein Träumer. Er müsse sich nur besser konzentrieren, dann passiere es ihm nicht, daß er Wörter falsch oder verkehrt herum schreibe. Es ist alles nur eine Sache des Willens, sagt Mama. Immerhin hat sie ihm erlaubt, seinen Vornamen abzuändern. Stefan darf er schreiben stau Stephan. Das ist schon ein Buchstabe weniger. Lange hat Stefan die blaue Karte mit seinen Ge heimcodewörtern betrachtet. Nun schaut er aus dem Fenster. Alles ist gelb geworden draußen. Die Welt raumbasis steht auf gelbem Sand, so scheint es. Mondgelb, gelb wie Papas wässrige Aquarellfarbe. 31
Gelb wie der Kartoffelstock, den es zum Mittagessen gegeben hat. Der Tümpel ist die braune Bratensoße. Nein. Eine Oase mit einem Wasserloch, um das herum Palmen wachsen. Die Erdhaufen sind Sanddü nen. Eine Weltraum-Basis in der Wüste also. Natür lich ist alles in arabischer Schrift angeschrieben. Von rechts nach links. Und neben dem Raumschiff erhebt sich eine große rötliche Pyramide. Sind die Pyramiden aus rotem Backstein gebaut? Stefan weiß es nicht. Papa würde bestimmt ja sagen, wenn er ihn fragte. Und wenn er Zeit hat, ihm erklä ren, daß die Pyramiden innen hohl sind. Drinnen sind Hotels mit feinen Zimmern, rosarot und hellgrün bezogenen Betten, Spitzenvorhängen, Spiegelschrän ken, teppichbespannten Gängen, Glastüren, die sich lautlos öffnen, wenn man sich nähert, einem Speise saal mit einem mächtigen Kristalleuchter, Kellnern in schneeweißen Anzügen und ein großer grüner Swim mingpool, der geheizt ist und an dessen gekachelten Rändern Plastikpalmen stehen, an denen echte Ko kosnüsse hängen, die man pflücken und essen kann. Und Mama würde mit vorwurfsvoller Stimme sa gen: »Ach, Christian...« Sind denn die Pyramiden nicht aus Backstein? Mama würde ein Lexikon holen und Stefan Bilder zeigen, auf denen man sieht, wie ein Heer von Skla ven die Pyramiden aus großen weißen Kalksteinen gebaut hat. Vor viertausend Jahren vielleicht. Im Innern sind keine Hotels, sondern Grabkammern für 32
die ägyptischen Pharaonen. Und dann würde sie einen Flaschenzug auf eine Karte skizzieren, um Stefan zu erklären, wie die Sklaven die gewaltigen Steinblöcke hochgezogen haben. Aber Stefan fragt nicht. Papa malt, und Mama ist im Badezimmer. Er hört den Fön. Und er stellt sich vor, wie draußen ein heißer Sandsturm über die Wüste fegt, wie gelber Staub die fernen grauen Tafelberge verschluckt und dann auch die rote Pyramide einhüllt. Alles verschwimmt vor seinen Augen. Nur die Sonne steht noch als helle Scheibe am Himmel. Dann bewegt sich die Scheibe. Sie kommt auf ihn zu. Nein, es ist nicht die Sonne, es ist ein runder weißer Flugkörper mit gelber glänzender Plastikkuppel. Ein Ufo. Wie ein Spiegelei schlingert es durch die Luft, taumelt hin und her im Sandsturm. Dann greift es im Tiefflug die Weltraumbasis an. Weltraumpiraten! Der Fön wird abgestellt. Platsch, zerplatzt das Spiegelei-Ufo direkt über dem Parkplatz. Gelbe und weiße Sauce kriecht über den schwarzen Asphalt. Mamas Auto, das einzige, das noch unten steht, ist ganz gelb. Ein Betontatzelwurm beugt sich herab und leckt es wieder blank. Auch das Rote Haus hat ein paar Spritzer abbekommen. Und im Gebüsch neben der Weltraumbasis sieht Stefan einen gelben Fleck, der sich bewegt. Eine kleine Gestalt, die gleich wieder verschwindet. Sonja, die Weltraumpiratin.
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Lieber Stefan. Komm heute nach der Stunde sofort nach Hause. Papa kocht das Mittagessen. Kuß. Mama. Eine gelbe Karte. Stefan hat sie in die Stunde mit genommen und liest sie Frau Federspiel vor. Sie ist zufrieden. Dann muß er noch ein paar Übungen machen. Ein Kreuzworträtsel lösen. Zwei Bilder betrachten und sieben Unterschiede herausfinden. Und dann fünf schwierige Wörter lesen und auswendig aufschreiben. Radfahrer Vielfraß Stiefvater Veilchenstrauß Einkaufszentrum Stefan macht wenig Fehler, und beim zweiten Mal macht er nur noch einen: Vielvraß. Nun darf er selber ein schwieriges Wort erfinden. Schnell schreibt er ins Heft: Betontatzelwurm. Frau Federspiel versucht zu erraten, was das ist. »Ein Tausendfüßler, der an einer Betonmauer em porklettert?« »Nein.« »Eine Reihe von Betonröhren auf einem Kinder spielplatz, durch die man kriechen kann?« »Nein.« »Ein Tier mit scharfen Zähnen, das Beton fressen 34
kann?« »Beinahe...« »Ein Wohnblock, der auf vielen Betonpfeilern steht. So einer wie der, in dem du wohnst, Stefan?« »Genau!« Frau Federspiel möchte nicht in einem Betontat zelwurm wohnen. Sie wohnt im Dorf in einer schma len Gasse. In ihrem Wohnzimmer, wo sie Stefan unterrichtet, steht ein kleiner Eisenofen. Manchmal holt sie im Korridor ein Stück Holz und schiebt es in den Ofen. Es ist gemütlich warm. An einer Wand steht ein Gestell mit vielen Büchern. Unten sind Bilderbücher und viele Spiele, mit denen Stefan manchmal am Ende der Stunde noch spielen darf. Stefan geht gerne zu Frau Federspiel. Obwohl ihn die andern Kinder in der Klasse oft deswegen necken. Wenn sie wüßten, daß er mit seinem Geheimcode sogar die Weltraumpiraten vertreiben kann ... und daß er vielleicht arabisches Blut hat. Er verrät seine Geheimnisse niemandem. Nur Frau Federspiel erzählt er es. Sie hört ihm aufmerksam zu und nickt. »Ja ja, das kann schon sein, Stefan«, sagt sie. Die Stunde ist schon wieder um. Frau Federspiel gibt ihm die gelbe Karte zurück und ermahnt ihn noch: »Geh also schnell nach Hause, damit dein Papa nicht warten muß mit dem Essen. Bestimmt gibt es etwas Gutes.« Stefan steigt das Treppenhaus hinab, dessen Stufen knarren und immer nach Bohnerwachs riechen. 35
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Durchs Dorf geht Stefan schnell. Er hat Angst vor der Kafferbande. Einmal haben sie ihn eingekreist und gefragt, was er im Dorf zu suchen habe. Und dann haben sie ihn gestoßen und ausgelacht. Stefan macht einen Umweg, damit er nicht über den Platz mit dem Brunnen muß. Dort stehen die Kaffer immer herum. Er kommt durch die Unterfüh rung, deren Wände vollgeschrieben sind. Affen gehen schaffen Mike ist doof Grün ist die Hoffnung Der Weg ist weit. Am Rand des Dorfes muß Stefan die breite Straße überqueren. Es gibt dort einen Fußgängerstreifen und eine Ampel mit Druckknopf. Er drückt viermal und zählt jedesmal die Autos, die anhalten müssen. »Fünf plus sieben plus zwei plus sechs gibt zwan zig. Durch vier gibt fünf. Gleich Durchschnitt fünf.« Blitzschnell rechnet Stefan das aus. Im Rechnen ist er einer der Besten. Papa sagt manchmal: »Du hast einen kleinen Computer im Kopf, Stefan.« Mama gibt ihm schon schwierige Aufgaben. Wur zelziehen zum Beispiel. Sie sagt: »Die Wurzel aus einer Zahl ist eine andere Zahl, die mit sich selber multipliziert die erste Zahl ergibt.« Das klingt kompliziert. Für Stefan ist das aber ganz 36
einfach. »Wurzel aus neun ist drei, weil drei mal drei neun gibt«, sagt er. Nun drückt er nochmals auf den Druckknopf. Fünf Autos halten an. Also sind es im Ganzen fünfund zwanzig. Die Wurzel ist fünf, weil fünf mal fünf fünfundzwanzig ist. Ganz einfach. Das macht Stefan viel mehr Spaß als lesen und schreiben. »Warum drückst du eigentlich den Ampelknopf, wenn du dann doch nicht über die Straße gehst?« fragt eine Stimme neben ihm. Stefan erschrickt. Ein Automobilist hat die Scheibe heruntergedreht und schaut ihn böse an. »Verkehrs zählung...«, stottert Stefan. »Saubub! Paß auf, wenn ich dich nochmals erwi sche!« Hinter dem Auto beginnen die andern zu hupen, weil die Ampel auf Grün umgeschaltet hat. Der Mann muß weiterfahren. Stefan wartet eine Weile, dann drückt er noch einmal. Diesmal nähern sich zwei Mopeds. Ihre Motoren surren wie große Wespen. Die Ampel wird grün, so daß die Wespen anhalten müs sen. Stefan rennt über die Straße. Jetzt nur weg, denkt er. Das sind zwei Kaffer in dunklen Lederjacken und schwarzen glänzenden Sturzhelmen. Er hört hinter sich die Wespen aufheulen, aber er ist schon beim Bretterzaun, der auch auf dieser Seite einen geheimen Durchschlupf hat. Hinein und das Brett davor! Draußen surren die 37
Wespen vorbei. Stefan atmet schwer. Hoffentlich haben ihn die Kaffer nicht gesehen. Statt dem Bretter zaun entlang auf dem Trottoir zu gehen, benutzt Stefan nämlich oft die Abkürzung über den verlasse nen Bauplatz. Es ist sein Geheimweg. Eine Spur führt durchs Gebüsch, dann am Roten Haus vorbei, über Erdhaufen, dem Tümpel entlang zur Weltraumbasis. Er geht leise, damit ihn Sonja nicht bemerkt. Sie braucht nicht zu wissen, daß er ins Dorf in die Stunde muß. Manchmal sieht er sie jetzt von weitem in den Pausen. Sie geht auch ins Bachmattschulhaus, aber in eine andere Klasse. Bei der Weltraumbasis ist alles in Ordnung. Der Computer ist verschlossen, die Leiter im neuen Versteck. Stefan kriecht durch das andere Loch im Zaun, das in den Park führt. Er überquert die Bach mattstraße. Auf dem Parkplatz spielen Buben aus den Wohn blocks Hockey. Mit Eishockeyschlägern versuchen sie, einen Tennisball in die Lücke zwischen zwei Autos zu schießen. Oft prallt der Ball gegen die Tür oder die Kühlerhaube der Fahrzeuge. Die Buben kümmern sich nicht darum. Wenn der Abwart auf taucht, müssen sie ohnehin blitzschnell verschwinden. »Wo kommst du denn her, Kleiner?« ruft einer Stefan zu. Stefan geht vorbei, ohne zu antworten. Andere Kinder, die auf den Wegen Rollbrett fahren, rufen ihm nach: »Der mußte wohl nachsitzen, daß er erst jetzt 38
nach Hause kommt.« Stefan rennt davon. Erst in der Landefähre fühlt er sich wieder sicher. Er drückt eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht. Die Kapsel steigt nach oben und hält in jedem Stock an. Dann drückt er: Parterre, vier, fünf, sieben. Die Kapsel schwebt in die Tiefe. Sie hält im sieben ten, im fünften, im vierten Stock und im Parterre. Die Landefähre hat also doch keinen richtigen Computer mit Gedächtnis, denkt Stefan. Das Experi ment zeigt, daß sie sich zwar an alle Knöpfe erinnern kann, die er drückt, aber nicht an die richtige Reihen folge. So wie es ihm manchmal mit den Buchstaben ergeht. Mama könnte ihm bestimmt erklären, wie die Steuerung der Landefähre funktioniert. Für sie ist es zwar nur ein gewöhnlicher Lift. Jemand poltert oben gegen die Lifttür. Stefan steigt aus und geht zu Fuß durchs Treppenhaus zwei Stock werke höher. Dann wartet er, bis der Jemand unten das Haus verläßt und fährt zum siebten Stock hoch.
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In der Wohnung ist es ganz still. Stefan zieht die Stiefel aus und wirft den Schulranzen hin. Die Kü chentür steht offen, aber die Küche ist leer. Auf dem Tisch steht kein Essen bereit, nur eine leere Flasche und ein Glas mit einem Rest Wein, in dem eine Mücke hilflos zappelt. Das Frühstücksgeschirr ist noch genauso im Spülstein, wie er es am Morgen hingestellt hat. Auch Mamas Kaffeetasse steht noch dort. Stefan holt die gelbe Karte aus dem Schulranzen. Papa kocht das Mittagessen... Da geht die Tür zum Büro auf. Papa steht auf der Schwelle und schaut ihn erstaunt an. »Ach, Stefan, bist du schon hier?« Wortlos streckt ihm Stefan die gelbe Karte hin. Papa betrachtet sie lange. Dann sagt er leise: »Das habe ich ganz vergessen. Es tut mir leid.« Er macht ein trauriges Gesicht. »Ich wollte doch malen.« »Was wolltest du denn malen?« fragt Stefan. »Etwas, was ich sehe. Wenn ich aus dem Fenster schaue, zum Beispiel. Aber es ist nicht gegangen.« »Vielleicht hast du gar nichts gesehen«, meint Ste fan. Papa denkt nach. »Genau«, sagt er. »Ich habe gar nichts gesehen.« Wenn er nur sehen könnte, was ich sehe, denkt Stefan. Tanzende Betontatzelwürmer in den Wolken. 40
Ein Start mit XAMAX-808 von der Weltraumbasis in der Wüste aus. Ein Blitz, eine Feuersäule, Rauch und oben ein glitzerndes Ding, das in den blauen Himmel sticht, während unten in den gelben Sandwolken Kamele davongaloppieren. Und dann ein Schwarm Spiegelei-Ufos, in denen Weltraumpiraten die Basis umschwärmen. Stefan bekommt Hunger, wenn er an die SpiegeleiUfos mit ihren leuchtendgelben Dottern denkt. »Was sollen wir jetzt machen?« fragt Papa. »Vielleicht Spiegeleier«, schlägt Stefan vor. »Genau!« Papas Gesicht hellt sich auf. »Komm, wir machen sie zusammen.« Er räumt das Glas und die Flasche vom Küchen tisch. Dann öffnet er den Kühlschrank und legt die Eier auf den Tisch. »Fünf Stück. Zwei für dich, drei für mich«, schlägt er vor. »Eine ganze Staffel«, sagt Stefan. »Eine Staffel? Was für eine Staffel meinst du?« »Spiegelei-Ufos«, sagt Stefan. Papa lacht. »Genau. Jetzt braten wir eine ganze Staffel fliegender Spiegeleier.« Er versucht, die Eier wie Kreisel auf dem Tisch sausen zu lassen. Vier fallen gleich wieder um, eines aber dreht sich. »Das ist gekocht. Das können wir nicht brauchen«, sagt Papa. »Es gibt also nur eine Viererstaffel. Zwei für dich, zwei für mich.« 41
Er setzt die Bratpfanne auf, gießt Öl hinein. Als es heiß ist, schlägt er die Eier auf und läßt sie vorsichtig in die Pfanne gleiten. »Ein Riesen-Spiegelei-Ufo mit vier Kuppeln«, sagt Stefan. Papa schneidet Brot ab. Dann holt er eine neue Flasche Wein aus dem Schrank, zieht den Korken heraus und schenkt sich ein Glas voll. Seine Hand zittert dabei. »Was ist, Papa?« fragt Stefan. »Ach, nichts.« Er macht eine lange Pause. »Ich habe mich noch nicht an das Arbeiten zu Hause gewöhnt. Eigentlich wollte ich malen, ich hatte viele Ideen, doch plötzlich habe ich einfach nichts mehr gesehen. In meinem Kopf war eine Wand, die mir alles verbaute. Ich sah nur noch weiße und graue Flecken tanzen, manchmal noch ein bißchen Grün dazwischen, aber das hat nicht genügt. Dann habe ich mich hingelegt und bin einge schlafen. Ich habe etwas Eigenartiges geträumt.« Stefan holt Teller, Messer und Gabeln aus dem Schrank und deckt den Tisch. »Erzählst du mir den Traum?« fragt er. »Ich habe geträumt, ich müßte unseren Wohnblock bemalen. Jemand hat mir einen Pinsel, einen Kübel Farbe und eine lange Leiter gegeben. Damit sollte ich die Fassaden, die Balkone, ja selbst das Dach bema len. Unten auf dem Parkplatz standen noch weitere Farbkübel bereit. Jede nur denkbare Farbe war da. 42
Doch die Arbeit kam mir so unendlich groß vor, daß ich überhaupt nicht beginnen mochte.« »Farbige Betontatzelwürmer. Das wäre doch toll«, platzt Stefan heraus. »Man müßte wirklich alle bemalen. Dann würde ich nicht nur graue und weiße Flecken sehen.« Papa streut Salz auf das Riesenspiegelei, holt die Pfeffermühle und mahlt reichlich Pfeffer auf die vier Eidotter. Dann zerteilt er es und läßt je eine Hälfte auf einen Teller gleiten. Sie setzen sich hin und essen. »Ich habe auch geträumt«, sagt Stefan. »Daß ein Riesen-Spiegelei-Ufo auf unserem Parkplatz zu landen versucht und dabei zerplatzt. Alle Autos und die Bachmattstraße und die Hausfassaden werden verspritzt vom Eigelb. Schließlich erwachen die Betontatzelwürmer und lecken alles wieder weg.« Papa lacht. »Meinst du, sie würden auch meine Farbe wieder ablecken?« »Ich verrate dir ein Geheimnis«, sagt Stefan. »Die Betontatzelwürmer können nämlich tanzen. Und ein farbiges Kleid würde ihnen bestimmt gefallen.« Papa überlegt lange. Dann nickt er. »Als ich noch in der Stadt arbeitete, habe ich selber solche Betontat zelwürmer gebaut. Aber daß sie tanzen könnten, daran habe ich nie gedacht.« »Man muß den Trick wissen«, sagt Stefan. »Dann sieht man es.« »Ich habe Häuser entworfen, ohne sie wirklich zu sehen«, sagt Papa. Er legt Messer und Gabel weg, 43
obwohl er noch nicht fertig gegessen hat, und stützt den Kopf in beide Hände. »Ich möchte Maler werden. Aber ich sehe immer noch nichts. Vielleicht schaffe ich es nie.« »Ich möchte Raumschiffpilot werden«, sagt Stefan. »Oder Astronaut. Oder Spion. Oder Weltraumpirat.« Papa lächelt. Dann essen sie schweigend weiter.
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Samstagmorgen und schulfrei! Mama ist unten in der Waschküche. Und Papa ist weg. Stefan hämmert. Er hat die Computerteile, die er von der Weltraumbasis mitgebracht hat, auf das Brett genagelt. Den Schalter, die Sicherungsköpfe, die Klemmen. Dazu Lämpchen, eine Batterie, eine rote Taste und eine Klingel. Mama hat ihm auf ein Blatt Papier aufgezeichnet, wie er die Teile mit den farbi gen Drähten verbinden soll, die sie ihm mitgebracht hat. Sie hat ihm ein richtiges Schaltschema gemacht. »Der Strom muß immer im Kreis fließen können«, hat sie erklärt. »Vom Pluspol der Batterie zur Taste, dann zur Klingel und wieder zurück zum Minuspol der Batterie. Das ist ein Stromkreis. Wenn du auf die Taste drückst, wird er geschlossen.« Wieder ein Wort, das Stefan auf eine Karte notieren muß: Stromkreis Er drückt die rote Taste. Und wirklich schrillt die Klingel laut auf. Alarm! Er schaltet den Schalter ein. Ein Lämpchen leuchtet. Das ist ein anderer Strom kreis. Der Raumlaborcomputer funktioniert. Nun kann er seine Weltraumbasis vom Fenster aus kontrollieren. Mit den Lämpchen kann er Signale aussenden. Oder auch Todesstrahlen, wenn Raumpiraten und Spione auftauchen. Mit der Klingel kann er Alarm auslösen. 45
Er kann Signale von Raumsonden empfangen und aufzeichnen. Sein Raumlaborcomputer kann aber noch viel mehr. Selbst die allerschwierigsten Rech nungen. Wenn er dabei noch seinen Kopfcomputer zu Hilfe nimmt. Mama hat Stefan erklärt, daß ein Com puter eigentlich nur zwei Zeichen kennt. Null und Eins. Entweder ist in einer Lochkarte ein Loch oder keines. Entweder brennt ein Lämpchen oder es brennt nicht. So einfach ist das also! Alle Zahlen setzt sich der Computer aus lauter Nullen und Einsen zusam men. Das ist sein Geheimcode. Stefan schreibt ihn auf eine weiße Karte: 0 ist 0 4 ist 100 8 ist 1000 1 ist 1 5 ist 101 9 ist 1001 2 ist 10 6 ist 110 10 ist 1010 7 ist 111 3 ist 11 Er wird die Karte Mama zeigen, wenn sie fertig ist mit der Wäsche. Auch Papa würde er die Computer zahlen zeigen, aber Papa ist nicht da. Gestern abend hat eine grüne Karte neben dem Telefon gelegen. Ich bin weg. Christian. Seither ist er nicht mehr aufgetaucht. Mama hat kein Wort gesagt. Sie hat die Karte an sich genom men. Stefan hat sich nicht getraut zu fragen, ob er sie haben könnte für seine Sammlung. Später hat er sie in Mamas Papierkorb gesehen. Zerrissen. Mama ist am Morgen mit ihrem Auto zum Einkau fen gefahren. Sie hat gekocht und auch beim Essen 46
hat sie kaum ein Wort gesagt. Nun macht sie die Wäsche, die Papa eigentlich schon gestern hätte machen sollen. Stefan hört, wie sie den schweren Wäschekorb in die Küche trägt und mit Bügeln beginnt. Er arbeitet mit dem Raumlaborcomputer, doch ist er nicht mehr richtig bei der Sache. Vielleicht sollte er Mama fragen, wo Papa hingegangen ist. Es klingelt. Stefan versteht nur Wortfetzen. »Polizei ... nein, keine Ahnung ... gestern weggefahren ... nichts gesehen...« Stefans Herz beginnt heftig zu klopfen. Sucht die Polizei etwa nach Papa? Er späht durchs Schlüsselloch. Im Korridor steht wirklich ein Mann in blauer Uniform mit einem kleinen schwarzen Notizbuch in der Hand. »Vielen Dank für die Auskunft«, sagt er. Dann geht er, und Mama schließt die Tür hinter ihm. Sie kommt in Stefans Zimmer. »Diese Unordnung«, bemerkt sie zuerst. Doch Ste fan hört das kaum. Er möchte wissen, warum der Polizist geklingelt hat. »Ach, jemand hat unten etwas mit Sprayfarbe an die Hauswand geschrieben.« »Oh«, macht Stefan. »Was denn?« Mama lächelt. »Das hat mir der Polizist nicht ge sagt. Aber geh doch runter und lies es.« Stefan schwebt mit der Landefähre hinab. Neben dem Hauseingang stehen ein paar Leute. Sie schauen ihn böse an, so daß er rasch an ihnen vorbei ins Freie rennt. Auf dem Vorplatz steht das Polizeiauto. Zwei 47
Mädchen kreisen mit Rollschuhen rundherum. Die andern Kinder stehen vor der Mauer neben dem Eingang. »Hast du das geschrieben?« ruft ihm ein großes Mädchen zu und zeigt auf die Mauer. »Der war es bestimmt nicht. Der kann ja gar nicht richtig schreiben«, sagt ein Bub aus Stefans Klasse. Stefan wird rot. Am liebsten möchte er wieder in die Landefähre und hinauf zu Mama. Aber er bleibt trotzdem stehen und liest... Doch er ist so aufgeregt, daß er immer wieder über die Wörter stolpert, die mit großen, leuchtend roten Buchstaben auf die weiße Mauer gesprayt sind. Endlich versteht er den ganzen Satz. Wenn die Betontatzelwürmer erwachen, fliegen sie mit dir davon. Der rote Satz verschwimmt vor Stefans Augen. Die Buchstaben fallen durcheinander, klappen um, werden zu rot leuchtenden Flecken auf der Haut des Betontat zelwurmes. Er scheint sich zu strecken und zu win den. Er scharrt mit seinen Beinen und stampft auf den Boden, daß er leise zittert. Eine Botschaft, denkt Stefan. Irgend jemand schickt mir eine Botschaft. In einem Geheimcode. Es ist nicht Stefans Geheimcode, es ist auch nicht Computercode. Es ist etwas anderes. Stefan rennt an den schimpfenden Leuten vorbei zur Landefähre, drückt sieben. Das ist das Raumlabor. Während er in die Höhe schwebt, fällt ihm Papas 48
Traum ein. Er sieht ihn mit einer Leiter, einem Kübel roter Farbe und einem Pinsel vor der weißen Mauer stehen... Stefan eilt ins Raumlabor, legt eine weiße Karte auf den Computer, nimmt einen roten Filzstift und schreibt. Wenn die Betontatzelwürmer erwachen, fliegen sie mit dir davon. Mama kommt ins Zimmer. »Nun, hast du es gele sen?« fragt sie. Stefan zeigt ihr die Karte. Sie schaut sie lange an, und auch vor ihren Augen scheinen die Buchstaben einen Augenblick lang zu verschwimmen. Dann fährt sie Stefan über die Haare und sagt: »Das hast du aber gut geschrieben. Kein einziger Fehler!« »Mein Computer hat es geschrieben«, sagt Stefan. »Es ist eine geheime Botschaft aus dem All.« »Ja, ja, aus dem All«, wiederholt Mama. Dann legt sie die Karte hin und geht zurück in die Küche.
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Am Nachmittag besteigen sie Mamas Auto. Stefan sitzt hinten und schaut zu, wie sie anfährt, Gas gibt, schaltet und wieder bremst, Mama hat eine Brille aufgesetzt. Stefan kann ihr Gesicht im Rückspiegel sehen. Manchmal schaut sie ihn an und lächelt. »Wohin fahren wir?« »Das ist eine Überraschung.« Stefan denkt an Papa, der nicht nach Hause ge kommen ist. Aber er sagt nichts. Der Verkehr in der Stadt ist dicht. Manchmal gibt es lange Kolonnen vor den Verkehrsampeln. Auf einem großen Parkplatz müssen sie lange umherfah ren, bis sie endlich ein freies Feld finden. Neben dem Parkplatz stehen langgestreckte weiße Hallen. Fahnen wehen. An einer Halle ist mit großen Buchstaben angeschrieben: Industrie-Roboter-Ausstellung. Das steht auch auf eine Lochkarte gedruckt, die Mama an der Kasse beim Halleneingang abgibt. Sie erhalten Eintrittskarten und dürfen die Halle betreten. Es surrt und knackt und klappert und klickt und pfeift und piepst und quietscht und zischt und klirrt überall. Durch weite Gänge strömen viele Leute, vor allem Männer mit Aktenköfferchen in der Hand. Sie drängen sich um die Stände, die links und rechts aufgebaut sind. Stefan schaut sich um, ob er einen Roboter entdeckt. An einem Stand sieht er zwischen den Leuten hin
durch eine Kluppenhand aus Metall. Sie greift in eine Kiste. Klack, hat sie ein rotes Blechteilchen gepackt, hat es gedreht und auf einen Tisch gelegt. Dann greift sie in eine andere Kiste, holt ein Rädchen, ein zweites, ein drittes, ein viertes. Noch ein paar weitere Bewe gungen, dann ist ein kleines Spielzeugauto zusam mengesetzt. Die Kluppenhand ergreift es und streckt es Stefan hin. »Du darfst es haben«, sagt Mama. Klack, läßt es die Kluppenhand los. Stefan staunt. Schon setzt die Kluppenhand das nächste Auto zusammen. »Das ist also ein richtiger Roboter«, sagt Mama. Eigentlich hat sich Stefan einen Roboter ganz an ders vorgestellt. Ein Metallgeschöpf mit Kopf und Gliedern, das sich zackig bewegt, so wie in den Fernsehfilmen. Es hat Laseraugen, Radarohren und Raketendüsen auf dem Rücken, so daß es wie ein Raumschiff durch den Weltraum flitzen kann, wo es mit anderen, ähnlichen Maschinenwesen gefährliche Kämpfe auszufechten hat. Und nun ist ein Roboter also nur eine Kluppen hand, die Spielzeugautos zusammensetzt. Er heißt Autorob-3. Mama zeigt Stefan ein Fernsehauge, mit dem Auto rob-3 die Teile, die er packt, anschaut, damit er sie richtig ergreift und zusammensetzt. Sie unterhält sich mit einem Mann, der neben dem Roboter an einem Bildschirm sitzt. Wenn er auf einer Art Schreibma schinentasten das Wort Stop tippt, bleibt die Kluppen 52
hand sofort stehen. Stefan darf Start eintippen. Nun arbeitet die Klup penhand weiter. »Das ist der Computer, der den Roboter steuert«, sagt der Mann. Er spricht mit Mama über Dinge, die Stefan nicht versteht. »Programm ... Videosensoren ... Berührungsschal ter ... Schrittmotoren.« Stefan darf mit Autorob-3 spielen. Auf den Tasten kann er der Kluppenhand Befehle erteilen. Auf, Zu, dann öffnet und schließt sie sich. Oder: Hoch, Tief, Links, Rechts. Er kann sie in alle möglichen Stellun gen bringen. Schließlich gelingt es ihm sogar, ein Spielzeugauto aus einer Kiste zu holen. »Bravo, gut gemacht«, sagt der Mann. Und Mama fragt er: »Möchten Sie nicht bei uns arbeiten? Wir suchen dringend einen Ingenieur, der sich mit Compu tern auskennt.« Er gibt ihr eine Visitenkarte mit seinem Namen drauf. »Ich muß mir das überlegen«, sagt Mama. Stefan ist stolz auf sie. Der Mann gibt ihm eine Plastiktüte und ein paar farbige Prospekte von Auto rob-3. Dann gehen sie weiter zu anderen Ständen, an denen überall ähnliche Roboter mit Kluppenhänden ausgestellt sind. Es gibt auch ganz große, die richtige Autos zusammenschweißen und mit Farbe bespritzen. Mama stellt fast überall Fragen. Stefan sammelt Prospekte ein bis die Plastiktüte voll ist. Mit der Zeit wird es ihm langweilig. Die Kluppenhände machen 53
stets dieselben Bewegungen. Mama sagt, deshalb brauche man eben die Roboter. Sie führen Arbeiten aus, die für die Menschen langweilig sind. Sie setzen sich in ein Restaurant, das in einer Ecke der Halle eingerichtet ist. Mama trinkt Kaffee. Stefan bekommt eine Cola und einen Nußgipfel. Mama sieht müde aus. Einmal schließt sie die Augen und drückt sich mit beiden Händen die Schläfen. »Hast du Kopfschmerzen?« fragt Stefan. Sie zuckt die Achseln. »Ein bißchen. Vielleicht vom Lärm in der Halle.« Auch im Restaurant hört man deutlich das Surren und Knacken und Klappern und Klicken und Pfeifen und Piepsen und Quietschen und Zischen und Klirren der Roboter. »Warum versteht Papa eigentlich nichts von Robo tern und Computern?« fragt Stefan. »Weil es ihn nicht interessiert.« »Ich möchte schon etwas davon verstehen«, sagt Stefan. »Stell dir vor, wenn ich in meinem Raumlabor einen richtigen Autorob-3 oder so etwas Ähnliches hätte.« »Vielleicht kaufe ich dir einmal einen kleinen Computer«, sagt Mama. »Wenn du fleißig bist in der Schule.« Die Schule also, immer die Schule. Mama war bestimmt die Beste in der Schule. Darum ist sie Ingenieur geworden. Oder Ingenieurin. Stefan denkt an Papa. Papa fragt ihn nie nach der Schule. Stefan 54
wird traurig. Stumm folgt er Mama durch die Halle zum Ausgang. Draußen bleibt sie stehen. »Du, das wegen der Schule habe ich nicht so ge meint. Es tut mir leid«, sagt sie. Stefan gibt keine Antwort. Aber er ist froh, daß sie ihm den Arm um die Schulter legt und ihn im Gehen an sich drückt.
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Aus der Küche duftet es nach Käseschnitten. Stefan hört Teller klappern. Draußen dämmert es schon. Stefan schaltet seinen Raumlaborcomputer ein und sendet Signale zur Weltraumbasis hinüber. Er kontrol liert, ob alles in Ordnung ist. »Stefan, wir essen gleich«, ruft Mama aus der Kü che. Da leuchtet eine rote Lampe auf. Alarm! Der Computer hat festgestellt, daß jemand die Basis betreten hat. Mit seinen Videosensoren oder wie die Dinger heißen. Schnell schreibt Stefan auf eine rote Lochkarte: Überfal auf XAMAX-808 Bin drausen. Stefan. Das heißt, der Computer schreibt. Geheimcode. Stefan steckt die Karte durch einen Türspalt in die Küche. »Oh, Stefan...«, ruft Mama. Aber er ist schon draußen in der Landefähre, schal tet die Bremsdüsen ein und landet weich. Alarm! Der rote Knopf! Kräftig drückt Stefan dar auf. Eine Glocke schrillt durchs Treppenhaus. Stefan erschrickt. Oben im ersten Stock geht eine Tür auf. »Was ist los?« ruft eine Stimme. Es ist der Haus wart! Stefan rennt davon, so schnell er kann. Atemlos kommt er beim Bretterzaun an, schiebt das lose Brett beiseite und schlüpft durch das Loch. Leise 56
nähert er sich dem Raumschiff. Zum Schluß kriecht er auf allen vieren einen Erdhügel hinauf. Der Boden ist kühl. Die Nässe dringt durch die Kleider. Auf dem Bauch liegend späht Stefan über den Rand des Erd haufens hinab. Nun sieht er den Eindringling. Er steht am Rand des Tümpels, nur wenige Schritte von Stefan entfernt. Er bückt sich, hebt einen Stein hoch, wirft ihn ins Wasser und beobachtet die Ringe, die sich ausbreiten. Dann bückt er sich wieder und wirft noch einen Stein. Und noch einen. Und noch einen. Seine Hand führt immer dieselben Bewegungen aus. Wie die Kluppen hand von Autorob-3. Stefan kriecht etwas zurück und schleicht dann um den Erdhügel herum gegen den Tümpel. Der Ein dringling kehrt ihm den Rücken zu. Er wirft wieder einen Stein ins Wasser. Es ist ein Spion! Jedenfalls trägt er einen grünen Reportermantel. Nun bückt er sich nicht mehr, sondern starrt nur noch aufs Wasser. Er beobachtet das Raumschiff im Spiegel des Was sers, geht es Stefan durch den Kopf. Also ist er wirklich ein Spion. Stefans Herz klopft zum Zerspringen. Er hebt einen Kieselstein auf und wirft ihn vor dem Spion ins Wasser. Dann duckt er sich hinter hohe Grasbüschel. Der Spion dreht sich um und schaut zum Erdhügel. »Wer ist da? Stefan?« Es ist Papas Stimme. Langsam kommt Papa auf Stefan zu. Sein Mantel ist ganz verspritzt vom 57
schmutzigen Wasser. Er ist bleich und hat einen Stoppelbart. »Mein Computer hat mich alarmiert. Du bist also der Spion«, sagt Stefan. Papas Gesicht bleibt ernst. »Ich habe gedacht, daß ich dich hier treffe, Stefan.« »Mama hat Käseschnitten gemacht. Und Dessert. Komm, wir müssen uns beeilen.« Papa bleibt stehen. Er scheint zu überlegen. »Mama muß sonst warten. Und die Käseschnitten werden kalt«, sagt Stefan. »Ich habe Angst«, sagt Papa leise. »Angst? Wovor denn?« fragt Stefan. »Vor meinem Büro. Vor unserer Wohnung. Vor den Betontatzelwürmern. Vor...« »Darum bist du also nicht nach Hause gekommen.« Papa nickt. »Ich wollte weg. Weit fort. Davonflie gen.« »Davonfliegen? Hättest du denn keine Angst, ein Raumschiff zu besteigen?« Papa zuckt die Achseln. »So weit wollte ich eigent lich nicht.« »Komm«, sagt Stefan, »ich zeige dir ein Geheim nis.« Er nimmt Papa bei der Hand und führt ihn zum Betonsilo. »Das ist mein Raumschiff. Es heißt XAMAX-808.« Er holt die Eisenleiter aus dem Versteck, hängt sie ein und klettert hinauf. Auf der Kommandoplattform 58
steht er vorsichtig auf und schaut hinab. »Komm«, ruft er. Langsam steigt Papa die Bordleiter hinauf. Oben ist er ganz außer Atem. Aber auch er getraut sich bis auf die Kommandoplattform. »Wollen wir starten?« fragt Stefan. Papa schaut ihn fragend an. »Wir könnten schnell in eine Erdumlaufbahn hoch steigen, dreimal um die Erde kreisen, so tief, daß wir alles noch sehen können, das Land, die Meere mit den Inseln, die Berge und Städte und Wüsten. Sogar die Pyramiden. Vielleicht landen wir dann neben ihnen im Sand, übernachten in einem Pyramidenhotel, machen morgen früh einen langen Kamelritt durch die Wüste, kaufen irgendwo in einer Oase Kokosnüsse und ein paar Kilo Datteln und fliegen dann wieder hierher zurück.« Papa schaut Stefan überrascht an. Dann lächelt er. »Es ist schön, daß du mir dein Raumschiff gezeigt hast, Stefan. Aber was wird aus den Käseschnitten, wenn wir wegfliegen? Ich habe plötzlich Lust auf Käseschnitten bekommen. Ich bin die ganze Nacht und den ganzen Tag umhergegangen und habe noch nichts Richtiges gegessen.« »Dann gehen wir also nach Hause«, sagt Stefan. Sie steigen hinab, verstecken die Leiter und kriechen durch das Loch im Zaun. Beim Eingang zum Wohnblock bleibt Papa stehen. Er liest. 59
Wenn die Betontatzelwürmer erwachen, fliegen sie mit dir davon. Im Lift sagt er: »Im Tümpel habe ich die Betontat zelwürmer beobachtet im Spiegel des Wassers. Wenn man einen Stein hineinwirft, bewegen sie sich.« »Sie tanzen«, sagt Stefan. »Ich werde sie malen. Ich werde die tanzenden Betontatzelwürmer malen«, sagt Papa. In der Wohnung riecht es immer noch nach Käse schnitten. Mama sitzt am Küchentisch. Es ist gedeckt für drei. »Ich habe euch gesehen«, sagt sie. Sie schimpft nicht, weil sie auf den Betonsilo ge klettert sind. Sie küßt Papa, und dann umarmen sie sich lange.
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»Du darfst dich nicht gehenlassen, Christian«, sagt Mama. »Ich fühle mich eingesperrt in der Wohnung. Wie in einem Gefängnis«, sagt Papa. »Ist es denn so schlimm?« fragt Mama. »Du hast doch eine nette Aussicht. Du siehst den Park und das Dorf. Und wenn es schön ist, kannst du sogar die grünen Hügel hinter der Stadt sehen. Dort wo ich arbeite, sieht man überhaupt nichts.« »Manchmal bekomme ich keine Luft mehr. Ich sehe nichts mehr. Nur grau, grau, grau ... nur graue Betontatzelwürmer«, ruft Papa erregt. Mama sagt: »Jetzt machst du die Sache schlimmer als sie ist, Christian. Versuch doch auch das Positive zu sehen an deiner neuen Situation. Du kannst ma chen, was du willst. Du kannst malen. Du bist frei.« Papa: »Ich stehe am Fenster und starre hinaus und sehe nur graue Flecken. Wie soll ich da malen kön nen?« Mama: »Dann mach doch einen Spaziergang. Viel leicht kommen dir draußen Ideen.« Papa: »Draußen habe ich Angst. Ich habe das Ge fühl, alle Leute starren mich an und denken, das ist ein Taugenichts. Der arbeitet nicht.« Mama: »Du arbeitest ja. Du malst Bilder. Und du kochst für Stefan.« Papa: »Ja, ich koche für Stefan...« 61
Jetzt beginnt Papa leise zu schluchzen. Und dann schluchzt er immer lauter und sagt immer wieder: »Ich habe Angst ... ich habe Angst...« Und Mama sagt leise: »Beruhige dich doch, Chri stian. Du brauchst doch keine Angst zu haben. Stefan und ich sind ja bei dir...« Stefan schaltet das Tonband aus. Er hat heimlich ein Mikrofon aufgestellt, als Mama und Papa beim Kaffee im Wohnzimmer saßen. Er hat ihr Gespräch auf Band aufgenommen. Auch Stefan ist manchmal ein Spion! Dreimal hat er das Band abgehört. Er ist allein zu Hause. Papa und Mama haben sich umgezogen. Papa hat seinen Stoppelbart rasiert, hat geduscht. Er schien plötzlich wieder fröhlich zu sein, er hat laut gesungen unter der Dusche. Dann sind sie zusammen wegge gangen. »Zu Freunden«, hat Mama gesagt. Sie hat Stefan eine Telefonnummer auf eine grüne Lochkarte geschrieben. Tel.: 01 523561 »Hier kannst du anrufen, falls etwas ist.« Eine Karte für die Sammlung, denkt Stefan. Ich werde nicht anrufen. »Ich habe keine Angst. Nicht mal vor Spionen und vor Weltraumpiraten. Auch nicht vor den grauen Betontatzelwürmern«, sagt er laut vor sich hin. Er spult das Tonband zurück und hört es sich nochmals an. 62
Doch an der Stelle, wo Papa weint und sagt: »Ich habe Angst...« schaltet er wieder aus. Wenn er doch Papa helfen könnte. Er stellt sich vor, in seiner Klasse würde das Band abgespielt. Alle würden ihn auslachen. »Was hat der für einen komi schen Vater, der weint ja«, würden sie rufen. Dafür habe ich eine Mama, die Ingenieur ist, denkt Stefan. Eine Mama, die was von Computern und Motoren und Satelliten und Raumschiffen versteht. Aber das würde er wohl nicht zurückrufen. Eher würde er mit rotem Kopf dasitzen und sich vorstellen, wie er mit Papa im Raumschiff davonfliegt, während die andern lachen. Stefan spult das Band zurück, nimmt die grüne Kassette heraus und räumt sie weg. Er schaut aus dem Fenster. Draußen ist es schon dunkel, so daß er die Umrisse der Weltraumbasis kaum mehr erkennen kann. Die Betontatzelwürmer sind Glühwürmer geworden, mit gelb und bläulich geflecktem Fell. Sie schlafen. Auch im Dorf brennen Lichter. Die Bachmattstraße ist ein gelbes Band. Nur der verlassene Bauplatz hinter dem Bretterzaun ist eine schwarze Insel. Mitten auf dieser Insel brennt ein einziges Licht. Das Rote Haus. Sonja würde bestimmt nicht lachen, wenn sie das Band hören könnte, denkt Stefan. Er kennt Sonja ja kaum. Aber er kann sich nicht vorstellen, daß sie lachen würde.
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An diesem Morgen ist alles in weißgrauem Nebel versunken, die Wohnblocks, der Park, das Rote Haus, das Dorf, die alten Baumaschinen, Stefans geheime Weltraumbasis. Alles ist eingenebelt, getarnt wegen der Raumpiraten. Stefan bastelt an seinem Computer herum. Lämp chen leuchten auf. Sie spiegeln sich in den Fenstern, die zu milchigweißen Bildschirmen geworden sind. Ihr Flackern wird zu Signalen, die Stefan zur Welt raumbasis sendet. Trotz des Nebels sieht er alles ganz genau: Die Kommandoplattform, den Startturm, das Radioteleskop. Alles ist bereit für einen Start. Stefan horcht. In der Wohnung ist es still. Mama ist zur Arbeit gefahren. Aus Papas Büro ist kein Laut zu hören. Ob er wieder eingeschlafen ist? Leise drückt Stefan die Türklinke nieder und öffnet die Tür einen Spalt. Papa steht am Fenster, die Hände in den Hosenta schen, eine erloschene Zigarette zwischen den Lippen und schaut in den Nebel hinaus. Auf dem Tisch liegen Blätter mit angefangenen Bildern herum. Daneben sind Farbtuben verstreut. In Bechern mit trübem Wasser stehen Pinsel. »Papa«, sagt Stefan leise. Papa zuckt zusammen und dreht sich um. »Was ist, Papa?« »Ach, du bist es, Stefan.« 64
Er ist nicht eingeschlafen. Trotzdem scheint er wie aus einem Traum zu erwachen. »Siehst du draußen etwas?« fragt Stefan. »Draußen?« Papa schüttelt den Kopf. »Draußen nichts. Und in mir drin auch nichts.« »Du wolltest doch die Betontatzelwürmer malen.« »Ich habe es versucht«, sagt Papa müde. »Schau mal, was daraus geworden ist.« Er geht zum Tisch, nimmt ein Blatt in die Hand, auf dem ein paar fast durchsichtige Farbkleckse ineinan derfließen. Ein weiteres Blatt, weitere Kleckse, nur Kleckse ohne feste Umrisse. »Alles angefangen. Ich wollte etwas ausprobieren, etwas ganz Neues«, sagt Papa. »Aber es sind nur ein paar Farbkleckse daraus geworden.« Stefan betrachtet die Blätter lange. Dann sagt er: »Es sind Bilder von Sternennebeln. Vielleicht hast du beim Malen daran gedacht, wie wir mit unserem Raumschiff durch den Weltraum fliegen. Mit Lichtge schwindigkeit.« Papa schüttelt den Kopf. »Nein, es sollten nicht Bilder von den fernsten der fernen Sterne sein. Es sollten Bilder aus meinem innersten Innern sein. Ich wollte malen, was ich fühle, wenn ich am Fenster stehe und draußen die Betontatzelwürmer sehe.« Stefan zuckt die Achseln. »Vielleicht...«, murmelt Papa. »Vielleicht ist eben das Fernste, am weitesten weg Liegende und das Allernächste, Innerste, genau gleich.« Er geht wieder 65
ans Fenster und schaut hinaus. »Genau«, sagt Stefan. »Die Atome sind die klein sten Teilchen der Welt. Und sie sehen gleich aus wie die Himmelskörper im Weltraum.« »Woher weißt du das?« fragt Papa. »Mama hat mir das erklärt.« »Sie weiß alles«, sagt Papa. Aber seine Stimme klingt nicht stolz, eher traurig. »Sie weiß alles. Sie macht alles. Sie verdient das Geld, das wir brauchen. Und ich...« »Eigentlich wollte ich Leim holen«, unterbricht Stefan Papas Selbstgespräch. »Leim? Ach so.« Er beginnt zu suchen. Auf dem Tisch, auf den Regalen. Selbst unter dem Schrank und unter dem Bett schaut er nach. Auch Stefan sucht, und schließlich entdeckt er die Dose mit dem Kleister auf der Fensterbank. »Und Papier brauche ich auch. Einen großen Bo gen.« Papa öffnet eine Rolle und rollt ein Stück weißes Zeichnungspapier ab. »Genügt das?... Noch mehr?... So viel? Was soll es denn geben?« »Einen Plan für einen Roboter. Für einen richtigen Weltraumroboter.« Papa beginnt sich zu interessieren. Stefan zeigt ihm die Prospekte, die er an der IndustrieroboterAusstellung gesammelt hat. Sie beginnen die Bilder auszuschneiden. Farbige, glänzende Robotergreifar me, metallene Roboterkluppenhände, Roboterfernseh 66
augen, Bildschirme. Stefan erzählt von Autorob-3, dem Roboter, der kleine Spielzeugautos zusammen setzt. Sie kleben die ausgeschnittenen Roboterteile auf das große Stück Papier, viele Arme, Kluppenhände, Augen, so daß allmählich ein richtiges Robotermon strum entsteht. »Ein Autorobotausendkluppenfüßler«, sagt Papa. Er hat zwei Fernsehaugen, Haare aus Schläuchen und Drähten, ein Bildschirmmaul, Radarohren und einen Körper aus Zahnrädern, Blechen, Elektronikge räten. Seine vielen Kluppen- und Greifarme und Zangen und Gelenkglieder streckt er nach allen Seiten aus. Papa holt Pinsel, mischt Deckfarben aus Tuben zusammen und dann malen sie ihrem Autorobotaus endkluppenfüßler noch zackige Drachenflügel, denn das Monstrum soll ja fliegen können. Lange diskutie ren sie über den Namen, den sie ihm geben wollen. Autorobo1000kluppenfüßler Roboraumschiff Alfa-77 Galaxyus Robomax Schließlich taufen sie ihn nur Max. Stefan ist froh, daß er nur drei Buchstaben hinma len muß. Papa holt inzwischen Holzlatten. Er macht einen Rahmen und nagelt das Bild drauf. Und dann kommt Max in Mamas Zimmer, gegenüber ihrem Bett an die Wand. An die Tür kleben sie eine Karte. Achtung! Vorsicht! 67
Gefährlicher Autorobo1000kluppenfüßler ausge brochen. Hört auf den Namen Max. Papa schaut auf die Uhr. »Oh, ich hätte längst den Teig machen müssen für die Pizza. Ich wollte doch heute Pizza backen.« Schnell geht er in die Küche.
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Als Mama heimkommt, duftet es schon herrlich. Papa hat auf den Pizzateig Tomaten aus der Büchse gelegt, Käsestücke darüber verteilt, mit Sardellen garniert und duftende Gewürze daraufgestreut. Er sagt: »Es gibt Künstler, die backen eine Pizza, nageln sie auf ein Holzbrett, machen einen Rahmen rundherum, eine Glasplatte davor und hängen sie an die Wand. Dann machen sie eine Ausstellung und verkaufen sie teuer.« »Ich möchte sie aber lieber essen«, sagt Mama. »Ich habe Hunger.« Die Pizza schmeckt ausgezeichnet. Stefan bekommt sogar ein wenig Wein, mit viel Wasser verdünnt. Mama sagt: »Es gibt Fotografen, die braten ein Spiegelei, werfen es in die Luft, fotografieren es und behaupten dann, es sei eine fliegende Untertasse.« »Genau«, sagt Stefan. »Ein Spiegelei-Ufo. Einmal ist eines auf unserem Parkplatz gelandet. Dein Auto war ganz verspritzt vom Eigelb, aber die Betontatzel würmer haben es wieder blankgeleckt.« Und Papa fährt fort: »Es gibt trotzdem noch Leute, die glauben, sie wohnten in einem Wohnblock, der auf Betonpfeilern steht. Aber eines Tages beginnen sich diese Beine zu bewegen und der Block zittert, so daß die Bewohner meinen, es sei ein Erdbeben und ins Freie stürzen wollen. Doch wenn sie die Tür öffnen, schweben sie schon hoch über der Stadt. Sie
fliegen mitsamt dem Haus davon. Sie wohnen näm lich in einem Betontatzelwurm.« Er schenkt Wein ein. Mama hält den Finger über ihr Glas, aber Papa schiebt ihn beiseite. Mama sagt: »Heute hat der Hauswart begonnen, die Sprayschrift wegzuputzen. Mit einer Drahtbürste und irgendwelchen Mitteln.« »Schade«, meint Papa. »Komisch ist nur, daß er die Buchstaben und die Wörter nicht der Reihe nach wegschrubbt. Jetzt heißt es zum Beispiel B-tonta-würmer.« »Und morgen heißt es dann noch tonta-ür-er«, sagt Papa. »Oder wür-er, oder tonta-rer, oder ta-wür-er. Und zum Schluß nur noch to-ta.« Sie lachen. Dann entdeckt Mama das Bild mit Max, dem Auto robo1000kluppenfüßler. Sie umarmt Papa und Stefan vor Freude über das Geschenk.
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Papa und Stefan kriechen durch das Loch im Bret terzaun. Jetzt erst sehen sie die Weltraumbasis aus dem Nebel auftauchen. Das Raumschiff ist ein großes schwarzes Ungetüm. Alles trieft vor Nässe. »Kein Flugwetter«, meint Papa. »Nicht einmal für einen Start in den Weltraum. Wir müssen unsere Reise verschieben.« Stefan geht neben ihm. Sie sinken tief in die auf geweichte Erde ein. Zum Glück tragen sie wasserdichte Stiefel. Plötzlich hören sie in der Nähe einen Hund bellen. Sie ducken sich hinter den umgekippten Betonmischer. Ein großer brauner Hund schießt aus dem Gebüsch, planscht im Tümpel herum und umkreist dann die Basis. Vor dem Betonmischer bleibt er stehen und bellt. »Alma! Sei still!« ruft eine Stimme, die Stefan bekannt vorkommt. Eine gelbe Gestalt taucht im Gebüsch auf. Es ist Sonja. Der Mann mit den roten Haaren und dem roten Bart folgt ihr. Er ist groß und dick und sinkt so tief in die Erde ein, daß ein Stiefel hängenbleibt und er den Fuß herauszieht, als er weitergehen will. Er bleibt auf einem Bein stehen, um den Socken nicht schmutzig zu machen, aus dem die große Zehe herausschaut. Es sieht so komisch aus, daß Stefan und Papa lachen müssen. »Sonja, zieh mir den Stiefel aus dem Dreck«, ruft der Mann. Er sieht ziemlich grimmig aus. Seine 72
Haare, die so rot sind wie das Backsteinhaus, sind lang und kraus. Sein roter Bart bedeckt beinahe das ganze Gesicht. Und selbst seine Nase hat eine rote Spitze. Der Mann schlüpft in den Stiefel und lacht schal lend. »Was sucht ihr denn hier?« ruft er Stefan und Papa zu. Er kommt näher, und nun sieht man auch seine kleinen, lustig glänzenden Augen. »Wir wollten eben zu einer Reise auf den Mond starten«, sagt Papa. »Aber bei diesem Wetter...« »Ach ja, da ist ja das Raumschiff«, sagt der Mann. Er poltert mit einer Faust auf die Wand des Betonsi los, daß es dröhnt. »Wenn ihr nicht zum Mond fliegt, könnt ihr uns ja helfen, ein Stück Blech zu suchen, damit wir unsere kaputte Haustür flicken können.« Er zeigt zum Roten Haus hinüber. »Wohnen Sie dort?« fragt Papa überrascht. »Ich dachte, das Haus sei geräumt worden.« »Es war leer. Deshalb wohnen Sonja und ich jetzt drin. Bis auf weiteres.« Wieder lacht er. »Übrigens heiße ich Franziskus. Ich lade euch zu einem Tee ein. Aber erst muß ein Stück Blech her. Etwa so groß...« Er zeigt die Abmessungen mit den Händen. »Ich heiße Christian«, sagt Papa. Er drückt Fran ziskus die Hand. »Und das ist Stefan.« Stefan spürt einen so festen Händedruck, daß er zusammenzuckt. Sonja streichelt den Hund und redet ihm zu, bis er sich beruhigt. 73
»Das ist meine Tochter«, sagt Franziskus. Sie suchen nach dem Stück Blech. Auch Alma stöbert durch die Weltraumbasis, als ob sie wüßte, was gesucht wird. Schon bald ruft Sonja: »Franziskus, hier liegt ein Stück Blech.« Franziskus hebt es auf und nickt. Stefan wundert sich, daß sie ihren Vater beim Vor namen nennt. Und eine Mutter hat sie wohl gar nicht. Stefan traut sich aber nicht zu fragen. »So, nun haben wir einen heißen Tee verdient«, meint Franziskus. Er geht voraus, und sie stapfen hinter ihm her durch die aufgeweichte Erde zum Roten Haus hinüber.
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Allein hätte Stefan wohl Angst gehabt, das Rote Haus zu betreten. Eigentlich ist es ihm immer unheim lich vorgekommen, weil es so anders ist als alle andern Häuser, die er kennt. Selbst im Dorf gibt es keine so knallroten Backsteinhäuser. Doch Franziskus sieht eigentlich nicht böse aus. Im Gegenteil. Dauernd macht er Späße, über die er selber am lautesten lachen muß. Stefan bemerkt, daß auch Sonja so kleine lustige Augen hat wie ihr Vater. »Alma!« ruft sie. Die Hündin wird an eine lange Kette gebunden. Sie verkriecht sich mit hängenden Ohren im Schuppen neben dem Haus. Sie betreten ein hohes, düsteres Treppenhaus. »Kein Licht«, sagt Franziskus. »Tut mir leid. Die Leitung ist defekt. Alles hier ist defekt. Aber es lohnt sich nicht mehr, viel zu flicken. Im nächsten Frühling soll alles abgerissen und neu überbaut werden.« »Ja, ich weiß«, murmelt Papa. Stefan stockt der Atem. »Im nächsten Frühling? Und ... und meine Weltraumbasis?« »Dort wird es einen Parkplatz geben. Ich habe die Pläne gesehen. Asphalt, Beton. Die Büsche kommen weg. Der Tümpel, alles wird zugedeckt.« Nun lacht Franziskus nicht mehr. Seine Augen schauen irgend wohin ins Leere. »Kommt«, sagt er dann und steigt die steile Treppe 75
hinauf. Oben hält er das Blechstück an eine Tür. »Paßt wie abgemessen«, sagt er. Dann öffnet er sie und macht Licht. Sie sind in einer kleinen, warmen Stube. Franziskus räumt rasch den Tisch ab, auf dem noch Geschirr herumsteht. Man kann sich auf Kissen setzen, die am Boden liegen. Papa sitzt im einzigen Stuhl, einem Korbstuhl, der nur noch drei Beine hat. Während er mit Franziskus redet, schaukelt er hin und her. Sonja macht Tee und bringt Kekse. Dann zeigt sie Stefan das ganze Haus, dessen Räu me alle leer sind, bis auf ein paar verstaubte Schränke und kaputte Stühle, die herumstehen. In ihrem Zim mer im oberen Stock gibt es nichts als eine Matratze auf dem Boden und ein Gestell aus Brettern und Backsteinen, auf dem sie Kleider und ein paar Bücher aufgeschichtet hat. An den Wänden hängen farbige Plakate. Eines zeigt die Wüste, gelbe Sanddünen und eine Oase mit Palmen und weißen Häusern. Auf der Matratze liegt eine Decke mit einem bunten Muster, das seltsame Vögel mit breitem Fächerschwanz darstellt. Stefan betrachtet die Decke lange. »Das sind Pfauen«, sagt Sonja. »Die Decke haben wir in der Türkei gekauft.« »Ihr seid in der Türkei gewesen?« fragt Stefan überrascht. »Das war schon auf der Rückreise. Wir sind noch viel weiter fort gewesen. In Persien, in Afghanistan, in 76
Indien. Und vorher in Australien und Südamerika. Eigentlich fast überall«, sagt Sonja. Und es klingt so selbstverständlich wie wenn jemand in der Schule erzählt: »Am Sonntag sind wir im Zoo gewesen und dann noch über den Buchberg gewandert.« Oder so wie wenn Stefan zu Papa sagt: »Heute früh starten wir zum Mond und dann machen wir noch schnell einen Abstecher zum Mars mit meinem Raumschiff. Zum Mittagessen sind wir wieder zurück.« So selbstverständlich, wie sich das Stefan vorstellt. Aber eben nur vorstellt. »Riech einmal an der Decke«, sagt Sonja. Stefan riecht. »Jetzt mußt du die Augen schließen.« Stefan macht es. »Was siehst du?« Stefan sieht erst nur gelbe Ringe, die immer dünner werden und dann platzen. Spiegelei-Ufos vielleicht. Er sieht einen roten, feurigen Fleck. Die Sonne. Rundherum ist alles gelb. »Sandsturm«, sagt er leise. Er sieht die Wüste, gelbe Dünen, über die der Wind Sandstaub hinweg bläst. Über dem Kamm einer Düne taucht ein Kamel auf. Kleine Sandwolken wirbeln unter seinen Hufen auf. Zwischen seinen Höckern sitzt eine kleine Gestalt in einem weißen Kleid. Um den Kopf hat sie ein schwarz-weiß gewürfeltes Tuch geschlagen. Das Kamel nähert sich. Nun trabt es langsamer. 77
Von der Gestalt sieht man nur die Augen. Es sind kleine lustige Augen, die Stefan ansehen. Die Gestalt sitzt auf einer farbigen Decke. Nun sieht Stefan, daß es genau die Decke ist, an der er riecht. Er öffnet die Augen. »Hast du etwas gesehen?« fragt Sonja. Er nickt. »Dich! Ich habe dich auf einem Kamel reiten sehen.« »Der Zauber funktioniert also auch bei dir«, flüstert Sonja. »Das ist nämlich eine Zauberdecke. Wir haben sie von einer Nomadenfrau in Istanbul gekauft. Sie sagte, die Decke sei hundert Jahre alt und stamme aus Rußland. Wenn man mit geschlossenen Augen an ihr riecht, kann man Dinge sehen, die an einem andern Ort auf der Welt passieren. Oder Geschichten. Oder sogar die Zukunft.« »Bist du schon mal auf einem Kamel geritten?« fragt Stefan. Sonja nickt. »Bist du auch schon in Ägypten gewesen?« »Ja, vor zwei Jahren.« »Aus was sind die Pyramiden gebaut?« »Aus großen viereckigen Steinblöcken.« »Gibt es im Innern der Pyramiden wirklich Hotels mit feinen Zimmern, Swimmingpool, Teppichen in den Gängen und automatischen Türen?« »Nein. Nur die Grabkammern der Pharaonen. Aber gleich neben den Pyramiden stehen solche Hotels.« »Habt ihr dort übernachtet?« 78
»Nein, wir übernachten immer in unserem Ferdi nand.« »Im Ferdinand? Was ist denn das?« »Komm«, sagt Sonja. »Ich zeige dir unsern Ferdi nand.« Unter dem Dach des Schuppens, der auf einer Seite offen ist, steht ein kleiner Bus. Vorn auf der Kühler haube ist ein Rad befestigt, die Scheinwerfer sind vergittert. Auf dem Dach sind mehrere rostige Ben zinkanister und ein Wassertank aus Plastik unterge bracht. Auf die eine Seite des Wagens ist eine Welt karte gemalt mit vielen roten Linien. »Dort sind wir überall schon gewesen«, sagt Sonja. Auf der andern Seite steht ein Satz. Einige Buch staben sind rot, die andern schwarz. Stefan liest langsam. Die Ferne ist dein Land. »Und jetzt lies mal nur die roten Buchstaben«, sagt Sonja. »Ferdinand.« »Siehst du, das ist also unser Ferdinand. Der Ferdi nand ist eigentlich unsere richtige Wohnung. Hier im Roten Haus sind wir nur vorübergehend.« Sie öffnet die Tür. Stefan steigt ein. Drinnen gibt es einen Tisch, ein kleines Becken, zwei Bänke, die man in Betten verwandeln kann. An den Fenstern hängen rot-weiß karierte Vorhänge. Sonja zieht sie zu. »Nun sind wir in der Wüste. Hörst du den Wind? Gleich wird ein Sandsturm losbrechen.« 79
Sie beginnt zu schaukeln, daß Ferdinands Federn quietschen und ächzen. »Im Frühling fahren wir weg«, ruft Sonja. »Hier wird ja sowieso alles abgerissen. Das Rote Haus. Deine Weltraumbasis. Alles. Stell dir vor, wir sind jetzt in der Wüste und ein Sandsturm schüttelt uns.« »Nein«, sagt Stefan. Er schiebt einen Vorhang zu rück und schaut hinaus. Nein, sie sind nicht in der Wüste. Das Rote Haus steht noch, die Büsche sind noch da. Und auch das Raumschiff kann er im Nebel noch schwach erkennen. Dort drüben wird es einen Parkplatz geben, hat Franziskus gesagt. Jetzt ist Stefan plötzlich zumute wie Papa, wenn er am Fenster steht. Er schaut hinaus und sieht doch nichts mehr. Nicht einmal das Rote Haus. Sonja hört auf zu schaukeln. »Was hast du?« fragt sie. »Ach nichts.« Stefan denkt an Papa, wie er sagte: »Ich habe Angst ... ich habe Angst.« »Sag doch was.« Sonja packt ihn am Arm und schüttelt ihn leicht. »Sag doch was, Stefan.« »Einmal starte ich mit meinem Raumschiff. Ganz bestimmt. Bevor alles abgebrochen wird«, sagt Stefan langsam. Ein Blitz, ein Knall, Rauch und dumpfes Grollen, stellt er sich vor. Und das Raumschiff erhebt sich langsam, der Startturm fällt weg, die Teleskopbeine 80
klappen ein. Schneller und immer schneller erhebt es sich in die Luft. Und jetzt ist es weg. Vom Nebel verschluckt. »Es wird dunkel«, sagt Sonja. »Komm, wir gehen wieder ins Haus.« Papa und Franziskus unterhalten sich immer noch. Sonja macht nochmals Tee. Dann verabschieden sie sich.
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Auf dem Heimweg findet Stefan eine alte Fahrrad lampe. Er befestigt sie mit Draht und Nägeln oben an seinem Raumlaborcomputer. Mama zeichnet ihm auf eine Karte, wie er die Drähte der Lampe anschließen muß. Einer führt direkt zur Batterie. Der zweite führt zu einer Wäscheklammer, deren beide Griffe mit dickem Kupferdraht umwickelt sind und dann zum andern Pol der Batterie. Wenn man nun auf die Wäscheklammer drückt, berühren sich die dicken Kupferdrähte und machen Kontakt. Der Stromkreis ist geschlossen. Die Lampe leuchtet auf. »Das ist eine Morsetaste«, erklärt Mama. Und sie zeigt ihm, wie er Signale aussenden kann. Wenn er kurz drückt, blinkt die Lampe auf. Das ist ein Punkt. Wenn er länger drückt, gibt es einen Strich. »Aus solchen Punkten und Strichen setzt sich das Morsealphabet zusammen«, erklärt Mama. Und schreibt es auch gleich auf eine Karte. a ·b -··· c -·-· d -·· e · f ··-· g --· h ···· i ·· j ·--k -·1 ·-·· m -n -· o --p ·--· q --·r ·-· s ··· t u ··v ···w ·-x -··y -·-z --·· Auch das ist also ein Geheimcode. Als es dunkel ist, sitzt Stefan am Fenster. Drüben 82
beim Roten Haus sieht er ein Licht. Der Nebel ist also weg. Er richtet die Lampe hinüber und blinkt ein paarmal kurz. Keine Antwort. Er blinkt wieder, wartet, blinkt und wartet. Plötz lich geht am Roten Haus das Licht aus. Dann sieht er auch dort eine Lampe blinken. Jetzt nimmt er eine Karte und sendet eine Meldung, die er sich schon aufgeschrieben hat. ···· ·- ·-·· ·-·· --- ··· --- -· ·--- ·Einige Augenblicke bleibt es dunkel. Dann leuchtet am Roten Haus das Licht wieder auf. Punkt, Punkt, Punkt, Punkt. Punkt Strich. Punkt Strich Punkt Punkt... Stefan schreibt alle Zeichen auf seine Karte. Dann nimmt er das Morsealphabet und schreibt über jedes Zeichen den Buchstaben, der dazu gehört. h a l l o s t e f a n ···· ·- ·-·· ·-·· --- ··· - · ··-· ·- -· Er sendet wieder eine Botschaft. ·-- ·· · --· · ···· - · ··· ·- ·-·· -- ·Und er empfängt: · - · - · · - - · - · · · - · - · · · · · ·-·· ·- · ··-· Dann sendet er: · · - · - · · · · · - - · · - · · · · · · · ··- -·-· ···· ·· -· ··· -··· · -Mama kommt ins Zimmer. »Es ist Zeit, Stefan. Morgen mußt du wieder zur Schule.« »Ja, gleich«, sagt er. »Nur noch eine Meldung.« Er schreibt sie auf, erst die Buchstaben, dann die Morse zeichen. Dann sendet er sie aus. »Gute Nacht Sonja«. Mama hat die Zeichen halb 83
laut mitgesprochen. »Gut gemacht, Stefan. Das hast du aber schnell gelernt.« Sie schaut die Karte an, wo er alles aufgeschrieben hat. Sie nickt. »Keinen einzigen Fehler hast du gemacht! Wenn es auch beim Schreiben so gut gehen würde.« »Mit den Morsezeichen geht es viel leichter«, meint Stefan. »Man kann ja gar nichts verwechseln. Es kommt einfach ein Zeichen hinter dem andern.« Mama lächelt. Jetzt blinkt es auch beim Roten Haus nochmals. --· ··- - · -· ·- -·-· ···· - ··· - · ··-· ·-· Diese Meldung hat er verstanden, ohne sie aufzu schreiben. Er versorgt die Karten in seiner Sammlung. Dann zieht er sich aus und wäscht sich. Dabei fällt ihm ein, daß er am Radio manchmal so seltsame Piepstöne hört, wenn er daran herumdreht. Lang und kurz, Punkt und Strich. Bisher hat er sich immer vorgestellt, es seien Signale aus dem Weltraum. Aber auch das sind wohl Morsezeichen, die irgend jemand aussendet. Stefan kann lange nicht einschlafen. Er stellt sich vor, wie er seinen Raumlaborcomputer mit einem Radio verbindet und so mit Sonja Botschaften aus tauscht, wenn sie mit ihrem Ferdinand in der Welt herumreist. Mama müßte ihm helfen, so eine Funksta tion zu basteln. Aber Mama hat so wenig Zeit.
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Am Morgen liegt Schnee. Der Rasen im Park ist weiß, die Büsche haben ihre letzten Blätter verloren. Die Weltraumbasis steht nun nicht mehr in der Wüste, sondern im Eismeer. Die Erdhaufen sind weiße Eisberge geworden und der Tümpel ein Was serloch, an dem Eskimos auf Seehunde lauern. Das Dorf mit den vielen schneebedeckten Dächern ist zerrissenes Packeis, das sich zwischen den grauen, kahlen Felsinseln der Wohnblocks ausbreitet. Selbst auf der Kommandoplattform des Raumschiffs liegt Schnee. Es sieht aus, als hätte der alte Betonsilo eine warme weiße Wollkappe übergestülpt. Auch Stefan hat eine warme Mütze an und wollene Handschuhe. Nach der Stunde bei Frau Federspiel geht er durchs Dorf zurück. Männer in orangenen Anzügen schaufeln Schnee vom Trottoir. Es ist kalt. In einer Bäckerei bekommt Stefan einen frischen warmen Brotzipfel. Kauend geht er weiter, durch die Unterführung, dann über die breite Straße. Er schlüpft durch den Bretterzaun. Im Gebüsch fällt ihm von den Zweigen Schnee auf den Kopf. Er zieht eine Spur durch den Schnee, über Eisberge und rund um das Wasserloch, das von einer dünnen Eisschicht bedeckt ist. Plötzlich fällt neben ihm ein Schneeball in den Tümpel. Das dünne Eis zerbricht und Wasser spritzt auf. Stefan erschrickt und duckt sich. Ein zweiter 85
Schneeball folgt, dann ein dritter. Der nächste trifft ihn am Rücken. Er ist schwer und hart. »Nun haben wir ihn endlich«, kräht eine heisere Stimme. Die Weltraumpiraten! fährt es Stefan durch den Kopf. Nun sind sie da! Auf den Hügeln tauchen drei, vier schwarze Gestalten auf. Es sind große Burschen in dunklen Motorradjacken. Einer trägt noch einen Helm auf dem Kopf. Also nicht Weltraumpiraten, sondern die Kafferbande! Sie sind seiner Spur nachgegangen und haben ihn eingekreist. Der Größte von ihnen, den die andern Mike nennen, ruft vom Hügel herab: »Gib die Leiter heraus. Kleiner. Wir wissen, daß du eine Leiter versteckt hast.« Seine Stimme ist heiser. Sie klingt hoch wie eine Mädchenstimme. Um den Hals hat Mike einen schwarzen Schal geschlungen, dessen Enden beinahe bis auf den Boden hängen. »Gib die Leiter heraus!« Stefan schweigt. Im Wasser spiegeln sich die wei ßen Hügel und darüber die Betontatzelwürmer, die sich leicht bewegen. Wenn doch Papa hier wäre, denkt Stefan. »Gebt ihm noch eine Ladung«, kräht Mike. Er bückt sich. Schneebälle fallen rund um Stefan in den Schnee. Einer klatscht ins Wasser, daß es spritzt und die Betontatzelwürmer im Spiegelbild einen Luft sprung machen. Aber keiner trifft. 86
Mike stemmt die Fäuste in die Seite. »Wir brau chen die Leiter. Wenn du sie nicht herausgibst, kannst du im Tümpel baden gehen.« Zwei aus der Kafferbande nähern sich drohend. Stefans Herz klopft rasend vor Angst. Jetzt auf das Raumschiff klettern, fährt ihm durch den Kopf. Auf der Kommandoplattform wäre er sicher, wenn es ihm gelänge, noch rasch mit einem Seil die Leiter hochzu ziehen. Er könnte oben Notsignal geben. Vielleicht würde ihn Papa sehen. Das wäre seine Rettung. Aber er hat kein Seil. Und die zwei Kaffer sind ohnehin schon zu nahe. Sie schneiden ihm den Weg ab. Wenn er nun die Leiter herausgibt, wird er nie mehr auf sein Raumschiff steigen können. Nein, niemals wird er ihnen das Versteck zeigen. Plötzlich hört Stefan Hundegebell. Mike schaut sich um. Dann stolpert er vom Hügel herab und stiebt davon. Die andern folgen ihm. Alma, die Hündin, rennt ihnen in großen Sätzen nach bis zum Bretterzaun. Dann kommt sie zurück, wälzt sich im Schnee und springt an Stefan hoch. »Schöne Helden sind das«, ruft Sonja, die alles beobachtet hat. Sie ruft Alma zu sich und streichelt sie. Zusammen gehen sie zur Basis. Die Kaffer haben den Basiscomputer umgestoßen. Der schwere Kasten liegt auf der Tür und läßt sich nicht mehr öffnen. Die Sicherungen sind im Schnee zerstreut. Stefan sammelt sie ein und steckt sie in die Hosentaschen. 87
»Jetzt geht es los«, murmelt er leise. »Was meinst du?« fragt Sonja. »Alles geht kaputt. Und im Frühling ist es sowieso aus. Wenn es hier einen Parkplatz gibt.« Am liebsten würde er weinen. So wie Papa auf dem Tonband. Und vielleicht würde ihn dann Sonja trösten: Beruhige dich doch, Stefan. Du brauchst doch keine Angst zu haben. Alma und ich sind ja bei dir... So wie Mama Papa getröstet hat. Aber Stefan unterdrückt die Tränen. Er holt ein Taschentuch hervor und schneuzt sich. »Die Kaffer können auch nichts dafür, daß hier alles abgeräumt wird«, sagt Sonja. »Das machen andere. Die, die hier Wohnblocks bauen. Die Kaffer möchten vielleicht nur hier spielen.« »Vielleicht«, gibt Stefan zu. »Auch unser Haus wird abgerissen. Das ist noch viel schlimmer. Deshalb fahren wir im Frühling wieder weg.« Nun sagt auch Sonja nichts mehr. Mit einem Fuß scharrt sie im Schnee. »Wollen wir auf das Raumschiff steigen?« fragt Stefan leise. Sie schüttelt den Kopf. »Wenn wir die Leiter aus graben, finden die Kaffer nachher die Spuren.« »Ich möchte dir aber trotzdem zeigen, wo sie ver steckt ist«, sagt Stefan. »Wir können doch zusammen hier spielen, solange alles noch da ist.« Sonja nickt. 88
Stefan zeigt ihr die Bretter, unter denen die Eisen leiter liegt. Sie sind mit Schnee bedeckt. Alma schnuppert daran als kenne auch sie nun das Geheim nis. Sonja nimmt sie an die Leine und begleitet Stefan bis zur Stelle, wo er durch den Zaun schlüpfen kann.
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Papa hat Stefan einige Töpfchen mit Farben bereit gestellt. Nun faltet er Vögel aus weißem Papier und bemalt sie. Bunte Paradiesvögel mit schimmernden Goldtupfen auf den Flügeln, mit goldenen Schnäbeln und silbernen Bäuchen. Mit einem durchsichtigen Nylonfaden befestigt sie Stefan an den Ästen des Weihnachtsbaumes, an dem die Kerzen schon aufge steckt sind. Nun sieht es aus, als ob die Paradiesvögel fliegen würden. Papa und Mama sind in der Küche beschäftigt. Papa hat eingekauft. Drei Lochkarten voller Dinge hat ihm Mama aufgeschrieben. Und wenn sie sagt, daß dies oder jenes trotzdem fehlt, antwortet Papa: »Bitte, du bist hier der Chef. Ich folge nur deinen Anweisun gen.« Mama antwortet: »Nein, jetzt bist du der Chef.« Papa: »Ich will aber nicht.« Mama: »Eigentlich brauchen wir gar keinen Chef. Wir machen ja alles miteinander.« Papa: »Oh, jetzt ist der Kartoffelstock angebrannt!« Der Kartoffelstock schmeckt trotzdem gut. Und der Braten, den es dazu gibt, auch, samt der braunen Sauce, mit der Stefan einen Kartoffelstockmondkrater füllt. Und die grünen Erbsen und die Karotten sind ebenfalls Spitze. Als Papa schließlich noch Vanilleeis mit heißen Himbeeren aufträgt, platzt Stefan schon beinahe. Aber 90
er ißt tapfer weiter. Schließlich ist nur einmal im Jahr Weihnachten. »Du hast ausgezeichnet gekocht«, sagt Mama zu Papa. »Du hast ausgezeichnet gekocht«, sagt Papa zu Mama. Dann lachen sie beide. Papa füllt sich ein Gläschen mit Kirsch, den er zum Kaffee aufgestellt hat, und kippt es. »Gemeinsam geht alles besser«, meint er. Dann räumt er den Tisch ab. Mama zündet die Ker zen am Weihnachtsbaum an. Sie löschen das Licht und sitzen eine Weile still da. Draußen ist es schon dunkel. In vielen Fenstern des Wohnblocks sieht man das warme Licht eines Weihnachtsbaums. Stefan und Papa raten, an welchen Bäumen wohl noch richtige Kerzen brennen, und wo elektrische Kerzen blinken. Mama holt Stefans Blockflöte und spielt ein Weih nachtslied. Es klingt schön. Dann darf Stefan die Geschenke auspacken. Schon lange hat er sie betrachtet und sich vorgestellt, was in dem großen Paket wohl drin ist und was in dem kleinen dünnen. Nun hebt er das große Paket hoch. Es ist schwer. »Rate mal, was drin ist«, sagt Mama. Stefan muß das Paket mit beiden Händen halten, so schwer ist es. »Ein Radio?« »Ein Funkgerät, mit dem ich Sonja Morsezeichen 91
senden kann?« »Eine Schreibmaschine?« »Eine Gegensprechanlage?« »Ein Experimentierbaukasten?« Stefan zählt all seine Wünsche auf, aber immer schüttelt Mama den Kopf. »Pack es doch aus«, sagt sie endlich. Unter dem Weihnachtspapier kommt eine farbige Schachtel zum Vorschein. Stefan liest den Aufdruck. Peanut. Your home Computer Er versteht nur das Wort ›Computer‹. Aufgeregt packt er weiter aus. In der Schachtel ist eine weiße Schaumstoff-Verpackung und darin, in durchsichti gem Plastik, ein Gerät, das aussieht wie eine Schreibmaschine. Es ist aber keine Schreibmaschine, denn man kann nirgends Papier einspannen. »Ein Computer«, sagt Stefan. »Ja«, sagt Mama. »Das ist Peanut, ein ganz kleiner Heimcomputer.« Sie nimmt drei Kabel aus der Verpackung. Mit dem einen schließt sie den Computer an einer Steckdose an, mit dem zweiten am Fernseher und mit dem dritten verbindet sie ihn mit Stefans Tonbandgerät. »Mit dem Tonbandgerät können wir Peanut die Programme einfüttern.« Stefans Herz klopft. Nun hat er also einen richtigen Computer. Der Basiscomputer kommt ihm in den Sinn, der umgestürzt ist und sich nicht mehr öffnen läßt. Er hat die Sicherungen, die im Schnee zerstreut 92
lagen, heimgebracht und Mama alles erzählt. Daß ihn die Kaffer überfallen haben. Und daß im Frühling die ganze Weltraumbasis abgeräumt werden soll. Auch von Sonja hat er ihr erzählt, mit der er nun das Ge heimnis teilt. Doch seither ist er nie mehr auf dem Raumschiff gewesen. Die Leiter ist unter dem Schnee begraben. Und das Raumschiff kommt ihm manch mal, wenn er hinüberschaut, wirklich nur wie ein rostiger alter Betonsilo vor, der Startturm wie ein Kran, das Radioteleskop wie ein umgekippter Beton mischer. Und der Basiscomputer ist nichts als ein umgestürzter, kaputter Schaltkasten. Aber jetzt hat Stefan ja einen richtigen Computer! Mama schaltet den Fernseher ein. Dann schaltet sie Peanut ein. Sie legt eine grüne Kassette ins Tonband gerät und drückt die Starttaste. Auf dem Fernseh schirm flimmert es zuerst nur. Dann füllt er sich blitzschnell mit Buchstaben. Stefan liest. Er liest langsam. Die Buchstaben flimmern ein wenig. Frohe Weihnachten, Stefan. Ich bin Peanut, dein Computer. Wenn du PLAY tippst, kannst du mit mir Spiele machen. Du kannst aber auch viel von mir lernen. MATHI ist ein Programm zum Rechnen. GRAMMI ist ein Programm, mit dem du die Recht schreibung üben kannst. Und schließlich... 93
Noch bevor Stefan weiterlesen kann, beginnt Pea nut ein Lied zu pfeifen. Oh du fröhliche... Genau das Lied, das Mama vorher auf der Block flöte gespielt hat. ...schließlich kannst du mit mir zusammen sogar Blockflöte üben. »Oh, Blockflöte«, sagt Stefan enttäuscht. Dazu hat er nun wirklich keine Lust. Wähle, was du möchtest! steht auf dem Fernseh schirm. Stefan starrt überwältigt auf die grünlichen, flim mernden Buchstaben. Er versucht, alles nochmals zu lesen, aber die Wörter fließen durcheinander. So wie im Lesebuch in der Schulstunde, wenn er laut vorle sen soll... Von weitem hört er Mamas Stimme... Es könnte auch die Stimme der Lehrerin sein. »Nimm dich zusammen, Stefan... Lies nochmals von vorn...« Nein, es ist nicht die Lehrerin. Mama sagt ruhig: »Spiel doch erst mal ein bißchen. Schau, so kann man ein Weltraumspiel starten.« Sie tippt PLAY auf den Tasten. Der Fernsehschirm wird augenblicklich zu einer blauen Fläche. Gelbe Sterne, rötliche Kreise erschei nen darauf. »Das sind Fixsterne und Planeten...« Und schwupp, saust ein Meteorit über den Schirm. »Hier mußt du dein Raumschiff durchlenken, zu dem grünen Kreis dort. Das ist die Erde. Aber paß auf, die Himmelskörper lenken dich von deiner Bahn ab. 94
Und die Meteoriten zerstören dein Raumschiff. Oder die feindlichen Raumschiffe. Hier ist eines...« »Weltraumpiraten«, sagt Stefan. Nun ist er mitten im Spiel. Mit ein paar Tasten lenkt er das Raumschiff auf und ab, beschleunigt oder verzögert es, genauso wie er damals die Kluppenhand von Autorob-3 gesteuert hat. Das Spiel ist allerdings noch viel komplizierter. Er muß nämlich noch aufpassen, daß ihm der Treibstoff nicht ausgeht... Paff, da ist er schon von einem Meteoriten getroffen worden. Zischend und fauchend zerplatzt das Raumschiff. Das Spiel beginnt nochmals von vorn. Stefan versucht einige Male, die Erde zu erreichen, aber es gelingt ihm nicht. Wenn er an den Himmelskörpern vorbeikommt, geht ihm bestimmt zum Schluß der Treibstoff aus. »Du kannst es ja später nochmals versuchen«, schlägt Mama vor. »Schau doch erst einmal, was du von Papa bekommen hast.«
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Stefan erwacht wie aus einem Traum. Er ist mit XAMAX-808 durch den Weltraum gesaust, hat mit Raumpiraten gekämpft und gefährliche Abenteuer durchgestanden. Nun ist er wieder auf der Erde. Papa sitzt am Tisch, schenkt sich eine Tasse Kaffee ein, gießt einen Schluck Kirsch hinein und rührt um. Er schaut in den Kaffee, während er rührt. Er sagt nichts. Schon während Stefan am Computer gespielt hat, hat er kein Wort gesagt. Seine Augen haben wieder den leeren Ausdruck, wie wenn er am Fenster steht und hinausschaut. »Papa, wir wollten doch einmal miteinander in den Weltraum fliegen«, sagt Stefan. »Ja, richtig«, murmelt Papa. Dann scheint er sich einen Ruck zu geben. »Ja, genau!« Er geht zum Weihnachtsbaum, nimmt das dünne Paket und streckt es Stefan hin. »Da drin ist unsere Reise. Sieh sie dir an.« Stefan öffnet die Schnur. Ein Buch kommt zum Vorschein. Ein Bilderbuch. Auf dem Umschlag ist ein großes Raumschiff gezeichnet, das auf vier Teleskop stützen ruht. XAMAX-808. Darunter, zwischen Sanddünen, die Radarstation. Unter einer Glaskuppel steht der Basiscomputer. Astronauten in Raumanzü gen arbeiten auf der Basis. »Meine Weltraumbasis«, sagt Stefan halblaut. Er liest den Titel des Buches. 96
Stefan und Christian reisen zum Mars Nun erkennt er sich selber. In einem roten Rauman zug steigt er die Bordleiter hinauf. Oben auf der Kommandoplattform ist eine Tür. Durch sie hindurch sieht man ein Steuerpult mit vielen Instrumenten und davor zwei Fliegersitze. Im einen sitzt Papa. Und unten vor dem Basiscomputer sitzt Mama. Sie macht ein sehr ernstes Gesicht, denn der Computer spuckt ganze Berge von Lochkarten aus. Noch jemand spaziert herum. Es ist Sonja. Auch sie trägt einen Raumanzug mit Sauerstofflaschen auf dem Rücken. An einer Leine führt sie Alma, die ebenfalls eine Sauerstoffmaske trägt. Die Sauerstoffflasche hat sie um den Hals gebunden wie ein Bernhardiner das Weinfäßchen. Stefan blättert um. Wieder ein Bild! »Hast du das alles selber gemalt, Papa?« fragt er. Papa nickt. Und nun lächelt er. Mama rollt die Kabel des Peanut-Computers zu sammen und versorgt ihn wieder in der Schachtel. »Morgen wieder, Stefan. Heute kannst du noch Papas wunderschönes Buch betrachten.« Es ist wirklich wunderschön! Auf dem zweiten Bild sticht das Raumschiff durch die Wolken. Unten sieht man einen Regenbogen, um den drei graue Betontatzelwürmer tanzen. Auf einem reitet Mama, auf dem andern Sonja und auf dem dritten Franziskus, dessen Haare und der rote Bart im Wind flattern. Alma hat Deltaflügel am Rücken 97
befestigt und gleitet als fliegender Hund durch die Luft. Zwischenlandung auf dem Mond! Ein Roboterka mel kommt durch die Mondwüste gestelzt, schnuppert am Raumschiff. Dann knicken seine Metallbeine zusammen, so daß Stefan und Papa aufsitzen können. Sie müssen sich festhalten, denn schon jagt das Mondroboterkamel mit Riesensätzen davon, setzt mit Tausendmetersprüngen über Felsspalten und Mond krater. Das ist möglich, weil der Mond eine viel kleinere Anziehungskraft hat als die Erde und weil der Luftwiderstand fehlt. Jetzt kommen sie auf die dunkle Seite des Mondes. Nur aus einem Krater dringt Licht. Das ist eine Mondoase. Der Krater ist bedeckt mit einer Plastikkuppel. Darunter wachsen Palmen und Gras. Schafe, Ziegen und richtige Kamele weiden. Papa und Stefan können ihre Raumanzüge ausziehen, denn unter der Plastikkuppel ist Luft. Auch die Mondbeduinen, die sie empfangen und mit Wein und Lamm am Spieß und süßen Datteln bewirten, haben keine Raumanzüge. Sie können die Mondoase nicht verlassen. Sie erzählen, daß sie früher in einer richti gen Oase auf der Erde gelebt haben. Dann hat man dort Erdöl gefunden, und deshalb mußten sie auf den Mond. Und weiter geht der Flug. Ein Meteorit zischt haar scharf am Raumschiff vorbei. Das ist nun nicht einfach ein leuchtendes Pünktlein wie auf dem Fernsehschirm beim Computerspiel, sondern ein 98
sprühender Himmelskörper mit einem langen, in allen Farben schillernden Schweif. Dann wird das Raumschiff vom riesigen Autoro bo1000kluppenfüßler Max angegriffen, der auf dem zerklüfteten Planetoiden Ceres in einer Höhle haust und nur manchmal hervorkriecht und mit seinen Fernsehaugen und mächtigen Radarohren das Sonnen system überwacht. Zwischen Mars, Venus und Merkur hat er ein Netz aus Laserstrahlen geflochten, in dem jeder Flugkörper zerstört wird. Doch Papa und Stefan setzen ihren Navigationscomputer SUSANNA 33 in Betrieb und so gelingt es ihnen, durch die Maschen des Lasernetzes zu schlüpfen, während sich Max bei ihrer Verfolgung in seinem eigenen Netz verfängt und in tausend Stücke zerspringt. Nach diesem aufregenden Zwischenfall landen sie weich auf dem Mars. Sogleich ist XAMAX-808 umgeben von einer Menge von kleinen Marswesen. Das sind grüne gallertartige Klumpen, die durch die Landschaft federn wie Bälle und dabei dauernd andere Formen annehmen. Als Stefan und Papa aussteigen, nehmen sie sofort Menschenform an, um ihre Sympathie auszudrücken. Stefan und Papa werden mit Jubel empfangen, denn auf dem Mars hat sich schon herumgesprochen, daß sie den bösen Weltraumro bo1000kluppenfüßler Max besiegt haben. Mit einem Schiff werden sie durch die Marskanäle in eine große Marsstadt geführt. Häuser gibt es dort keine, dafür Blumen, so hoch wie Bäume und Parks mit grünem 99
Rasen. Die Marswesen, die die Stadt bevölkern, fischen in den Marskanälen, baden oder liegen einfach als flache grüne Flunder an der Sonne und tanken Sonnenenergie auf. Schließlich entdecken Papa und Stefan sogar, daß sie sich mit den Marswesen unterhalten können, nämlich mit Morsezeichen. Dazu stellen sich viele Marswesen in eine Reihe. Einige ziehen sich zu grünen Kugeln zusammen. Das heißt Punkt. Die andern machen sich lang und dünn wie Spaghetti. Das sind die Striche. Zum Glück haben sie Mamas Karte mit dem Morsealphabet dabei. So können sie die Botschaften der Marswesen entziffern. ·-- ·· ·-·· ·-·· -·- --- -- -- · -· ·- ··- ··-· -·· · -- -- ·- ·-· ···
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Stefan ist eingeschlafen. Schon während ihn Papa ins Bett trägt und zudeckt, träumt er, daß er an den Tasten des Peanut-Computers sitzt und sein Raum schiff durch das Lasernetz des Weltraumautoro bo1000kluppenfüßlers Max lenken muß. Die roten Maschen des Netzes kommen immer näher, und dahinter lauert das Roboterungeheuer mit den schwar zen Fernsehaugen und den riesigen Radarohren. Stefan drückt verzweifelt auf die Tasten. Hoch, tief, links, rechts... Doch nichts passiert. Stefan erwacht. Es ist noch früh und ganz still im Haus. Papa und Mama schlafen. An der Tür von Mamas Zimmer hängt die rote Karte: Bitte nicht stören!
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Draußen dämmert es. Schwarz ragen die Teile der Weltraumbasis aus dem Schnee. Sie wirken tot. Wie ein Haufen alten Gerümpels. Auch das Backsteinhaus ist schwarz und tot. Nur an der Bachmattstraße brennen die Straßenlampen. Leise geht Stefan ins Wohnzimmer. Er packt den Peanut-Computer aus, steckt ihn ein und verbindet ihn mit dem Fernseher. Genau wie das Mama gemacht hat. Das Tonbandgerät fehlt noch. Er holt es und steckt es ebenfalls ein. Die grüne Kassette ist schon drin. Also schaltet er ein. Der Fernsehschirm beginnt zu flackern, aber es erscheinen keine Buchstaben. Stefan wartet. Nichts. Auch das Weihnachtslied ertönt nicht. Dafür hört er plötzlich eine Stimme. Er dreht die Lautstärke auf. Jemand schluchzt. Papa. »Ich habe Angst ... ich habe Angst...« Mamas Stimme klingt leise und ruhig dazwischen. »Beruhige dich doch, Christian. Du brauchst doch keine Angst zu haben. Stefan und ich sind doch bei dir...« Im Tonbandgerät steckt wieder die Kassette, die er einmal heimlich aufgenommen hat. An dieser Stelle hat er immer ausgeschaltet. Aber jetzt kann er nicht. Es ist wie im Traum, als er sich dem roten Netz näherte und die Tasten nicht mehr funktionierten. Nur das Band läuft weiter und Papa schluchzt. Ob der Peanut-Computer versteht, was Papa sagt? Weiß ein Computer, was Angst ist? 102
Wohl kaum. Aber auch Stefan versteht Papas Angst nicht richtig. Er ist froh, als Mama sagt: »Ich gehe doch arbeiten. Ich habe meine Arbeit gern. Und mein Lohn reicht doch gut für uns alle. Du kannst malen. Du kannst machen, was du willst. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben.« Papa sagt leise: »Wir sind so anders, Susanna. Du und ich...« Und Mama: »Ich hab dich doch lieb.« Dann ist es lange ruhig. Jetzt küssen sie sich, denkt Stefan. Dann springt mit einem Klicken die Taste des Tonbandgerätes heraus. Die Kassette ist zu Ende. Der Fernsehschirm flackert immer noch wie bei einer Störung. Der Computer hat also nichts verstan den. Stefan zieht die Kabel heraus, rollt sie zusammen und legt alles wieder in die Schachtel zurück. Er schaltet aus und geht in sein Zimmer.
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Es klingelt. Stefan öffnet die Tür. Er wird beinahe umgeworfen von Alma, die hereindrängt und an ihm hochspringt. »Platz Alma, Platz.« Draußen steht Franziskus und lacht. In jeder Hand trägt er eine Flasche Wein. »Wir wollten euch frohe Weihnachten wünschen«, sagt er. Und wieder lacht er so laut, daß es im Trep penhaus hallt. Auch Sonja ist mitgekommen. Statt dem gelben Mantel hat sie ein buntes Tuch an, das in der Mitte einen Schlitz hat für den Kopf. »Das ist ein Poncho«, sagt sie. »Franziskus hat ihn mir zu Weihnachten geschenkt. Gefällt er dir?« Stefan betrachtet den rot, gelb und blau gestreiften Überwurf und nickt. »Er ist von Indianern aus Mexiko«, sagt Sonja. »Was hast du denn bekommen?« »Einen Computer«, sagt Stefan. Mama kommt im Morgenrock aus ihrem Zimmer. Sie sieht noch ziemlich verschlafen aus. »Frohe Weihnachten«, sagt Franziskus und hält die Weinflaschen in die Höhe. Mama sieht ihn erstaunt an. »Danke. Aber wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht.« »Ich bin Franziskus.« »Ach so. Sie wohnen im Roten Haus. Ich habe von Ihnen gehört. Kommen Sie doch herein.« 104
Sie nimmt ihm die Weinflaschen ab. »Eigentlich können wir doch du sagen«, schlägt Franziskus vor. »Ich sage zu allen Leuten du.« Mama nickt. »Ich heiße Susanna.« Sie führt Franziskus ins Wohnzimmer. Dann geht sie Kaffee machen. Alma springt gleich aufs Sofa, streckt sich aus und schließt die Augen. Papa schaut herein. Auch er sieht noch bleich und verschlafen aus. Er nickt Franziskus zu. »Ich komme gleich.« Dann verschwindet er im Bad. Bald zieht Kaffeeduft durch die Wohnung. Franzis kus schnuppert. »Mmm...« Er geht zum Fenster, steckt die Hände in die Hosentaschen und schaut hinaus. »Zeig mir deinen Computer«, sagt Sonja zu Stefan. Stefan packt seinen Peanut wieder aus, schließt ihn an und legt diesmal die richtige Tonbandkassette ein. Die mit den Programmen. Nun funktioniert alles wieder. Der Fernsehschirm füllt sich mit Buchstaben. Am Schluß ertönt das Liedchen und Peanut fragt: Wähle, was du möchtest! Diesmal tippt Stefan GRAMMI ein. Es ist das Pro gramm, mit dem man die Rechtschreibung üben kann. Lieber Stefan. Ich bin GRAMMI, ein Programm, das dich richtig schreiben lehrt. Der folgende Satz hat einen Fehler. Schreibe ihn richtig! Jetzt ertönt ein lautes Piepsen. Stefan gehen zur Schule. 105
Stefan tippt: Stefan geht zur Schule. Dreimal piepst Peanut. Auf dem Fernsehschirm steht ganz groß: Bravo! Das ist richtig! Sonja staunt. »So einen Computer möchte ich auch haben. Dann könnte ich auf unseren Reisen immer lernen.« »Wo gehst du denn zur Schule, wenn ihr unterwegs seid?« fragt Stefan. »In der Wüste zum Beispiel.« Sonja sieht zu Franziskus hinüber, der immer noch am Fenster steht und ihnen den Rücken zukehrt. Sie flüstert Stefan ins Ohr: »Franziskus unterrichtet mich. Er ist früher nämlich Lehrer gewesen. Aber er will nicht, daß die Leute das wissen.« »Warum nicht?« wundert sich Stefan. Da dreht sich Franziskus um. »Einen Computer möchtest du als Lehrer? Dort wo wir hinfahren, gibt es nicht einmal einen Stecker zum Anschließen.« »Aber einen Fernseher haben wir doch auch im Ferdinand.« »Richtig. Der läuft eben mit Batterie.« Stefan meint: »Vielleicht gibt es auch Computer mit Batterie. Wir müssen Mama fragen, die weiß das.« Als Mama mit dem Kaffee hereinkommt, sagt Franziskus zu ihr: »Du bist wohl eine richtige Super frau. Du verstehst sogar etwas von Computern, hab ich eben gehört.« Er lacht, und Papa, der hereinkommt, lacht eben 106
falls und schüttelt Franziskus die Hand. Franziskus klopft ihm auf die Schulter. »Du bist zu beneiden um deine schöne und geschei te Frau«, sagt er. Mama macht eine abwehrende Handbewegung. »Ach, Computer verstehen, ist nicht so schwierig. Deswegen braucht man noch lange nicht gescheit zu sein.« »Was ist denn schwierig?« fragt Franziskus. »Die Menschen verstehen ist schwierig.« »Die Menschen kann man gar nicht verstehen«, meint Franziskus. »Ich verstehe oft nicht einmal mich selber.« Sie unterhalten sich, während Stefan und Sonja das Programm GRAMMI weiterlaufen lassen. Ein neuer Satz erscheint: Stefan grüßt der Lehrer. »Ich habe keinen Lehrer, ich habe eine Lehrerin«, sagt Stefan. Also tippt er: Stefan grüßt die Lehrerin. Nun piepst der Computer nur einmal. Auf dem Fernsehschirm erscheint: Leider ist der Satz falsch. Versuche es nochmals! Stefan wird rot. Er kann keinen Fehler sehen. Die Buchstaben verschwimmen wieder vor ihm. »Der Satz ist doch richtig«, sagt auch Sonja. »Dein Computer versteht ja gar nicht alles.« »Nein, er versteht nicht alles«, sagt Stefan. Sie rufen Mama, die ihnen erklärt, daß die richtige Lösung heißt: Stefan grüßt den Lehrer. 107
Sie tippt es ein und wirklich, Peanut piepst dreimal. »Aber ich habe doch keinen Lehrer«, beharrt Ste fan. »Das weiß der Computer eben nicht«, sagt Mama. »Dazu müßte ich erst sein Programm ändern.« Stefan ist ein wenig enttäuscht. Wie soll denn ein Computer ein Raumschiff lenken können, wenn er nicht mal von sich aus den Unterschied zwischen einem Lehrer und einer Lehrerin kennt. »Alles was ein Computer weiß, muß man ihm vor her eingeben«, erklärt Mama. »Das nennt man Pro gramm. Ohne Programm ist auch der größte Compu ter ziemlich dumm.« Stefan schaltet Peanut aus. Er zeigt Sonja sein Raumlabor mit der Lochkartensammlung und dem Laborcomputer, den er selber gebastelt hat. Er zeigt ihr, wie er Morsezeichen aussenden kann. »Auch das kann Peanut nicht«, stellt Sonja fest. »Dein Computer gefällt mir besser.« Dann schauen sie zusammen Papas Bilderbuch an. In der Marsstadt gibt es ein großes Fest. Die gal lertartigen grünen Marswesen nehmen zu Ehren der Gäste von der Erde alle Menschengestalt an. Nur die Artisten des großen Marszirkus, die eine Galavorstel lung machen, ändern dauernd ihre Gestalt. Einer wird lang und dünn und spannt sich schließ lich als elastisches Seil zwischen den Mars und einen seiner Monde. Die andern balancieren über das Seil bis hinauf zum Mond. Dort machen sie sich flach, so 108
daß sie als weite Tücher sanft wie Fallschirme zum Mars zurückschweben. Eines der Tücher landet auf einem Krater, andere hüpfen darauf herum wie auf einem Trampolin, federn höher und höher, bis sie weit in den Weltraum hinausfliegen. Jetzt, wo der Wel traumautorobo1000kluppenfüßler Max besiegt ist, ist das gar nicht mehr gefährlich. Auch Papa und Stefan springen auf das Trampolin, und schon flitzen sie an den Marsmonden vorbei Richtung Erde. Sie müssen einen Augenblick den Atem anhalten, denn die Raumanzüge haben sie im Raumschiff auf dem Mars zurückgelassen. Sie fallen am Mond vorbei, gleiten dann an großen grünen Marsfallschirmen auf die Erde zurück, genau auf Stefans Weltraumbasis zu. Anstelle der alten Baumaschinen ist dort aber ein Zirkuszelt aufgebaut. Oben ist eine Luke, durch die sie landen, direkt zwischen den Höckern eines Kamels, das in der Manege von Beduinen rundherum geführt wird. Die grünen Fallschirmtücher schrumpfen blitzschnell zu Gallertklumpen zusammen, rollen über die Bachmatt straße, von wo sie mit dem kräftigen Schwanzschlag eines Betontatzelwurmes in den Weltraum und zurück zum Mars befördert werden. Franziskus blättert im Buch und sagt; »Es ist wunderschön. Du bist wirklich ein Künstler, Christian.« Papa wehrt ab: »Ich wollte Stefan eine Freude ma chen. Deswegen bin ich noch lange kein Künstler.« »Eben darum bist du ein Künstler! Weil du jeman dem Freude machen kannst. Auch Sonja hat Freude an 109
dem Buch. Uns allen gefällt es.« Papa und Franziskus stehen am Fenster und schau en hinaus. »Wenn dort wirklich ein Zirkuszelt stehen würde, hätte auch ich Freude«, sagt Papa. »Aber bald wird doch alles abgerissen und überbaut. Es gibt einen riesigen Wohnblock mehr. Kein Grün mehr, nur noch grau, grau. Wie ich euch beneide. Ihr könnt im Frühling eure Sachen packen und abhauen.« »Du beneidest uns? Dabei sind wir ständig auf der Flucht«, sagt Franziskus. »Auf der Flucht? Wovor denn?« »Ich weiß es auch nicht so genau. Vor den Beton tatzelwürmern vielleicht. Vor den Weltraumpiraten. Vor den Spionen, Vor den Computern und Raum schiffen.« Papa überlegt lange. Dann sagt er: »Auch wir sind auf der Flucht. Nur fahren wir nicht weg. Wir sehen die Dinge, die uns bedrohen, einfach nicht mehr. Das führt eben dahin, daß man eines Tages überhaupt nichts mehr sieht.« Franziskus hält ihm das Buch hin. »Du siehst aber noch genug, Christian.« Er macht eine Pause, als ob er nachdenken würde. »Eigentlich sollten wir noch nicht aufgeben und kämpfen.« »Kämpfen? Wofür?« »Für das Rote Haus. Für den alten Betonsilo. Für den Tümpel. Für jeden Busch da drüben auf dem verlassenen Bauplatz. Du bist doch Architekt, Christi 110
an. Du könntest doch eine Einsprache gegen den Bau machen.« Papa zuckt die Achseln. »Dazu bin ich nicht be rechtigt. Weil ich nicht im Roten Haus wohne.« »Dann weigern Sonja und ich uns, das Rote Haus zu verlassen. Und Stefan macht auf seinem Raum schiff einen Hungerstreik. Und Susanna...« Mama ruft aus der Küche: »Aber heute machen wir keinen Hungerstreik. Ich habe nämlich schon ge kocht.« Franziskus und Sonja bleiben zum Essen. Und dann spielen Sonja und Stefan wieder mit Peanut, mit Stefans Laborcomputer, mit der Lochkartensamm lung. Und immer wieder betrachten sie das Buch von der Reise auf den Mars. Papa, Mama und Franziskus sitzen im Wohnzim mer und diskutieren. Alma schläft auf dem Sofa. Erst spät am Abend, als Franziskus und Sonja aufbrechen, erwacht sie.
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Die Ferne ist dein Land, schreibt Stefan auf eine grüne Karte. Denn der Ferdinand ist unten auf dem Vorplatz geparkt. Papa und Franziskus tragen Gegen stände aus Papas Büro zum Auto und laden sie ein. Die Tischplatte mit den beiden Böcken, Kisten voller Bücher, Backsteine und Bretter von den Gestellen, Papierrollen und Schachteln mit Pinseln, Farbtöpfen, Gläsern und Tuben. Sonja hält die Lifttür. Ein paar alte Leute stehen etwas abseits, schauen mit neugierigen Blicken zu und tuscheln untereinander. Kinder kreisen mit Rollschu hen um den Ferdinand. Mit den Fingern fahren sie den roten Linien auf der Weltkarte nach, die alle Reisen des Ferdinand darstellen. Sie bekommen schwarze Finger, denn das Auto ist ziemlich schmutzig. Franziskus läßt sie machen. Und als alles aufgela den ist, erzählt er den Kindern noch, wie der Ferdi nand einmal im Sand steckengeblieben ist, mitten in der Wüste Sahara. Sie mußten auf Kamelen bis zur nächsten Oase reiten, um Hilfe zu holen. Als sie zurückkehrten, war der Ferdinand zwar noch am gleichen Platz, aber Räder hatte er keine mehr. Irgend jemand hatte sie abgeschraubt und mitgenommen, selbst das Reserverad auf der Kühlerhaube. Es dauerte drei Wochen, bis sie in einer weit entfernten Stadt Räder auftreiben konnten, die zum Ferdinand paßten. Als sie zurückgekehrt waren und die Räder montiert 112
hatten, sprang der Motor nicht mehr an. Sie mußten den Ferdinand abschleppen und einen neuen Motor einbauen. Der alte war voller Sand. So kam zum Schluß alles teurer, als wenn sie den Ferdinand einfach in der Wüste stehengelassen und ein neues Auto gekauft hätten. »Aber es war ein Abenteuer«, sagt Franziskus. »Und wir konnten uns einfach nicht von Ferdinand trennen. Der Ferdinand ist unser Haus. Wo der Ferdinand ist, sind wir daheim.« Auch die Alten sind nähergekommen, als Franzis kus laut und mit vielen Handbewegungen erzählt hat. Einige schütteln ungläubig den Kopf. Ein alter Mann tippt mit dem Finger an die Stirn: »Der spinnt.« Aber Franziskus lacht nur, dann setzt er sich ans Steuer. Papa nimmt neben ihm Platz. Sonja und Stefan setzen sich hinten auf die Bänke. Franziskus hupt. Die Kinder gehen zur Seite und winken. Langsam fahren sie durch die Bachmattstraße zum Dorf. Dort gibt es im Bretterzaun ein Tor, das Franziskus mit einem Schlüssel öffnet. Über eine schmale Straße fahren sie zum Roten Haus. Sie tragen dort alles, was sie aufgeladen haben, durchs steile Treppenhaus hinauf in ein leeres Zimmer. Papa befestigt mit Reißnägeln eine Karte an der Tür. Atelier steht darauf in schön verzierter Schrift. Papa wird nun im Roten Haus arbeiten.
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Eines Morgens ist der Schnee weg. Es regnet. Nun trägt auch Stefan einen gelben Regenmantel. Aber die Kapuze schlägt er nicht hoch. Sie stört ihn, denn mit der Kapuze hört er nicht gut. Die Kaffer haben sich zwar nicht mehr blicken lassen, seit ihnen Alma zwischen die Beine gefahren ist. Trotzdem muß er auf der Hut bleiben, wenn er seinen Geheimweg benutzt, um von der Stunde bei Frau Federspiel nach Hause zu gelangen. Stefan läßt sich Zeit. Er macht einen Kontrollgang um die Weltraumbasis. Im Roten Haus brennt Licht. Rauch dringt aus dem Kamin. Er steigt aber nicht hinauf zu den tiefliegen den Wolken, sondern der Regen scheint ihn niederzu drücken. Stefan geht durch die Büsche hinüber. Im Treppenhaus ist es dunkel. Nur oben bei Papas Atelier fällt durch eine Ritze Licht auf den Treppenabsatz. Stefan klopft an die Tür. Keine Antwort. Leise drückt er die Klinke nieder und öffnet die Tür vorsichtig. Sie quietscht in den Angeln. Papa, der an der gegenüberliegenden Wand arbeitet, fährt er schrocken herum. »Ich bin es nur«, sagt Stefan. »Ach so. Komm herein«, sagt Papa. »Und mach die Tür gleich wieder zu. Wir müssen die Wärme hier zusammenhalten.« 115
In einem kleinen Eisenofen brennt ein Feuer. Daneben liegen in einer Kiste Holzscheite und Briketts bereit. Stefan tritt nahe an den Ofen und wärmt sich auf. Erst jetzt bemerkt er, wie kalt es draußen gewesen ist. Papa gibt ihm ein Tuch, damit er sich die Haare abtrocknen kann. Papa steckt in einem weißen Mantel, der voller Farbflecken ist. Auf dem Boden hat er Zeitungen ausgebreitet. Farbtöpfe mit Pinseln drin stehen herum. Eine Wand des Zimmers ist bereits bemalt, an der zweiten arbeitet er gerade. Dort sind erst einige Umrisse auf den weißen Putz skizziert. Die fertige Wand dagegen leuchtet in bunten Far ben. Papa stellt eine Lampe so ein, daß die Wand beleuchtet wird. Große farbige Flächen fließen ineinander, Grün vor allem, doch wird es von roten, gelben, blauen Schlieren und Tupfen durchsetzt. Stefan hat das Gefühl, dort beginne das Blätterreich eines Urwaldes, durch das man nur noch kleine Fetzen des Himmels sieht. Ein Gewirr von Pflanzen und Blüten, in dem sich Tiere verstecken, ein Leopard, eine Riesenschlange, Affen. Ja selbst Paradiesvögel schwirren um prächtige Orchideen. Eigentlich ist die Wand gar nicht mehr da. Durch Papas Atelier kann man in den Urwald gelangen. »Gefällt dir das Bild?« fragt Papa. Stefan macht eine unbestimmte Bewegung mit der Hand. Das Bild gefällt ihm, doch versteht er nicht, warum Papa die Wände bemalt, die ja bald abgerissen 116
werden sollen. Draußen stehen schon hohe Stangen. Die Umrisse des neuen, riesigen Betontatzelwurmes, der bald die Erdhaufen und den Teich, den Schopf und das Rote Haus verschlucken wird. Stefan schweigt. »Gefällt es dir nicht?« »Doch schon. Aber...« »Du denkst, daß das Haus ohnehin bald abgerissen werden soll.« Stefan nickt. »Das ist eben noch gar nicht sicher«, sagt Papa, »Wir haben eine Einsprache gegen den Bau gemacht beim Stadtrat. Deshalb bin ich hierher gezogen. Franziskus und ich haben sogar Pläne gemacht für ein Freizeitzentrum, das man hier einrichten könnte mit Ateliers und Bastelräumen, mit einem kleinen Cafe und Gehegen für Tiere. Und drüben, wo jetzt die alten Baumaschinen stehen, möchten wir einen tollen Abenteuerspielplatz aufbauen.« Papa zieht einen dicken Ordner aus dem Gestell und breitet vor Stefan Zeichnungen und Skizzen aus. »Aus dem Tümpel machen wir ein Biotop mit Schilf, Binsen und anderen Wasserpflanzen, mit Fröschen und Algen. Rund um die Hügel legen wir Spazierwege an für die Alten. Und für die Kinder soll es eine lange Rutschbahn geben. Und einen Indianer turm aus Holzbalken. Siehst du...« Papa ist in Eifer geraten. Während er Stefan die Zeichnungen erklärt, bekommt sein Gesicht einen 117
fröhlichen Ausdruck. »Wie findest du unsere Idee?« fragt er. Stefan schaut auf die Blätter, die Papa am Boden ausgebreitet hat. Er sieht das Rote Haus darauf, den Tümpel mit den Spazierwegen, Schilf, Rasen, Büsche. Er sieht dort, wo jetzt die Baumaschinen stehen, Holzhütten, den Indianerturm, eine Rutschbahn. Dann fragt er leise: »Und meine Weltraumbasis?« »Ach so«, murmelt Papa. Aus seinem Gesicht ver schwindet der fröhliche Ausdruck. »Daran habe ich nicht mehr gedacht. Ehrlich, Stefan...« Rasch sammelt er die Zeichnungen ein und versorgt sie wieder im Ordner. »Das müssen wir uns nochmals überlegen. Das sind ja alles erst Vorschläge.« Er steckt den Ordner ins Gestell zurück. Dann nimmt er einen roten Farbtopf und malt an seinem Bild weiter. Stefan setzt sich auf eine Holzkiste und schaut ihm zu. Papas Pinsel bewegt sich unruhig über die weiße Fläche. Er setzt ihn ab und tritt etwas zurück. »Hier kann ich endlich arbeiten«, sagt er gegen die Wand. »Hier kommen mir wieder Ideen. Hier sehe ich wieder.« Er verstellt die Lampe, daß ihr Licht auf die neu gemalte Fläche fällt. Dann zündet er sich eine Zigaret te an und raucht sie hastig zu Ende. Irgendwie kommt er Stefan verändert vor. Seit er das Atelier im Roten Haus hat, ist er nur noch selten 118
zu Hause. Oft bleibt er sogar über Nacht weg. Er schläft auf einer Couch. Mama kommt über Mittag wieder nach Hause und kocht. Dafür ist Stefan am Abend wieder lange allein. Manchmal schreibt Mama eine Mitteilung auf eine Karte, die Stefan dann ins Rote Haus bringen muß. Brauchst du etwas? Morgen mußt du für Stefan kochen. Ich bin auf Geschäftsreue. Einmal hat sie auch geschrieben: Du mußt dich entscheiden, Christian. Das hat Stefan nicht verstanden. Wofür muß sich Papa entscheiden? Er hat die Karte trotzdem in seine Sammlung genommen, die nun wieder schneller wächst. Nun sind wir also endgültig eine Lochkarten familie geworden, denkt er. Einmal hat er versucht, Papa eine Botschaft zu senden mit seinem Laborcomputer. Aber es ist keine Antwort gekommen. Papa hat wohl die Morsezeichen nicht verstanden. Oder er hat nicht aus dem Fenster geschaut, da er jetzt dauernd malt. Deshalb hat ihm Stefan nun selber eine Karte geschrieben. Nicht in Geheimcode, nein. Er hat sich unheimlich Mühe gegeben dabei. Eigentlich wollte er sie sogar Frau Federspiel zeigen in der Stunde, damit er ganz sicher ist. Aber dann hat er sich doch nicht getraut. Während Papa einen andern Farbtopf nimmt und weitermalt, legt er sie auf das Gestell. Lieber Papa. Ich möchte, daß du wieder zu Hause 119
bist und für mich kochst. Dein Stefan. Er ist ganz sicher, daß er keinen Fehler gemacht hat. Leise drückt Stefan die Türklinke nieder und geht hinaus. Im Treppenhaus horcht er. Das Haus ist leer. Franziskus und Sonja sind weg. Er hört Papa vor sich hinsagen: »Komisch. Früher habe ich Häuser abgerissen und Betontatzelwürmer gebaut. Und heute male ich ein Abbruchhaus aus, um es zu retten.« Er redet für sich, als hätte er Stefan schon wieder vergessen. Stefan öffnet leise die Tür zu Sonjas Zimmer. Es ist dunkel darin. Er legt sich auf ihre Matratze, zieht die Zauberdecke über sich und schließt die Augen. Er atmet den eigenartigen Geruch ein, den sie ausströmt. Den Zaubergeruch.
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Wonach riecht es denn? Nach Pferden? Nach Scha fen? Nach dem Rauch eines Holzfeuers? Es könnte auch der Geruch von Lamas sein. Oder von Nilpfer den. Oder von Kamelen natürlich. Durch einen Spalt fällt Dämmerlicht. Grünes ge dämpftes Licht. Alles ist Grün. Grün überall wohin Stefan auch blickt. Oben, unten. In allen Himmels richtungen: Grün. Und dazwischen schweben rote und gelbe und blaue Tupfen. Paradiesvögel. Und dort ist ein Stück Himmel. Oder ein See. Oder eine blaue Orchideenblüte. Allmählich begreift Stefan, daß er sich mitten in dichtem Gebüsch befindet, daß er etwas sucht. Aber was denn? Die Leiter vielleicht? Ach nein! Wie sollte die schwere Eisenleiter in den Urwald kommen. Denn im Urwald befindet er sich. Er steht auf einem schwankenden Blättergrund, auf faulenden Ästen, auf dünnen Luftwurzeln. Nein, die schwere Eisenleiter wäre hier längst im Sumpf versunken. Also muß es etwas anderes sein, das er sucht. Er macht einen Schritt. Der Grund schwankt, doch trägt er ihn. In irgendeine Richtung geht er. Suchen heißt ja, sich bewegen. Ein Kompaß wäre praktisch! Aber er hat keinen Kompaß dabei. Er hat überhaupt nichts dabei. Also tastet er sich einfach voran, erschrickt, wenn sich unter seinen Füßen etwas bewegt. Schlan gen? Giftige Riesenspinnen? Skorpione? Schweiß 121
bricht ihm aus allen Poren. Es wird heiß und immer heißer. Die schwere Luft droht ihn zu ersticken. Er möchte etwas rufen, aber sein Hals ist wie zuge schnürt. Und überhaupt, was soll er denn rufen? Und wen? Da ist ja niemand. Niemand hört ihn. Niemand sieht ihn. Stefan ist allein. An einem festen Baumstamm klettert er in die Hö he, packt eine Liane und läßt sich zum nächsten Baum pendeln. Kleine Affen stieben laut kreischend ausein ander. Stefan klettert wieder in die Höhe. Jetzt wird es heller. Er sieht ein Stück Himmel. Und in der Nähe schneidet sich das silberne Band eines Flusses durch das Grün. Er läßt sich von Baum zu Baum pendeln, bis er das Flußufer erreicht. Ein Floß aus rohen, zusammenge bundenen Baumstämmen liegt im Wasser. Er springt auf das Floß, schneidet die Liane durch, an der es befestigt ist und stößt es mit einer langen Stange vom Ufer weg. Schon wird es von der Strömung erfaßt. Am Rand des Flusses lassen sich Krokodile klat schend ins Wasser fallen. Sie schwimmen dicht hinter dem Floß her. Ihre Augen und Nasenlöcher schauen aus dem Wasser. Die großen schwarzen Augen scheinen Stefan zu beobachten. Die Krokodile lassen sich nicht abschütteln. Im Gegenteil. Immer mehr werden es. Stefan muß die andere Seite des Flusses erreichen. Aber wie? Die Strömung zieht das Floß schneller und 122
immer schneller mit sich. Die Stange erreicht keinen Grund mehr. Er kann es nicht mehr lenken. Das Wasser wird unruhig. Schäumend bricht es sich an Felsen, die unter der Oberfläche versteckt sind. Rundum wirbelt und gurgelt es. Das Floß stößt an, es dreht sich und nähert sich rasch den Stromschnellen, über die der Fluß tosend und schäumend stürzt. Stefan erwacht. Zuerst sieht er gar nichts, so dunkel ist es im Zimmer. Er riecht etwas. Krokodilgeruch. Riecht es nicht wie im Reptilienhaus im Zoo? Er dreht sich um. Jemand kauert am Boden, mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand gelehnt. Ein Indianer mit einem farbigen Poncho. »Du hast geschlafen«, sagt der Indianer. Seine Stimme kommt Stefan bekannt vor. Es ist eine Indianerin. Es ist Sonja. »Hast du geträumt?« fragt sie. »Ich war im Urwald«, sagt Stefan. Seine Zunge ist schwer. »Du warst im Urwald. Du wolltest über einen Fluß fahren mit einem Floß, aber das Floß trieb auf die bösen Stromschnellen zu. Und rundum lauerten Krokodile im Wasser.« »Woher weißt du das?« »Das ist eine der Geschichten, die in der Zauber decke stecken. Sie bedeutet etwas.« Stefan setzt sich auf und reibt sich die Augen. Be stimmt hat er lange geschlafen. Mama wartet schon auf ihn. Vielleicht hat sie Angst. Er möchte aufstehen 123
und nach Hause laufen. Aber er fühlt sich so müde und schwach, daß er sich wieder auf die Matratze zurücksinken läßt. Ein bohrender Schmerz fährt durch seinen Kopf. Wie ein Krokodilbiß. »Du hast Fieber«, sagt Sonja. Sie deckt ihn mit der Zauberdecke zu. Da ist er wieder, der Schaf-Kamel-Lama-NilpferdHolzfeuer-Krokodilgeruch. Und da ist auch das Rauschen der Stromschnellen wieder, ganz nahe. »Immer, wenn man von den Krokodilen träumt, hat man Fieber.« Sonjas Stimme ist weit weg. Als ob sie am Ufer des Flusses stehen würde. Sie sagt noch etwas, aber Stefan versteht sie nicht mehr. Das Tosen des Wassers unter seinen Füssen verschluckt alles. Er klammert sich an die Klippe, an der das Floß zerschellt ist. Unter sich sieht er im grün wirbelnden Wasser dunkle Schatten auftauchen. Die Krokodile. Mit einer Hand tastet er über den Fels. Da spürt er etwas Rundes, eine runde Eisensprosse. Seine Leiter! Nun hat er sie also doch gefunden. Mit aller Kraft zieht er sich an der Sprosse hoch. Seine Füße finden Halt. Dann steigt er langsam hinauf und erreicht mit letzter Kraft die Kommandoplattform seines Raum schiffs. Sie schwankt, so daß er sich festhalten muß. Weit unter ihm liegt nun der Fluß, ein gewundenes Band, das sich wie eine silbrige Schlange durch den Urwald zieht. Seine Weltraumbasis steht auf einer Klippe mitten im Urwaldfluß, weder der Startturm 124
fehlt noch das Radioteleskop noch der Basiscomputer, der mit Drahtseilen befestigt ist, so daß er nicht ins Wasser stürzen kann. Und rundum ist alles grün, weit und breit sind keine Betontatzelwürmer zu sehen, auch keine Pyramiden, keine Krater mit Mondbedui nen, kein Dorf. Nur Bäume und Blätter, so weit man sehen kann. Vielleicht haben sich die grünen Marswe sen zur Abwechslung in Bäume verwandelt, so daß jetzt rund um die Weltraumbasis der Urwald entstan den ist. Und der Fluß ist nichts anderes als ein umge leiteter Marskanal. Ein plötzlicher Ruck geht durch das Raumschiff. »Start«, sagt Stefan. »Start«, wiederholt eine Stimme neben ihm. »Darf ich auch mitkommen?« »Wer bist du?« fragt Stefan. »Sonja«, sagt die Stimme. »Ja, dann darfst du mitfliegen«, sagt er. Das Raumschiff hebt ab, ohne Knall, ohne Rauch und Feuerblitz. Ganz sanft löst es sich von der Klippe, und sanft schaukelnd schwebt es über dem grünen Urwald, wie ein Heißluftballon, der in einem leichten Wind dahintreibt. Stefan fühlt sich plötzlich leicht.
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Drück bitte auf die rote Taste wenn du etwas brauchst, Stefan. Die Karte liegt auf dem Stuhl, der an Stefans Bett gerückt ist. Daneben stehen ein Thermoskrug, eine Tasse und ein Teller voll Zwiebacke, die mit Butter bestrichen sind. Stefan schraubt den Deckel des Thermoskruges auf und schenkt ein. Der warme, süße Tee weckt ihn wieder auf. Neben dem Stuhl steht auf einer Holzkiste der Computer, den er aus Sicherungsköpfen, Schaltern und Lämpchen gebastelt hat. Er ist also in seinem Raumlabor. Natürlich! Ist er nicht eben mit dem Raumschiff XAMAX-808 von einer großen Reise zurückgekehrt und drüben auf der Weltraumbasis weich gelandet? Stefan drückt auf die rote Taste. Die Klingel schrillt. Die Tür geht auf und Papa schaut herein. »Ach, du bist aufgewacht, Stefan. Brauchst du etwas?« »Ich wollte nur ausprobieren, ob der Computer noch funktioniert.« »Mama hatte die Idee«, sagt Papa. »Mama hat im mer gute Ideen.« Er setzt sich neben Stefan auf die Bettkante und streicht ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. Seine Hand ist kühl. Stefan hält sie fest. 126
»Das tut gut, Papa.« »Ich glaube, das Fieber sinkt«, sagt Papa. »Im Urwald ist es so heiß gewesen«, sagt Stefan. »Ich bin dort mit meinem Raumschiff gelandet.« »Vielleicht hast du Tropenfieber bekommen. Auf jeden Fall mußten dich zwei Astronauten retten. Sie haben dich mit einem Mondauto zur Landefähre gebracht und auf Flugbahn Nummer sieben hierher ins Raumlabor geschickt. Zur Untersuchung und Erho lung.« »Wo ist denn Sonja?« fragt Stefan. »Sonja ist in der Schule. Vielleicht kommt sie dich am Nachmittag besuchen.« »Und du? Bleibst du hier?« Papa spielt mit einem Zipfel des Leintuches. »Vor läufig schon, Stefan. Ich habe deine Karte gefunden mit der Botschaft. Weißt du, es gibt da viele Proble me.« »Ich möchte, daß du hierbleibst«, sagt Stefan. »Immer.« Papa schweigt. Er schenkt nochmals Tee ein. »Trink. Das tut dir gut. Und iß von dem Zwieback. Mama hat ihn dir bereitgestellt.« Stefan spürt plötzlich Hunger. Er läßt sich die fei nen Zwiebacke und den Tee schmecken. Papa steht auf und tritt ans Fenster. »Nun stellen sie drüben eine große Tafel auf«, sagt er. »Mit einem gelben Betontatzelwurm drauf. Gelb wird er, stell dir vor, dick und garstig.« 127
Seine Stimme klingt gepreßt. »Ich dachte, ihr habt Pläne gemacht für ein Frei zeitzentrum.« »Abgelehnt«, sagt Papa. »Abgelehnt?« wiederholt Stefan langsam. Dann begreift er, was das bedeutet. Er denkt an das Raum schiff, das mitten im Urwaldfluß auf einer Klippe stand. Und er wünscht sich wieder, dorthin zurückzu kehren, so schwerelos zu schweben über dem Meer von grünen Bäumen. Papa schaut hinüber. »Wir haben die Herren vom Stadtrat eingeladen, sich den verlassenen Bauplatz und das Rote Haus anzuschauen. Und all die Pläne und Skizzen, die wir gemacht haben. Aber sie sind nicht gekommen.« »Wenn sie gewußt hätten, daß drüben eine Welt raumbasis ist, hätten sie bestimmt Zeit gehabt«, sagt Stefan. Papa dreht sich um und schaut Stefan lange an. Dann schlägt er sich gegen die Stirn. »Die Weltraum basis! Genau! Das ist es! Wir müssen sie zu einer Besichtigung der Weltraumbasis einladen. Und viele Leute müssen dabei sein. Wie beim Start einer Mondrakete.« »Dann müssen wir aber den Basiscomputer zuerst flicken«, meint Stefan. »Ja, und das Radioteleskop aufrichten. Und über haupt. Aller Rost muß weg. Das Raumschiff muß farbig werden, so daß alle Leute sehen, daß hier eine 128
Weltraumbasis ist. Das heißt...« Papa setzt sich wieder auf Stefans Bett. »Das heißt, du mußt einverstanden sein. Schließlich ist es dein Geheimnis.« »Auch das von Sonja. Auch sie weiß, wo die Leiter versteckt ist.« »Sonja ist bestimmt einverstanden«, meint Papa. »Aber du, würdest denn du dein Geheimnis preisge ben, wenn wir so vielleicht ein kleines Stück retten könnten. Für einen Weltraumspielplatz statt für einen Parkplatz.« Stefan denkt lange nach. »Glaubst du, daß dann auch Franziskus und Sonja hierbleiben würden?« Papa schaut auf den Boden. »Vielleicht. Mach dir aber keine große Hoffnungen.« »Dann ist mein Geheimnis noch die einzige Hoff nung«, sagt Stefan leise. »Ich glaube ja«, sagt Papa. Nun sind beide still. Papa streicht Stefans Decke glatt, dann geht er wieder zurück in sein Büro.
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Franziskus steuert den Ferdinand langsam durch die Straße zwischen den Wohnblöcken. Stefan sitzt vorn zwischen ihm und Sonja. Er ist aufgeregt. Er sollte Sätze von einer Karte ablesen und in ein Mikrofon sprechen. Auf dem Dach des Ferdinand ist ein Laut sprecher befestigt. Stefan versucht zu lesen. Achtung, Achtung! Am Samstag startet das Raum schiff XAMAX-808 auf der Weltraumbasis beim Roten Haus. Das gibt ein großes Fest. Kommt alle zum Betontatzelwurmfest auf der Weltraumbasis beim Roten Haus! Stefan ist so aufgeregt, daß die Karte in seiner Hand zittert und die Wörter und Sätze durcheinan derwirbeln. Dabei hat Franziskus gesagt: »Nimm eine grüne Karte. Grün beruhigt!« Stefan gibt das Mikrofon Sonja. Sie spricht ganz ruhig hinein ohne von der Karte abzulesen. Sie sagt, daß viele Leute kommen sollten am Samstag, damit man aus den alten Baumaschinen auf der Baustelle einen Weltraumspielplatz machen könne. Viele Leute bleiben stehen und schauen dem Ferdi nand verwundert nach. Kinder folgen ihm auf Fahrrä dern und Rollschuhen. Als sie ein zweites Mal um denselben Block fahren, ist es schon ein kleiner Umzug geworden. Jetzt nimmt Stefan das Mikrofon wieder. 130
»Laß doch die Karte weg und sag einfach, was dir gerade einfällt«, schlägt Franziskus vor. Stefan erzählt von seinen Erlebnissen im Weltraum. Von den Mondbeduinen und dem Ritt auf dem Roboterkamel. Von den freundlichen grünen Marswe sen, die jede Form annehmen können, vom Lasernetz des gefährlichen Weltraumautorobo1000kluppenfüß lers. Und sogar von den Spiegelei-Ufos, die einmal auf dem Parkplatz zerplatzt sind. Nun hat er gar keine Angst mehr. Franziskus hält an, und Sonja verteilt Zettel an die Kinder, auf denen steht, wo das Fest stattfindet. Und warum: Der Stadtrat soll den Bauplatz nochmals besichtigen, bevor alles abgerissen wird. Vielleicht läßt er sich dann überzeugen, einen Spielplatz einzu richten. Einen ganz besonderen Spielplatz: Einen Weltraumabenteuerspielplatz! Stefan erzählt und schielt dabei auf die Betontatzelwürmer ringsum. Und als er zum Schluß ruft: »Kommt am Samstag alle zum großen Betontatzelwurmfest auf der Weltraumbasis«, da zucken sie zusammen, verdrehen ihre Augen und fletschen die Zähne. Wie gern hätten sie wohl sein Raumschiff aufgefressen und den Startturm, das Radioteleskop, den Computer dazu. Aber aus dieser Mahlzeit soll nun nichts werden. Allerdings werden die alten Baumaschinen auch nicht mehr Stefans geheime Weltraumbasis bleiben. Der Weltraumaben teuerspielplatz soll allen gehören. Franziskus ist von Anfang an begeistert gewesen
von dem Einfall. Er hat Stefan besucht, als er noch Fieber hatte, und dann hat er mit Papa gleich wieder Pläne und Skizzen gemacht. »Wir dürfen nie aufgeben, Christian!« hat er gesagt. »Das Rote Haus ist verloren. Aber der Weltraumaben teuerspielplatz soll leben! Wenn es den Leuten hier unheimlich wird vor lauter Betontatzelwürmern, können sie sich wenigstens ins Raumschiff setzen und für eine Weile wegfliegen.« Dann haben sie nochmals einen Brief aufgesetzt an den Stadtrat. Sie haben geschrieben, daß am Samstag ein Start mit dem Raumschiff XAMAX-808 stattfin det und daß die Herren Stadträte herzlich eingeladen sind. Franziskus fährt rund um alle Betontatzelwürmer. Überall verteilen sie Zettel, und Stefan und Sonja erzählen von ihren Abenteuern mit dem Raumschiff. Franziskus ruft allen Frauen, die mit ihren Kinderwa gen vom Einkaufen kommen, zu: »Helfen Sie auch mit?« Wenn sie fragen: »Ja, was können wir denn tun?«, dann überschüttet er sie mit Vorschlägen. »Sie könnten zum Beispiel Betontatzelwürmer aus Zopfteig backen, mit Rosinen und Zuckerkrümeln garniert, oder Sie könnten grüne Marslimonade zubereiten oder Beduinenkaffee oder Weltraumkara mellen. Und Ihr Mann darf beim Bemalen der Welt raumbasis mithelfen oder beim Kamelreiten. Er könnte aber auch in Anzug und Krawatte die Herren 133
Stadträte empfangen und umherführen. Ich selber habe nämlich weder Anzug noch Krawatte.« Die meisten Frauen können gar nicht nein sagen, wenn Franziskus so viele Vorschläge macht. Ein paar alte Frauen versprechen, Kaffee zu machen, und ihre Männer wollen Festabzeichen basteln aus Ton. Zum Schluß schlägt Franziskus vor, ins Dorf zu fahren. »Auch die Leute aus dem Dorf sollen mitmachen. Je mehr dabei sind, desto eher wird uns der Stadtrat den Spielplatz bewilligen.« »Ins Dorf?« Stefans Herz beginnt zu klopfen. »Und die Kafferbande? Die werden uns doch alles kaputt machen!« »Wenn wir sie überzeugen können, jetzt mitzuma chen, wird es auch ihr Spielplatz sein. Dann machen sie nichts kaputt.« Sie fahren durch die engen Gassen des Dorfes. Fenster gehen auf. Leute beugen sich heraus und schauen dem Ferdinand nach. Stefan ist wieder so aufgeregt, daß Sonja ins Mikrofon sprechen muß. Auf dem Platz beim Brunnen lehnen ein paar Kaffer an einer Mauer. Andere sitzen auf ihren Mopeds und lassen die Motoren aufheulen. Franziskus hält bei ihnen an und dreht die Scheibe herunter. Einer der Kaffer kommt langsam heran. Er hat einen schwarzen Schal um den Hals, kurzgeschorene Haare und ein Armband mit Nägeln am Arm. Es ist Mike. Stefan verkriecht sich hinter dem breiten Rücken 134
von Franziskus. »Habt ihr gehört«, sagt der zu Mike. »Wir machen ein Fest beim Roten Haus.« Mike spuckt neben dem Auto auf den Boden. »Wenn ihr mitmacht, veranstalten wir ein Hinder nisrennen für Mopeds. Rund um die Weltraumbasis herum.« »Rund um die Weltraumbasis? Ich glaub, mich schält es«, knurrt Mike. »Wo soll's denn hier eine Weltraumbasis geben?« »Beim Roten Haus. Eine Überraschung!« sagt Franziskus. »Hm«, macht Mike. »Ihr kommt also am Samstag zum Mondland schaftsmopedmotocross, nicht wahr.« »Also, wir müssen das erst mal bequatschen«, sagt Mike und schaut unschlüssig zu den andern hinüber. Aus der Nähe sieht er gar nicht so finster aus, findet Stefan. Eigentlich ganz gewöhnlich. Nur spricht er ziemlich wenig und ganz langsam. Wahrscheinlich schämt er sich, weil seine Stimme so hoch klingt. Franziskus öffnet kurz entschlossen die Tür. »Weißt du was. Setz dich zu uns ins Auto. Dann kannst du im Dorf gleich selber bekanntmachen, daß am Samstag ein Mondlandschaftsmopedmotocross stattfindet.« Mike zögert immer noch. Die andern Kaffer schau en ihn erwartungsvoll an. »Okay«, sagt er und steigt ein. Sonja und Stefan machen Platz. 135
Auch Mike ist aufgeregt, als er das Mikrofon in den Händen hält. Manchmal verhaspelt er sich beim Reden. Seine hohe Stimme klingt so krächzend aus dem Lautsprecher, daß die andern draußen laut auflachen. Mike droht ihnen mit der Faust. Dann redet er weiter. »Achtung, Achtung! Am Samstag findet ein großes Fest statt beim Roten Haus. Und beim Betonsilo gibt es ein ... wie hieß das schon wieder?« »Ein Mondlandschaftsmopedmotocross«, hilft ihm Franziskus. »Ach ja, ein Mondbasislandschaftscortomoss...« Wieder lachen die Kaffer draußen schallend. Mike schaut Franziskus hilflos an, aber der nickt ihm aufmunternd zu. »Ein Mopedmotomondschaftslacross ... und dann gibt es auch noch Puppenspiele, Kamelreiten, eine Beiz mit Bier, Wurst, Cola, Betontatzelwurmkuchen, Marslimonade, Kaffee...« »Es gibt auch Weltraumcomputerspiele«, sagt Stefan. »Wirklich?« fragt Mike erstaunt. Stefan nickt. »Lässig«, macht Mike. Dann fängt er gleich noch mals von vorne an. Die Sache scheint ihm immer mehr Spaß zu machen. Sie fahren durch alle Gassen des Dorfes. Die andern Kaffer begleiten sie auf ihren Mopeds, einige voraus, die andern hintendrein. Sie hupen, klingeln, drehen das Gas auf und zu, so daß es einen Höllenspektakel gibt. 136
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XAMAX-808 steht in großen Buchstaben am Raumschiff angeschrieben. Rundherum ist alles schon blau gestrichen, unten und oben sind gelbe Streifen und ein Kranz weißer Sterne gemalt. Die vier Tele skopstützen sind rot. Einige Männer arbeiten auf langen Leitern. Mit Drahtbürsten kratzen sie den Rost weg, mit Pinseln und Rollern wird die Farbe aufgetragen. Das geht wie der Blitz. Papa erklärt Stefan, daß später unten in den Silo eine Einstiegsluke geschweißt wird. Im Innern soll es zwei Räume geben, die mit Leitern verbunden sind. Oben einen Steuerraum mit Bullaugen, Instrumenten, Astronautensitzen und einem Schrank mit Raumanzü gen. Unten einen Aufenthaltsraum mit Tischen, Sesseln und Musikboxen. Auch der Basiscomputer soll wieder aufgestellt und angeschlossen werden. Der Startturm eignet sich mit einigen Änderungen als Klettergerüst. Das Radioteleskop wird zur Schaukel umgebaut. Das alles wird natürlich viel Geld kosten. Am Fest wird dafür gesammelt. Und dann hofft Papa, daß der Stadtrat auch etwas bezahlt. In seinem Atelier im Roten Haus hat er alle Pläne aufgehängt. Er hat sogar ein kleines Modell des Spielplatzes angefertigt, das die Leute ansehen können. Erster Weltraumabenteuerspielplatz der Welt, steht darauf. 137
Viele Leute gehen beim Roten Haus ein und aus. Unter dem Vordach des Schuppens stehen Tische und Bänke. Franziskus kocht in einem großen Kübel Reis. An einer Theke werden Getränke ausgeschenkt. Es gibt Kaffee, Marslimonade, Kuchen und süße Beton tatzelwurmschnitten. Das große Fest ist in vollem Gange. Stefan reitet mit Sonja auf dem Kamel rund um die Baustelle, den Bretterzaun entlang. Irgendwo hat Franziskus das Kamel aufgetrieben und einen echten Beduinen in einem weißen Kleid als Wärter dazu. »Extra für dich, Stefan«, hat er gesagt. »Weil du ja auch ein bißchen arabisches Blut hast.« Später spielt Stefan in Sonjas Zimmer im Roten Haus mit dem Peanut-Computer, den Mama dort bereitgestellt hat für alle, die Lust haben, das Welt raumspiel zu spielen. Wer mit dem Raumschiff die Erde erreicht, bekommt zur Belohnung ein Glas Marslimonade. Und jetzt steigt Stefan auf das Raumschiff. Er kann den Burschen der Kafferbande beim Mondland schaftsmopedmotocross zuschauen. Mit heulenden Motoren flitzen sie über Erdhaufen, machen weite Sprünge, zischen mitten durch den Teich, daß die Mädchen, die zuschauen, mit braunem Schlamm bespritzt werden, und kreischend zurückweichen. Der Lärm lockt immer mehr Leute herbei. Aus dem Lautsprecher des Ferdinand, der am Start aufgestellt ist, werden die Namen und die Ränge durchgegeben. 138
»Sieger mit zehn Minuten und vierzig Sekunden ist Marcel Burri«, heißt es gerade. Das ist Mike. Stefan freut sich, daß Mike mitmacht. Er hat keine Angst mehr vor ihm. Papa führt einige Herren herum. Sie gehen über Bretter, die man auf den Boden gelegt hat, damit sie nicht auf die Erde treten müssen. Da und dort bleiben sie stehen. Papa erklärt ihnen irgend etwas, und dabei macht er lebhafte Bewegungen mit Armen und Händen. Das fällt Stefan auf. In den letzten Tagen war Papa viel beschäftigter als sonst. Er hat dauernd telefoniert, wenn er nicht weg war. Es war fast wie früher, als er noch in der Stadt gearbeitet hat. Aber er war viel fröhlicher als sonst. Manchmal hat er sogar vor sich hin gepfiffen in seinem Büro. Dann stand er aber auch wieder am Fenster und schaute hinaus. Doch plötzlich eilte er zum Schreibtisch, machte eine Skizze oder eine Notiz. Nun steht er mit den Herren unter dem Raumschiff und erklärt ihnen, wie er sich alles vorstellt. Alles soll so gesichert werden, daß kein Kind herunterfallen kann. Er sagt, daß es auch eine Spielhütte braucht, wenn es einmal regnet, und Sand, viel Sand, so daß eine richtige Mondlandschaft entsteht. »Sand ist teuer«, bemerkt einer der Herren. Papa nickt. Dann zeigt er ihnen den Tümpel, aus dem er einen Biotop machen möchte, mit Pflanzen und Wassertieren. »Frösche machen zuviel Lärm«, wendet einer der 139
Herren ein. Ein anderer sagt: »Der Tümpel muß ohnehin zuge schüttet werden. Hier kommt der Öltank für die neue Siedlung hin.« Papa geht mit den Männern zum Roten Haus zu rück. Stefan wundert sich, daß von den vielen Leuten niemand zu ihm auf die Kommandoplattform steigt. Vielleicht haben sie Angst, hinunterzufallen, weil sie noch kein Geländer hat. Aber er ist froh, daß er ein letztes Mal allein am Steuer seines Raumschiffs sitzen kann. Leise klopft er auf den Boden der Kommandoplatt form. Es klingt hohl und metallen wie immer. »Was ist?« ruft einer der Männer herauf, die malen. »Ach nichts«, gibt Stefan zurück. Er beobachtet die Betontatzelwürmer. Und wirk lich, sie heben ihre Köpfe, strecken ihre Nase in die Luft und schnuppern. Wenn die Betontatzelwürmer erwachen, fliegen sie mit dir davon. Dieser Satz fällt ihm ein. Nein. Jetzt will er nicht davonfliegen. Er will sie auch nicht tanzen lassen. Dieses Geheimnis braucht er nicht preiszugeben. Nur Sonja hätte er gerne noch einen prächtigen Tanz vorgeführt. Und dann hätte er die Betontatzelwürmer das Rote Haus fressen lassen. Noch bevor die Bagger kommen. Doch Sonja hat jetzt keine Zeit. Sie hilft Franziskus 140
beim Kochen. Sie schöpft grünen Marskanalreis auf Teller und sammelt das leere Geschirr wieder ein. Flink geht sie zwischen den Bänken durch, die sich allmählich mit Leuten füllen. Nun hört Stefan doch jemanden die Bordleiter he raufsteigen. Er beugt sich hinab. »Mama«, ruft er überrascht. Er reicht ihr die Hand, daß sie den letzten Schritt auf die Plattform ohne Mühe machen kann. Sie setzt sich neben ihn. »Ist das nicht zu gefährlich so hoch oben?« fragt sie. »Das bin ich gewöhnt«, sagt Stefan. »Es wird aber ein Geländer geben für die andern.« »Ja, wenn der Spielplatz bewilligt wird.« Stefan erschrickt. »Ist das noch nicht sicher?« »Die Herren vom Stadtrat, die hier gewesen sind, waren zufrieden. Aber nun müssen sie auch noch das Geld bewilligen, das es braucht.« Mama legt einen Arm um Stefan und drückt ihn an sich. »Aber ich glaube schon, daß sie es bewilligen wer den. Ich hoffe es. Für dich und die andern Kinder.« Sie macht eine Pause. »Und für Papa.« Es ist kühl geworden. Stefan fühlt sich wohl, so angeschmiegt an Mama, hoch über den anderen Leuten. »Im Grunde genommen ist ja alles deine Idee ge wesen, Stefan. Wir haben nur lange nichts bemerkt«, 141
sagt sie. »Mein Geheimnis. Aber ohne Sonja und Franziskus wären wir nie so weit gekommen. Stell dir vor, Sonja habe ich zum ersten Mal hier oben getroffen. Sie ist aufgestanden und hatte nicht einmal Angst, obwohl alles naß war. Sie hat auch keine Angst, nach Spanien und nach Marokko zu reisen, in die Wüste.« »Ich hätte Angst«, sagt Mama leise. »Das glaube ich nicht«, sagt Stefan. »Doch. Ich bleibe lieber hier und helfe euch, den Basiscomputer zu reparieren und das Raumschiff einzurichten.« »Ich habe mir immer schon gewünscht, daß du einmal hier heraufkommst«, sagt Stefan. Mama schweigt. Sie sitzen noch eine Weile nebeneinander und schauen dem Fest zu, bis beim Roten Haus Lampions angezündet werden und auf einer kleinen Bühne eine Band zu spielen beginnt. Dann steigen sie hinunter und spazieren hinüber. An den Tischen sitzen die Leute nun dicht ge drängt. Mike und seine Freunde kauern etwas abseits am Boden, hören der Musik zu und rauchen. Als er Stefan sieht, zeigt er mit dem Daumen nach oben. »Guter Start!« Franziskus steht mit nacktem Oberkörper hinter dem Reiskübel und rührt mit einer langen Holzkelle im grünen Brei. Er öffnet das Ofentürchen, schiebt Holzstücke hinein und bläst. Seine Haut glänzt vom 142
Schweiß, obwohl es nicht mehr warm ist. Laut ruft er: »Eßt Reis, Leute! Auch Astronauten essen viel Reis. Reis ist gesund! Besonders dieser grüne, marskanalbewässerte Reis, den die Mondbe duinen extra für uns geerntet haben und der mit der letzten Postrakete frisch eingetroffen ist.« Papa ist im Atelier und erklärt den Leuten das Mo dell des Spielplatzes und die Pläne. »Die Stadträte, die hier waren, meinen, einer Bewilligung stehe nichts mehr im Wege.« »Und was geschieht mit dem Roten Haus?» fragt jemand. »Das wird leider abgerissen. Der gelbe Betontat zelwurm wird gebaut. Da ist nichts zu machen. Aber der Spielplatz ist wenigstens gerettet.« Die Leute murmeln. Einige lachen über das lustige Wort. Und jemand sagt: »Wenigstens wird er gelb und nicht grau wie die andern.« Später, als es dunkel ist und sich die Leute zerstreut haben, sitzen sie noch eine Weile draußen an einem Tisch. Mama trinkt Kaffee. Franziskus und Papa schenken sich aus einer großen Korbflasche Wein ein. Sie reden laut durcheinander und lachen. Abseits im Dunkeln sitzen die Burschen der Kaf ferbande und ihre Freundinnen. Jemand spielt Gitarre. Stefan ist müde. Auch Sonja sitzt seit langem nur noch stumm da. Sie hat den farbigen Poncho überge worfen. Ihr Gesicht ist nachdenklich. 143
»Was hast du?« fragt Stefan. Sie gibt keine Antwort. Sie ist zu müde. Stefan geht mit Mama nach Hause. Papa und Fran ziskus wollen noch aufräumen. Der Mond ist aufge gangen. Die Betontatzelwürmer sind in weißes, gespenstisches Licht getaucht. Ihre hohen Beine werfen lange, schwarze Schatten. Die meisten Fenster sind schon dunkel. »Weißt du, daß die Betontatzelwürmer tanzen kön nen?« fragt Stefan. »Ja«, sagt Mama. »Christian hat es mir erzählt.« »Aber jetzt schlafen sie.« »Wir müssen leise sein, damit wir sie nicht auf wecken«, flüstert Mama. Im Bett fallen Stefan gleich die Augen zu. Er schläft lange und traumlos.
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Ein leises Stampfen und Rumpeln weckt Stefan auf. Die Fensterscheiben zittern. Noch etwas benommen sitzt er auf dem Bett. Die Betontatzelwürmer! geht es ihm durch den Kopf. Sie erwachen, sie scharren und stampfen, sie spannen ihre Flügel auf und fliegen davon. Wenn die Betontatzelwürmer erwachen, fliegen sie mit dir davon. Die rote Karte hat er mit Reißnägeln an die Wand geheftet. Stefan steht auf und geht zum Fenster. Draußen ist alles grau. So als hätte man ein schmutzi ges Leintuch über die Stadt geworfen. Nur das Raumschiff leuchtet blau. Auch die gelben Streifen, die weißen Sterne und die roten Teleskopstützen sind zu erkennen. Ja, selbst die Schrift kann Stefan von seinem Zimmer aus lesen: XAMAX-808. Auch die andern Teile der Basis sind jetzt bemalt. Der Compu ter knallrot, das Radioteleskop schneeweiß. Und der Startturm ist grün. Die leuchtenden Farben heben sich ab aus dem Grau des Morgens, das selbst das Rote Haus verschluckt hat. Das Rote Haus! Stefan erschrickt. Das Backstein haus ist in graue Staubwolken gehüllt, und von dort dringt auch das Stampfen und Rumpeln herüber. Ein Kran steht genau dort, wo einmal das Vordach des Schuppens gewesen ist, dort, wo der Ferdinand immer gestanden hat. Jetzt ist der Schuppen weg. Der 145
Ferdinand ist verschwunden. Am Kran hängt eine riesige schwarze Eisenkugel, die langsam gegen die Backsteinmauer des roten Hauses pendelt. Wumm... Wumm... Wumm... Dumpf prallt die Kugel auf die rote Wand. Fenster zerspringen, Ziegel splittern, Gebälk und Steine rieseln herab. Staub wirbelt auf und mischt sich ins schmutzige Leintuchgrau. Stefan stockt der Atem. Nun fällt die Wand krachend in sich zusammen. Jemand spritzt mit einem Schlauch Wasser in den Staub. Beim Zaun stehen ein paar Leute und schauen zu. Arbeiter mit gelben Helmen auf dem Kopf machen sich rund um das Haus zu schaffen. Die Eisenkugel steht still. Ein Bagger bohrt seine Schaufel in den Schutt, hebt sie hoch und kippt sie auf einen Lastwagen. Die Eisenkugel beginnt wieder zu schwingen. Wumm... Wumm... Wumm... Sie kommt Stefan vor wie das Herz eines Betontat zelwurmes, das schlägt und schlägt. Und die Bagger schaufel, das sind die Zähne, die zubeißen und alles zermalmen. Er hat gewußt, daß das Rote Haus abgerissen wird. Papa hat es ihm gesagt. Doch jetzt muß er trotzdem weinen. Stefan weint leise und ohne Tränen. Niemand soll es bemerken. Mitten im Staub taucht plötzlich ein farbiger Fleck auf. Papas Atelier. Der Urwald. Stefan schließt die Augen und sieht sich wieder im Floß auf jenem Fluß treiben, unter sich die schwarzen Schatten der Kroko 146
dile im Wasser, er klettert wieder an der Klippe hoch, findet das Raumschiff, sein Raumschiff, wohin er sich retten kann. Und er sieht sich mit Sonja zusammen über den grünen Urwald hinweggleiten, irgendwohin. Als Stefan die Augen wieder öffnet, ist der farbige Fleck verschwunden. Das Dach des Roten Hauses neigt sich gegen den Kran zu. Mit einem plötzlichen dumpfen Krachen fällt alles in sich zusammen. Die aufwallende Staubwolke hüllt für einen Augenblick sogar die farbigen Aufbauten der Weltraumbasis ein. Dann tauchen sie wieder auf. Und jetzt ist es nicht mehr Stefans Weltraumbasis. Jetzt ist es der erste Weltraumabenteuerspielplatz der Welt, der allen gehört. Auch dort sieht Stefan Arbeiter. Sie spannen Drahtseile zur Sicherung, sie befestigen Geländer, sie machen Luken und Bullau gen in den Betonsilo. Und ein Lastwagen kippt Sand aus. Stefan packt seine Schulsachen und geht in die Küche. Auf dem Tisch steht das Frühstück bereit. Neben dem Teller liegt eine Karte. Lieber Stefan. Ich mußte weg. Wärme dir die Milch selber. Und vergiß nicht, daß du nach der Schule noch in die Stunde mußt zu Frau Federspiel! Mut! Wir geben nicht auf! Du und ich! Papa. Mut, ja Mut brauchen wir. Papa, Mama, Franzis kus, Sonja und ich. Und Mike. Und Frau Federspiel. Wir alle. Nein, die Stunde wird er gewiß nicht vergessen. Er 147
wird Frau Federspiel die Karte vorlesen, ganz flüssig, ohne anzustoßen: Mut! Wir geben nicht auf! Eigentlich brauche ich gar nicht mehr in die Stunde zu gehen, denkt Stefan. Das Lesen geht jetzt schon ganz gut. Das Schreiben ordentlich. Den Geheimcode braucht er ohnehin nicht mehr. Im Roten Haus werden sich keine Weltraumpiraten und keine Spione mehr einnisten, die es zu vertreiben gilt.
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Papa hat sich in der Küche eingeschlossen und kocht. Man darf ihn nicht stören. Stefan deckt den Tisch im Wohnzimmer, während Mama die Zeitung liest. Sie sprechen kein Wort. Kein Wort über das Rote Haus, das es nicht mehr gibt, kein Wort über den Ferdinand, der jetzt vielleicht schon wer weiß wo ist, kein Wort über Franziskus und Sonja. Vielleicht habe ich nur geträumt, denkt Stefan. Es hat nie ein rotes Backsteinhaus gegeben drüben. Franziskus und Sonja haben nie drin gewohnt. Papa hatte nie ein Atelier, wo er einen Urwald an die Wände gemalt hat. Papa kocht, Mama liest die Zeitung. So ist es doch schon immer gewesen bei uns, schon bevor Papa zu Hause geblieben ist. Vielleicht hat sich gar nichts verändert. Er deckt den Tisch. Messer rechts, Löffel rechts, Gabel links. Dessert löffel vorn. Eine Karte aus Stefans Sammlung. Einmal wird er seine ganze Sammlung durchlesen. Dann muß sich ja zeigen, ob sich etwas verändert hat oder nicht. Mama sagt, daß es bald keine Karten mehr geben wird. Die neuen Computer brauchen keine Lochkarten mehr, also wird sie ihm auch keine mehr nach Hause bringen können. Neben dem Telefon liegt noch ein dünnes Päcklein. Das sind die letzten. Also hat sich doch etwas verändert! 149
Papa sagt, wenn es keine Lochkarten mehr gibt, werden wir halt mehr miteinander sprechen müssen. Halt! Noch etwas fällt Stefan ein. »Mama«, sagt er. »Im neuen Schuljahr werde ich nicht mehr in die Stunde gehen. Frau Federspiel hat mir das heute gesagt.« Mama legt die Zeitung weg. »Wirklich?« fragt sie. »Das ist aber eine Überraschung.« »Eigentlich bin ich ja gerne zu Frau Federspiel gegangen«, meint Stefan. »Und im Dorf hatte ich auch keine Angst mehr.« Es klingelt. Franziskus und Sonja stehen vor der Tür. Das ist gleich noch eine Überraschung. Franziskus hat seine roten Haare ganz kurz geschnitten und der Bart ist weg. Mama kennt ihn zuerst gar nicht. Erst als er sie umarmt und küßt und sagt: »Wir wollten nur schnell auf Wiedersehen sagen.« »Schade, daß du den Bart abgeschnitten hast«, sagt Mama. »Mit Bart hast du mir besser gefallen.« Franziskus lacht laut: »Das ist wegen der Wüsten sonne. Ich brauche Wüstensonne auf der Haut. Und die Sandkörner jucken weniger ohne Bart.« Sie kommen herein, obwohl sie eigentlich gleich wegfah ren wollten. »Wir müssen die ganze Nacht fahren, damit wir morgens über der Grenze sind«, sagt Franziskus. Doch Papa hat so feine Omeletten mit Schinken gebacken, daß er nicht widerstehen kann und eine 150
probiert. »Davon bekomme ich gleich wieder Heimweh«, meint er. Alle lachen. Nur Sonja ist still. Sie mag nicht essen. »Weil es mir sonst schlecht wird beim Fahren«, sagt sie. »Sonja ist traurig. Wegen dem Roten Haus«, sagt Franziskus. »Deshalb wollen wir auch weg. Heute noch.« Sonja schaut auf den leeren Teller. Wie Papa, denkt Stefan. Wenn er am Fenster stand. Vielleicht hat sie auch Angst. Franziskus steht auf. »So, jetzt ist es Zeit zum Ge hen.« Sie steigen in den Lift. Stefan drückt auf den Knopf E. Doch eigentlich möchte er Halt drücken. Die Landefähre wieder steigen lassen. Aber er könnte damit doch nicht verhindern, daß Sonja wegfährt. Mit all den Knöpfen nicht. Nicht einmal mit dem Alarm knopf. Unten auf dem Vorplatz steht der Ferdinand. Er ist schwer beladen. Die Benzinkanister und der Wasser tank auf dem Dach sind gefüllt. Über Koffern und Schachteln ist eine Zeltplane gespannt. Franziskus umarmt Papa und Mama lange. Stefan gibt er einen Kuß. »Deinen Weltraumabenteuerspielplatz kommen wir bestimmt wieder einmal besuchen. Und auch die Betontatzelwürmer. Wenn sie dann noch nicht davon 151
geflogen sind.« Er steigt ein. Sonja dreht die Scheibe herunter. Langsam setzt sich der Ferdinand in Bewegung. Stefan geht neben ihm her, Sonja streckt ihre Hand aus dem Fenster. Stefan ergreift sie und läßt sie nicht mehr los, so daß Franziskus ganz langsam fahren muß. Er hupt. »Stefan«, ruft Mama. »Stefan. Komm doch zu rück.« Da hält der Ferdinand nochmals an. Sonja öffnet die Tür. »Da«, sagt sie und drückt Stefan etwas in den Arm. Etwas Schweres, Weiches, das eigenartig riecht. Nach Schafen, nach Kamelen ... nach offenem Feuer ... nach Urwald, Krokodilen ... nach Sonne, Blättern, Sand... »Tschau Stefan. Auf Wiedersehen.« Vorn an der Bachmattstraße hupt der Ferdinand nochmals. Dann ist er weg. Stefan vergräbt sein Gesicht in der Zauberdecke. Er atmet den Geruch ein. Da ist etwas drin, was er noch nicht kennt. Etwas ganz Neues. »Komm«, sagt Mama und nimmt seine Hand. Stefan folgt ihr, ohne die Decke von seinem Ge sicht zu nehmen. Er spürt, wie sie die Landefähre betreten. Die Tür klappt zu. Dann hebt sie mit einem leichten Ruck ab.
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Und dann fliegt Stefan. Die Wände der Landefähre klappen auf. Der Boden löst sich. Die Düsen ver stummen. Stefan klammert sich an die Zauberdecke, die von einem Windstoß ausgebreitet wird, so daß sie in der Luft schwebt wie ein fliegender Teppich. Stefan fühlt sich erst unsicher, doch es scheint, daß die Pfauen, die in die Decke eingewoben sind, leben dig werden und sie durch die Luft tragen. Sie gleiten über die Weltraumbasis, die schon tief unter ihm liegt, die nur noch ein hellblauer Fleck ist zwischen den roten Ziegeldächern des Dorfes und den grauen, langgestreckten Betontatzelwürmern. Die Betontatzelwürmer rühren sich nicht. Bald ist auch die Stadt nur noch ein grauer Fleck inmitten grüner Hügel. Stefan fühlt sich leicht und froh. Wolkenfetzen streichen vorbei. Unter sich sieht er Felder, Seen, Wälder, dann braune Felsen, Schneefelder und Gletscher dahingleiten. Die Berge. Und dann eine silbrig glänzende Fläche. Das Meer. Die Flügelschläge der Pfauen werden langsamer. Die Zauberdecke gleitet in die Tiefe. Stefan sieht die Wellen auf dem Meer, die mit langgezogenen Schaumkronen dahinwandern. Ein Schiff zerschneidet diese weißen Linien. Vorn auf seinem Deck stehen Autos in mehreren Reihen nebeneinander. Lastwagen mit Anhängern, farbige Personenwagen und dort ... ist 153
das nicht der Ferdinand mit dem beladenen Dach und dem Rad auf dem Kühler... Stefan beugt sich über den Rand der Zauberdecke hinab. Da schlägt ihm ein Windstoß einen Zipfel ins Gesicht. Als er wieder etwas sieht, kann er vom Meer nur noch eine sichelförmige weiße Linie erkennen in der Ferne, wo das Wasser auf gelben Sand stößt. Und unter ihm ist alles gelb, eine unendliche Fläche. Die Wüste! Er sieht Rippen, wie Wellen im Meer. Das sind Sanddünen. Langsam und leicht schwebt die Zauber decke durch die ruhige warme Luft hinab. Die Pfauen sind müde geworden. Über den Rand einer Düne hinweg galoppieren Kamele, Unter ihren Hufen wirbelt gelber Staub in kleinen Wolken auf. Die Pfauen nehmen ihre letzte Kraft zusammen. Die Zauberdecke folgt den Kame len, die sich im Galopp hin und her wiegen. In einer Senke tauchen Palmen auf, dazwischen weiße Lehmhäuser mit flachen Dächern. Eine Oase. Eine Straße führt von ihr weg, schnurgerade durch die Wüste bis zum Horizont, über dem die Sonne schon tief steht. Auf der Straße fährt ein Auto. Es zieht eine lange Staubfahne hinter sich her. »Ferdinand! Ferdinand!« ruft Stefan und winkt. Ein Windstoß schneidet ihm die Stimme ab. Nun schwebt er ganz dicht über den Kamelen. Mit den Händen spürt er durch die Zauberdecke hindurch 154
schon den Rücken eines Kamels auf- und abhüpfen. Und dann landet er zwischen den Höckern. Die Decke schwappt ihm um die Beine. Er wird hin- und hergeworfen, so daß er sich festklammern muß. Die Kamelhufe dröhnen auf dem harten Wü stenboden. Dann hört er ein lautes Knattern. Über einer Sanddüne taucht ein kleiner roter Helikopter auf. Die untergehende Sonne spiegelt sich in seiner gewölbten Plastikkanzel. Für einen Augenblick taucht er in den Schatten. Stefan glaubt, Mama am Steuer knüppel zu erkennen, Mama mit einem ledernen Fliegeranzug und Kopfhörern. Und neben ihr sitzt Papa. Er möchte winken, aber er muß sich mit beiden Händen festklammern, daß er nicht abgeworfen wird. Und schon fliegt der Helikopter über den Kamm der nächsten Düne und verschwindet. Jetzt folgen die Kamele einem Pfad, der in die Sen ke hinunterführt zur Oase. Sie traben langsamer. An einem Wasserloch waschen weiß verschleierte Frauen Wäsche. Sie schauen sich nicht um, als Stefan vorbei reitet. Die Palmen der Oase werfen lange Schatten. Die untergehende Sonne taucht die Lehmhäuser in ein rötliches Licht. Auf einem flachen Dach sieht Stefan eine Gestalt, die ihm bekannt vorkommt. Sie hat den Kopf mit einem schwarz-weiß gewürfelten Tuch bedeckt. Nun hebt sie eine Hand über die Augen. Sonja. Sie winkt leicht mit einer Hand, dann dreht sie sich um und verschwindet über irgendeine Treppe 155
im Innern des Lehmhauses. Stefan fühlt sich plötzlich müde von der langen Reise und dem wilden Kamelritt. Er steigt ab, breitet unter der nächsten Palme die Zauberdecke aus und legt sich darauf. Ihr Geruch hüllt ihn ein. Er schließt die Augen. Jemand beugt sich über ihn. Im Halbschlaf hört er Summen. »Er schläft«, sagt Mama. Sie fährt ihm mit der Hand leicht über die Stirn. »Es ist gut«, sagt Papa. Leise gehen sie weg.
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