Die Verdammnis � von Timothy Stahl
Für Wesen, deren Leben nach Jahrtausenden zählt, bleibt der Sensenmann ein Fremder...
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Die Verdammnis � von Timothy Stahl
Für Wesen, deren Leben nach Jahrtausenden zählt, bleibt der Sensenmann ein Fremder. Zu gering ist seine Bedeutung für jene, deren Augen Ewigkeiten geschaut haben. Aber auch vieltausendjähriges Leben findet irgendwann sein Ende. Das Privileg, die Gnade solchen Daseins ist nicht gleichbedeutend mit Unsterblichkeit – und im Angesicht des Schnitters mag es schließlich zum Fluch geraten. Denn wer nie einen Gedanken an seine eigene Sterblichkeit verschwendet hat, den trifft der Tod härter als jeden anderen. Landru hatte diese für eine Kreatur seiner Art leidvollste Erfahrung gemacht. Und er wußte jetzt, was es hieß, sterblich zu sein.
Was bisher geschah � Das Geschlecht der Vampire steht vor seinem Untergang, als sich Lilith, Urmutter der Blutsauger, mit Gott versöhnt. Alle Vampiroberhäupter rund um den Globus werden von einer Seuche befallen, die sie auf ihre Sippen übertragen. Die Vampire – bis auf die Anführer selbst – können ihren Durst nach Blut nicht mehr stillen und altern rapide. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, erhält von Gott den Auftrag, die letzten überlebenden Vampire zu vernichten. Aber auch das Böse reagiert. In einem Kloster in Maine, USA, gebiert die junge Nonne Mariah ein Kind, das den todgeweihten Vampiren alle Kraft und Erfahrung raubt und dabei rasch zum Knaben heranwächst. Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Knaben namens Gabriel erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Para-sensible Menschen träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer. Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Raphael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens sind eng an ein Tor in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom gebunden. Gabriel wird auf das Tor aufmerksam. Er erkundet die Lage und ruft gleichzeitig Landru herbei, dessen Kraft er sich einverleiben will, bevor er das Tor öffnet. Im Kloster befinden sich die Para-Träumer. Von ihnen erfährt Salvat vom Sterben der Vampire, von der Geburt des Kindes – und daß das Tor bald geöffnet wird! Auch Lilith Eden kommt in den Träumen vor, was sie zum Kloster hinführt. Dort ist mittlerweile auch Landru angelangt, der in dem Knaben den Messias der Vampire
sieht, von ihm aber getäuscht und seiner Kräfte beraubt wird. Mit der Magie des Vampirs betritt das Kind das Kloster und öffnet das Tor. Doch Salvat ist gerüstet und kann es wieder schließen. Für zwei Personen allerdings zu spät: Landru und Lilith werden durch das Tor gesogen. Eine ähnliche Erfahrung machte auch der Geist von Beth McKinsey, die von Lilith im Korridor der Zeit getötet wurde. Als Gott den Fluch von der Ur-Lilith nahm, »erwachte« Beth und wurde auf ein fernes Licht zugezogen – als plötzlich alle Türen aufsprangen und ihr Geistkörper in eine davon gesogen wurde. Ohne Erinnerung an ihr früheres Leben erwacht Beth im Jahre 1618 vor den Toren Prags. Um ihre Körperlichkeit wiederzugewinnen, raubt sie die Lebensenergie der Menschen, wird alsbald als Hexe verhaftet und eingekerkert. Ein Inquisitor soll mehr über sie in Erfahrung bringen. Doch nicht Beth ist das wahre Böse in Prag. Satan streckt seine Klauen nach dem Land aus. Mit Ränke verleitet er die Menschen zum »Prager Fenstersturz«, der zum Auslöser für den Dreißigjährigen Krieg wird. In den Wirren der Geschehnisse – und nach einer Begegnung mit Satan – kann Beth fliehen … Jenseits des Tores im Monte Cargano erwarten Lilith und Landru eine Welt, in der ihre schlimmsten Ängste Gestalt annehmen. Trotzdem gibt es eine Gemeinsamkeit: eine »Oase« der Normalität, die einen Übergang in die Vergangenheit der Erde ermöglicht; nicht körperlich, nur geistig! Lilith folgt Landru durch diesen Schlund der Zeiten – und wird im Bayreuther Fürstentum des Jahres 1635 im Körper der jungen Zigeunerin Kathalena wiedergeboren. Auch Landru findet sich in einem fremden Körper – dem des Vampirs Racoon – wieder, in derselben Zeit, aber vor den Toren von Paris. Dort wird er Zeuge, wie eine fremde, verderbliche Macht, die in Paris weilt, die dortige Vampirsippe abschlachtet. Und er trifft auf eine Frau, die er aus der Zukunft kennt. Zuletzt sah er sie dort als Tote mit gebrochenem Genick im Korridor der Zeit in Uruk: Beth MacKinsey!
Doch Beth hat jede Erinnerung an ihr früheres Leben verloren. Landru hilft ihr dabei, sie wiederzuerlangen; vielleicht gelingt es ihnen gemeinsam, den Weg in die Gegenwart zurückzufinden. Doch Beth ist auf der Suche nach Satan, der ihr das Kind geraubt hat! Seine Spur weist nach Heidelberg. Dort bereitet eine »Loge der Nacht« seine Ankunft vor. Allerdings werden drei Manifestationen erwartet, die sich hier vereinen sollen. In Regensburg stößt Lilith in Lenas Körper auf eine Bruderschaft, die sie bereits aus der Gegenwart kennt: die Illuminati – und deren Anführer Salvat, der ebenfalls in dieser Zeit weilt! Warum, kann Lilith noch nicht ergründen. Sie schließt sich den Mönchen an, als diese nach Heidelberg ziehen. Dort also werden ihre Wege sich treffen. Allein Landru erlebt das Zusammentreffen nicht mehr. Als Beth auf den Vater ihres Kindes trifft, tötet dieser den mächtigen Vampir fast beiläufig. Und Beth sieht ihren Sohn wieder – der in den Diensten Satans zu einem Greis gealtert ist, aber getreulich zu ihm steht. In einer entweihten Kirche findet das Ritual statt, das die drei Manifestationen vereinen soll. Doch im entscheidenden Moment greifen die Illuminaten ein! Und Salvat entpuppt sich als überirdisches Wesen, das mit einem Flammenschwert Satan schwer verletzt. Er flieht und nimmt Beth mit sich, während deren Sohn – so wie viele Mitglieder der Loge – stirbt. Salvat, ebenfalls verletzt, kann ihm nicht folgen. So verankert er den Auftrag, Satan den entscheidenden Stoß zu versetzen, in Lilith und Tobias, einem jungen Mann, der als einziger Bewohner Heidelbergs dem Einfluß Satans trotzen konnte. Sie finden ihn in einem zerstörten Heerlager der Franzosen – und versagen. Satan entkommt durch einen von Beth geschaffen Riß in der Zeit, und nur Lilith kann ihm in letzter Sekunde folgen …
Who wants to live forever? Who dares to live forever? Queen Aus dem Leib gerissen zu werden, nur noch Geist zu sein – dieser Aspekt des Todes hatte Landru am wenigsten getroffen. Fast empfand er sogar vage Erleichterung darüber. Denn der Körper, den seine Seele eben verlassen hatte, war nicht sein eigener gewesen – und er wäre es wohl auch nie geworden, selbst wenn er noch Jahrhunderte oder gar bis ans Ende aller Zeit darin zu leben gezwungen gewesen wäre. Racoons Leib war für Landru nicht mehr als eine Hülle gewesen; ein Kerker, in den sein Bewußtsein eingesperrt worden war, nachdem er der Hölle (oder einem Ort wenigstens, der ihm die Hölle bedeutet hatte) entkommen war. Seines eigenen Körpers beraubt, war Landru durch Raum und Zeit geflohen, ohne seinen Fluchtweg bestimmen oder auch nur die Flucht als solche kontrollieren zu können. Geendet hatte sie schließlich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts – in diesem Leib, dessen Fleisch totenkalt war und durch dessen Aderwerk schwarzes Blut kroch *; denn Racoon war ein Vampir, der Pariser Sippe zugehörig und einst von Landru selbst »geschaffen«, als er noch das Amt des Kelchhüters bekleidet und lange bevor er das Unheiligtum der Vampire ob seines unendlichen Machthungers verloren hatte. Warum es Landrus Seele (oder wie immer man jenen Teil, auf den er reduziert war, nennen wollte) gerade in Racoon verschlagen hatte, wußte er nicht. Daß ein vampirischer Leib zu seiner neuen Heimstatt geworden war, mochte damit zu erklären sein, daß etwas wie eine Anziehungskraft zwischen gleichartigen Wesen bestand. Ein besonderes Verhältnis hatte es zwischen Landru (zu jener Zeit, da er *siehe VAMPIRA T18 und T19
»offiziell« und als Hüter des Grals der Alten Rasse im 17. Jahrhundert gelebt hatte) und Racoon jedoch nicht gegeben; nicht einmal dem Namen nach hatte er ihn gekannt. Wie auch? In seiner tausendjährigen Amtszeit als Verwalter des Unheiligtums hatte er unzählige Menschenkinder mit dem Lilienkelch getauft. Sich an einzelne von ihnen zu erinnern, war selbst Landru nicht möglich. Andererseits – es zählte auch nicht, weshalb er in Racoon eingefahren war und dessen Bewußtsein vertrieben oder gar vernichtet hatte. Der Leib dieses Vampirs war so gut wie jeder andere gewesen – oder vielmehr: ebenso schlecht … Egal. Denn nun war Landru des fremden Leibes ledig. Aber um welchen Preis! Landrus Sterben war von Beginn an grauenvoll gewesen. Angefangen hatte es vor den Toren von Paris. Dorthin war er mit Beth MacKinsey gereist, die den Entführer ihres Sohnes gesucht hatte. Und eben jener, dessen Spur sie gefolgt waren, war Landru zum Verhängnis geworden. Denn die pestilenzartige Aura dieses Anderen war schlimmstes Gift für jeden Vampir. Seine bloße Nähe hatte Landru schon wahre Höllenqualen bereitet. Seine Gegenwart hatte ihn schließlich an den Rand des Todes getrieben. Und dann – seine Stimme, nur ein stinkender Hauch an Landrus Ohr … »Um dich kümmere ich mich später – um deine Hülle gleich. Fahr zur Hölle …!« Landru hatte nicht mehr mitbekommen, wie es geschehen war; nur daß es geschehen war, stand außer Zweifel. Der andere (Wer war er? Wer oder was konnte er sein – mit all dieser gewaltigen Macht, über die er gebot?) hatte Racoons Körper vernichtet, und Landru – – fuhr zur Hölle!
*
Es war ungefähr so, als würde Landru mit Urgewalt in einen eruptierenden Vulkan gesogen, hinein in glutflüssig aufbrodelndes Gestein und alle Vorstellung sprengende Hitze. Der Vergleich hinkte lediglich in einer Hinsicht – die Realität war hundertfach schlimmer! Landru wurde verschlungen von einem kochenden Mahlstrom, ohne daß er irgend etwas von dem wahrgenommen hätte, was um ihn herum vorging. Denn er war ohne Körper und mithin blind und taub. Nur zu fühlen war ihm noch gestattet – und eben darin bestand die Folter! So also stirbt ein Wesen meiner Art! schrie es in Landrus nacktem Bewußtsein; nur ein Gedanke, aber auch er schmerzte, als wäre er ein lebender Teil seines Selbst, der von glühenden Zähnen und Krallen zerfetzt wurde. Vielleicht, brüllte es in ihm weiter, ist diese Art des Todes der Fluch meiner Rasse, der Preis, den wir für ewigkeitslanges Leben zu zollen haben? Das Leid, das wir über die Welt gebracht haben, holt uns im Sterben ein! Was wir in unzähligen Jahren an Grauen gesät haben, wird uns selbst im Tode zuteil – geballt, auf einen Schlag …! Trotzdem Landrus Empfinden längst nicht mehr über Nerven lief, war ihm, als träfen Hiebe mit feurigen Prügeln jeden einzelnen davon. Die Wucht der scheinbaren (und doch so wirklichen!) Schläge trieb ihn zusätzlich zu der Macht des Soges vorwärts (Vorwärts? Hier gab es weder vor noch zurück, kein Oben und Unten – dieser Ort war ohne jede Grenze, er war immer und überall!). Und doch war es irgendwann vorbei. Das Echo des Schmerzes hallte jedoch noch lange in Landrus Bewußtsein nach, wob es ein wie in einen glühenden, sich bewegenden und windenden Balg, aus dem sich zu befreien ihm die Kraft fehlte und von dem ihm die eigenen stummen Schreie wieder und wieder entgegengeschleudert wurden.
Irgendwann verebbten die Schmerzen, und Landrus Brüllen ging über in leidvolles Stöhnen und Wimmern. Niemand, der Landru kannte, würde geglaubt haben, daß er zu solchen Lauten auch nur fähig wäre. Die Taubheit seiner Sinne klang ab. Und mit ihr auch – der Tod selbst …? War es etwa so, daß der Tod lediglich das Ende des Lebens als solches bedeutete, und begann danach – etwas anderes? Das eben, was den Menschen als »Leben nach dem Tode« galt? Wie mußte sich ein solches »jenseitiges Leben« für ein Wesen von Landrus Unnatur darstellen? Konnte es dafür ein anderes Wort geben als – Verdammnis? Landru hatte jedenfalls das Empfinden, als wäre er an einem wie auch immer gearteten Ziel angelangt, ohne es indes sehen zu können. Nur eines registrierte er: Still war es nicht um ihn her. Vielleicht waren die Stimmen schon länger zu ihm gedrungen, ohne daß er sie über seinem eigenen Brüllen hatte hören können. Vielleicht war es auch Zufall, daß ihr Aufklingen mit seinem allmählichen Verstummen zusammenfiel … Landru verfolgte den Gedanken nicht weiter; nicht nur, weil die Überlegung als solche müßig war, sondern vor allem weil die Stimmen – – ihm vertraut schienen. � Als würde er sie kennen. Und mehr noch: Sie rührten an etwas in � ihm, das unter dieser Berührung – erwachte … Erinnerung …? »Wer bist du? Sollst du mir den Kelch übergeben?« Die Stimme einer Frau, erkannte Landru und verbesserte sich noch im selben Gedanken: Nein, nicht die Stimme einer Frau, sondern … der Frau! Die nach wie vor glühende Hitze seines neuerlichen Gefängnisses schlug übergangslos um in beißende Kälte, als er die Stimme er-
kannte. »Was ist dann dein Begehr?« fragte die Stimme nun nach kurzer Pause weiter. Ein Mann antwortete ihr. Und sein Organ trieb die frostumhüllten Zähne und Klauen mit einem gewaltigen Ruck unendlich tief hinein in Landrus Seele. »Bist du der neue Hüter?« wollte der andere wissen. Der andere! Landru hätte aufgelacht, wäre es ihm nur irgendwie möglich gewesen. »Ich bin der Hüter …«, erwiderte sie. »Ich war der Hüter«, entgegnete – – Landrus eigene Stimme …!
* Was Landrus Geist einhüllte wie ein Kokon gefrorenen Entsetzens, begann sich zu verändern. Es wurde tatsächlich zu einer Art Eis, rissig und von so grimmiger Kälte erfüllt, daß der Schmerz keinen Körper brauchte, um sich bemerkbar zu machen. Er nutzte Gedanken zum Fortkommen und ließ sich tief in Landrus Wahrnehmungsvermögen hineintragen. Die bislang nur imaginäre Hülle schien zu materialisieren, wurde stofflich, und es geschah auf jene Weise, wie Eisblumen aus Frost und Rauhreif einen starren Gegenstand umwucherten. Und auf eine Art, die aller Natur hohnsprach, verband sich dieses wachsende Etwas mit Landrus Bewußtsein; in der Tat ganz so, als knüpften Hunderte oder gar Tausende von winzigen, aber eiskalten Händen Geist und Körper an ebenso vielen Punkten aneinander. Obwohl Landru in seinem beinahe ewigen Leben nie etwas auch nur annähernd Qualvolles widerfahren war, gelang es ihm, die damit einhergehenden Schmerzen zu ignorieren. Zum einen, um sich vor dem Wahnsinn zu schützen, zum anderen, weil das, was er au-
ßerdem noch wahrnahm, ihn ablenkte und alles Leiden überwog. Hatten die Stimmen und vor allem die Worte, die sie sprachen, in den ersten Momenten noch Schrecken in ihm geweckt, so schlug das Gefühl nun um. Es verkehrte sich fast ins Gegenteil, wurde erst zu vager Hoffnung, und dann, als ihm die Tragweite des Ganzen allmählich zu Bewußtsein kam, zu Euphorie. Landru hegte keinen Zweifel mehr an der Identität der Stimmen. Die eine war seine eigene, die andere die – – Felidaes! Die Stimme der Kelchdiebin! Und die Worte, die beide miteinander wechselten, waren einst gesprochen worden zu der wohl dunkelsten Stunde in der Geschichte der Alten Rasse – im Dunklen Dom, tief im steinernen Leib des Berges Ararat, wo die Heimstatt der Hüter lag …* Das Geräusch eines kurzen Handgemenges klang auf und hallte von den Wänden des Felsendoms wider, der in seiner Form einem Vulkankegel glich. Dann schrie dieser andere Landru (und wenn es sich so verhielt, wie Landru vermutete, dann war dieser andere jener, der in diese Zeit gehörte!): »Du bist nicht der nächste Hüter!« Landru wußte bereits, was sein Pendant weiter brüllen würde, weil er selbst der Kelchdiebin die Worte wutentbrannt entgegengestoßen hatte – damals, als er sich des größten aller möglichen Vergehen schuldig gemacht hatte … »Verbirg dich nicht länger hinter Maske und Tuch!« Noch immer sah Landru nicht, was um ihn her war. Aber seine Erinnerung ersetzte ihm das Sehvermögen. Bilder stiegen in ihm auf, und sie waren plastischer als jede tatsächliche Wahrnehmung es sein konnte, so tief hatten sie sich ihm nicht einfach nur ins Bewußtsein, sondern in die Seele selbst gebrannt … Eben hatte er der Gestalt, die Anspruch auf den Lilienkelch erhob, die übers Gesicht genähte Maske abgerissen. Nun streifte sie die Kapuze ihres Gewandes zurück, Rotes Haar quoll unter den Rändern *siehe VAMPIRA H24: »Duell der Wächter«
hervor. Und mit dunkler Stimme, die wie die Sünde selbst klang, sprach sie: »Es ändert nichts: Deine Zeit ist um! In meine Obhut wurde das Unheiligtum übertragen. Ich soll es künftig durch die Welt leiten. Ich bin dazu berufen …« In ihren wenigen Worten schlug sich Landrus Tragik in ganzer Tragweite nieder. Seine Zeit als Hüter des Kelchs war vorüber. Tausend Jahre lang, wie es die Bestimmung vorsah, hatte er das Amt bekleidet und das Unheiligtum der Vampire um die Welt geführt, von Sippe zu Sippe, um Menschenkinder damit zu taufen und zu schwarzblütigen Nachkommen der Alten Rasse zu machen. Nun – im Jahre 1727, da seine Amtszeit abgelaufen war – hatte es Landru zurück in den Dunklen Dom gezogen, wo er vor tausend Jahren erwacht war, um den Kelch von seinem Vorgänger zu übernehmen. Aber Landru war nicht bereit gewesen, seinen Status als mächtigster Vampir auf Erden aufzugeben. Er hatte die Macht, die der Kelch bedeutete, behalten wollen – und er war fest entschlossen gewesen, dafür alles in die Waagschale zu werfen. Er hatte gewußt, daß er die Gesetze der Hüterschaff nicht nur brach, sondern schier mit Füßen trat mit dem, was er vorhatte. Aber es hatte ihn nicht gerührt. Denn er hatte geahnt, daß es im Grunde um mehr noch ging als nur um den Gral – sein Leben selbst mochte auf dem Spiel gestanden haben! Weil ein Hüter, der seine Aufgabe erfüllt hatte, vielleicht ausgelöscht werden würde von der Hand jener Macht, die der Alten Rasse den Lilienkelch ganz am Anfang übergeben haben mußte. Aber auch wenn Landru sein Leben hätte behalten dürfen, es wäre ihm nicht länger lebenswert erschienen. Ohne den Kelch wäre er nur ein Vampir unter vielen gewesen, und in solcher Erniedrigung wollte er sein Dasein nicht fristen – nicht nachdem er tausend Jahre lang im wörtlichen Sinn Herr über Leben und Tod eines ganzen Volkes
gewesen war. So hatte er den Dingen in der Heimstatt der Hüter, wo sein Nachfolger in einer dunklen Kammer erwachen sollte, nicht ihren Lauf gelassen und sich gegen sie gestellt. Mit verheerenden Folgen … »Warum sollte ich dir glauben?« war der Dialog damals im Dunklen Dom von Landru fortgesetzt worden. »Gib mir einen Beweis, daß du die Wahrheit sagst.« »Den Beweis wird der Kelch liefern. Du glaubst doch nicht, daß er mich verschonen würde, wenn wir nicht einander zugeteilt wären …« In seiner Erinnerung sah Landru, wie die Rothaarige auf den Kelch zuging – und tatsächlich hörte er ihre Schritte auf dem Felsboden des Dunklen Doms! Als täte sie es wirklich, nur einen Steinwurf von ihm entfernt, hier und jetzt! Den Lilienkelch sah Landru auf jenem ehernen Altar inmitten des Doms stehen, wo er selbst ihn nach seiner Ankunft im hohlen Herzen des Ararat abgestellt hatte – nachdem er ihn vor tausend Jahren von dort fortgenommen hatte. Kaum länger als ein Lidschlag war ihm diese gewaltige Zeitspanne in diesem Augenblick erschienen. Und er hatte nun nichts anderes gewollt, als sie wenigstens noch einmal um die gleiche Dauer zu verlängern. »Wie heißt du?« fragte der Landru jener Zeit. Seine Nachfolgerin hatte den Kelch beinahe erreicht. Jetzt verhielt sie im Schritt, antwortete: »Felidae.« Landru wußte noch, daß er die Frage nicht gestellt hatte, weil ihr Name ihn wirklich interessiert hatte. Er hatte sie lediglich ablenken wollen – und das war ihm gelungen! Als Wolf sprang er Felidae an und warf sie zu Boden! Jedes einzelne Geräusch, das Landru blind empfing, verknüpfte sich in seiner Erinnerung mit einem Bild: der dumpfe Aufschlag, mit dem Felidae auf den Fels prallte; das heisere Fauchen, mit dem die Kiefer des Wolfs nach ihrer Kehle schnappten; und schließlich das
Reißen von Stoff, als Felidae bewies, daß auch sie gewaltiger Magie mächtig war und ihre Kutte sprengte – um als riesige Katze aus den Fetzen zu springen, mit messerscharfen Krallen nach dem Kontrahenten schlagend! Fauchen und Knurren zweier bis aufs schwarze Blut gereizter Raubtiere erfüllte den riesigen Felsendom und drang von allen Seiten her auf Landru ein. Doch noch bevor sich Wolf und Katze aufeinanderstürzten, erbebte der Boden des Dunklen Doms. Damals wie jetzt wußte Landru, weshalb es geschehen war. Das Beben war ein Zeichen jener Macht, die hinter den Vampiren stand. Eine Warnung, daß Landru mit seiner Weigerung, Hüteramt und Kelch abzutreten, an den Grundfesten dieser Macht rührte. Landru schlug diese letzte Chance, sein wahnsinniges Vorhaben aufzugeben, in den Wind. Und das Duell der Wächter begann! Wieder wußte Landru jeden Kampfeslaut seiner Szene zuzuordnen, und das Knirschen und Reißen von Fels erinnerte ihn daran, daß sich Klüfte im Boden des Dunklen Doms aufgetan hatten. Die mörderische Schlacht zwischen ihm und Felidae war auf schmalen Graten ausgetragen worden. Nie zuvor mochte auf dieser Welt ein Duell geführt worden sein, das diesem auch nur annähernd gleichkam in Gewalt und Besessenheit – denn nie zuvor waren zwei Wesen dieser Art aufeinandergeprallt. Und nie zuvor hatte das Schicksal einer ganzen Rasse in einem einzigen Kampf auf dem Spiel gestanden. Landru spürte das Beben des Doms, als läge er selbst auf dem Boden, wieder gefangen in einem Leib. Und die Hoffnung, die vorhin schon in ihm aufgeflammt war, fand neue Nahrung. Weil er etwas witterte, fast wie der Wolf, den er seiner Kraft und Schläue und seiner Zähigkeit wegen seit jeher verehrt hatte. Landru witterte eine Chance; winzig und irrsinnig, aber sie war da, rückte näher, und er
brauchte nur (buchstäblich!) danach – greifen. Hätte er doch bloß Hände gehabt, es zu tun! Landru wußte, wie der Kampf im Dunklen Dom geendet hatte. Er hatte Felidae hinabgeschleudert in den tiefsten der Schlünde, die den Boden gespalten hatten. Und er tat es jetzt – wieder! Ihr Schrei hallte endlos und gellend laut von den Wänden der Schlucht wieder. Und endete schließlich doch, wie abgeschnitten. Lähmende Stille füllte den Dom. Bis Schritte aufklangen (Landrus eigene Schritte). Gestein knirschte, kleine Brocken lösten sich und rutschten klackend in die Tiefe jener Schlucht, an deren Grund Felidae zerschmettert liegen mußte, als Landru hinabstieg, um – ja, warum eigentlich? Seines damaligen Beweggrundes entsann er sich heute nicht mehr. Er wußte nur noch, daß er Felidae dort unten nicht gefunden hatte! Nur Asche. Den Todesstaub der Vampire. Damals hatte er geglaubt, Felidae wäre am Ende des Sturzes von einem dornähnlichen Stalagmiten gepfählt worden. Heute wußte er, daß sie ihn getäuscht hatte. Sie war damals nicht ums Leben gekommen, hatte Landru genarrt, und solange er in die Felskluft hinabgestiegen war, hatte sie – – den Lilienkelch gestohlen! Wie sie diesen Plan in die Tat umgesetzt hatte, hatte Landru nie erfahren. Nur die Konsequenzen hatte er tragen müssen. Felidae hatte den Gral nicht zum Fortbestand der Alten Rasse eingesetzt. Sie hatte damit experimentiert, und sie hatte es im Auftrag jener Macht getan, die das Geschlecht der Vampire einst begründet hatte – im Namen Liliths, die Adams erstes Weib und ganz und gar nicht im Sinne ihres Schöpfers gewesen war. Lilith hatte die Begründer der Alten Rasse geboren, war somit zur Urmutter aller Vampire
geworden – und dafür hatte Gott selbst sie gestraft. Nach einer Ewigkeit in ihrem Zeitgefängnis hatte Lilith schließlich mittels ihrer Träume damit begonnen, den Weg zu einer Versöhnung mit Gott zu bereiten, um Frieden zu finden. Und Felidae war eines ihrer Werkzeuge gewesen. Der Plan der Urmutter hatte schließlich in der Geburt Lilith Edens, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, gegipfelt. Ihre Bestimmung war es gewesen, die Versöhnung zwischen der Ur-Lilith und dem Schöpfer herbeizuführen – und es war ihr gelungen.* Danach hatte Gott selbst einen todbringenden Keim in den Lilienkelch gesetzt und Landru den Gral wieder in die Hände gespielt, nachdem der das Unheiligtum seit dem Verlust im Dunklen Dom in aller Welt gesucht hatte. Als Landru, der sich nun wieder als Bewahrer des Kelchs gesehen hatte, ihn dann zum ersten Mal nach fast drei Jahrhunderten wieder eingesetzt hatte, um Menschenkinder mit schwarzem Blut zu taufen, hatte er damit den Untergang seines eigenen Volkes besiegelt. Verursacht durch den Keim, hatte eine furchtbare Seuche die Vampirsippen in aller Welt heimgesucht. Die Oberhäupter, deren Blut einst selbst bei den Besuchen des Hüters in den Kelch geflossen war, waren zu den Trägern dieser Seuche geworden, ohne indes selbst daran zugrundezugehen. Sie infizierten »nur« ihre Nachkommen, und binnen kurzer Zeit war die Alte Rasse ausgelöscht – ausgenommen der Oberhäupter. Sie zu vernichten, war Lilith Edens Aufgabe geworden.** Was ihr dafür als Lohn in Aussicht gestellt worden war, entzog sich Landrus Kenntnis. Es war auch nicht von Bedeutung – nicht mehr! Denn jetzt und hier schien sich Landru die Möglichkeit zu bieten, den Lauf der Zeit zu verändern – das Schicksal der Alten Rasse in eine andere Bahn zu lenken; in eine, in der das Unheiligtum seines *siehe VAMPIRA H50: »Das Erwachen« � **siehe VAMPIRA T01: »Der Durst nach Blut« �
Volkes nicht verloren gehen und in falsche Hände geraten würde …! Wenn es denn so war, wie Landru vermutete – hoffte … Wenn er nicht den Tod gefunden hatte, nachdem er aus Racoons Körper vertrieben worden war, sondern wenn es ihn, wie schon einmal, in eine andere Zeit verschlagen hatte. In das Jahr 1727 diesmal. Und tatsächlich in den Dunklen Dom, der sich, ohne daß die Menschheit darum wußte, tief im Berge Ararat in der Türkei befand. Und wenn es nicht nur seinen Geist hierher getrieben hatte, sondern in einen – wieder fremden? – Körper hinein. Nur – wessen Leib sollte das sein? Es hatte damals niemanden an diesem Ort gegeben außer ihm selbst und – Felidae! Sollte er etwa in sie …? Das wäre grausamste Ironie des Schicksals gewesen! Es gab nur einen Weg, die Wahrheit zu erfahren. Er mußte ihr ins Gesicht sehen, im wahrsten Sinne des Wortes. Landru konzentrierte sich, formulierte in Gedanken den Befehl, Augen zu öffnen – so es denn Augen gab, die er öffnen durfte. Lider, steif von der Kälte des Todes, rieben hart über Augen, die lange kein Licht mehr erreicht hatte. Im Reflex schlossen sie sich wieder, ohne daß sie etwas wahrgenommen hatten. Nach einer Weile wiederholte Landru den Gedankenbefehl. Und diesmal – – sah er. � Den Dunklen Dom. � Und den Kelch. �
* Ein Laut, geboren aus einer Unzahl unterschiedlichster Emotionen, drängte über Landrus Lippen. Und dieser Laut wurde getragen von seiner – eigenen Stimme! Obwohl es ihm schwerfiel, riß er den Blick von seiner Umgebung
und dem Kelch los und sah hinab auf seine Hände. Schlank und doch kräftig waren sie, unübersehbar die eines Mannes, und sie waren ihm vertraut – seit über tausend Jahren. Sein Gesicht hatte Landru selbst nie gesehen, weil jeder Spiegel ihm wie allen anderen Vampiren das Abbild verweigerte. Dennoch kannte er es, hatte es in der Art eines Blinden zu »sehen« gelernt in all der Zeit, mit den Fingern die Linien nachgezeichnet. Nun tat er es wieder – und erkannte die Züge als die seinen. Mit einem Unterschied zu früher jedoch: Die wulstige Narbe von der Form eines Kreuzes, die seine Wange verunziert hatte, war verschwunden! Seitdem er im weiteren Verlauf dieses Jahres in Andalusien durch einen Hieb mit einem Kruzifix verletzt worden war, hatte sie sein Gesicht entstellt. Das verhaßte Zeichen hatte sich ihm so tief ins Fleisch gebrannt, daß auch die Selbstheilungskraft der Alten Rasse die Wunde nicht hatte tilgen können. Jetzt aber war das Stigma verschwunden. Dennoch war es unleugbar sein eigenes Gesicht, das Landru ertastete. Und auch das Haar, im Nacken zu einem kurzen Zopf zusammengefaßt, war ohne Zweifel das seine. Wie es angehen konnte, daß er in seinen eigenen Leib hatte zurückgelangen können, darüber vermochte Landru nicht einmal Mutmaßungen anzustellen. Zu sehr stand er unter dem wohltuenden Schock darüber, daß es geschehen war. Und überdies war hier weder Zeit noch der rechte Ort, um darüber nachzusinnen. An diesem Ort zählte allein das Handeln, und es mußte schnell gehen! Daß es ihn tatsächlich einmal mehr durch die Zeit getrieben hatte, daran zweifelte Landru nicht mehr. Das Szenario ringsum stimmte bis ins Detail mit jenem überein, das er seit dreihundert Jahren in seiner Erinnerung mit sich trug. Der Fels zu seinen Füßen war in Grate und Schollen zerbrochen; gezackte, bodenlose Klüfte trennten sie voneinander. Er wußte, in welche davon er Felidae damals hin-
abgestoßen hatte und in die er schließlich selbst hinuntergestiegen war. Einen Unterschied zur damaligen Situation gab es jedoch. Seinerzeit hatte der Altar mit dem Kelch wie auf einer Insel inmitten des zerklüfteten Bodens gestanden, unberührt von dem Beben. In der Hitze des Kampfes mit Felidae unerreichbar für Landru, weil ihm nicht die Zeit geblieben war, sich in eine Fledermaus zu verwandeln. Jetzt aber stand Landru selbst auf dieser Insel. Im Schatten des Altars war er »erwacht«. Und nun brauchte er nur noch die Hände nach dem Kelch auszustrecken, um – die Welt zu verändern! Um ihre Geschicke wieder im Sinne der Alten Rasse zu lenken! Um alles ungeschehen zu machen, was in der Folge zum Niedergang des Vampirvolkes geführt hatte. In den Augen dessen, der nicht wußte, welche Macht dem Kelch innewohnte, mochte er nicht mehr sein als ein Gefäß von eigentümlicher Form, offenbar einer Lilienblüte nachgebildet und aus einem Material bestehend, das sich mit bloßem Blick nicht identifizieren ließ. Für Landru indes war der Kelch von erhabener Schönheit. Auch während seiner Zeit als Hüter des Grals hatte er sich nie wirklich daran satt sehen können; jedesmal hatte der Anblick des Kelchs von neuem etwas tief in Landru berührt, hatte seine Ehrfurcht vor dem Unheiligtum seines Volkes wachgehalten und ihn der Ehre bewußt gemacht, die es bedeutete, dem Kelch dienen zu dürfen. So beeindruckt wie in diesem Moment jedoch war Landru nie zuvor gewesen. Seine Blicke umfingen den rauhen Kelch wie streichelnde Hände, fingen sich für den winzigsten Teil einer Sekunde an jedem einzelnen der Tausenden von Splittern, aus denen er gefertigt schien. Eile dich! Dir bleibt kaum mehr Zeit!
Die Stimme schien tief in Landru zu entstehen. Vielleicht verschaffte sich damit jener kleine Teil seines Bewußtseins Ausdruck, der sich vor der Euphorie in Sicherheit gebracht hatte – als letzter Rest von Vernunft und klarem Denken. Seine Hände streckten sich nach dem Kelch, schlossen sich darum, nahmen ihn von jener Stelle des Altars, in die sein Fuß sich paßgenau fügte. Schwer lag der Gral in Landrus Hand, schwerer, als sein Aussehen es vermuten ließ; als würde die im Kelch manifestierte Macht ihm zusätzliches Gewicht verleihen. Landrus Blick sank in die Dunkelheit, die den Lilienkelch füllte, ganz in der Art, wie schwarzes Blut ihn bei den Taufen gefüllt hatte – und es fortan wieder tun würde. Trotzdem es ihn innerlich zur Eile trieb, verharrte Landru noch für Augenblicke. Einerseits, um die Bedeutung, die Größe des Momentes auszukosten; andererseits, um in Gedankenschnelle Möglichkeiten durchzuspielen, wie nun am klügsten weiter zu verfahren wäre. Es taten sich etliche Wege auf. Welchen sollte er begehen? Welche Hindernisse konnten sich ihm stellen, wie waren sie zu umgehen oder zu überwinden? Landru wußte, daß es nicht damit getan war, den Kelch einfach wieder an sich zu nehmen und hinauszugehen, um das Werk des Hüters fortzuführen. Dazu hatte er mit seinem damaligen Frevel die Macht, aus deren Dienst er nicht hatte scheiden wollen, zu tief erschüttert. Verschwinde endlich! Bring den Gral in Sicherheit! drängte es in ihm. Aber Landru ignorierte den Ruf. Konnte er denn hingehen und mit dem Kelch die Sippen bereisen und sich seinem Volk als »neuer« Hüter vorstellen? Man würde ihm wohl glauben. Das Unheiligtum wäre seine Legitimation. Sein wahres Gesicht kannten sie nicht, weil er in der Vergangenheit stets die rituelle Maske getragen hatte. Ein Problem indes sah Landru ungelöst.
Felidae war nicht zu Tode gestürzt. Sie lebte. Und er zweifelte keinen Moment daran, daß sie ihm nachjagen und ihm erneut die Aufgabe streitig machen würde. Das mußte er unter allen Umständen verhindern. Und er sah nur eine Möglichkeit, es zu tun. Er mußte zu Ende bringen, was beim ersten mal nicht gelungen war. Er mußte die Felidae töten, auf daß es nurmehr einen einzigen Hüter gab! Nach dem Auftauchen des Hurenbalgs Lilith Eden hatte Landru damals (in der Zukunft!) erfahren, daß Felidae den Kelch aus dem Dunklen Dom gestohlen hatte. Sie mußte es während der Zeit getan haben, da er ihren Leichnam am Grund der Schlucht vergeblich gesucht hatte. Und das hieß – daß sie es jetzt tun würde! Den Kelch in Händen, sah Landru sich nach allen Seiten hin um. Von irgendwoher mußte das rothaarige Weibsstück auftauchen – gleich! Aber nichts rührte sich. Die Stollen, die ringsum in den Dom mündeten, waren und blieben allesamt versiegelt. Keine der hölzernen Pforten, in die undeutbare Runen eingelassen waren, öffnete sich. Habe ich die damaligen Ereignisse etwa allein schon durch mein Erscheinen beeinflußt? fragte sich Landru. Genügte seine im Plan der Zeit nicht vorgesehene Anwesenheit, um Felidae am Diebstahl des Unheiligtums zu hindern? Dann aber, als er schon fast nicht mehr damit rechnete, geschah es doch. Und gänzlich anders, als Landru es sich ausgemalt hatte. Zwischen zwei der Pforten brach die Wand auf. Ein Spalt tat sich auf, unirdisches Licht drängte hervor. Nicht strahlend hell, sondern von dunklem Rot wie Blut, flackernd und glosend. Und in dem glühenden Leuchten entstanden Konturen; weibliche Linien, atemberaubend. Schließlich gebar die Glut einen Leib und entließ ihn in den Dunklen Dom. Haut von anziehender Blässe und kaum verhüllt. Ein schwarzes
Etwas verdeckte knapp die Blößen jenes Weibes, dessen animalischer Schönheit sich selbst Landru kaum verschließen konnte. Zumindest im allerersten Augenblick nicht. Er erinnerte sich an seine zweite Begegnung mit Felidae, 269 Jahre nach ihrem Duell im Ararat. In Sydney hatten sie sich wieder gegenübergestanden, und die Kelchdiebin hatte verändert ausgesehen. Ein eigenartiges Korsett hatte ihren herrlichen Körper umschlossen, sich um ihre Brüste und ihre Scham gelegt. Wie eine archaischen Kriegerin hatte sie gewirkt. Ganz ähnlich schien ihm nun dieser Anblick. Ähnlich – nicht gleich. Denn es war nicht Felidae, die ihm hier gegenübertrat, sondern … Landru brüllte auf vor Zorn und Haß und – Enttäuschung? »Lilith Eden!«
* In den vielen Jahrhunderten seines irdischen Daseins war Landru mehr als nur ein Feind erwachsen – im Verborgenen. Denn wer hätte sich erdreistet, ihm, dem Mächtigsten, einer Legende offen entgegenzutreten? Zwei hatten es in der Tat gewagt. Felidae war eine von beiden gewesen. Die andere: Lilith Eden. Die Tochter von Creanna, der Hure! Die Vampirin Creanna hatte ihr eigenes Volk verraten, indem sie sich mit einem Sterblichen einließ und ihm ein Kind gebar. Daß sie es auf Geheiß der Urmutter ihrer Rasse getan hatte, wußte Landru inzwischen. Dennoch verwünschte er die Gesetzmäßigkeit, derzufolge eine Vampirin bei der Geburt eines Kindes sterben mußte. Zu gern hätte Landru damals selbst Creannas Leben ein Ende gesetzt – ein langes, qualvolles Ende. So wie er Liliths Vater Sean Lancaster noch im Tode hatte leiden lassen, nachdem er dessen abgeschlagenen Schädel zum Leben verdammt hatte.
Lilith Eden. Von Geburt an hatte sie eine Bedrohung für die Alte Rasse bedeutet, und Landru hatte nichts unversucht gelassen, dieses Damoklesschwert von seinem Volk abzuwenden. Vergebens. Die Folge seines Versagens im Kampf gegen Lilith und alles, was ihre Bestimmung anbelangte, war letztlich der Untergang der Vampire gewesen. Und noch immer gab das verfluchte Balg, jenes »Kind zweier Welten«, keine Ruhe. Lilith Eden machte Jagd selbst auf die Letzten ihres schwarzblütigen Stiefvolkes. Ihm, Landru, war sie sogar bis hierher gefolgt, in eine vergangene Zeit, an einen Punkt, an dem er das Schicksal wenden konnte. Einmal mehr wollte sie ihm dazwischenkommen! Wie hatte das elende Weib es nur geschafft, ihn hier im Dunklen Dom aufzuspüren? Und wie im Namen der Hohen war es Lilith Eden gelungen, die Zeit zu überwinden und exakt in diese vielleicht bedeutsamste Stunde für die Alte Rasse zu gelangen? Wirkte am Ende noch immer jene Macht, die allem entgegenstand, was Landru zur Rettung seines Volkes unternahm? Und benutzte sie nach wie vor Lilith Eden als Werkzeug? Fragen ohne Antworten drohten Landrus Denken völlig zu vereinnahmen und ihm den Sinn fürs Wesentliche, fürs Wirkliche zu blockieren. Als formte sein Wille eine Hand, so fegte er all jenen Ballast beiseite und sah nun wieder nur sie – Lilith Eden. Wie sie näherkam mit den Schritten einer Raubkatze, lasziv in unterschwelliger Weise, aber zuvorderst ging doch von jeder ihrer Bewegungen und Gesten etwas Bedrohliches, Gefährlichkeit Signalisierendes aus. Haß flammte auf in Landru – doch hinter dieser Lohe verspürte er noch etwas anderes in sich; etwas, das er in den langen Jahren kaum je gekannt hatte und das ihn gerade ob seiner Fremdheit erschreckte. Verunsicherung.
Denn irgend etwas an Lilith Eden irritierte ihn. Zwar sah sie noch so aus, wie er sie – ihrer Schönheit zum Trotz – in übelster Erinnerung hatte: schwarzes Haar wallte um ein sinnlich schönes Gesicht, und die Formen ihres Körper waren schlicht atemberaubend. Aber Landru konnte spüren, daß etwas an ihr anders war – oder in ihr. Als verberge sich diese Veränderung unter ihrer bleichen Haut. Und diese Veränderung weckte Unbehagen in Landru. Im Grunde sogar mehr als nur Unbehagen, doch das war er sich selbst gegenüber nicht bereit einzugestehen. Fast glaubte er, diese unsichtbare Veränderung auch in Worte kleiden zu können: Es schien, als wäre sie nicht mehr halb Vampir, halb Mensch. Das Vampirische mochte durchaus noch in ihr stecken, aber die menschliche Hälfte schien von etwas gänzlich anderem ersetzt worden zu sein. Von etwas, das Landru an den stinkenden Brodem gemahnte, der ihn vor den Toren von Paris getroffen hatte, bevor ihm jenes monströse Unwesen, von dem dieser Brodem ausgegangen war, den Garaus gemacht hatte. Fahr zur Hölle … Beinahe war Landru bereit zu glauben, daß er tatsächlich zur Hölle gefahren war. Denn Lilith Edens Gegenwart machte ihm das eigene Dasein zur Hölle. Dann jedoch sah er kurz auf den Kelch in seinen Händen hinab und ließ den Blick über die scheint’s himmelhohen Wände des Dunklen Doms wandern. Der vertraute Anblick und das Gefühl verhaltenen Triumphs, das dieses Szenario in ihm auslöste, klärten ihm die Sinne. »Wie kommst du hierher, verfluchtes Weib?« Sein Blick heftete sich auf Lilith, aber er – flackerte. Wie vor verhaltener Angst? Und seine Stimme bebte, ganz sacht nur, so daß sie es vielleicht nicht einmal bemerken mochte. Aber Landru selbst zuckte beinahe zusammen, als er es registrierte. Was ist nur los mit mir? durchfuhr es ihn. Ich reagiere fast wie die Sterblichen!
»Auf dem gleichen Wege wie du«, erwiderte Lilith Eden. Ihr Lächeln war spöttisch, beinahe überheblich. »Auf dem gleichen Wege …?« echote Landru. »Was heißt das?« »Wie du habe ich meinen eigenen Körper wiedergefunden«, erklärte sie und strich mit den Händen selbstverliebt von ihren Brüsten bis hinab zum Schoß. Die Schwärze ihres Symbionten floß auseinander und ließ sie die eigene Haut berühren. »Dann bist auch du durch dieses … Tor gesogen worden?« Lilith nickte. »Und auch mein Körper blieb in dieser Welt hinter dem Tor zurück, während mein Ich in einen anderen Leib und eine ferne Zeit versetzt wurde.« »Was war das für eine Welt hinter dem Tor?« fragte Landru, selbst staunend über die Banalität seines Fragens. Er verhielt sich … nun, nicht, wie er es von sich kannte. Eher wie ein – – nein! Er vertrieb den Gedanken noch im Ansatz, fragte aber dennoch weiter: »War es die …?« »Die Hölle, meinst du?« Lilith zuckte lachend die Schultern, und selbst dieser geringen Geste haftete etwas Schlangenhaftes an. »Mag sein, oder auch nicht. Was zählt es?« »Aber wenn unsere Körper dort zurückblieben und wir sie nun wiederbekommen haben – heißt das nicht, daß wir …?« »… wieder dort angelangt sind?« ergänzte Lilith. Landru nickte, zögernd, zaghaft fast. »Wer weiß?« meinte sie. »Aber es kann nicht sein!« rief er, beinahe verzweifelt. Er reckte Lilith den Lilienkelch hin, während er mit der anderen Hand eine Bewegung vollführte, die ihre ganze Umgebung einschloß. »Ich weiß, wo wir hier sind! Ich war schon einmal hier! Und es kann nur bedeuten, daß ich eine zweite Chance bekommen habe!« »Glaubst du.« »Wer will es verhindern? Du etwa?« fuhr Landru auf. »Willst du an die Stelle der Kelchdiebin treten und mir den Gral entreißen?
Dann versuch es!« »Ich werde es nicht versuchen«, sagte Lilith. »Sondern?« »Ich werde es tun!« ZZZUUUWWW!
* Das fürchterliche Geräusch legte in Landru kaum verschüttete Erinnerung frei. Erinnerung an die schrecklichsten Sekunden seines Lebens – an die letzten Sekunden seines Lebens! Denn mit eben diesem Laut war unweit von Paris sein Mörder zu ihm gekommen, wie aus dem Nichts heraus. Er hatte Landrus Welt in eisigen Böen und alphaften Nebeln vergehen lassen und ihn schließlich – – zur Hölle geschickt! Und auf genau die gleiche, unbegreifliche Weise raste nun Lilith Eden heran! Das Nichts verschlang sie an der Stelle, wo sie eben noch gestanden hatte, und spie sie unmittelbar vor Landru inmitten eines unirdischen Sturmes aus. Die Bewegungen ihrer Hände waren kaum mit Blicken zu verfolgen, geschweige denn irgendwie zu verhindern. Aber Landru brüllte auf vor Schmerz, als Liliths Rechte … in seine Brust stieß und etwas Entsetzliches, Unbeschreibliches tat. Fast meinte er, sie würde ihm buchstäblich das Herz aus dem Leib reißen! Und tatsächlich fetzte sie ihm etwas heraus. Etwas, das wie durch winzige Stränge nicht nur mit jedem Nerv, sondern mit jeder Faser seines Körpers verbunden zu sein schien. Und alle diese Verbindungen zerrissen nun unter Liliths Gewalt. Landru schrie wie nie zuvor in tausend Jahren.
Und dann lagen auch schon wieder etliche Schritte Distanz zwischen Lilith und dem Hüter des Kelches – – dem neuerlich beraubten Hüter! Denn Landrus Hand war leer, während Lilith den Kelch in der ihren wog, wie abschätzend – oder als überlege sie, wohin sie ihn schleudern sollte. Und in ihrer anderen Hand wand sich etwas, das Landru auf den ersten Blick für ein Nest schwarzen, ineinander verschlungenen Gewürms hielt. Beim zweiten, näheren Hinsehen indes stellte es sich völlig anders dar – flatternde Schemen schienen in und um Liliths Hand zu tanzen … Landru stöhnte zornerfüllt auf. Der Schmerz, der jede Zelle seines Leibes in Brand gesetzt hatte, verebbte pochend. Schon wollte er auf Lilith zuhetzen, als eine Handbreit vor seinen Füßen sich der Fels von neuem teilte. Eine mehr als mannsbreite Kluft trennte Landru plötzlich von der Kelchdiebin. »Mit solchen Taschenspielertricks kommst du mir nicht bei«, knurrte Landru. Ein Gedanke sollte genügen, um die Transformation einzuleiten. Als Wolf würde er die Spalte überwinden und Lilith Eden geben, was sie provoziert hatte – ein grausiges Ende! Ganz gleich, wozu sie fähig war – gegen den Haß und Zorn einer lebenden Legende würde sie nicht bestehen können. Geduckt kauerte Landru da. Und nichts geschah. Allenfalls ein Echo des ziehenden Schmerzes, der mit der Verwandlung in eine andere Gestalt stets einhergegangen war, wehte durch seinen Körper. Vielleicht war es auch nur die Erinnerung an dieses Gefühl. Tatsache indes war, daß sein Leib sich nicht veränderte. Kraft und Gestalt des Wolfes blieben ihm versagt. Landru sah sich gehetzt um, als könnte er irgendwo eine Erklä-
rung finden für das, was da geschah – oder vielmehr eben nicht geschah. Doch er fand nichts. Außer Liliths Lächeln. Böse, wissend. »Du begreifst es nicht«, sagte sie ruhig. »Oder willst du es nur nicht begreifen?« Landru knurrte, und zumindest dieser Laut klang, als käme er aus einem wölfischen Rachen. »Was hat das zu bedeuten?« fragte er rauh. »Weißt du nicht mehr, was dir im Moment deines Todes versprochen wurde?« Um dich kümmere ich mich später … Fahr zur Hölle! Landru hob erschrocken den Blick. Ihm war, als wären die Worte nicht in seiner Erinnerung wieder erstanden, sondern als wären sie ihm von neuem direkt ins Ohr geflüstert worden. »Dies ist der Ort, an dem Versprechen solcher Art eingelöst werden«, fuhr Lilith fort. »Was …?« Landru sah zu Lilith hin. Diesmal vermochte er das Flakkern seines Blickes nicht länger zu unterdrücken. »Du bist verdammt, Landru!« »Verdammt?« wiederholte er. »Verdammt wozu?« Die beiden Worte schrie er, verzweifelt und von nie zuvor erfahrener Panik erfüllt. Wieder lächelte Lilith. »Was könnte dir ärgste Verdammnis bedeuten? Womit ließe sich eine Kreatur von deiner Art am schlimmsten treffen?« Eine Ahnung keimte in Landru, als würde ihm entsetzliches Wissen eingeflüstert. Aber es konnte nicht sein! Dies war sein Körper, und nichts hatte sich daran verändert … Falsch! Die Verwandlung in den Wolf blieb mir verwehrt! Sind dies Anzeichen dafür, daß es wirklich so ist, wie ich befürchte …? Und er sah wieder zu dem dunklen Etwas in Liliths Hand hin, das
sich um ihre Finger wand und quoll und fortwährend seine Gestalt veränderte. »Ich sehe, du beginnst zu verstehen«, sagte Lilith. »Aber ich will deinem Begreifen noch weiter auf die Sprünge helfen. Sieh her!« Lilith bewegte die Hand mit dem Lilienkelch, als wollte sie ihn Landru zuwerfen. Doch das tat sie nicht. Statt dessen schwappte etwas aus dem Kelch. Schwärze, die sich wie zähe Flüssigkeit zu einer mannshohen Wand formte und so blieb, erstarrte. Silbrige Blitze zuckten darin, anfangs diffus wie fernes Wetterleuchten, dann stärker, und schließlich vermengten sich die Blitze zu einem Ganzen und überzogen das flache Gebilde mit silbrigem Glanz, machten es – – zu einem Spiegel, aus dem Landru eine Gestalt entgegensah! � Hochgewachsen, sehnig, mit düsteren Zügen, dunklem Haar … � Sein Ebenbild. Sein Spiegelbild! � »Das ist … unmöglich«, entfuhr es ihm. Wie er selbst, so zuckte � auch die Gestalt im Spiegel zusammen wie unter einem Peitschenhieb. »Was treibst du für ein Spiel mit mir?« zischte er Lilith zu, die, den Kelch in der Hand, neben dem seltsamen Spiegel stand. »Nenn es ruhig ein Spiel, gut«, antwortete sie und hielt den Kelch hoch. »Du kannst ihn gewinnen in diesem Spiel – und sie.« Lilith reckte das wimmelnde Gebilde in die Höhe. »Die Regeln sind denkbar einfach.« Landru sah abwartend zu ihr hin. Seine Züge zuckten wie von eigenem Leben erfüllt – wie von fremdem Leben. Eine Art von Leben, die Landru nicht haben wollte und das ihm doch in den Leib gezwungen worden war. Es war kaum mehr zu leugnen. »Wie lauten diese Regeln?« fragte er schließlich. »Hol dir, was ich dir genommen habe! Und wer weiß – vielleicht erhältst du damit die Chance, alles zu verändern?« Lilith warf den Kelch ein Stück in die Höhe und fing ihn blind wieder auf. »Das werde ich«, gab Landru zurück.
»Du erlaubst, daß ich zweifle?« erwiderte Lilith. »Denn die Rollen sind diesmal anders verteilt.« »Ach ja?« Sie nickte. »Ja. Denn dieses Mal – bin ich die Böse!« Lilith lachte. Laut. Donnernd. Alles erschütternd! Entsetzt fuhr Landru herum. Der Dunkle Dom – – stürzte ein! Armstarke Risse ästelten sich blitzschnell durch den Fels, weiteten sich. Heißes Licht füllte die Klüfte, während schon die ersten Trümmer niederstürzten. Liliths ominöses »Spiel« schien zu Ende, kaum daß es begonnen hatte! Landru rechnete jeden Moment damit, von einem der Felsbrocken erschlagen zu werden. Möglich schien ihm plötzlich alles – jetzt, da ihm die Grenzen enger gesteckt worden waren denn je zuvor … In einer hilflosen Geste hob er die Arme über den Kopf, barg sein Gesicht darin. Das dröhnende Donnern pflanzte sich fort bis in die letzte Faser seines Körpers. Glühende Hitze sengte ihm über die Haut, als flossen Lavaströme geradewegs auf ihn zu. Und dann – – war alles vorbei!
* Landru schlug die Augen auf. Die Welt um ihn her war vergangen, erloschen. Der Dunkle Dom, Lilith Eden, der Lilienkelch – verschwunden. Aber Landru fand sich keineswegs im Nichts wieder, wie er es erwartet hätte. Eine andere Welt war zum Vorschein gekommen – oder hatte ihn aufgenommen, wenn auch widerwillig. Feindselig und kalt war die-
se Welt, das spürte Landru, kaum daß er ihrer ansichtig geworden war. Und er selbst fühlte sich von diesem ersten Moment an als Fremdkörper darin. Obwohl es keinen offensichtlichen Beweis, nicht einmal ein Anzeichen dafür gab, daß er hier nicht geduldet wäre. Denn weder rührte sich etwas um Landru, noch gab es irgendeinen Hinweis auf kreatürliches Leben. Das Land war leer und öd, beinahe kahl. In der Ferne türmten sich bizarre Felsformationen. Hie und da staken fremdartige Gewächse aus dem trockenen Boden, verkrüppelt wie geschundene Kreaturen. Und über allem spannte sich ein fahler Himmel, wie auf einer vergilbten Fotografie. Das spärliche Zwielicht war so gering in seiner Kraft, daß es sich wie schattenhafter Nebel übers Land legte, anstatt es Landrus Blicken zu erhellen. »Was ist geschehen?« flüsterte er heiser, während er sich in eine kniende Position aufrichtete, mit den Fingern Furchen in den Staub des Bodens ziehend. Zwei mögliche Antworten fielen ihm ein: Entweder waren der Dunkle Dom und die damaligen Geschehnisse nichts weiter als eine Illusion gewesen, oder er hatte dies alles nur im Traum noch einmal erlebt. Welcher von beiden Fällen auch zutreffen mochte, es mußte sich ein tieferer Sinn darin verbergen, davon war Landru überzeugt. Wer oder was als Initiator auch dahintersteckte, er hatte Landru auf etwas hinweisen wollen. Nur – worauf? Darauf wiederum fand Landru nur eine Antwort: Er verstand das Geschehene – oder das nur scheinbar Geschehene – als Zeichen dafür, daß es ihm durchaus möglich sein mochte, entscheidend in die Geschichte seines ureigenen Volkes einzugreifen! Wie sich diese Möglichkeit ergeben konnte und wer sie ihm eröffnen sollte, daran verschwendete Landru keinen Gedanken. Nicht jetzt. Dazu würde später Gelegenheit sein, wenn es soweit war. Jetzt
galt es erst einmal, nach dieser Möglichkeit zu suchen. Wieder ließ Landru den Blick schweifen. Noch immer regte sich nichts um ihn her. In welche Richtung mußte er sich wenden, wo würde er sein – wie auch immer geartetes – Ziel finden? Landru zuckte die Schultern. Eine Wegrichtung schien ihm so gut wie die andere. Schließlich nahm er Kurs auf die bizarre Bergkette am Horizont. Sie eignete sich am ehesten als Anhaltspunkt. Und sollte er dort nicht fündig werden, würde er von den Felsgipfeln aus zumindest weiter über das Land sehen können als von hier unten aus. Landru lief los. Und zum ersten Mal seit weit über tausend Jahren tat er es nicht allein. Zum ersten Mal folgte ihm ein Schatten. Sein Schatten.
* Die Bergkette kam scheinbar kaum näher. Mit jedem Schritt, den Landru tat, schien ein sadistischer Riese die Felsen dort in der Ferne um eben diesen Schritt weiter wegzuschieben. Immer öfter blieb Landru stehen. Er versuchte sich einzureden, er täte es, um sich umzuschauen. Tatsächlich aber zwang ihn etwas dazu, das er bislang nie kennengelernt hatte und das ihm jetzt, da es ihm allmählich vertraut wurde, beinahe erschreckte. Erschöpfung. Seine Kräfte erlahmten. Der Boden schien sie ihm mit jedem Schritt, den er setzte, wie mit einem Magneten aus den Beinen zu ziehen. Seine Muskeln fühlten sich längst hart wie Stein an und schmerzten. Schweiß lief ihm in schmalen Rinnsalen über das Gesicht, brannte
ihm salzig in den Augen. Was Lilith Eden ihm in dieser Illusion oder diesem Traum vor Augen geführt hatte, schien der Wahrheit zu entsprechen: Er war seiner vampirischen Kraft beraubt. Und seine Phantasie beschwor immer neue Schreckensvisionen herauf, was sich aus dem Kräfteverlust alles ergeben konnte. Zwischenzeitlich hatte Landru – fast schon gegen seinen Willen, weil er die daraus resultierende Erkenntnis gefürchtet hatte – wieder versucht, sich in einen Wolf oder auch nur eine Fledermaus zu verwandeln, um die Entfernung bis zu den Bergen in deren Gestalt zurückzulegen. Aber es hatte, wie befürchtet, nicht geklappt. Nur die Erinnerung an das Empfinden der Transformation war dagewesen, ohne daß sich sein Körper tatsächlich auch nur im Ansatz verändert hatte. Während Landru weiterging, versuchte er sich in Gedanken abzulenken, indem er über Naheliegendes nachdachte. Da war zum Beispiel die Frage, wohin es ihn verschlagen hatte. Wieder sah er sich im Gehen nach allen Seiten um. Trotzdem ihm seine Umgebung fremd und abstoßend erschien, schloß Landru nicht aus, daß er sich auf der Erde befand. Ein müdes Grinsen wischte über seine nunmehr sichtlich erschöpften Züge. Natürlich mußte er sich auf der Erde befinden. Wo denn auch sonst? Daß er seinen genauen Standort nicht zu bestimmen vermochte, irritierte ihn nicht. Obgleich er über tausend Jahre lang rund um den Globus gezogen war, hatte er nicht jeden Winkel der Welt besucht. Als Hüter hatte es ihn nur zu jenen Orten gezogen, wo sich Vampirsippen niedergelassen hatten. Und das waren in aller Regel größere Städte gewesen. Eine Veranlassung, sich in die Einsamkeit abgeschiedener Gegenden zurückzuziehen, hatte der Kelchhüter nie gehabt. Dennoch war Einsamkeit ihm nicht fremd gewesen; fast bezeich-
nete er sie sogar als seine einzige Begleitung. Obwohl er sich Gesellschaft hatte nehmen können, war Landru stets allein gewesen. Wer auch immer ein Stück des Weges mit ihm gegangen war oder auch nur eine Nacht mit ihm geteilt hatte, Landru hatte sich nie jemandem verbunden gefühlt. Außer Nona vielleicht. Die Werwölfin war eine Weile mit ihm zusammengewesen, und ihre Pfade hatten sich immer wieder gekreuzt. Ganz kurz nur dachte Landru an sie und daran, was aus ihr geworden sein mochte. Er hatte sie lange nicht mehr gesehen und auch keine Gelegenheit gehabt, den Kontakt zu Nona zu suchen. Die Ereignisse um den Lilienkelch und den Niedergang der Alten Rasse hatten sein ganzes Tun und Denken beansprucht. Irgendwann jedoch, davon war Landru überzeugt, würden sie sich wiedertreffen. Und vielleicht würde die Welt dann eine andere sein, eine bessere – für Vampire … Bis dahin jedoch schien es im Moment noch ein weiter Weg, und Landru war keineswegs mehr so sicher, daß er dieses Ziel erreichen würde. Wo es ihm doch schon kaum vergönnt schien, auch nur bei den Bergzügen in der noch immer weiten Ferne anzulangen. Die Einsamkeit, die er hier auf seiner Wanderung erfuhr, war von gänzlich anderer Art als jene, die er als Hüter kennengelernt hatte. Damals war sie ihm wie ein Mantel erschienen, eher noch wie ein Schutzpanzer, der alles, was für den Verwalter des Grals nicht von Belang war, von ihm ferngehalten hatte. Die Einsamkeit war Teil seines Selbst gewesen. Hier und jetzt jedoch kam er sich durch das Alleinsein wie isoliert von allem, selbst von seiner öden Umgebung, vor. Er fühlte sich nicht einfach nur einsam, sondern regelrecht verloren. Und der Umstand, daß keiner seiner Schritte ihn wirklich voranzubringen schien, war Teil dieser Verlorenheit. Als lehnte ihn selbst der tote Boden unter seinen Füßen ab. Landru verspürte ein seltsames Gefühl von Leere. Als hätte sich in seiner Brust ein Loch aufgetan, das alles verschlang, was an positi-
vem Empfinden noch in ihm gewesen war. Im Gegenzug gebar es nur Dinge, die sein Denken vergifteten. Längst schienen ihm nicht mehr nur seine Glieder bleischwer, sondern jeder Gedanke. Trübsinn mochten die Menschen das nennen, Schwermut oder Depression. Landru fühlte sich von all dem aber noch härter getroffen als ein Normalsterblicher. Denn zusätzlich zu dem Leid, das sie ohnehin schon bedeuteten, quälte ihn noch die Fremdartigkeit dieser Gefühlszustände. Nie war er empfänglich dafür gewesen, und jetzt schlugen sie wie Wogen eines sturmgepeitschten Meeres über ihm zusammen, so daß er fast meinte, wirklich darin ertrinken zu müssen. Noch einmal gelang es Landru, aus dem Tief aufzutauchen. Wenn auch kein erfreulicher Grund ihn dazu veranlaßte. Ein Brennen in seiner Kehle war es, das sein Denken aufs Tatsächliche zurücklenkte. Als er sich darauf konzentrierte, wurde ihm gewahr, daß dieses Brennen nicht allein in seiner Kehle saß, sondern in seinem ganzen Leib fraß. Das Gefühl und der damit einhergehende Schmerz waren ihm nicht völlig fremd. Landru wußte nur zu gut, wie Durst sich äußerte. Nur verlangte ihm diesmal nicht nach Blut aus pochender Ader, sondern nach – »Wasser …«, krächzte Landru, derweil sein flackernder Blick über das staubtrockene Land tastete.
* Der Tümpel stank zum Himmel! Würgend wich Landru zurück, kaum daß er sich am Rand der Bodenmulde niedergekniet hatte. Etwas Beißendes stieg in seiner Kehle auf und sammelte sich als bitterer Geschmack auf seiner Zunge. Das Gesicht von der Wasserstelle abgewandt, die kaum mehr als
eine größere Pfütze war, holte er keuchend Atem. Solange, bis der Durst wieder an Macht über ihn gewann … Etwas abseits seiner Marschroute hatte Landru etwas wie ein Wäldchen aus verkrüppelten Bäumen entdeckt. Wo etwas wuchs, mußte auch Wasser zu finden sein, hatte er angenommen und seine Richtung entsprechend geändert. Schließlich war er jenseits der ersten Bäume (von einer Art, wie er sie nie zuvor gesehen hatte) auf dieses Wasserloch gestoßen. Inzwischen jedoch zweifelte er ernsthaft daran, ob es sich bei der schmutzigen Brühe tatsächlich um Wasser handelte. Obwohl der Tümpel nicht sehr tief sein konnte, war der Grund nicht auszumachen. Brauner Schlamm wölkte unter der Oberfläche, aufgewühlt von fremdartigen Tieren, von denen Landru in dem dunklen Wirbeln stets nur Teile zu Gesicht bekam. Nicht, daß er erpicht darauf gewesen wäre, sie zur Gänze zu erkennen … Gleiches galt für die Dinge, die auf dem Wasser trieben. Nicht alles davon schien pflanzlicher Herkunft zu sein – eine Erklärung für den fauligen, stechenden Gestank. Seinen höllischen Durst stillten all diese Erkenntnisse allerdings nicht. Wieder beugte Landru sich vor, flach atmend, und er versuchte zu ignorieren, was seine Augen sahen. Mit aller Macht wollte er sich einreden, es könnte doch Blut sein, was er hier zu trinken im Begriff war. Aber alles, was er damit in sich hervorrief, war – Ekel. Fast größer noch als jener, den er vor der stinkenden Brühe empfand. Gerade als er, wie von fremdem Willen gezwungen, seine hohle Hand in den Tümpel tauchen wollte, zuckte Landru zurück! Da war – ein Gesicht, das aus dem Wasser zu ihm heraufstarrte! Angewidert, als ertrüge es Landrus Anblick nicht. Sekunden verstrichen, ehe er dieses »andere« Gesicht als das seine erkannte. Nach so vielen Jahrhunderten, in der alles Reflektierende blind für
seinen Anblick gewesen war, konnte er sich nicht daran gewöhnen, plötzlich ein Spiegelbild oder auch nur einen Schatten zu werfen. Von letzterem hatte er sich auf seinem bisherigen Weg fast verfolgt gefühlt. Seine Finger tauchten ein in dieses ewig fremde Gesicht, und kleine Wellen ließen es erst verschwimmen und schließlich verschwinden. In seiner gewölbten Hand sah das Wasser nun nicht mehr ganz so schmutzig aus. Aber es war noch immer weit davon entfernt, appetitlich oder auch nur genießbar zu erscheinen. Landru schloß die Augen und ließ das Naß über seine Lippen rinnen. Es schmeckte scheußlich. Wenn auch nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Und es tat gut. Hand um Hand schöpfte Landru weiter, bis der Brand in ihm ein erträgliches Maß herabgesunken war. Schließlich öffnete er die Lider wieder. Am Ufer des Tümpels verharrend, wartete er darauf, daß sich die Wasseroberfläche wieder beruhigte. Als sie glatt wie ein Spiegel dalag, benutzte Landru sie diesmal bewußt als solchen. Das eigene Gesicht betrachten zu können, entbehrte nicht eines gewissen Reizes für jemanden, der zeit seines Lebens nicht dazu in der Lage gewesen war. Und während Landru sein Ebenbild im Wasser betrachtete, entwickelte er Verständnis für all jene, die während der Jahrhunderte vor seiner bloßen Präsenz erschauert waren. Oh, es lag nichts wirklich Bösartiges in den Zügen dieses Gesichtes – aber in jeder Linie und jeder Pore schien spürbare Bedrohlichkeit zu nisten, einem unheimlichen Gift gleich, dessen Ausdünstung allein schon gefährlich war. Und in den dunklen, beinahe schwarzen Augen lag etwas wie ein wortloses Versprechen – das Versprechen von Angst, der nur der Tod folgen würde. Selbst jetzt, da Landru sich seines wahren Wesens beraubt fühlte, war dieses Gesicht noch eben jenes, vor dem für so lange Zeit ungezählte Menschen gezittert hatten.
Und nun, da Landru selbst es als fremd empfand, verspürte auch er eine Art absurder, aber unleugbar tiefgehender Ehrfurcht davor. Als träfe ihn eine kühle Brise, so rieselte ihm ein leiser Schauer über den Rücken. Und dann erstarrte er! Aus den Augenwinkeln hatte er die Bewegung wahrgenommen, und als er jetzt hinsah, war sie kaum mehr auszumachen. Nur drüben am anderen Ufer schwangen dürre Zweige verkrüppelten Buschwerks nach, während andere – brachen! Landru richtete sich auf. Irgend etwas oder jemand floh dort vor ihm! Wenn Landru wissen wollte, wohin es ihn verschlagen hatte und wo sein Ziel liegen konnte, würde ihm dieser Jemand dort Auskunft geben können. Oder müssen. Wenn Landru seiner habhaft geworden war. Er machte sich an die Verfolgung. Aber er tat es nicht mit der kompromißlosen, sofortigen Entschlossenheit, die ihm einst zu eigen gewesen war. Früher. In einem anderen Leben …
* Landrus Atem ging schwer, und das Blut begann in seinen Ohren wie ein reißender Fluß zu rauschen. Immer häufiger mußte er sich kurze Verschnaufpausen gönnen, doch stets blieb er nur so lange stehen, wie er das Brechen der Äste oder das Klacken von Steinen und bisweilen hastige Schritte auf dem Boden hören konnte. Der oder die Fliehende schien wesentlich weniger Mühe mit dem Fortkommen zu haben. Wie ein Schatten schien der oder die andere selbst dort mit Leichtigkeit hindurchzukommen, wo Landru einen Bogen schlagen mußte, um etwa eine Bodenspalte oder ein Geröll-
feld zu umgehen. Daß es sich nicht um ein Tier handelte, das er da verfolgte, wußte Landru inzwischen. Er hatte Spuren im Staub gefunden. Eindeutig menschliche Spuren – oder wenigstens doch humanoid. Gesehen hatte er die fliehende Person indes noch nicht. Fast kam es ihm vor, als wüßte sie, wann seine Blicke ihren Rücken treffen konnten, und ginge stets im rechten Moment in Deckung oder schlüge einen Haken, der zumindest Sichtschutz zwischen sie und Landru brachte. Die Erfrischung, die ihm das Trinken gebracht hatte, war beinahe verflogen. Der schnelle Lauf trieb ihm von neuem den Schweiß aus allen Poren und zehrte an seinen Kräften. Landru hatte die Menschen nie verachtet, schließlich hätte sein Volk ohne das ihre nicht existieren können. Heute jedoch tat er es. Er verachtete sie ihrer Schwäche und Unzulänglichkeit wegen – und er verfluchte jene Macht, die ihn auf eine Stufe mit den Sterblichen gestellt hatte. Und ein klein wenig haßte er auch sich selbst ob seines armselig und elend gewordenen Daseins … Bevor er erneut in dumpfes Brüten verfallen konnte, setzte Landru sich wieder in Bewegung. Inzwischen hatte er das bizarre Wäldchen längst durchquert. Dahinter hatte sich ein strauchbewachsenes Steinfeld ausgebreitet, aus dem etliche Felsblöcke ragten wie von Riesenhand hingestreut. Das Gelände führte sanft, aber stetig bergan und endete am Fuß der Gebirgsformationen, die ohnehin sein Ziel gewesen waren. So unerreichbar sie ihm vorhin noch erschienen waren, so rasch kamen sie nun näher. Als beflügelte etwas aller Anstrengung zum Trotz seine Schritte. Vielleicht war es ja auch so. Vielleicht verlieh ihm die bloße Aussicht auf Antworten Kraft. Und er hoffte, die Kraft würde schließlich auch noch genügen, den Fliehenden zu überwältigen. Denn wer so
beharrlich floh, der würde sich nicht einfach geschlagen geben, wenn er am Ende doch noch erwischt wurde. Die Jagd gestaltete sich für Landru noch beschwerlicher, als sie in die Berge führte. Was aus der Ferne wie bizarre, mitunter monströse Formationen ausgesehen hatte, erwies sich nun als ein Labyrinth unterschiedlich großer und wie aufeinandergetürmt wirkender Felsblöcke, die doch miteinander »verwachsen« waren. Tunnel und Spalten führten in den Stein hinein. Einige, das erkannte Landru im Vorüberklettern, gingen ins Nichts, andere in lichtlose Tiefen. Der Weg des Flüchtenden indes führte nach oben. Mit der Geschicklichkeit eines Affen turnte er an den meist steil aufragenden Felsabschnitten empor, jede Sichtdeckung nutzend, während Landru nur langsam vorankam. Hätten sich unter den Händen und Füßen des anderen nicht immer wieder Steine gelöst, würde Landru die Spur längst verloren haben. Andererseits – mußte nicht jemand, der offenbar hier zu Hause war, heimlichere Wege und Möglichkeiten des Vorankommens kennen als diese? Fast schien es nämlich, als würde der andere dafür sorgen, daß Landru ihm auf der Fährte blieb … Momentelang witterte Landru eine Falle. Aber er schlug die Warnung seines Instinkts schließlich in den Wind. Selbst wenn dort oben irgendwelche Gefahren auf ihn lauern mochten – er mußte sich ihnen stellen, wenn er wissen wollte, wo und vor allem woran er war. Und nichts anderes wollte er. Im oberen Drittel der zerklüfteten Bergflanke änderte der Gejagte dann seine Fluchtrichtung. Er setzte sich in einen der Gänge ab, die sich in den Fels hineinwanden. Landru folgte ihm auch dorthin, mußte sich aber bereits nach der zweiten Kehre des Tunnels allein auf seinen Tastsinn und sein Gehör verlassen. Finsternis nistete in dem Gang wie etwas Greifbares. In dieser völligen Lichtlosigkeit hätten wohl nicht einmal vampirische Augen etwas zu sehen vermocht. Denn selbst sie benötigten einen winzigen Rest von Hellig-
keit, den sie potenzieren und so nutzen konnten. Unbewußt hatte Landru seine Schritte mit Betreten des Tunnels zu zählen begonnen. Nach 340 schimmerte weit vor ihm vage Helligkeit, zwei Gangbiegungen weiter konnte er seine Umgebung wieder deutlich erkennen, und nur ein paar Meter entfernt endete der Schlauch durch den Fels. Im ersten Augenblick meinte Landru in ein schrundiges Felsental zu sehen. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, was da vor ihm lag. Er blieb stehen, wie vor eine unsichtbare Wand gelaufen! Was sich da vor ihm ausbreitete war Mimikry in beinaher Vollendung. Die Siedlung inmitten der Berge war kaum zu erkennen, so perfekt war sie in ihrer Bauweise der Umgebung angepaßt. Selbst jetzt noch, da Landru sie schon entdeckt hatte, schien sie vor seinen Augen immer wieder zu verschwinden oder sich wenigstens zu verändern. Die Lichtschächte und Eingangsöffnungen der Behausungen waren nichts anderes als dunkle Löcher im Grau des Gesteins und den Schatten, die überhängende Felsvorsprünge warfen. Wo es nötig gewesen war, Fels zu entfernen oder zu bearbeiten, hatten die Erbauer keine glatten Kanten und Ecken, sondern rissige und rauhe Formen hinterlassen. Treppen, die die verschiedenen Ebenen der Ansiedlung miteinander verbanden, bestanden aus unterschiedlich großen Stufen, deren Entfernung zueinander variierte. Wege und Galerien waren nicht befestigt und sahen aus wie durch Witterung entstanden. Und alles wirkte verlassen und tot. Nicht einmal von jenem, den er verfolgt hatte, vermochte Landru noch die allergeringste Spur zu entdecken. Trotzdem fühlte er sich von Dutzenden Augen beobachtet. Die Blicke ruhten auf ihm wie körperliche Berührungen. Und noch etwas nahm Landru wahr. Einen üblen Geruch, der in
der Luft hing. Landru kannte diesen Geruch, fand ihn in seiner Erinnerung. So hatten all jene gerochen, denen er als Vampir gegenübergetreten war und die allesamt das Nahen ihrer letzten Stunde gespürt hatten. So roch Angst. Aber Landru wußte, daß hier und heute nicht er der Auslöser dieser Angst war. Diese Angst war alt. Sie schien seit sehr langer Zeit, vielleicht sogar schon immer Teil dieser Siedlung zu sein, Teil jener Wesen, die hier lebten und sich jetzt verbargen vor dem Fremden. Mit Blicken suchte Landru den fast unsichtbaren Pfad zur nächsten Behausung. Dann machte er sich auf den Weg. Er lief über teils gerade fußbreite Steige, kletterte über hohe Stufen und langte schließlich vor der dunklen Felsöffnung an. Dahinter war kaum etwas zu erkennen, weil man erst einen gut drei Meter langen Gang durchschreiten mußte, ehe man ins Innere der Wohnstatt gelangte. Landru zögerte kurz, dann trat er ein. Es dauerte zwei, drei Sekunden, bis seine Augen sich mit dem spärlichen Licht begnügten. Dann erkannte er die Einrichtung der Höhle, die mit »karg« noch wohlwollend beschrieben war. Im entferntesten Winkel rührte sich etwas in den Schatten. Jemand. Landru ging weiter vor und blieb stehen, als er vage die Umrisse eines Menschen – oder zumindest einer menschlichen Gestalt – ausmachte. »He!« rief er. »Komm hervor, ich tu dir schon nichts.« Die Bewegung in der Ecke blieb, doch die Gestalt machte keinerlei Anstalten, Landrus Aufforderung nachzukommen. Landru wagte sich ein weiteres Stück vor. Nun konnte er das Gesicht des anderen halbwegs erkennen. Ein menschliches Gesicht, ein männliches, auf seltsame Weise jung und alt in einem, in den Augen
ein Glanz wie von einer flackernden Kerze. »Wer bist du?« fragte Landru. Ein weiterer Schritt. Landru streckte die Hand, winkte den anderen mit den Fingern zu sich. »Nun komm schon«, sagte er, bemüht, einen beruhigenden Ton in seine Worte zu legen. Noch ein Schritt. Aus dem Flackern im Blick des anderen wurde jäh ein blitzhaftes Leuchten. Landru schrie auf! Der Boden unter ihm gab nach, brach. Und Landru stürzte. Für einen zeitlosen Moment schien sein Fall unendlich langsam vonstatten zu gehen, ließ ihm Gelegenheit, nach unten zu sehen und den schlechten Lichtverhältnissen zum Trotz zu erkennen, was ihn dort unten am Grund der Grube erwartete. Pfähle! Armstarke Holzpflöcke, oben zugespitzt. Sie würden ihn aufspießen, gleichsam pfählen! Grausame Ironie des Schicksals, durchfuhr es Landru. Nun bin ich Mensch und sterbe doch den Tod eines Vampirs! Er versuchte seinen Sturz zu kontrollieren, seinen Körper im Fallen zu drehen. Und schaffte es – – beinahe. Blut spritzte, und rote Nebel erstickten Landrus Bewußtsein, machten ihn unempfänglich für die mörderischen Schmerzen.
* Schmerz hatte Landru betäubt, und Schmerz weckte ihn. Als der Schmerz zu einer Art Tier zu werden schien, das sich mit
Klauen und Zähnen an die Oberfläche seines Körpers zu wühlen begann, schlug Landru stöhnend die Augen auf. Und als hätte es nur des Übertretens jener Schwelle zwischen Besinnungslosigkeit und Wachsein bedurft, gewann der Schmerz in diesem Moment neue Macht. Durch feurige Schleier hindurch sah Landru eine Hand in seinem Blickfeld auftauchen. Sie näherte sich einer jener Stellen seines Gesichtes, die wie in Flammen stehend brannten, und die Hand schien jenes Feuer noch anfachen zu wollen. Landrus Rechte schnellte hoch. Seine Finger schlossen sich einer Eisenklammer gleich um den Arm seines Peinigers. Um einen schlanken, weichen, beinahe samtenen Arm … Ein spitzer Schrei lenkte Landrus Blick fort von der fremden Hand, hin zu einem fast hübsch zu nennenden Gesicht, dem auch das Erschrecken über Landrus plötzlichen Widerstand nichts von seinem Reiz nehmen konnte. Er sah in das Gesicht eines Mädchens, das auf eigenartige Weise kindlich und erwachsen in einem wirkte. Als wenn … Ein Vergleich, fast schon eine Erklärung dafür wollte sich in Landrus Gedanken drängen, doch die Stimme des seltsamen Mädchens ließ ihn die Idee vergessen. Sie flüsterte nur: »Du bist wach …«, aber ihre Stimme elektrisierte ihn, schlug ihn in Bann – so wie ihr Äußeres es im Grunde schon getan hatte. Beides wirkte auf schwer zu beschreibende Weise zerbrechlich. Sie machte einen so zarten Eindruck, daß in jedem, der ihrer ansichtig wurde, der Wunsch erwachen mußte, sie in den Arm zu nehmen, ganz vorsichtig, als könnte eine unbedachte, allzu heftige Berührung ihr wehtun. Ihr Anblick weckte Beschützerinstinkte. Man konnte nichts anderes wollen, als alles Ungemach von ihr fernzuhalten – als müßte man sie vor der Welt selbst in Schutz nehmen. Und genau diese Gefühle rief sie auch in Landru hervor.
Ihr Gesicht, ihr spürbares Wesen rührte in ihm an Dingen, die nie zuvor dagewesen waren. Sie waren zutiefst menschlich, menschlicher vielleicht als alles andere nur Denkbare. Wohlige Wärme füllte Landrus Brust und ließ ihn selbst die Schmerzen – nun, nicht völlig vergessen, aber zumindest als beinahe bedeutungslos erachten. So muß es sein, wenn die Menschen meinen, ihnen würde »warm ums Herz«, ging es ihm durch den Sinn. Und er genoß es – wie selten etwas zuvor in über tausend Jahren. Ihren Arm hatte Landru die ganze Zeit über nicht losgelassen. Jetzt ließ er ihre Hand deren unterbrochene Bewegung fortsetzen. Etwas angenehm Kühles linderte das Brennen seines Gesichtes. Gleichzeitig nahm er einen aromatischen Geruch wie von Kräutern wahr. »Was tust du da?« fragte Landru, heiser nicht vor Erschöpfung, sondern als brenne ihm diese Wärme, die er tief in sich spürte, selbst auf den Stimmbändern. »Ich behandle deine Wunden«, erwiderte sie mit einem zaghaften Lächeln, als verwundere sie seine Frage. Ihre Stimme allein schien ihm schon wie Balsam für seine Verletzungen. »Warum tust du das?« wollte er wissen. »Ihr habt mich in eine Falle gelockt, und nun …« Mit einem langsamen Schließen und Heben ihrer Lider bedeutete sie ihm zu schweigen. »Wir hielten dich für einen von ihnen«, erklärte sie dann. »Aber du bist – etwas anderes. Die Fallen wurden für sie gebaut.« »Für sie?« hakte Landru nach. »Wer sind sie?« Das Gefühl, dem Ziel seiner Suche näherkommen zu können, veranlaßte ihn, sich im Liegen auf die Ellenbogen hochzustützen. Doch noch im selben Moment vergaß er seine eigene Frage. Schmerz raste sengend durch jeden Nerv seines Körpers, und als
er nach einer Ewigkeit stöhnend die Augen wieder öffnete, sah er endlich auch die Wunde, die ihm links zwischen Rippen und Hüfte klaffte. Dunkelrotes Blut verkrustete die Ränder der Verletzung, die durch seine hastige Bewegung von neuem aufgebrochen war. Dort also hatte ihn einer der Pfähle schier aufgeschlitzt. Es hätte demnach nicht viel gefehlt, dann wäre ihm der Pflock in klassischer Art ins Herz gefahren … Glück im Unglück nannte man das wohl. Weniger glücklich, sondern regelrecht entsetzt war Landru indes über das bloße Vorhandensein der Wunde. Seine Selbstheilungskraft war demnach also auch versiegt. Die Verletzung würde auf natürliche Weise heilen müssen – auf natürliche und mithin langwierige und schmerzhafte Weise … Unendlich behutsam ließ Landru sich auf das harte Lager zurücksinken. Dabei nahm er sich endlich auch die Zeit, seine Umgebung wenigstens flüchtig mit Blicken zu inspizieren. Was er sah, war wenig erbaulich. Denn er befand sich offenbar in einer Art Gefängniszelle. Darauf ließ das aus Metall und Holz gefertigte Gatter, das eine Wand des Raumes ersetzte, schließen. »Wer seid ihr?« fragte Landru schließlich weiter, während das Mädchen fortfuhr, seine Wunden mit etwas kühlen Tüchern zu behandeln. »Und wo bin ich hier? Warum bin ich euer Gefangener?« »Weil wir nicht wissen, wer du bist«, beantwortete sie seine letzte Frage zuerst. »Obwohl … ich nicht glaube, daß eine Gefahr von dir ausgeht.« Wieder machte ihre wundervolle Stimme ihm die Schmerzen wenigstens für Sekunden vergessen. Wie gern hätte Landru sie seinerseits berührt, aber schon der Gedanke an die dazu notwendige Bewegung tat ihm weh. »Wo bin ich hier?« wiederholte Landru. »Jedenfalls in Sicherheit vor ihnen.« Wieder sprach sie von ihnen. Und wieder wollte Landru wissen,
wer sie wären. Diesmal zeichnete sich die Verwunderung unübersehbar in ihren verwirrend vielaltrigen Zügen ab. »Na«, setzte sie dann endlich an, »sie natürlich, die unser aller Leib und Leben wollen – und mehr noch als das …« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, erwiderte Landru. »Du scheinst doch seltsamer, als ich es angenommen hätte«, meinte sie. »Sag, wer bist du und woher kommst du?« »Das ist eine verdammt lange Geschichte.« »Verdammt«, wiederholte sie flüsternd. »Wie alles, wie wir …« Schritte wurden jenseits des Gatters laut, Schatten tauchten auf. »Eleya, du sollst dich nicht mit ihm unterhalten!« rief eine barsche Stimme. »Nur um seine Wunden sollst du dich kümmern, damit er uns Rede und Antwort stehen kann!« Das Mädchen schrak auf, als hätte es die Schritte zuvor gar nicht gehört, weil es zu tief in Gedanken versunken gewesen war. »Ihr dürft ihm nichts tun!« entfuhr es ihr, als die Tür des Verschlags geöffnet wurde und drei Männer eintraten. Im Zwielicht konnte Landru kaum etwas von ihren Gesichtern erkennen. Nur soviel wurde ihm klar: Auch diese drei Menschen wirkten auf jene eigentümliche Weise wie das Mädchen alt und jung zugleich. Als wäre ihre Jugend hinter ihren erwachsen scheinenden Zügen konserviert, wie gefroren in einem ganz besonderen Moment … »Ergreift ihn!« sagte einer von ihnen. Eleya wollte ihnen den Weg vertreten. »Ihr dürft ihn noch nicht mitnehmen«, protestierte sie. »Er ist noch zu schwach.« »Unsinn! Reden wird ja wohl können«, bekam sie zur Antwort und wurde unsanft beiseite gedrängt. Landru fühlte sich gepackt und von seinem Lager hochgezerrt. Jede Wunde seines Körpers brach von neuem auf und entließ flammenden Schmerz. Nebel wogten wieder vor seinem Blick, doch
während er hinausgeschleift wurde, sah er Eleyas Gesicht noch einmal – und seltsam klar, als schärfte ihm der Schmerz den Blick für sie. Ihr Gesicht … Es schien Landru in diesem Augenblick – bekannt. Er hatte es schon einmal gesehen, vor sehr langer Zeit. Vor über tausend Jahren …?
* Obwohl sie sich alle Mühe gaben, entschlossen und hart zu wirken, vermochten die drei Männer Landru nicht zu täuschen. Er konnte ihre immerwährende Angst spüren und wittern. Und er hatte kaum Zweifel daran, daß er es geschafft hätte, ihnen zu entkommen, wenn es ihm nur ein kleines bißchen besser gegangen wäre. So aber blieb ihm nichts anderes übrig, als sich von ihnen mitschleppen zu lassen. Zu seiner Verwunderung brachten sie ihn nicht ins Freie hinaus. Die höhlenartigen Wohnstätten schienen allesamt durch Tunnel miteinander verbunden zu sein und bildeten somit ein weitverzweigtes Netz, das die Felsen ringsum labyrinthartig durchziehen mußte. Die Löcher, wie Landru sie von draußen gesehen hatte, waren in der Tat kaum mehr als Lichtluken, durch die zumindest vage Helligkeit und Frischluft in die Bauten gelangte. »Wo bringt ihr mich hin?« fragte Landru seine »Leibgarde«. Zugleich nutzte er die Gelegenheit, sie einer flüchtigen, aber nichtsdestotrotz genauen Musterung zu unterziehen. Die drei in einfachste Gewänder gekleideten Männer machten auf ihn den Eindruck junger Burschen, denen jedoch die Spannkraft und Energie der Jugend fehlte. Weder waren sie sonderlich kräftig, noch konnte Landru etwas wie Aggressivität spüren. Angst schien ihre einzig wahre Triebfeder zu sein, alles andere war nur Gehabe, noch dazu nicht einmal sonderlich überzeugend geschauspielert.
»Das wirst du schon sehen«, wurde ihm geantwortet. »Wir haben einige Fragen an dich«, fügte ein anderer hinzu. »Und du hast hoffentlich ein paar gute Antworten parat.« »Sonst?« fragte Landru, während er versuchte, seiner Schmerzen wenigstens soweit Herr zu werden, daß sie sein Reaktionsvermögen nicht behinderten. »Abwarten.« Sie erreichten Bereiche des Höhlensystems, in die kein Tageslicht mehr drang. Blakende Fackeln schufen in unregelmäßigen Abständen flackernde Inseln, die manches Mal so weit voneinander entfernt lagen, daß dazwischen Dunkelheit nisten konnte. Die bleichen, fast schon totenblassen Gesichter der drei Männer legten für Landru den Schluß nahe, daß sie diese Höhlen selten verließen. Und nun, da er sie aus den Augenwinkeln weiter musterte, kamen auch sie ihm vage bekannt vor. Als hätte er sie schon einmal gesehen. Nicht in ihrer jetzigen Gestalt, sondern als – – Kinder? � »Sagt mir wenigstens, in welchem Teil der Erde wir uns befinden«, � bat er. »Erde?« »Teil der Erde?« Unverständnis klang in den Worten. Weiter wurde ihm nicht geantwortet. Weil sie an ihrem Ziel ankamen. Der Gang mündete in ein weitläufiges Felsenrund. An der anderen Seite befand sich ein halbrunder, aus Stein gefertigter Tisch, dahinter reihten sich Sitzgelegenheiten, während eine durchgehende Felsbank sich entlang der übrigen Wand zog. Landru wurde in die Mitte der freien Fläche geführt. Dort ließen ihn die drei Männer stehen und zogen sich zurück. »Was soll das werden?« fragte er über die Schulter. »Bin ich angeklagt?« In der Tat erinnerte ihn das Szenario an die archaische Version eines Gerichtssaals.
»Schweig!« Landru setzte schon zu einer weiteren Bemerkung an, als Schritte ihn ablenkten. Sie wurden jenseits der Wanddurchlässe hinter dem halbrunden Richtertisch laut, und schließlich kamen drei weitere Männer hervor. Sie ähnelten den dreien, die ihn hierher gebracht hatten; allein ihre Kleidung war ein wenig auffälliger. Zwar auch sandfarben und grau und somit eine gute Tarnung für jemanden, der sich in felsiger Gegend bewegte, aber diese Gewänder waren zusätzlich mit schmuckvollen Symbolen und Zeichnungen versehen. Schweigend nahmen die drei Männer hinter dem Tisch Platz. Und ebenso wortlos musterten sie Landru. Bis ihm ihre stieren Blicke schließlich unangenehm wurden und er das Wort ergriff. »Was wollt ihr von mir? Ich habe nichts getan, was eine solche Behandlung rechtfertigt!« »Wer bist du?« fragte der in der Mitte Sitzende. »Man nennt mich Landru. Wie lauten eure Namen?« »Lucius«, der Gefragte wies auf sich, dann auf die beiden neben ihm Sitzenden, »Gerard und Miguel.« Der letzte Name rührte an etwas tief in Landru, zupfte wie an einer imaginären Saite und ließ sie in schrecklichem Mißton klingen. Und auch die Gesichter dieser Drei kamen ihm irgendwie bekannt vor. Als kenne er sie aus einem anderen Leben, mit dem ihn, je größer der Abstand dazu wurde, zunehmend unangenehmere Erinnerungen verbanden. »Woher kommst du, der du dich Landru nennst?« wollte Lucius wissen. »Von weit her«, antwortete er ausweichend. Instinktiv spürte er, daß es nicht klug wäre, die Wahrheit zu erklären – zumal Landru sie selbst kaum verstand. Er mußte versuchen, selbst die Führung des Gesprächs zu übernehmen. Nur dann konnte er seinerseits mehr über diese Welt, diesen Teil der Welt und das, was darin vorging, erfahren.
»Wie nennt ihr das Land, in dem ihr lebt?« fragte er, bevor das Tribunal eine weitere Frage an ihn richten konnte. »Das Land?« wiederholte Lucius. »Was meinst du damit?« »Nun«, Landru vollführte eine umfassende Bewegung, »eure Heimat. Wie nennt ihr sie?« Lucius zögerte sekundenlang, dann sagte er: »Sie trägt keinen Namen. Sie ist es nicht wert, benannt zu werden. Und überdies – ein Ort ohne Namen ist schwerer zu finden.« »Was soll das Gerede?« mischte sich nun jener ein, den Lucius als Miguel vorgestellt hatte. »Wir haben uns nicht versammelt, um ihm Rede und Antwort zu stehen«, er wies mit dem Kinn abfällig zu Landru hin. »Er soll uns Antworten geben.« Gerard nickte. »So ist es.« Er richtete seinen seltsam glasigen Blick auf Landru. »Antworte also, Landru. Woher kommst du? Und hattest du Kontakt zu ihnen?« Da war dieses Wort wieder. Wer waren sie? »Ich weiß nicht, was ihr wollt«, erwiderte Landru deshalb. »Wer sind sie?« Ein Ausdruck von Furcht und Ekel schlich sich in die Züge der drei Männer vor ihm. »Er verstellt sich«, behauptete Miguel. »Es ist unmöglich, daß er nicht weiß, wer sie sind«, befand Gerard. Lucius nickte bedächtig. »Möglicherweise haben sie ihm die Erinnerung genommen«, meinte er. »Dann ist er ein Spion«, behauptete Miguel. »Sie haben ihn entsandt, um unseren Unterschlupf auszukundschaften!« »Das könnte gut sein. Sie sind zu allem fähig.« »Wer weiß, vielleicht hat er uns schon verraten«, befürchtete Gerard. »Sie mögen auf ganz besondere Weise mit ihm in Verbindung stehen, so daß es keiner persönlichen Begegnung bedarf, um Informationen auszutauschen.«
»Und wenn nicht«, sagte Lucius, »dann sollten wir verhindern, daß es geschieht.« Seine beiden Beisitzer nickten düster. »Verdammt, was redet ihr da?« fuhr Landru auf. »Ich habe keine Ahnung, wovon ihr sprecht! Ich weiß nicht, wer sie sind, und ich versichere euch, daß ich keinen wie auch immer gearteten Kontakt zu ihnen habe – ich schwöre es, bei allem, was mir heilig ist!« Lucius grunzte abfällig. »So? Was könnte einem denn heilig sein – in dieser Welt?« Er wiederholte Landrus alles umfassende Geste. Landru zögerte kurz und antwortete schließlich: »Mein Leben. Es ist mir heilig.« Wieder setzte er eine kurze Pause, ehe er hinzufügte: »Und das Leben eines jeden anderen.« Er staunte über seine eigenen Worte, die ihm wie von selbst auf die Zunge und über die Lippen drängten. Dennoch mußte er erkennen, daß sie seiner tiefen Überzeugung entsprachen. Und er erschrak kaum mehr darüber – über dieses neue Denken, das ihm zunehmend vertrauter wurde. »Hehre Wort. Aber eben doch nur Worte«, sagte Miguel. »Ein Leben gilt nichts in dieser Welt«, erklärte Lucius. »Wie könnte es also heilig sein – hier, wo Leben größere Verdammnis bedeutet als der Tod?« Landru verstand nicht wirklich, wovon Lucius sprach. Aber er spürte den Sinn hinter dessen Worten, ganz so, als gelte deren Bedeutung auch für ihn. Denn dieses neue Leben geriet ihm mehr und mehr zur Qual, mit jeder Minute, die er es zu führen verdammt war. »So steht unser Urteil also fest?« fragte Lucius die beiden Männer an seiner Seite. Sie nickten. »Urteil?« entfuhr es Landru erschrocken. »Von welchem Urteil sprecht ihr?« »Von deinem Todesurteil«, erwiderte Miguel lakonisch. »Aber«, setzte Landru keuchend an, »ich habe nichts getan! Ich habe euch nichts angetan!«
Er spürte selbst, daß er log – ohne konkret zu wissen, worin diese Lüge bestand. Aber die Sicherheit, mit der er es fühlte, entsetzte ihn. »Und du wirst keine Gelegenheit dazu finden«, sagte Lucius. Er winkte den drei Männern zu, die Landru hergeführt hatten und nun abwartend im Hintergrund standen. »Bringt ihn weg!« Wieder wurde Landru gepackt, doch diesmal setzte er sich zur Wehr. Nicht sehr heftig und nicht sehr lange. Sie mußten ihn nicht einmal sonderlich grob anfassen. Der Schmerz, der noch immer in Landrus Wunden pochte, arbeitete seinen Häschern in die Hände. Und ihn selbst erlöste er schließlich von der Angst um sein Leben. Um dieses Leben, das er einerseits haßte – und an dem er andererseits doch hing. Weil es alles bedeutete, was ihm noch geblieben war. Trotzdem es ihm kaum lebenswert schien.
* Wie ein Schatten schlich Eleya durch die Höhlen und Tunnel. Niemand bemerkte sie, und auch als sie schließlich ins Freie gelangte, wurde sie nicht beobachtet. Sie wußte, daß sie etwas Verbotenes tat, daß sie gegen das oberste Gesetz ihrer Gesellschaft verstieß. Nur den Spähern war es erlaubt, den Schutz der Höhlen zu verlassen. Wer es von den anderen trotzdem tat, riskierte den Tod – in zweierlei Hinsicht. Wenn er erwischt wurde, drohte ihm die ärgste Strafe – sofern sie seiner draußen nicht schon habhaft wurden. Sie. Eleya versuchte den metallenen Geschmack der Angst, der sich in ihrem Mund gesammelt hatte, hinunterzuschlucken. Doch er ließ sich nicht vertreiben, nicht so einfach. Dazu waren dieser Geschmack und das ihn verursachende Gefühl schon viel zu lange Teil von ihr – wie von jedem anderen ihrer Brüder und Schwestern auch. Seit Anbeginn.
Eleya konnte sich nicht an diesen Anbeginn erinnern. Sie wußte nicht, wie alles angefangen hatte – ihr eigenes Leben, die Geschichte ihres Volkes. Sie wußte nur noch, daß am Anfang Schmerz gewesen war. Vernichtender Schmerz, der aus Schwärze geboren war und sie in Finsternis gestürzt hatte, bis sie wieder ausgespien worden war – hierher, an diesen verdammten Ort. Andere waren gekommen, und ihre Gemeinschaft war gewachsen, obwohl sie ihre Zahl immer wieder dezimiert hatten. Schließlich hatten Eleya und ihresgleichen gelernt, sich zu verstecken, sich zu tarnen. Und bis zum heutigen Tag hatten sie diesen geheimen Ort nicht entdeckt. Das würde sich heute ändern. Denn nur aus diesem Grund hatte Eleya den Schutz der Höhlen verlassen. Um ihr eigenes Volk zu verraten. Sie hatte die Unterredung zwischen Lucius, Miguel und Gerard mit dem Fremden, der sich Landru nannte, mitangehört. Und wie schon zuvor hatte sie gespürt, daß ihnen keine Gefahr von ihm drohte. Sie wußte dieses Gefühl nicht zu begründen, aber es ließ sich nicht leugnen und verhärtete sich mit jedem Gedanken, den sie ihm widmete, zu fester Überzeugung. Jener Landru verdiente nicht den Tod. Im Gegenteil – Eleya ahnte, daß er etwas ganz Besonderes war. Sie hatte es gespürt, als sie ihn zum ersten Mal berührt hatte. Dieses sonderbare Gefühl war mit der Fortdauer ihres Zusammenseins nur gewachsen, genährt von etwas Unsichtbarem, das zwischen ihm und ihr bestanden hatte. Und sie wollte nicht, daß dieses ungewohnte, aber doch zutiefst angenehme Gefühl mit Landru starb. Sie wollte ihn retten. Auch wenn das hieß, ihr Volk dem Tod preiszugeben. Aber – verdiente es nicht den Tod? Mußte denen, die blind waren für jede Möglichkeit, die ihnen das Joch der Verdammnis abnehmen konnte, der Tod nicht letztlich Erlösung bedeuten?
Eleya stand auf dem höchsten Gipfel des Felsmassivs, in dem ihr Volk Zuflucht gefunden hatte. Dabei hielt sie sich sorgsam in der Deckung einiger Felsnasen, um von den Spähern nicht gesehen zu werden. Ihr Blick wanderte über das graue Firmament, erfüllt von banger Hoffnung. Was sie stets gefürchtet hatte, wünschte sie sich nun zu finden. Lange Zeit geschah nichts. Der Himmel blieb leer, düster und trostlos, wie er dieser Welt und den darauf vegetierenden Kreaturen gebührte. Dann – Bewegung! Weit entfernt, aber nicht zu übersehen. Schwebende Schatten wie aus geballter Finsternis. Eleyas Herz begann schmerzhaft heftig zu pochen. Sekundenlang zögerte sie noch zu tun, weswegen sie hergekommen war. Dann endlich ignorierte sie jeden Zweifel, streifte den mitgebrachten Bogen von der Schulter und legte einen der Pfeile aus ihrem Gürtel vor sich auf den Boden. Hastig schlug sie zwei Feuersteine gegeneinander. Funken sprühten, fraßen sich nach endlosen Sekunden in die umwickelte Spitze des Pfeils. Zögernd wuchsen die Flämmchen zu Flammen, drohten doch wieder zu verlöschen. Schnell schirmte Eleya das Feuer mit ihren Händen ab, dann, als die Feuerzungen zu Fingerlänge angewachsen waren, legte sie den Pfeil auf die Bogensehne. Zzzisssccchhh! Das flammende Geschoß raste himmelwärts. Eine glutiger Streif markierte die Flugbahn. Noch bevor er erlosch, war Eleya wieder hinabgetaucht in das Loch, durch das sie die Höhlen zuvor verlassen hatte. Zurück im Labyrinth des Felses versteckte sie sich in einem stillen Winkel. Jetzt konnte sie nur noch warten. Und hoffen. Darauf, daß ihr frevelhafter Einsatz sich lohnte. Und auf Vergebung.
* � Landru hatte die vergangenen Stunden wie im Fiebertraum zugebracht. Grauenhafte, sich einander stets übertreffende Visionen hatten ihn im Halbschlaf gepeinigt. Und als er endlich unsanft daraus erlöst wurde, war ihm kaum mehr klar, wer er war und wo er sich befand. Diese Erkenntnis brach erst mit Brachialgewalt in sein Denken, als sie ihn ans Ziel geschleift hatten. An den Ort seiner Hinrichtung. Der Felsenraum glich einem Dom. Nicht von der Größe des Dunklen Doms, aber immerhin hoch genug, daß die Decke dort oben in der Dunkelheit nurmehr zu erahnen war. In dem gewaltigen Rund hatten sich Männer und Frauen versammelt, deren Zahl Landru nicht schätzen konnte. Aber ihre Gesichter – Wieder verspürte Landru vage Vertrautheit, die ganz und gar unangenehm war – und ein höchst eigenartiges Gefühl in ihm weckte. Reue …? Die Menge scharte sich um eine freie Fläche inmitten des Raumes. Und in deren Mitte wiederum war dürres Holz aufgeschichtet. Aus dem Haufen ragte ein mehr als beindicker Holzpfahl. Ein Scheiterhaufen. Landrus Scheiterhaufen. Aber der rußgeschwärzte Fels ringsum die Hinrichtungsstätte bewies ihm, daß an dieser Stelle nicht zum ersten Mal todbringendes Feuer lodern würde. Andere mußten hier vor ihm verbrannt worden sein, und er fragte sich, ob dies das Schicksal eines jeden Fremden war, der das Pech hatte, hierher zu kommen. Vermutlich … Lucius, Miguel und Gerard standen etwas abseits der anderen. Ersterer winkte den Männern, die Landru hergeführt hatten, zu und bedeutete ihnen, den Gefangenen zum Scheiterhaufen zu bringen.
Landru ließ es geschehen. Eine seltsame Apathie erfüllte ihn und ließ ihn das Geschehen wie von der Warte eines Unbeteiligten aus beobachten. Sie banden Landru mit bereitliegenden Stricken, die offenbar aus Pflanzenfasern gefertigt waren, an den Pfahl, dann traten sie zurück. Dafür kam Lucius vor und stellte sich Landru gegenüber. »Bist du noch immer nicht bereit, uns dein Geheimnis zu verraten?« fragte er. »Ich habe kein Geheimnis«, erklärte Landru müde. Ein Raunen ging durch die Zuschauerreihen. »Macht nicht länger Aufheben um ihn!« rief jemand. »Laßt ihn brennen!« kam es von anderer Seite. Lucius nickte. »So sei es.« Wieder bedeutete er den Häschern, herzukommen. Sie trugen nun allesamt Fackeln in ihren Fäusten. Auf Lucius’ Zeichen hin senkten sie die Flammen und hielten sie an das Holz. Beinahe gierig stürzten sich die Feuer auf die Nahrung und fraßen sich hinein. Für Landru verschwand die Umgebung hinter einem wabernden Vorhang, derweil er der Todesangst harrte, die unweigerlich kommen mußte. Er spürte ihr Erwachen tief in sich wie das eines Tieres, das äonenlang geschlafen hatte. Und dann stürzte sich dieses Tier auf ihn, um ihn zu martern und schließlich zu zerreißen. Landru schrie, bis mörderische Hitze ihm selbst die Schreie auf den Lippen verbrannte. Was jenseits der Flammen geschah, davon bemerkte Landru nicht das Geringste.
* Sie kamen mit der Macht eines Orkans in die riesige Kaverne. Und sie brachten den Tod. Das Chaos, das augenblicklich ausbrach, war von unbeschreibli-
chem Ausmaß. Ebenso wie das Schlachten, das sie anrichteten. Der Sturm, den ihre Schwingen gebaren, fachten das Feuer des Scheiterhaufens weiter an, doch keiner der Versammelten interessierte sich noch für die Hinrichtung. Monströse Klauen schlugen feuchtknirschend in Fleisch. Das Brechen von Knochen übertönte das Knacken des brennenden Holzes. Angst- und Todesschreie übertünchten schließlich alles. Eleya beobachtete das Gemetzel aus ihrer Deckung heraus. Sie hatten ihr Zeichen erkannt und waren ihm gefolgt. Die Späher hatten es weder verhindern noch die anderen rechtzeitig warnen können. Tränen stiegen Eleya in die Augen, und ihre Kehle verkrampfte sich wie unter einem unsichtbaren Würgegriff. Keiner der ihren starb einen leichten Tod. Und keiner ergab sich ihnen wehrlos. Aber keiner setzte sich mit Erfolg zur Wehr. Wer es schaffte, länger Widerstand zu leisten, verlängerte lediglich seine eigene Qual. Wenn all dieses Grauen nicht völlig umsonst geschehen sein sollte, mußte Eleya jetzt handeln – bevor es vorbei war, ehe ihnen auch der Letzte zum Opfer gefallen war. Ein Ruck durchlief ihre zarte Gestalt. Dann tauchte sie hinein in das Chaos! Eleya eilte vorüber an Toten und Sterbenden, wich mit Urgewalt geführten Hieben aus, wurde doch von einer Klaue – eher zufällig denn beabsichtigt – getroffen und stürzte aufstöhnend zu Boden. Weiter! hämmerte es in ihr. Weiter! Steh auf! Ächzend rappelte sie sich hoch und lief weiter, in scheinbar unkontrolliertem Kurs, während um sie herum der Kampflärm tobte. Endlich erreichte sie ihr Ziel – den Scheiterhaufen. Den brennenden Schmerz ignorierend, trat und wühlte sie das brennende Geäst beiseite, bis sie eine schmale Gasse zum Pfahl hin geschaffen hatte.
Landru hing reglos in seinen Fesseln – eher tot als lebend, wie es schien. »Nein!« entfuhr es Eleya erschrocken. Sie eilte zu ihm und löste die ohnehin schon brüchigen Stricke. Ehe Landru zu Boden und damit in die Flammen stürzen konnte, fing sie ihn auf, ächzte unter seinem Gewicht. Alle Kraft mußte sie sammeln, um ihn nicht loszulassen. Ihn von hier wegzubringen, schien ihr unmöglich. War letztlich doch alles vergebens gewesen? Hatte sie ihr Volk umsonst verraten? »Wach auf«, flüsterte sie schluchzend. »Landru, bitte, so erhöre mich doch.« Ein Stöhnen wehte an ihrem Ohr vorüber, so leise, daß es nicht von dieser Welt zu kommen schien. »Landru!« rief Eleya, halb freudig, halb ängstlich. »Was …?« »Hilf mir«, flehte Eleya, als sie sah, daß er die Lider hob. »Komm, wir müssen fliehen.« »Wie …?« stöhnte Landru heiser, kaum verständlich. »Später«, stieß Eleya hervor. »Nun komm.« Mühsam setzte Landru einen Fuß vor den anderen. Das Toben um ihn her bekam er nur schemenhaft mit, in Fragmenten, deren Sinn ihm kaum bewußt wurde. Einzig Eleyas spürbare Erregung fachte seinen eigenen Willen an, gab ihm zumindest genug Kraft, ihre Bemühungen, ihn fortzubringen, zu unterstützen. Wie durch ein Wunder oder als bewegten sie sich in etwas wie einem Tarnfeld konnten sie diesen grauenvollen Ort unangefochten verlassen. Hinter ihnen erstarben die Schreie und der Lärm des Schlachtens. Still wurde es dennoch nicht. Landru vernahm Laute, die ihm immer noch entsetzlich vertraut waren. Gieriges Schlürfen und Schmatzen …
* Wochen später? Nie zuvor hatte Landru ein weibliches Wesen so behutsam behandelt wie Eleya. Seine Hände hielten ihr Gesäß so vorsichtig umfaßt, als könnte er ihr wehtun – was ihn nie interessiert hatte in jenem anderen Leben, das unendlich weit entfernt schien, besonders in Momenten wie diesen. Seine Bewegungen und die ihren waren eins, ein Rhythmus, der sie vereinte, beinahe miteinander verschmelzen ließ. Ihre Stimme war das Instrument, das in diesem Rhythmus erklang, zauberhafte Musik in Landrus Ohren. Jede ihrer unbewußten Gesten deutete er richtig, ließ sich ganz und gar ein auf das, wonach ihr verlangte, stellte eigene Wünsche zurück und machte sich zum Diener ihrer Lust und Befriedigung. Sie hatte es ihm dutzendfach gedankt in der Zeit, die seit seiner Genesung verstrichen war, und sie würde es wieder tun. Dennoch erreichte Landrus Zufriedenheit nicht jenen Grad, den er erwartet hätte. Etwas stand dieser Entwicklung entgegen: sein Wissen um Eleyas Vergangenheit – um ihre Herkunft, mit der seine eigene so eng verknüpft war. Und dieses Wissen machte es Landru unmöglich, all das, was ihm mit Eleya widerfuhr, als Glück zu betrachten. Vielmehr schien ihm auch dies nur ein weiterer Teil der Verdammnis zu sein, in die er gestürzt worden war. Mittlerweile hatte Landru erkennen müssen, daß es nicht die Erde war, auf die es ihn verschlagen hatte. Nicht einmal in einer noch so fernen Epoche konnte die Welt der Menschen ein Gesicht wie dieses gehabt haben.
Denn inzwischen wußte Landru auch, wer sie waren. In seiner Welt hätte er sie Vampire genannt. Hier jedoch waren sie nichts anderes als Monstren, unter deren Knute alles hier zum Leben Verdammte stöhnte und litt. Eleyas Bewegungen veränderten sich. Landru spürte, daß sie kurz vor dem Gipfel höchster Wonne stand, und forcierte sein eigenes Bemühen, um diese höchste Lust gemeinsam mit ihr zu erlangen. Wieder wurde ihm deutlich, wie sehr sie beide eins waren. Und doch legte diese Erkenntnis einen bitteren Geschmack auf seine Zunge. Ermattet lagen sie schließlich nebeneinander auf dem Lager, das sie sich im Schutz eines Waldes gebaut hatten. Vor Tagen, hatte Landru in Gedanken anfügen wollen, doch Tage waren etwas, das es hier nicht zu geben schien. Der Übergang zwischen Tag und Nacht war in dieser Welt so fließend, daß ein Unterschied kaum festzustellen war. Anfangs hatte Landru noch versucht, die verstreichende Zeit zu schätzen. Inzwischen hatte er diese Versuche eingestellt. Zeit war hier kein meßbarer Faktor und somit ohne Bedeutung. Landru hoffte nur, daß seine Verbindung mit Eleya in dieser Zeitlosigkeit nie enden würde. Obwohl ihr Anblick ihm mitunter wie ein glühender Dorn ins Herz fuhr. Wenn er die Erinnerung an damals wachrief … »Kommt es nicht dem gleich, was man in deiner Welt ein Wunder nennt?« fragte sie nach einer Weile leise, während ihre Finger sanft seinen Körper zu erkunden begannen. In deiner Welt … Auch dieser Ausdruck betrübte Landru, beschämte ihn fast. Er hatte Eleya eine Geschichte über seine Herkunft aufgetischt, in der die Wahrheit die allerkleinste Rolle spielte. Im Grunde stimmte nicht mehr daran, als daß er tatsächlich aus einer anderen Welt stammte.
Wie die Lüge doch zur Geißel eines Menschen werden kann, befand Landru mit müdem Lächeln. »Was meinst du?« fragte er dann, ebenso flüsternd wie Eleya, als wollte er die andächtige Stille um sie her nicht stören. »Daß wir hier sein dürfen, miteinander.« Er nickte. »Ja, das kommt wohl einem Wunder gleich. Daß wir ihnen entkommen konnten, scheint mir noch jetzt unmöglich.« »Irgendeine Macht war uns wohlgesonnen«, meinte sie. Das kann ich mir nicht vorstellen, dachte Landru bitter. Vielleicht wird es sich letztlich noch als Strafe erweisen, daß wir entkamen. Für mich ist es das beinahe jetzt schon … Irgendwie war es ihnen damals – vor Wochen oder schon Monaten? – gelungen, in den Schutz einer entfernten Höhle zu fliehen. Dort hatte Eleya ihn aufopfernd gepflegt und selbst über seinen Schlaf gewacht, ohne von seiner Seite zu weichen. Das Band zwischen ihnen war stärker und stärker geworden in dieser für Landru mitunter schrecklichen Zeit, da er geglaubt hatte, den Schmerzen nicht länger widerstehen zu können. Mehr als einmal war er nur zu bereit gewesen, dem Lockruf in ein dunkles Reich zu folgen, weil daraus nur für ihn hörbar das Versprechen kam, daß er aller Schmerzen ledig sein würde, wenn er sich nur fallen ließ. Jenes Band, das zwischen ihm und Eleya bestand, hatte ihn daran gehindert. Und irgendwann waren seine Wunden verheilt, langsam, aber stetig. Narben blieben natürlich zurück, aber ihr Anblick gemahnte Landru nur immer wieder an Eleyas Aufopferung, und diese Erinnerung erfüllte ihn jedes Mal aufs Neue mit Dankbarkeit – die doch, wie alles, was ihn mit Eleya verband, stets getrübt wurde durch jene Erinnerung, die sehr viel weiter zurückreichte. Hinein in ein anderes Leben. Bis an den Anfang dieses anderen, vergangenen Lebens …
* … im Jahr 727 menschlicher wie vampirischer Zeitrechnung. Weder wußte ich, woher ich kam, noch wie ich an diesen Ort gelangt war. Ich war es, und das zu wissen genügte. Ich hatte nie näher über meine Herkunft nachgedacht – weder zu diesem, noch zu einem späteren Zeitpunkt. Ich hatte gewußt, wer ich war und was zu tun mein Lebenssinn war. Und dieses Wissen war von solch immenser Bedeutung gewesen, daß neben ihm kein Platz gewesen wäre für irgend etwas anderes. Zu jenem Zeitpunkt, da mit mir eine neue Epoche in der Folge der Hüterschaft angebrochen war, hatte ich das Gewicht des Kelches noch gespürt. Erst später war es mir vertraut geworden und schließlich wie zu einem Teil meiner selbst. Daß ich gerade erst erwacht war aus äonenlangem Schlaf, war mir seinerzeit nicht bewußt. Die Hintergründe der Hüterschaft waren mir erst sehr viel später offenbart worden – oder vielmehr hatte ich den Schleier von den Geheimnissen gerissen. Und damit das Ende der Alten Rasse eingeläutet … Zu dieser Zeit aber stand ich am Anfang. Am Beginn meiner eigenen Zeit, in der ich als Verwalter des Grals und in der Maske des Hüters von Sippe zu Sippe reisen sollte. Eine Erinnerung an ein Vorher existierte nicht in mir. Die Macht, die uns einst zu Hütern bestellt hatte, hatte sie uns mit Bedacht nicht gewährt. Auf daß keiner der unseren auf den Gedanken käme, sich dem Gesetz der Nachfolge zu widersetzen … Ich hatte es dennoch getan. Narr, der ich war! Damals jedoch, im Jahre 727, wußte ich nichts von alledem. Und als ich den Kelch zum ersten Mal als Hüter einsetzte, war ich
mir dieser Premiere nicht bewußt. Für mich schien es, als hätte ich nie etwas anderes getan, als hätte sich das Unheiligtum nie in anderer Hand als der meinen befunden. Und im Grunde war es auch so. Denn zu jener Zeit war ich nicht Landru – sondern der Hüter. Das Gesicht hinter der Maske mochte zwar mit jeder Übergabe des Amtes wechseln, aber die Maske machte sie alle gleich in den Augen derer, die den Hüter als Gast ihrer Sippen empfingen. Der Hüter blieb stets nur der Hüter – ein Wesen, das die Identität derer leugnete, die seine Maske trugen. Und so war auch ich zu meiner Zeit nichts anderes als der Mächtigste aller Vampire – im Grunde ein Gefangener, weniger frei als jene, die ich aufsuchte. Aber diese Pflicht war mir nie als Joch erschienen, denn sie bescherte mir die Gunst und Verehrung eines ganzen Volkes. Die Stadt, der mein erster Besuch galt, hieß Konstantinopel, in einer Region gelegen, die damals Kleinasien geheißen ward. Ich fand mich in ihrem steinernen Gewucher und ihrem lauten Treiben zurecht, als hätte ich ein Leben darin verbracht. Ich wandelte allein im Schutze der Nacht, trotzdem es nicht erforderlich gewesen wäre. Aber ich genoß ihren schwarzseidenen Schutz wie eine Liebkosung auf meiner kalten Haut. Und ich begegnete in den Gassen auch während der Nacht genügend Menschen, deren Verhalten mir meine eigene Macht vor Augen führte. Sie wichen mir aus, gaben mir den Weg frei und wandten die Blicke ab von mir, obgleich sie nicht wußten, wer ich war. Hätten sie es gewußt, würden sie schreiend das Weite gesucht – oder sich auf mich gestürzt haben, um mir den Garaus zu machen. Oh, ich wünschte in jenen Nächten, sie hätten es getan! Mir stand der Sinn danach, meiner gewaltigen Kraft freien Lauf zu lassen. Als ahnte ich aller fehlenden Erinnerung zum Trotz, daß es das erste Mal gewesen wäre.
In jeder Nacht nahm ich mir eine Gefährtin, die ich den nächsten Tag nicht schauen ließ. Denn auch dies zählte zu den Aufgaben des Hüters: Dienerkreaturen nicht im Übermaß zu erschaffen. Zum einen oblag dies der Verantwortung der Oberhäuptern der jeweiligen Sippen; zum anderen wäre die Herrschaft unserer Rasse nicht allzu lange verborgen geblieben, hätten wir unseren Keim in jedem unserer Opfer zur Entfaltung gelangen lassen. Und schließlich hätte sich unser Volk auf diese Weise über kurz oder lang selbst seiner Nahrung beraubt. Denn auch jene, die unser Biß sterben und hernach zu anderem Leben auferstehen ließ, brauchten Blut zum Überleben; und tumb wie sie mitunter waren, nahmen sie es sich mit wesentlich weniger Vorsicht, als wir selbst es taten. So brach ich den Weibern, mit denen ich nächtens das Lager teilte, stets den Hals und überließ die Toten der Strömung des Bosporus. Einmal, ich erinnere mich noch gut, beobachtete ich am Morgen, wie einem Fischer ein ganz besonderer Fang ins Netz ging. Das Entsetzen darüber mag der arme Teufel bis an sein Lebensende nicht vergessen haben … Freilich blieb meine Ankunft in Konstantinopel nicht lange geheim. Sie verbreitete sich unter den Angehörigen der hiesigen Vampirsippe, und schließlich erfuhr auch deren Oberhaupt von meiner Anwesenheit. Es dauerte nicht lange, bis er nach mir schicken ließ. Und er tat es auf eine Weise, die mir seine Ehrbezeugung bewies. Zwar war das Fleisch der Botin seit langem kalt und tot, ihre Schönheit hatte dies indes nicht im mindesten beeinträchtigt. Ihr Schoß mochte kühl sein wie der Rest ihres noch immer herrlichen Leibes, aber es gab keinen Wunsch, den sie mir nicht von den Augen abgelesen hätte. Und an Wünschen mangelte es mir beileibe nicht! Im nachhinein scheint es mir in der Tat fast so, als hätte ich seinerzeit einen gewaltigen Nachholbedarf gehabt, was sexuelle Praktiken anging – und ich hatte in dieser einen Nacht gewaltig aufgeholt! Anderntags führte mich die Dienerin, deren Namen ich längst ver-
gessen habe, zu ihrem Herrn. Er residierte in einem herrschaftlichen Haus, das wie zur Verhöhnung menschlicher Religion vom Schatten einer Moschee berührt wurde. Kayel empfing mich inmitten dampfender Schwaden in einem tongefliesten Raum, der in seiner Größe gewiß mit der Moschee nebenan konkurrieren konnte. Wir gaben uns stundenlang allen Vorzügen dieses Raumes hin, in dem es buchstäblich an nichts mangelte, was unserer Rasse zur Sinnesfreude gereichte, ehe wir auf den Grund meines Besuchs zu sprechen kamen. »Die Zahl der meinen ist gesunken seit deinem letzten Besuch«, sagte Kayel schließlich. Auch er ließ sich von der Maske des Hüters täuschen, vermutete noch immer den gleichen in diesem höchsten Amt unseres Volkes. Nun, wie auch hätte er die Tarnung durchschauen sollen? Die Maske lag einer zweiten Haut gleich über meinem wahren Gesicht und verlieh mir die Züge jenes Hohen, der den Gral vor mir verwaltet hatte. Und, wie gesagt, zu jener Zeit war mir nicht bewußt, daß dies meine erste Einkehr bei Kayel war. »Wurde man denn auf eure Herrschaft über die Stadt aufmerksam?« fragte ich, ein klein wenig alarmiert. Denn es war nicht nur Aufgabe des Hüters, mit dem Kelch neuen Nachwuchs zu schaffen, sondern auch darüber zu wachen, daß keine Sippe oder einzelne Vampire durch eigenmächtiges Handeln das Geheimnis unserer Existenz gefährdeten. Doch Kayel winkte ab. »Die üblichen Probleme«, wiegelte er ab. »Es wird immer den einen oder anderen Heißsporn in unseren Reihen geben, der leichtsinnig ist und sich allzu weit vorwagt. Sie verstehen nicht, daß Langlebigkeit und Unsterblichkeit zwei verschiedene Dinge sind – und bezahlen ihre Unfähigkeit zu begreifen mit dem Leben.« Ich nickte mürrisch. »Ja, solche Narren wird es immer wieder geben«, wagte ich da-
mals zu sagen. Oh, wie höhnisch scheinen mir diese meine eigenen Worte heute! Denn ich selbst wurde schließlich zum größten dieser Narren! Damals jedoch lag dieser Zeitpunkt noch tausend Jahre in der Zukunft … Kayel nannte mir die Zahl neuer Kinder, die ich mit dem Kelch taufen sollte. Ich handelte ihn noch ein wenig herab – zum einen, weil Kayel das Feilschen selbst noch im schwarzen Blute lag, zum anderen, weil ich keine Sippe der Welt über Gebühr vergrößern durfte. Die Zahl ihrer Mitglieder mußte der Größe einer Stadt angepaßt sein, damit ihr Dasein den Sterblichen nicht auffallen konnte. »Nun gut«, gab Kayel sich schließlich zufrieden. »Ich werde umgehend veranlassen, daß man nach dieser Zahl von Kindern sucht und sie herbeischafft.« Er klatschte in die Hände, woraufhin zwei Vampire herbeieilten. Kayel erteilte seinen Auftrag, dann entließ er die beiden. »Ich denke, heute Nacht dürfte alles für die Taufe bereit sein«, sagte er dann. »Bis dahin«, er beschrieb mit der Hand einen Halbkreis, »fühle dich wie daheim in meinem Hause.« Ich nickte lächelnd. Und winkte ein Mädchen zu mir, das mich anfangs mit dem scheuen Blick eines Rehs musterte. Ich ließ mir Zeit damit, die Schüchternheit in ihren dunklen Augen von leidenschaftlichem Feuer verzehren zu lassen. Und schließlich brachte ich auch dieses Feuer zum Verlöschen. Freilich erst nachdem das in meinen Lenden niedergebrannt war.
* Die Angst flackerte in den Kinderaugen in solchem Maße, daß ihr Lodern mir beinahe hell genug schien, diesen Raum zu beleuchten. Das taten sie natürlich nicht. Statt dessen war das unterirdische Gewölbe in den stets fließenden Schein Dutzender Kerzen getaucht.
Aber obwohl fast drängende Enge herrschte, zeichneten sich lediglich zehn Schatten an Mauerwerk und Boden ab. Die der Kinder. Keines von ihnen war älter als fünf. Und keines würde sechs werden. Nicht in diesem Leben jedenfalls. Mein Blick tastete ihre Reihe ab, auf dem letzten der Kinder verharrte er. Ich war überrascht, und das mußte sich selbst in der Miene meiner Maske widerspiegeln, denn Kayel trat zu mir. »Du scheinst erstaunt«, sagte er. Ich nickte. »In der Tat. Es ist das erste Mal, daß du mir ein – Mädchen zur Taufe bringst.« In mancherlei Hinsicht war Kayel allen Unterschieden zu den sterblichen Bewohnern Konstantinopels zum Trotz deren Gepflogenheiten und Sitten sehr verhaftet. Ein Mädchen oder eine Frau galten wenig in dieser Gesellschaft, und daß er einem weiblichen Geschöpf die Ehre der Kelchtaufe zuteil werden ließ, verwunderte mich, entsprach es doch gar nicht seiner Art. Er zuckte die Schultern. »Nenn es einen Versuch«, meinte er dann. »Es interessiert mich, wie sich ein weiblicher Vampir in unsere Sippe einfügen wird. Zudem –« Kayel zögerte kurz und fuhr dann mit verschlagenem Lächeln fort: »– möchte ich wissen, zu welcher Leidenschaft eine Vampirin fähig ist. Du verstehst?« Ja, ich verstand. Kayel war seiner menschlichen und untoten Gespielinnen, die er sich jederzeit auserwählen konnte, überdrüssig. Nach Jahrhunderten, während derer ihm jedes Weib stets ohne Zögern zu Willen gewesen war, gelüstete ihn nach Neuem. Er wollte erfahren, wie es war, eine Frau zu erobern. Und so hob auch ich die Achseln und nahm seinen sonderbar anmutenden Wunsch hin.
»Nun, dann laßt uns beginnen«, sagte ich. Meine Rechte verschwand in der ledernen Tasche, die ich an einem Riemen über der Schulter trug und die außer meiner Heimaterde, auf der ich zu ruhen und mich zu erholen pflegte, auch den Kelch beinhaltete. Ein Raunen wehte durch das Gewölbe, als meine Hand wieder mit ihm zum Vorschein kam. Sein Anblick weckte nicht nur in mir Ehrfurcht. Wie aus einem Mund hatten auch die versammelten Vampire der Stadt jenem Gefühl Ausdruck gegeben, das der Anblick des Unheiligtums in ihnen schürte. Den Lilienkelch mit beiden Händen umfassend, wandte ich mich – nachdem ich den anderen etwas Zeit gegeben hatte, den Gral hinreichend zu bewundern – an Kayel. Mit einem Nicken bedeutete ich ihm zu tun, was das Ritual verlangte. Er erwiderte meine Geste. Dann hob er die linke Hand. Mit kaum hörbarem Knirschen wuchs der Nagel seines Zeigefingers binnen zweier Sekunden zur Kralle. Und die stieß Kayel sich in die Pulsader des rechten Armes. Ein schwarze Perle schien aus der Wunde zu wachsen, wurde immer größer und schließlich, angetrieben durch den zähen Schlag seines Herzens, pulste ein dunkler Strom aus Kayels Handgelenk. Ehe auch nur ein Tropfen davon verlorengehen konnte, war ich mit dem Kelch zur Stelle und fing das schwarze Rinnsal auf. Bis das Unheiligtum schließlich fast randhoch gefüllt war. Wieder gab ich Kayel stumm ein Zeichen, woraufhin er seiner Selbstheilungskraft nicht länger Einhalt gebot. Der Blutfluß versiegte, die Verletzung schloß sich, wie aus dem Unsichtbaren vernäht. Als dies geschehen war, drehte ich mich um, diesmal den angstvoll wartenden Kindern zu. Sie wußten nicht, welches Schicksal ihrer harrte. Aber sie ahnten, daß es ein furchtbares sein würde. Nun, aus ihrer momentanen Sicht mochten sie damit durchaus richtig lie-
gen. Bald schon würden sie jedoch dankbar sein für die Gnade, die der Kelch und ich, der Hüter, ihnen angedeihen ließen. Allesamt waren sie während der vergangenen Stunden entführt, ihrer vertrauten Umgebung entrissen worden. Ich empfand nichts dabei, zumindest kein Bedauern oder etwas in der Art. Im Gegenteil, ein paar dieser Kinder mochten nicht einmal ein richtiges Zuhause ihr eigen genannt haben, zerlumpt wie sie aussahen. Insofern zogen sie sogar einen weiteren Nutzen aus der Kelchtaufe – sie würden neben ewigem Leben auch eine Heimstatt erhalten. Ich lächelte bei diesem Gedanken. Den Kindern indes schien mein Lächeln etwas ganz und gar anderes zu bedeuten. Sie erschauerten darunter, und hätten die hinter ihnen stehenden Vampire sie nicht daran gehindert, wären sie wohl zurückgewichen, als ich mit dem Kelch vor sie trat. »Das Mädchen zuerst«, verlangte Kayel hinter mir in vor Erregung heiserem Ton. »Wie du willst«, erwiderte ich. Es war egal, an welchem Ende der Reihe ich mit dem Ritual begann. Das Ergebnis blieb sich gleich. Am Ende würde unser Volk um zehn Nachkommen reicher sein. Sie würden rasch bis zu einem bestimmten Zeitpunkt altern, und von jenem Moment an würde nur noch ungestillter Durst ihren Alterungsprozeß fortschreiten lassen. Ein Schritt brachte mich hin zu dem Mädchen. Dunkle Locken ringelten sich um ihr Gesicht, so klein, daß es in meiner Hand verschwinden mußte, hätte ich danach gegriffen. Ihre Augen schienen mir schon jetzt wie dunkle Löcher, die darauf warteten, mit neuem Ausdruck gefüllt zu werden. »Auf welchen Namen soll ich sie taufen?« fragte ich über die Schulter Kayel. Er antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Kira.« Diesen Namen schien er seit langem in seinem nachtdunklen Herzen getragen zu haben. Nun endlich sollte er mit Fleisch und Blut er-
füllt werden – mit totem Fleisch und schwarzem Blut. Mit den Fingern der Linken hob ich das Kinn des Mädchens sacht an, mit der Rechten setzte ich ihr den Kelch an die Lippen. Mein Blick berührte die Oberfläche des ihren, erstickte das angstvolle Flackern. »Wie ist dein Name?« fragte ich das Kind ruhig. Sie schluckte, ehe sie antwortete. »Fortan soll dies nicht länger dein Name sein. Du heißest ab heute Kira«, fuhr ich fort, während ich den Lilienkelch vorsichtig anhob und kippte, so daß die Schwärze darin erst zäh gegen ihre leicht geöffneten Lippen schwappte und schließlich als dünner Strom in ihren Mund floß. Ohne Widerwillen schluckte das Mädchen Kayels Blut. Und starb einen Tod, den sie wenig später wieder abstreifte, als neues Leben, Leben unserer Art an seine Stelle trat. Ich hatte meine erste Kelchtaufe vollzogen. Und die erste Vampirin Konstantinopels geschaffen. Aus einem Mädchen namens – – Eleya.
* Landru konnte nicht mehr sagen, wann es ihm bewußt geworden war. Vielleicht weigerte er sich aber auch nur zu akzeptieren, daß das Wissen um Eleyas Identität von Anfang an in ihm gewesen war, wenn auch verborgen wie unter einer Kruste und tief in seinem Innersten. Inzwischen jedoch vermochte er es sich selbst gegenüber längst nicht mehr zu leugnen. Eleya, die ihn in dieser Welt vor dem Tod gerettet hatte und zu seiner Gefährtin, mehr noch: zu seiner Geliebten geworden war, war jenes erste Kind, das er seinerzeit in Konstantinopel mit dem Lilien-
kelch getauft hatte. Oder wenigstens doch war sie die Seele jenes Mädchens, die nach dem tödlichen Trunk aus dem kindlichen Körper vertrieben und in tiefste Verdammnis gestürzt worden war. Und eine Macht, die nichts unversucht ließ, um Landru zu quälen, hatte ihr nun und hier menschliche Gestalt verliehen und sie Landrus Weg kreuzen lassen. Und all die anderen, die Eleyas Volk gewesen waren und die sie zu seiner Rettung an ihre Todfeinde verraten hatte – sie waren die wieder fleischgewordenen Seelen all der anderen Kinder, die Landru als Hüter aus dem Kelch hatte trinken lassen, um sie zu Nachkommen der Alten Rasse zu machen. Ob es irgendwo noch andere ihrer Art gab, hatte Eleya ihm nicht sagen können. Ihre Erinnerung war verkümmert, hatte womöglich nie existiert. Was Landru nicht sonderlich bedauerte. Zwar war es unwahrscheinlich, daß sie ihn als jenen erkannt hätte, dem sie ihr Vegetieren in Verdammnis zu verdanken hatte – aber wer wußte schon zu sagen, zu welch perfiden Gemeinheiten die hinter allem stehende und wirkende Macht noch fähig war? Landru versuchte, möglichst selten daran zu denken, mit wem er es in Eleya tatsächlich zu tun hatte. Statt dessen trachtete er nach nichts anderem, als sich an ihrer Gesellschaft festzuhalten, aufzurichten. Denn schließlich schien sie neben ihm das einzige Geschöpf zu sein in dieser Welt, von der Landru noch immer nicht wirklich wußte, was und wo sie war. Das hieß – ganz allein waren sie nicht. Denn es gab noch immer jene vampirischen Ungeheuer. Und weitere Gefahren, die überall lauern konnten, wie Landru inzwischen hinreichend hatte feststellen müssen. Mörderische Kreaturen hatten sich ihnen in den Weg gestellt. Monstren, wie der Schöpfer sie in seiner schlimmsten Stunde nicht ersonnen haben konnte.
Landru indes hatte sie alle besiegt. Es war nie leicht gewesen – aber auch nie unmöglich. Und er hatte im Laufe der Zeit begriffen, welcher Sinn dahintersteckte: Jeder neue Kampf bedeutete ihm körperliche Pein und Angst um Eleyas Wohl. Und an dieser seiner Qual schien sich jemand aus dem Unsichtbaren zu laben. Jemand oder etwas … Wieder verstrich eine Zeitspanne, die Landru nicht zu schätzen vermochte. Er wanderte mit Eleya von einem Zufluchtsort zum nächsten, auf der Suche – – wonach eigentlich? Landru wußte, daß er die Antwort einmal gekannt hatte, daß er einmal ein Ziel gehabt hatte. Doch inzwischen, auf diesem endlosen Marsch durch die Ödnis, hatte er es aus den Augen verloren. Ihre Wanderschaft selbst kam ihm mit jeder Meile sinnloser vor. Und irgendwann verließ ihn aller Antrieb. Wozu noch irgendwohin gehen, wenn es doch nichts gibt, was sich zu erreichen lohnt? fragte er sich im stillen, müde und lustlos. Landru stellte sich diese Frage genau in dem Moment, da Eleyas Stimme die Hülle aus Lethargie um ihn herum durchschnitt. »Sieh, Landru! Da vorne! Was ist das?« Sie stand einige Schritte entfernt, selbst in der Erschöpfung noch wunderschön. Ihr ausgestreckter Arm wies in die Ferne. Landru ließ seinen Blick der Richtung folgen bis zum Horizont. »Eine Stadt …?« flüsterte er, ungläubig, als traute er seinen eigenen Augen nicht mehr.
* Die Hölle, das sind die anderen. Jean-Paul Sartre
Eine Stadt. Und zugleich die erschreckendste Monstrosität, die Landru je gesehen hatte! Wohin er auch blickte, nichts entsprach irgendwelchen Dingen, die ihm auch nur vage vertraut waren. Diese Stadt war eine Ansammlung völlig fremdartiger Konstruktionen, deren doch unleugbare Existenz so unmöglich schien, daß allein der Versuch, sie als gegeben zu akzeptieren, gefährlich für den Verstand war. Dennoch wandte Landru den Blick nicht ab. Weil der Anblick jener, die diese Stadt bevölkerten, noch vielfach entsetzlicher war! Nur wenige unter ihnen wirkten wenigstens annähernd humanoid. Die meisten konnten nichts anderes sein als die Ausgeburten pervertierter Phantasie, die eine nicht minder perverse Macht zum Leben erweckt haben mußte. Viele der Gestalten wirkten asymmetrisch, und es kam einem abartigen Wunder gleich, daß in der Lage waren, sich fortzubewegen – auf ihren drei oder mehr Gliedmaßen. Einige indes konnten es offenbar nicht. Sie ritten auf seltsamen Tierwesen, mit denen sie – zum Teil jedenfalls – regelrecht verwachsen waren. »Welch ein Ort …«, entfuhr es Landru voller Ekel. Eleya ging mit den staunenden Augen eines Kindes an seiner Seite durch die Gassen. Im ersten Moment sah Landru schier entsetzt zu ihr hin, dann legte sich sein Schrecken. Er brachte Verständnis für Eleyas Bewunderung auf. Sie hatte nie etwas anderes kennengelernt als jene Siedlung, in die sie sich mit den anderen Kelchseelen zurückgezogen hatte – oder zumindest erinnerte sie sich an nichts anderes. Jener Ort mußte für sie das Maß aller Dinge sein. Und im Vergleich mit dessen Trostlosigkeit mußte ihr diese Stadt in gewisser Weise wie das Paradies erscheinen – voll von tausenden Eindrücken, und jeder Blickwechsel entdeckte Neues; pulsierendes Leben, wohin man auch
sah, unzählbar, und kein Wesen glich dem anderen. »Ist es nicht großartig?« Eleya lächelte Landru verzückt zu und drehte sich freudig im Kreis. Die bösen Blicke der beiden Kreaturen, die sie dabei anrempelte, nahm sie nicht einmal wahr. Landru zog sie hastig fort, ehe die beiden ihren vieläugigen Blicken Worte oder gar Taten folgen lassen konnten. »Was …?« machte Eleya verwirrt. »Schon gut. Komm mit.« Landru beeilte sich, in der Menge unterzutauchen, ohne Eleya loszulassen. Links und rechts ragten bizarre Gebäudefassaden himmelhoch empor. Das Firmament schmolz hoch über ihnen zu einem schmalen grauen Streifen Helligkeit zusammen. Entsprechend düster war es hier unten im Gewirr der Gassen. Landru hatte Mühe, weiter als ein paar Meter zu sehen, zumal ihn die meisten der Passanten an Größe übertrafen – oder zumindest Teile von ihnen … »Wohin willst du?« fragte Eleya. Landru wollte schon die Schultern zucken, hielt dann aber inne und streckte die Hand aus. »Dorthin.« Es erwies sich als nicht sonderlich schwierig, an den von Landru bezeichneten Ort zu gelangen. Sie mußten sich nur vom Strom der Masse mitreißen lassen. Denn die meisten der Kreaturen um sie herum hatten das gleiche Ziel.
* Landru hatte sich dessen nie gerühmt, aber während seiner Zeit als Hüter und auch danach, als er Amt und Kelch verlor, hatte er die wahrhaftig übelsten Spelunken der Erde kennengelernt – und in einigen davon sogar Spaß gehabt. Das Etablissement aber, das er nun mit Eleya betreten hatte, übertraf alles bisher Gesehene und Erlebte!
Durch einen eher unscheinbaren Eingang waren sie in einen riesigen Amüsierbetrieb gelangt. Und die Vergnügungen, denen man hier in jeder Ecke in anderer Weise nachging, hätten selbst jenen Landru angewidert, der er einmal gewesen war. Nun, da er mit der Unzulänglichkeit und dem Empfinden eines Menschen geschlagen war, drehte sich ihm schier der Magen um ob der überall praktizierten Perversionen. Eleya indes – Landru sah nur kurz zu ihr hin und seufzte. Nun ja, ihr fehlte wiederum jede Vergleichsmöglichkeit, und die Bedeutung des Wortes abartig mochte ihr nicht geläufig sein … Landru hielt beinahe gehetzt Ausschau nach einem Bereich dieser »Amüsierhölle«, wo es zumindest halbwegs zum Aushalten war. Er entdeckte etwas, das seinem Bild einer Bar oder Theke wenigstens annähernd gleichkam, und setzte sich mit Eleya in diese Richtung ab. Dort angelangt, wurden ihnen unaufgefordert zwei tönerne Becher hingestellt, deren Inhalt Landru lieber nicht näher untersuchte. Unzweifelhaft bewegte sich darin etwas Lebendiges … Eleya nippte von ihrem Becher und quittierte das Geschmackserlebnis mit wohlwollender Miene und einem weiteren Schluck. »Nicht übel«, befand sie, woraufhin Landru beinahe übel wurde – zumal, als er sah, wie ihr Hals sich unter mehr als nur ihres Schluckens bewegte … »Küß mich«, verlangte sie denn auch prompt. »Bin ich irre?« lehnte er angewidert und entsetzt in einem ab. »Wieso wolltest du hierher, wenn es dir doch offenbar nicht gefällt?« fragte sie nach einer Weile, in der sie ihn und das Treiben um sie her beobachtet hatte. »Ich dachte, man käme vielleicht mit jemandem ins Gespräch«, antwortete er, während er den Blick unablässig wandern ließ. »Und worüber wolltest du mit wem reden?«
»Mit jemandem, der mir mehr über sie erzählen kann als du.« »Du bist immer noch an ihnen interessiert?« wunderte sich Eleya. »Warum glaubst du mir nicht einfach, daß man ihnen besser nicht nahekommt und froh sein sollte, wenn sie einem nicht nahekommen?« »Weil …«, begann Landru und seufzte dann. »Ach, das ist eine lange Geschichte.« Und in Gedanken fügte er hinzu: Außerdem entspricht sie nicht meiner Geschichte, wie ich sie dir erzählt habe. Eleya musterte ihn mit unverhohlenem Mißtrauen. »Hast du am Ende doch mehr mit ihnen zu schaffen, als du mich glauben machen wolltest?« Ums Haar hätte Landru genickt. Gerade noch beherrschte er sich und verwandelte den Ansatz der Bewegung in eine Unverfänglichkeit. »Nein, nein«, wiegelte er ab. »Ich interessiere mich einfach nur für sie. Nenn’ es Abenteuerlust oder …« »Wahnsinn.« »Vielleicht auch das.« Im Moment jedoch sah Landru als größten Wahnsinn all das an, was sich um sie herum abspielte. »Wieviel?« Landru schrak aus seinen Gedanken. Die Stimme war laut wie Donner direkt an seinem Ohr aufgeklungen. Hastig wandte er den Kopf – und fuhr augenblicklich zurück! Das Gesicht des anderen war eine Ansammlung ledriger Hautfalten und – wülste, in der weder Augen noch Nase recht zu erkennen waren. Nur das klaffende Maul war nicht zu übersehen – ebensowenig wie die doppelten – und nadelspitzen! – Zahnreihen darin. »Bitte?« versetzte Landru verwirrt, nachdem er sich von seinem ersten Schrecken halbwegs erholt hatte. »Wieviel?« wiederholte die Scheußlichkeit.
»Wieviel was wofür?« wollte Landru wissen. Ein dumpfes Grollen, eindeutig Ausdruck zur Neige gehender Geduld, schlug ihm inmitten einer stinkenden Atemwolke entgegen. »Wieviel willst du für dein Weib haben?« fragte der andere dann und wies mit seiner hornigen Klaue auf Eleya. »Oh.« Landru flüchtete sich in ein unverbindliches Lächeln. »Sie ist nicht verkäuflich. Tut mir leid.« »Ich mach’ dir einen guten Preis.« »Ich sagte schon …« »Ein faires Angebot!« »Bedaure, aber …« »Ich laß dir dein Leben, wenn du sie mir freiwillig gibst!« Landru wiegte wie abschätzend den Kopf. »Das wäre in der Tat ein akzeptabler Handel …« »Landru!« schrie Eleya auf. »… aber ich fürchte, es wird trotzdem nichts daraus. Wir müssen nämlich leider gehen, ganz dringend.« Er lächelte dem anderen ein weiteres Mal entschuldigend zu, faßte nach Eleyas Hand und wandte sich mit einer geschmeidigen Drehung zum Gehen. Nur brachte er die Bewegung nicht ganz zu Ende. Weil eine schwere Pranke ihn stoppte, indem sie schmerzhaft auf seine Schulter schlug. »Du wirst allein gehen müssen«, meinte das Monstrum. In der Zwischenzeit war man zumindest im engeren Umkreis auf ihren Disput aufmerksam geworden. Deutlich mehr Augenpaare, als es der Zahl der ihnen zugewandten Gesichtern nach eigentlich hätten sein dürfen, beobachteten den Fortgang der sich anbahnenden Auseinandersetzung mit genüßlichem Interesse. »Das wäre aber unhöflich, nicht?« sagte Landru. »Man läßt sein Mädchen schließlich nicht einfach stehen.« »Ich werde mich mit Hingabe um sie kümmern.« »Was hältst du davon, wenn ich mich um dich kümmere?« fragte
Landru. »Hm? Aaarrrggghhh!« Landrus neuerliche Körperdrehung war kaum mit den Augen zu verfolgen gewesen, so schnell hatte er sie vollführt. Und er hatte Glück gehabt! Sein hochgerissenes Knie traf den anderen an einer empfindlichen Stelle – vielleicht an der einzigen, die er besaß. Der Faltengesichtige sackte zusammen. Landru warf sich kurzerhand gegen den Ring der Schaulustigen, Eleya mit sich zerrend und hoffend, daß man sie durchlassen würde. Seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Die Meute wollte sich nicht um das zu erwartende Spektakel – und nichts anderes würde es sein, wenn der Runzlige Landru auseinandernahm – betrügen lassen. Johlend schleuderten sie ihn und das Mädchen zurück in den Halbkreis, den sie in Windeseile um die beiden Kontrahenten herum gebildet hatten. Der andere erholte sich von dem Treffer erschreckend schnell. Und sein Zorn über Landrus Desinteresse an dem vorgeschlagenen »Handel« konzentrierte sich nun ganz und gar auf Landru selbst. Der drängte Eleya hinter sich und stellte sich dann mit ausgebreiteten Armen und in den Knien federnd dem Angriff. Der andere mochte um ein Vielfaches stärker sein als Landru, und seine Wut mochte seine Kraft noch potenzieren. Aber er war langsam. Landru hatte keine Mühe, unter dem Schwinger des anderen wegzutauchen und seinerseits in den Mann zu gehen. Seine ungestüme Attacke ließ Faltengesicht zurücktaumeln, und sofort hakte er seinen Fuß zwischen die Beine des Gegners. Schwer schlug der andere zu Boden. Aber er blieb nicht liegen. Im Aufstehen sprang er Landru entgegen, mit vorgestreckten Armen. Doch der schwerfällige Körper schien wie gegen unsichtbaren Widerstand zu kämpfen. Landru ließ ihn ins Leere laufen, verlän-
gerte den Sprung des anderen noch mit einem Tritt, der ihn mit einer Wucht gegen die Theke krachen ließ, daß dahinter etliches klirrend zu Bruch ging. Sofort setzte Landru nach und rammte dem Gegner den angewinkelten Ellbogen in den Nacken. Entweder war der Kerl unter seiner Elefantenhaut ein ganz empfindsames Bürschchen, oder aber Landru hatte einfach nur einen weiteren seiner wunden Punkte getroffen. In jedem Fall stürzte der andere nieder, zertrümmerte dabei noch eine Sitzgelegenheit mit seinem Gewicht und blieb reglos liegen. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte sich Landru in Eleyas Richtung – und erstarrte! Zwei Kerle und sechs Arme hielten das entsetzt dreinschauende Mädchen fest. Ein anderer richtete das Wort an Landru, wobei er auf den Ausgeknockten hinabwies: »Wir möchten sein Angebot gern erneuern.« Landru brachte seine Lage zähneknirschend auf den Punkt. »Verdammt!«
* »Bei den Hohen – was ist das?« Landru schrie und riß entsetzt die Augen auf, deutete mit ausgestrecktem Arm über die Köpfe der Kreaturen, die Eleya gepackt hielten, hinweg, und irgendwie brachte er auch noch das Kunststück fertig, zu erbleichen. Es war einer der ältesten Tricks überhaupt. Aber manchmal sind die alten Dinge die besten. Es funktionierte. Die Typen, die Eleya ergriffen hatten, und die meisten der Umstehenden wandten die Gesichter ruckartig in die Richtung, in die Landru zeigte – und wo rein gar nichts Bemerkenswertes oder gar
Erschreckendes zu sehen war. Landru wartete nicht, bis die anderen das begriffen hatten. Ein hastiger Schritt brachte ihn zu Eleya. Ein heftiger Ruck befreite sie aus den Klauen der Unheimlichen. Gemeinsam nutzten sie die Verblüffung derjenigen, die einen Ring um sie gebildet hatten, und brachen durch. Weit kamen sie trotzdem nicht. Denn so unterschiedlich die hier versammelten Gestalten auch sein mochten – die Aussicht auf Gewalt schien sie zu solidarisieren. Drei oder vier Kreaturen, die sich ihnen in den Weg stellten, konnten Landru und Eleya noch ausweichen – an der nächsten, rund anderthalb mal so groß wie Landru und gut und gerne doppelt so breit, scheiterten sie. Das haarige Ungetüm stand wie ein Fels und quittierte Landrus Versuch, ihn beiseite zu stoßen, mit dröhnendem Gebrüll. Und es klang nicht schmerzvoll, sondern nur zutiefst wütend. Im ersten Moment jedenfalls. Im zweiten änderte sich die Tonart. Zwar brüllte das Monstrum auch jetzt nicht vor Schmerz, sondern allenfalls vor Überraschung, aber das war Landru herzlich egal. Wichtig war nur, daß der Kerl fiel wie ein gefällter Baum! Zugleich wurde Landru auf einen anderen Schrei aufmerksam, in dem sich Kampfeslust und Triumph zu einer ohrenbetäubenden Mixtur vermengten. Ein Schatten schwang dicht über ihren Köpfen hinweg, dessen Füße das zottelige Ungeheuer gerade niedergestoßen hatten. »Was war das?« entfuhr es Eleya. »Offenbar jemand, der zur Abwechslung mal auf unserer Seite steht«, gab Landru zurück. Ihr unbekannter Retter ließ das Seil, an dem er sich quer durch den Raum geschwungen hatte, fahren und stürzte sich mitten in den Pulk ihrer Verfolger. Allein sein Aufprall riß drei oder vier nieder;
den anderen setzte der Fremde augenblicklich mit Tritten und Hieben und einer stockähnlichen Waffe zu. Schreie gellten, Blut spritzte. »Laß uns verschwinden«, hauchte Eleya, »schnell, solange es noch geht.« »Nein«, erwiderte Landru. »Ich kann ihn nicht alleine lassen, wer er auch sein mag. Er riskiert sein Leben für uns, und ich tue dasselbe für ihn.« »Du bist verrückt!« »Natürlich. Nach dir.« Landru blinzelte seiner Gefährtin zu, hauchte ihr eine Kußhand hin – und stürzte sich ins Getümmel! Allein den anderen kämpfen zu sehen, gab Landru die Energie, wenigstens zu versuchen, ihm in nichts nachzustehen. Er prügelte sich ebenso kompromißlos wie sein namenloser Partner mit den Gegnern und setzte alles, was sich irgendwie anbot, als Waffe ein. Zwischendurch riskierte er immer wieder einmal einen Blick auf seinen Helfer in größter Not. Ein Humanoider, wenn auch eine höchst abenteuerliche Gestalt. Eine Art lederner Rüstung kleidete ihn, ließ aber genügend Lücken, um feststellen zu können, daß sein Körper sehnig und muskulös war. Sein dunkles Haar wehte im Kampf wie die Mähne eines Löwen, sein Gesicht war hart geschnitten und wirkte – zumal jetzt, da es verzerrt war – brutal und doch auch interessant. Ein aufgerissenes Maul raste Landru entgegen. Seine Faust stoppte es. So heftig, daß er das Splittern von Zähnen spüren konnte. Den Schwung des Angreifers nutzte Landru, ihn über sich hinwegzuhebeln und zwei weiteren Gegnern in den Weg zu schleudern. »Wir sollten uns allmählich aus dem Staub machen«, rief ihm sein unbekannter Partner zu, während er mit dem spitzen Ende seines Pfahls ein drittes Nasenloch in das Gesicht eines Kontrahenten stanzte.
»Dein Vorschlag hat was für sich«, meinte Landru. Er hatte eben die Stabilität eines Stuhls erprobt – der Rücken des Gegners hatte sich als unnachgiebiger erwiesen. »Dann los! Und vergiß dein Mädchen nicht!« Landru nahm Eleyas Hand und zog sie mit sich, dem anderen nach. Der wies auf eine Treppe, die zur ersten der ineinander verschlungenen Galerien des Etablissements führte. Ihre Art zu kämpfen hatte ihnen einigen Respekt verschafft, so daß sich ihnen kaum noch Gegner in den Weg stellten. Die wenigen, die es trotzdem taten, erledigten sie buchstäblich im Vorbeigehen. »Sollten wir nicht besser versuchen, hier herauszukommen?« warf Landru ein, als der Fremde sie immer höher hinauf führte. »Tun wir doch.« Der andere zeigte nach oben, wo sich in der Decke eine Lüftungsöffnung befand – allerdings so weit entfernt, daß sie schlicht nicht erreichbar war. »Was immer wir tun, wir sollten es schnell tun!« rief Eleya. Sie hatte einen Blick zurückgeworfen. Unter ihnen formierte sich die Gegnerschaft neu. Verletzter Stolz schien ihnen eine mächtige Triebfeder zu sein. Sie kamen die Treppen hoch – und sie taten es ganz offensichtlich nicht, um die Angelegenheit mit einem Handschlag und einem Drink beizulegen! »Keine Panik«, beruhigte sie der Namenlose. Von einem seiner Gurte hakte er ein dünnes Seil los, an dessen Ende ein kleiner Anker befestigt war. Das Seil kurz gefaßt, ließ er den Anker wirbeln und schließlich in die Höhe rasen. Zielsicher flog das mehrhakige Metallstück durch das Lüftungsloch und verkantete sich draußen irgendwo mit hörbarem Klong! Mit affenartiger Geschicklichkeit kletterte der Fremde an dem Seil empor und war Sekunden später durch die Deckenöffnung verschwunden. Im nächsten Augenblick tauchte sein verwegenes Gesicht aber schon wieder über dem Rand auf. »Haltet euch daran fest!« rief er und ließ das Seil in ihre Richtung
schwingen. »Was hat er vor?« fragte Eleya ängstlich. »Vertrau ihm«, riet Landru. »Was bleibt mir anderes übrig?« Sie griffen nach dem Seil, wickelten es um ihre Hände. Das Brüllen der Gegner hinter ihnen wurde laut und lauter. Schon konnten sie deren Schritte auf der Galerie hören. Erste Arme und Klauen reckten sich nach ihnen. Da ließ sich der Fremde, scheinbar in selbstmörderischer Absicht, durch die Deckenöffnung fallen! Augenblicke später erkannte Landru, daß auch er das Seil noch in Fäusten hielt und zusätzlich um seine Körpermitte geschlungen hatte. Und dann wurden Landru und Eleya auch schon in die Höhe gerissen! Hinter ihnen gingen die ersten Attacken ins Leere, während sie wie in einem Expreßlift dem Lüftungsloch zurasten. Das Gegengewicht und die Sturzgeschwindigkeit des Fremden verhalfen ihnen zu diesem rasanten Abgang. Durch das Loch und auf das Dach zu steigen war schließlich das kleinste Problem. Landru ließ das Seil nicht los, befestigte es an einer Dachaufbauten, so daß ihr Retter ebenfalls wieder zu ihnen hochklettern konnte. Sekunden später hatte er es geschafft. »Verdammt, soviel Spaß hatte ich lange nicht mehr«, grinste er, kaum schneller atmend. »Danke.« Landru streckte ihm die Hand hin, und er schlug ein. »Warum hast du dich so für uns eingesetzt?« wollte Landru wissen. Der andere zuckte die Schultern, unverändert grinsend. »Ihr habt mir gefallen«, sagte er leichthin. »Im Gegensatz zu den meisten anderen Typen da unten. So, genug Höflichkeiten ausgetauscht. Laßt uns verschwinden.«
Der Fremde wies über die Dächer der Gebäude, die fast eine Welt für sich bildeten. Eine Welt, die zumindest unübersichtlich genug war, um darin untertauchen zu können. Als der andere sich schon zum Gehen wenden wollte, hielt Landru ihn an der Schulter zurück. »Für eine Höflichkeit muß noch Zeit sein. Wie heißt du?« »Tepes. Vlad Tepes.« Seine Hand schlug klatschend auf die pflockartige Waffe, die er zwischenzeitlich in einem Lederfutteral verstaut hatte. »Man nennt mich auch den Pfähler.«
* »So, du möchtest also mehr über diese Typen erfahren, die du – wie nanntest du sie noch gleich?« »Vampire«, antwortete Landru. »Vampire, ja.« Vlad Tepes nickte und ließ sich Landru gegenüber auf das Lager fallen, das aus Tierhäuten und – pelzen gefertigt war – wie auch seine Kleidung. Über die Dächer der Stadt hatte der Pfähler seine beiden neugewonnenen Freunde in seinen Unterschlupf gebracht. Auf halbem Wege etwa hatten sie ihre Verfolger abgeschüttelt, aber Tepes hatte trotzdem noch ein paar Haken geschlagen, um ganz sicher zu gehen. Entsprechend weit war der Weg gewesen, und entsprechend erschöpft fühlte Landru sich jetzt. Dankbar hatte er die dargebotene Erfrischung angenommen – wenn auch nicht ohne sich vorher zu vergewissern, daß nichts Lebendes oder auch Totes darin schwamm. Vlads Versteck befand sich im obersten Stockwerk eines hohen Gebäudes, nicht mehr als ein schmutziger Verschlag mit kärgstem Mobiliar. Der Gestank, den Landru draußen vor der Tür im Treppenhaus hatte ertragen müssen, legte die Vermutung nahe, daß es in den tiefer gelegenen Etagen nicht anders aussah als hier – eher noch
erbärmlicher. Der Geruch hatte ihn geradezu aufdringlich an die stickige Luft in einer seit langem überbelegten Gruft erinnert. »Nun, das trifft sich ja hervorragend«, sagte Vlad Tepes schließlich. »Ach ja?« machte Landru. Tepes nickte. »Ja. Denn du hast quasi den Experten für alle Vampirfragen gefunden.« Er schlug mit der flachen Hand gegen seine Brust. Das Wort Vampir betonte er jedoch, als entstammte es einer ihm fremden Sprache. »Wie nennst du diese Biester denn?« fragte Landru. »Asanbosam, Bajang, Mulo … Es gibt ein Dutzend oder mehr Namen. In jeder Gegend nennt man sie anders.« »Und was macht dich zum Experten?« »Ich habe mich der Jagd nach ihnen verschrieben.« Wie liebkosend fuhren Vlads Finger über seine Pfahlwaffe. »Was hat dich dazu gebracht?« wollte Landru wissen. Tepes zuckte grinsend die Schultern. »Es muß wohl eine Art alter Schuld sein, die ich damit zu begleichen habe. Sünden abbüßen und all das – du verstehst?« »Ja, nur zu gut«, antwortete Landru düster. »Warum bist du so scharf auf die Biester?« fragte der, den sie im Leben wie im Tode den »Pfähler« nannten – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. »Ich habe meine Gründe«, erwiderte Landru. Er sah wenig Sinn darin, Tepes davon zu erzählen, was ihm in der Illusion des Dunklen Doms in Aussicht gestellt worden war. »Erzähl mir von ihnen.« Der Pfähler atmete tief ein. »Tja, wo soll ich da anfangen?« Er überlegte sichtlich. Dann begann er: »Sie ernähren sich vom Blut ihrer Opfer, aber das wirst du sicher wissen. Diese Opfer suchen sie sich gern in abgelegenen Gegenden und kleinen Siedlungen. Sie meiden Städte wie diese«, – er wies mit dem Daumen über die
Schulter – »weil sie hier auf Gegner treffen könnten, die ihnen vielleicht überlegen wären. Manchmal veranstalten sie regelrechte Treibjagden. Sie töten ihre Beute dann nicht auf der Stelle, sondern nehmen sie mit. Vermutlich füllen sie ihre Vorratskammern mit den armen Geschöpfen auf. In dieser Festung muß es grauenhaft zugehen …« Landru horchte alarmiert auf. »Festung? In welcher Festung?« »Die Biester residieren in einer sagenumwobenen Bergfestung. Manche sagen auch, es wäre eine riesige Stadt, die diese … Vampire sich in dem Berg gebaut haben«, erklärte Vlad Tepes. »Wo liegt diese Festung oder Stadt?« »Keine Ahnung. Ich war noch nie dort. Es heißt, niemand, der nicht befugt ist, könnte sie betreten. Und niemand von denen, die es durften, hat sie je wieder verlassen.« Der Begriff Festung weckte tief in Landru noch unbenennbare Assoziationen. Es war, als spräche ein instinkthafter Sinn darauf an. »Ich muß dorthin.« Die Worte kamen ihm wie von selbst über die Lippen. »Das steht schon seit langem auch auf meiner Liste«, sagte Vlad Tepes. »Warum hast du es nie versucht?« »Weil mir bisher der richtige Partner dazu fehlte«, erwiderte der Pfähler mit hartem Grinsen. »Gut«, nickte Landru. »Wie können wir es schaffen?« Er war in diesem Augenblick froh darüber, daß Eleya kurz nach ihrer Ankunft hier in Schlaf gesunken war. Sie wäre ganz und gar nicht mit seinen Plänen für die nächste Zukunft einverstanden gewesen. »Nun«, begann Vlad, »es gibt eine Möglichkeit. Ab und zu werden Gäste dorthin eingeladen, wenn man es so ausdrücken möchte.« »Wie kommt man an so eine Einladung?« »Indem man die Kämpfe in der Arena überlebt.«
Landru starrte sein Gegenüber fragend an. »Daß die Bestien in der Stadt nicht nach Opfern jagen bedeutet nicht, daß sie nicht hierher kämen. Es werden Kundschafter von der Festung entsandt, und sie veranstalten in den Arenen der Stadt große Kämpfe. Die Sieger dieser Schlachten haben schließlich die zweifelhafte Ehre, die Festung betreten zu dürfen.« Unglaube zeichnete sich in Landrus Miene ab. »Wer sollte so töricht sein, sein Leben im Kampf aufs Spiel zu setzen, nur um es dann an die Vampire zu verlieren?« »Oh«, machte Vlad Tepes. »Es gibt genügend Narren, die meinen, es würde sich zu sterben lohnen – für eine Nacht mit der Herrin dieser Bestien.« »Herrin?« »Herrin, Königin, Herrscherin …«, sagte Vlad achselzuckend, »nenn sie, wie du willst. Niemand weiß Genaueres über sie. Angeblich führt sie das Regiment über diese Biester. Von geradezu unvorstellbarer Schönheit soll sie sein. Aber niemand hat sie je mit eigenen Augen gesehen – zumindest hatte keiner von ihnen mehr Gelegenheit, von seiner Begegnung mit ihr zu berichten. Womöglich ist sie auch nur eine Legende, eine Art Sagengestalt, mit deren Geschichte man diese Idioten zu ködern versucht.« Landru schüttelte langsam den Kopf. »O nein. Es gibt sie. Ich bin ganz sicher, daß sie existiert.« Und ich weiß auch, wie sie aussieht, fügte er in Gedanken hinzu, während vor seinem geistigen Auge das Bild einer atemberaubend schönen jungen Frau aus dunkelster Erinnerung erstand. Tiefgrüne Augen, wehendes schwarzes Haar, ihr Körper die Sünde selbst … Landru zerbiß ihren Namen zwischen den Zähnen. Zwischen immer noch stumpfen Zähnen.
*
»Ich sollte dich hassen für deine Torheit.« Eleyas seit jeher gläsern wirkende Augen schienen vollends zu zerfließen. Etwas wie ein dunkler Schatten verdüsterte ihre zarten Züge. Ihr Flüstern ging fast unter in dem Johlen und Lärmen, das von draußen zu ihnen hereinströmte und die Katakomben wie stürmische Meeresbrandung erfüllte. »Ich muß es tun. Irgendwann wirst du es verstehen.« Landru wußte, daß seine Worte nicht mehr als eine Floskel waren. Die Lüge hinterließ einen gallebitteren Geschmack auf seiner Zunge. Eleya würde nie Gelegenheit haben, es zu verstehen. Denn von dem Moment an, da es soweit sein konnte, würden sie nicht länger ein Paar sein. Landru nahm sie in die Arme und zog ihren zerbrechlichen Leib an sich, so innig, als wäre es das letzte Mal. Und vielleicht würde es ja tatsächlich das letzte Mal sein. Es war keineswegs sicher, daß er und Vlad Tepes die Arena lebend wieder verlassen würden. Die Kämpfe da draußen wurden auf Leben und Tod geführt. Und während sie auf ihren ersten »Auftritt« warteten, hatte man schon etliche Verlierer leblos an ihnen vorbeigeschleift, die ihnen zumindest an Größe überlegen gewesen waren. Hätte der Pfähler sich nicht so siegesgewiß gegeben, würde Landru vielleicht sogar schon einen Rückzieher gemacht haben, um nach einer anderen Möglichkeit zu suchen, in die Festung und damit zu ihr zu gelangen. So aber fühlte er sich von Vlads verwegen-prahlerischem Gehabe gestärkt. Und es wurde ihm eines bewußt: Er mochte zwar nicht mehr der sein, der er einmal gewesen war, aber er war immer noch Landru! Und vor diesem Namen allein hatte sich einmal ein ganzes Volk verneigt. »Reiß dich los, Freund, wir sind dran.« Tepes’ Hand schlug auf Landrus Schulter. Wortlos schob er Eleya von sich und wandte sich zum Gehen. Nach ein paar Schritten dreh-
te er sich noch einmal nach ihr um. »Kommst du mit?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte es nicht mitansehen müssen.« »Deine Freundin versteht es, einem Mut zu machen«, bemerkte Vlad. Sie verließen die düsteren Katakomben und traten hinaus in die Arena. Einem ungewissen Schicksal entgegen.
* Das Toben des Publikums draußen auf den Rängen um die Arena bedeutete Eleya schiere Qual. Es schmerzte ihr in den Ohren – und traf sie noch viel tiefer. In der Seele. Und sie war nichts anderes, war ganz und gar Seele. Und so füllte der Schmerz ihre körperliche Hülle aus, fraß daran bis hin zur letzten Faser. Landru und Vlad waren ihren Blicken längst entschwunden, und die Veränderungen in Tonfall und Lautstärke des Geschreis in der Arena hieß, daß die beiden sich längst schon in den Kampf gestürzt hatten. Eleya wußte nicht, was sie tun würde, wenn Landru nicht zurückkehrte. Er war zu ihrer Erfüllung, war ihr Leben geworden. Jeder ihrer Gedanken befaßte sich seit ihrer ersten Begegnung stets mit ihm. Was vor der Zeit mit Landru gewesen war, hatte sie beinahe schon vergessen, zumindest aber verdrängt. So wie Vergangenes immer schon ohne Bedeutung für sie gewesen war. Ihr Volk zu opfern, um Landru retten und seine Liebe zu gewinnen, hatte sich gelohnt. So sah Eleya die Dinge heute. Daran zu denken tat ihr nicht mehr weh. Vielmehr schien ihr das gebrachte Opfer
fast zu gering in Vergleich zu dem, was sie dafür bekommen hatte – ein neues, ein endlich sinnerfülltes Dasein. Mit diesem Wissen wäre sie bereit gewesen, noch ganz andere Opfer zu zollen. Und wenn es irgendwann erforderlich wäre, würde sie ihr eigenes Leben für Landru geben. Denn was könnte erfüllender sein als in der Gewißheit zu sterben, dem geliebtesten Wesen damit den größten Dienst erwiesen zu haben? Im Moment jedoch fürchtete Eleya, daß es zu diesem Liebesbeweis nie kommen würde. Weil Landru selbst im Begriff war, sein Leben fortzuwerfen – ohne jeden Sinn. Was kümmerten ihn die Monstren, die er selbst Vampire nannte? Warum konnte er nicht einfach froh darum sein, ihnen nicht begegnen zu müssen, ungeschoren zu bleiben, ein Leben in Frieden und Zufriedenheit führen zu dürfen? Eleya ahnte es. Wußte, daß die Antwort tief in ihrem Innersten verborgen war. Und hoffte, daß sie es auf ewig bleiben würde … Um dem von draußen in die Katakomben flutenden Lärm zu entkommen, zog Eleya sich weiter in deren schattenerfüllte Tiefen zurück. Ihr Vorstellungsvermögen verknüpfte mit dem Geschrei und den Kampflauten furchtbare Bilder, und jedes davon hatte Landrus Tod zum zentralen Inhalt. Allmählich nahm der Lärm ab. Mit jeder Gangbiegung, die Eleya hinter sich ließ, verlor er an Macht. Ihre Angst indes blieb nicht zurück, folgte ihr wie ein Schatten. Nur war es nicht mehr die Angst um Landru, die in und an ihr nagte. Diese Angst war sehr viel älter. Eleya hatte sie lange nicht verspürt. Die Angst vor ihnen. Und nie war diese Angst begründeter gewesen als hier und jetzt.
* � Dunkle Flecken verliehen dem Boden eine bizarre Maserung. Blut verschiedenster Färbungen hatte den Staub getränkt, und Landru konnte sich rühmen, einen großen Teil davon vergossen zu haben. Das meiste vom anderen Teil ging auf Vlad Tepes’ Konto. In ihrem ersten Kampf hatten sie beide als krasse Außenseiter gegolten. Zu groß, zu mächtig waren jene erschienen, die ihnen als Gegner in die Arena geschickt worden waren. Entsprechend hatte sich das blutgeile Publikum auf Seiten ihrer Widersacher gestellt. Doch als schließlich deren Blut geflossen war, hatte ein Umschwung in der Gunst der Zuschauer stattgefunden. Erste Anfeuerungsrufe hatten Landru und Vlad gegolten, immer mehr waren mit eingefallen. Landru wußte im nachhinein nicht mehr zu sagen, wann auch die letzten Zuschauer das Lager gewechselt hatten. Ebensowenig konnte er sich erklären, wie Vlad und vor allem er selbst es geschafft hatten, all die mörderischen Kämpfe zu überstehen – wenn auch nicht völlig heiler Haut. Das Blut, das seine Haut verklebte und dort, wo es schon angetrocknet war, spannen ließ, war nicht nur das seiner gefallenen Kontrahenten. Manchmal war es Landru vorgekommen, als könnte er wieder über seine alten Kräfte und Fähigkeiten verfügen, so kompromißund mühelos hatte er seine Gegner niedergemacht. Die bloße Erinnerung an diese alte Macht mußte genügt haben, sich ihrer (fast) bedienen zu können. Zumindest aber hatte diese Erinnerung ihm geholfen, an sich selbst zu glauben und ihn gestärkt. Jetzt allerdings wünschte Landru beinahe, es wäre nicht so gewesen und daß er die Kämpfe nicht überlebt hätte. Dann nämlich wäre ihm dieser letzte erspart geblieben – der Kampf gegen den letzten Überlebenden. Gegen Vlad Tepes. Aber die grausame Tatsache, daß er nun gezwungen war, gegen
seinen Freund anzutreten und ihn zu töten, fügte sich stimmig in die Kette all jener Ereignisse, unter denen Landru litt, seit er in dieser verdammten Unweit erwacht war. »Hast du gewußt, daß es so kommen würde?« fragte er Vlad, der ihm gegenüberstand, während um sie her auf den Rängen das Toben und Schreien kaum mehr Grenzen fand. »Nein. Bisher gestatteten sie immer mehreren Kämpfern, das Spektakel zu überleben und zur Festung zu reisen«, sagte Tepes, von dessen Pfahl dunkles Blut tropfte. »Warum diesmal nicht?« »Jemand scheint höllischen Spaß daran zu haben, uns gegeneinander zu hetzen«, meinte Vlad Tepes, bitter grinsend. »Ja, so muß es wohl sein«, erwiderte Landru. »Gibt es keinen anderen Weg als diesen?« Er wies mit vager Geste auf Tepes’ Pflock, dann auf die langstielige beilartige Waffe, die man ihm zu Beginn gegeben hatte und deren Schneiden längst dunkel verkrustet waren. »Nein«, sagte Tepes mit knappem Kopfschütteln. »Und ich bin bereit, alles in Kauf zu nehmen, was mich zu ihr bringt.« Kein Zucken seiner Miene oder irgendeines Muskels warnte Landru. Vlad Tepes stürzte sich völlig unvermittelt auf ihn. Aus Freunden wurden Feinde. Todfeinde!
* Vlad Tepes war verdammt schnell, sowohl in seinen Körperbewegungen als auch mit seinem Pfahl. Landru machte nicht den Fehler zu versuchen, sich diesem Tempo anzupassen. Er reagierte besonnen und erkannte mit animalischem Instinkt, wann Tepes fintierte und wann er wirklich gezielt zustieß und -schlug. Eiskalt nutzte er jede Gelegenheit, seinerseits Treffer anzubringen, wenn der Pfähler ihm ungeschützt gegenüberstand –
stets dann, wenn Landru ihn hatte ins Leere laufen lassen. Trotzdem zögerte er, Tepes wirklich zu verletzen. Er trachtete, ihn immer nur mit der flachen Klinge seiner Streitaxt zu treffen. Vielleicht würde es genügen, ihn kampfunfähig zu machen, bewußtlos zu schlagen. Es genügte nicht. Denn Vlad Tepes kannte solche Skrupel nicht. Sein Gesicht war längst die Fratze eines Besessenen, eines Fanatikers. Dunkle Ringe lagen um seine Augen, Speichel troff ihm von den Lippen, und das Blut der vorherigen Gegner lag ihm wie eine schauerliche Kriegsbemalung auf der Haut. »Du kannst aufhören, wenn du willst«, geiferte er, während sie sich leicht vorgebeugt und mit etwas Abstand umschlichen. »Aber ich würde es nicht begrüßen«, setzte er dann gleich hinzu. »Keine Sorge«, erwiderte Landru. »Ich bleibe dir erhalten.« »Gut!« Ein gewaltiger Sprung. Tepes riß den Pfahl mit beiden Händen empor, als wolle er ihn von oben in Landrus Schädel rammen. Seine Brust war ungeschützt. Landru stieß zu. Der Dorn am oberen Ende seiner Waffe bohrte sich knirschend in Vlads Leib. Aber der schrie nicht einmal auf. Die Raserei, in die er verfallen war, mußte ihn unempfindlich für allen Schmerz machen. Irgendwie schaffte er es schließlich mit einer rasanten Schlagfolge, Landru zu entwaffnen. Das Publikum brüllte, hatte seinen Favoriten längst erkoren. Landru ignorierte die Ablehnung, die ihm von allen Seiten entgegenschlug. Hätte er sie registriert, wäre er darin untergegangen wie in den Wogen einer sturmgepeitschten See. Statt dessen besann er sich seines früheren Lebens, das wiederzubekommen er letztlich hier stand und kämpfte. Er dachte an die
Möglichkeit, die man (Lilith?) ihm in Aussicht gestellt hatte, wenn er es schaffte, ans Ziel zu gelangen. Er würde, so hatte er es verstanden, alles ändern, zum Besseren wenden können. Diese Chance war es wert, alles dafür zu geben. Landru entsann sich seiner alten Macht. Suhlte sich schier in der Erinnerung an all die Dinge, die ihm jene Kraft ermöglicht hatte. Nur ein Teil davon würde genügen, um in dieser Arena zu bestehen und sie als Sieger zu verlassen – Er stürzte, wurde niedergeworfen, prallte hart in den blutfeuchten Staub der Arena! Ein Fuß setzte sich hart und schwer über seine Kehle. Und Vlad Tepes stand scheinbar riesengroß über ihm, den Pfahl zum Stoß erhoben. Landru suchte und fand den flammenden Blick des anderen, hielt ihn mit dem seinen fest. »Du wirst es nicht tun«, sagte Landru ruhig, obwohl ihm das Sprechen Mühe bereitete. Das Flackern in Tepes’ Augen veränderte sich, beruhigte sich. »Zurück!« befahl Landru heiser. Vlads Fuß verschwand von seinem Hals, er trat einen Schritt zurück. Landru erhob sich, ohne die Blickrichtung auch nur um einen Deut zu verändern. Ein stumpfer Glanz begann die Augen des Pfählers zu überziehen. Landru konnte zwischen zwei Möglichkeiten wählen, diesen Kampf zu beenden. Beide bedeuteten Vlad Tepes’ Tod. Aber er beschloß, den Freund sterben zu lassen, wie es ihm gebührte. Als Kämpfer. »Gib mir den Pfahl!« verlangte Landru. Wortlos gehorchte Vlad Tepes. Nur jenseits der Ausdruckslosigkeit seiner Augen fand Landru noch ein vages Flimmern. Es rührte nicht mehr von Wut oder Furcht her, sondern nichts anderes als der Ausdruck von Unverständnis. Vlad Tepes wußte nicht, wie ihm ge-
schah. Landru nahm den Pfahl entgegen. Holte aus. Stieß zu. Die Menge brüllte, als der Pfähler starb. Selbst gepfählt. Landru wandte sich ab, noch ehe es vorbei war. Ein schmerzender Knoten saß in seiner Kehle. Bitternis erfüllte ihn ganz und gar. Und ums Haar hätte er getan, was der Sieger eines solchen Kampfes nie tun würde. Aber Landru fühlte sich nicht wie ein Sieger, als er verschleierten Blickes die Arena verließ. Er fühlte sich wie das, was er war. Ein Mensch.
* Der Anblick übertraf Landrus ausschweifendste Phantasien. Aus der Ferne hatte der Berg am Horizont lediglich ausgesehen, als hätten Natur und Witterung sich in bizarrer Weise an ihm ausgelassen. Nun, da sie ihn fast erreicht hatten, erkannte Landru, daß der Fels seine jeder Ästhetik hohnsprechende Form auf anderem Wege erlangt hatte. Wahre Heerscharen mußten den steinernen Giganten bearbeitet und ihm zu monströser Gestalt verholten haben. Ob es Stadt oder Festung war, vermochte Landru nicht zu beurteilen. Nur eines konnte er mit Bestimmtheit sagen: Etwas gleichsam Faszinierendes und Abstoßendes hatte er noch nie gesehen – nicht in diesem und nicht in seinem früheren Leben. Das himmelhoch ragende Gebilde zu beschreiben, mangelte es seiner Sprache an Worten. Und so blieb das Bild, das er sich selbst davon machte, seltsam fragmenthaft, trotzdem er es doch zur Gänze sah. Aber es fehlte ihm in letzter Konsequenz die Fähigkeit, diese
sinnzerstörende Verschlingung abstraktester Formen und Schatten wirklich aufzunehmen. »Es ist …«, begann Eleya hinter ihm im Sattel der kurzbeinigen Reitkreatur. »Ja?« fragte er, als sie zögerte. »… schön.« »Geschmackssache«, befand er. Was die Schönheit mancher Dinge anging, waren sie oft unterschiedlicher Ansicht. Landru ließ seinen Blick unauffällig über ihre ebenfalls berittenen Begleiter schweifen, die sie auf dem langen Weg von der Stadt zur Festung eskortiert hatten. Diese Vampire hatten nichts gemein mit der Alten Rasse, nicht optisch zumindest. Sie entsprachen in ihrem Aussehen bösartigen Monstren, waren von gedrungener Gestalt, dunkel- und hornhäutige Bestien. Nicht einmal ihre Augzähne entsprachen denen, die Landru vertraut waren. Diese hier waren mörderische Hauer, die eine Ader nicht »anzapfen« würden, sondern nur zerfetzen konnten, um an das Blut darin zu gelangen. Sie erreichten die Festung. Kaum daß sie durch das Tor, das Landru eher an das Maul eines versteinerten Ungeheuers erinnerte, geritten waren, mußte er feststellen, daß das Ganze doch mehr einer Stadt glich. Gewundene Gassen und Tunnel schraubten sich tief in den Fels hinein, vorüber an architektonischen Scheußlichkeiten. Ihr Troß wählte einen bergan führenden Weg, den die schuppigen Kreaturen, auf denen sie ritten, mühsam, aber stoisch bewältigten. Landru spürte die glühenden Blicke der überall umherlaufenden und mitunter an den Wänden kletternden Wesen in seinem Rücken, und sie schienen ihm spürbar neiderfüllt. Als wären sie alle lieber an seiner Stelle, der die Herrin dieses schrecklichen Volkes kennenlernen durfte. Etwa auf halber Höhe der Felsenstadt angelangt, bedeutete man Landru und Eleya, abzusitzen, dann wurden sie durch ein gewalti-
ges Portal geführt, und dahinter – Landru verschlug es momentelang den Atem. So müßte es aussehen, wenn sich in der Welt der Menschen die irrsinnigsten Architekten zu einem gemeinsamen Projekt zusammenschlossen und es verwirklichten. Der Prunk übertraf selbst kühnste Vorstellungen. Die Unmöglichkeit der Konstruktionen war ein Wunder für sich. Die stumme Geste, mit der eine der Bestien in die Runde wies, konnte nur eines bedeuten: Fühlt euch wie zu Hause!
* Die Größe ihrer Gemächer hätte der Bevölkerung einer Kleinstadt genügt. Allein, sie allesamt zu durchwandern, mußte Stunden in Anspruch nehmen. Doch Landru hatte kein Verlangen danach. Wie ein gereiztes Raubtier lief er auf und ab, schweigend, aber innerlich vibrierend, bebend. »Was hast du?« fragte Eleya, die elfenhaft durch die Räumlichkeiten getanzt war und sich nicht satt sehen konnte an dem, was man ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Wenn sie schon in solchem Prunk residieren durften – wie mußten dann erst die Gemächer jener geheimnisvollen Herrscherin ausgestattet sein? »Ich bin nicht hierher gekommen, um mir eine schöne Zeit zu gönnen«, antwortete Landru ungehalten. »Man wird uns rufen, wenn es an der Zeit ist«, meinte Eleya unbekümmert. »Zeit?« zischte Landru verächtlich. »Was weißt du schon über Zeit?« »Wenigstens soviel, als daß wir genug davon haben – und sie nutzen sollten.«
Wie ein Schatten glitt sie zu ihm. Ihre Berührungen waren die einer warmen Brise. Und Landru – Mensch und Mann durch und durch – konnte nicht anders, als sich ihnen hinzugeben. Sie liebten sich auf seidigen Lagern. Kaum eine Stelle von Eleyas wunderbarem Leib ließ er unberührt, und sie vergalt ihm jede Zärtlichkeit ungewohnt heftig und leidenschaftlicher denn je zuvor. Irgendwann glitt sie über ihn. Ihre Gesichter nur einen Atemzug voneinander entfernt. Oder …? Etwas irritierte Landru. Er spürte Eleyas Atem nicht … »Ich möchte ganz eins werden mit dir«, flüsterte sie heiser. »Was …?« Landru keuchte auf. Er hatte sich geirrt. Die Zähne der Vampirbestien vermochten in der Tat mehr, als Adern nur zu zerreißen. Sie konnten sie ebenso unauffällig anzapfen, wie es Landrus eigenem Volk möglich war. Vielleicht waren diese Monstren in dieser Kunst sogar noch perfekter. Denn er hatte kein Bißmal auf Eleyas Haut entdeckt. Trotzdem stand außer Zweifel, daß sie ihnen zum Opfer gefallen war und somit ihren Keim in sich trug! Es konnte nur in den Katakomben der Arena geschehen sein, dachte Landru unterschwellig. Zu keiner anderen Zeit hatte er Eleya allein gelassen. Vordergründig verschwendete Landru keinen Gedanken an solcherlei Überlegungen. Angst und Ekel vereinnahmten jedes Quentchen seines Bewußtseins. Denn zum ersten Mal erfuhr Landru, wie es war – – von einem Vampir gebissen zu werden!
* Die Berührung von Eleyas Lippen war kalt und hart. Wie tote und � von unheiliger Macht neu erweckte Schneckenleiber glitten sie über �
Landrus Hals. Dieses kurze Vorspiel schien ihm beinahe schlimmer als der eigentliche Biß. Der Schmerz hielt sich erstaunlicherweise in Grenzen, aber er war immer noch groß genug, um Landru aus der Lethargie zu reißen, in die ihn das Entsetzen der Erkenntnis über Eleyas neues Wesen gehüllt hatte. Mit einem Aufschrei stieß er sie von sich, noch ehe sie ihm den ersten Tropfen seines roten Blutes aussaugen konnte. Alle Anmut fiel von Eleya ab wie eine alte und zu groß gewordene Haut. Sie mutierte binnen eines Lidschlags zum Ungeheuer, zur blutgeilen Bestie. Und sie gebärdete sich entsprechend. Mit gespreizten Krallen warf sie sich Landru entgegen, zielte nach seinem Gesicht, seinen Augen. Mit dem Unterarm fegte er ihre Klauen beiseite, packte ihren immer noch federleichten Leib und warf ihn hinter sich. Hart schlug Eleya gegen die Wand, kam aber sofort wieder hoch, nur noch rasender. Ihre nächste Attacke glückte halbwegs. Blutige Striemen verliefen quer über Landrus Gesicht. Er wußte, daß diese Sache nur auf eine Weise enden konnte. Und je weiter er dieses Ende hinauszögerte, um so mehr würde er selbst darunter leiden. Nicht körperlich, sondern seelisch. Eleyas nächsten Angriff fing er so ab, daß er sie in den Klammergriff bekam. Dann rang er sie zu Boden und preßte sie mit seinem Gewicht nieder, während seine Hände sich schon um ihr Gesicht schlossen. Ob tatsächlich oder nur in seiner Phantasie – Eleyas Züge veränderten sich, wurden wieder zu jenen, an denen Landru sich in all der Zeit regelrecht berauscht hatte. »Verzeih mir«, flüsterte er erstickt. Er schloß die Augen, als er tat, was er zu tun gezwungen war. Trotzdem sah er Eleyas Gesicht, das sich mit einem knirschenden
Ruck von ihm abwandte. Als er sich erhob, vermied Landru es, auf Eleya hinabzusehen. Er konzentrierte sich ganz und gar darauf, seine Trauer niederzuringen. Es fiel ihm nicht sehr schwer. Denn er konnte eine anderes Gefühl an dessen Stelle treten lassen. Grenzenlosen Haß. Und er galt allein einer Person. Jener, die ihn zu all dem verdammt hatte. »Lilith Eden!« Sein Schrei gellte durch die Gemächer. Er würde sie suchen und finden. Er würde sie bezahlen lassen. Mit ihrem Leben. Landru war bereit, sein eigenes dafür zu geben.
* Leichen pflasterten seinen Weg. Kreuz und quer war Landru durch diese monströse Stadt der Vampire gerast, amoklaufend, und niemand hatte ihn aufhalten können. Wer es versucht hatte, war nicht mehr dazu gekommen, den Versuch zu bereuen. Fast fühlte Landru sich mächtiger denn je zuvor. Nie gekannter Zorn verlieh ihm eine Kraft ganz eigener Art. Aber er vermied es, darüber nachzudenken, aus Furcht, diese Kraft könnte erlöschen, wenn er sie zu hinterfragen wagte. Wieder verstellte ihm eine der Bestien den Weg. Landrus Hieb war von solcher Gewalt, daß es den Schädel des anderen weit genug in den Nacken riß, um sein Genick zu brechen. Intuitiv hatte Landru nach Wegen gesucht, die ihn immer höher hinauf führten. Inzwischen war er den oberen Bereichen der Felsenstadt schon nahe. Da – ein weiteres Portal, so groß, daß Landru automatisch etwas Besonderes dahinter vermutete.
Ungestüm riß er es auf – und sah sich am Ziel. Oder wenigstens dem Ziel zum Greifen nahe. Ob er es auch erreichen konnte, stand auf einem anderen Blatt. Vor ihm erstreckte sich eine riesige Arena, umgrenzt von himmelhohen, senkrecht aufragenden Felswänden und bevölkert von weiteren der Vampirmonstren. In der Mitte der Fläche erhob sich ein gewaltiges Gebilde, pulsierend, fast wie das Herz eines Riesen. Und davor, ihm selbst ganz nahe – – Lilith Eden. � Wunderschön. Beinahe nackt. � Und schlafend. � Doch sie schlug in dem Moment die Augen auf, da Landru auf sie � zustürmte! Noch bevor er sie erreichte, löste sie sich von dem Gestänge, an dem sie Halt gefunden hatte. Ihre ausgestreckte Hand stoppte Landrus Lauf, ohne ihn selbst zu berühren. Er prallte zurück, als wäre er gegen Glas gerannt. »Das wird dir nichts nützen«, knirschte er. »Ich bin gekommen, um dich …« Lilith lächelte. »Ich weiß.« »Dann mach dich bereit!« »Vergiß nicht«, erwiderte sie, »in diesem Spiel bestimme ich die Regeln – und den Ort des Spieles. Komm mit in das Herz meiner Macht.« Blitzschnell griff sie nach seiner Hand und – ZZZUUUWWW! Für den winzigsten Teil einer Sekunde hatte Landru das schreckliche Gefühl, geradewegs auf das schauderhafte Gebilde in der Mitte des Felsenrunds zuzurasen und daran zu zerschellen. Im Reflex schloß er die Augen. Und öffnete sie wieder, als das mörderische Geräusch und alles, was damit einherging, verebbte.
Stille kehrte ein. Füllte den Dunklen Dom.
* Das Szenario war Landru vertraut wie eh und je. Der Eindruck, im Inneren eines erloschenen Vulkankegels zu stehen, auf tief zerklüftetem Boden. Und dort, nicht weit entfernt, der Altar. Darauf – der Lilienkelch. Alles schien wieder wie damals, unmittelbar bevor er das Unheiligtum verloren hatte, weil er nicht willens gewesen war, das Amt des Hüters aufzugeben. Nur eines war anders. Lilith Eden hatte damals keine Rolle gespielt. Jetzt aber stand sie da, unweit des Kelches, näher als Landru. Zwei Schritte, und sie würde ihn erreicht haben. Aber sie machte keinerlei Anstalten, es zu tun. Statt dessen sagte sie nur: »Hol ihn dir!« »Was hast du vor, verfluchtes Hurenbalg?« knurrte Landru, schier berstend vor Mißtrauen. »Und wie ist dir all das hier«, er machte eine umfassende Bewegung, »möglich? Woher nimmst du diese Macht?« »Ich bin diese Macht«, antwortete sie rätselhaft. »Was, wenn ich mich dieser Macht widersetze?« fragte Landru herausfordernd. »Dann würde ich dich zwingen, ihr zu gehorchen.« ZZZUUUWWW! Ein gewaltiger Sog riß Landru vorwärts und spie ihn sofort wieder aus. Vor dem Kelchaltar stürzte der einst Mächtigste einer ganzen Rasse nieder. Benommen hob er den Blick. Und augenblicklich begann sein Herz zu rasen.
Der Kelch. Zum Greifen nahe. Er brauchte nur die Hand danach auszustrecken. Und er tat es. Wollte die Finger um die rauhe Wandung des Grals schließen … Doch er kam nicht dazu. Wieder dieses fürchterliche Geräusch, dieser machtvolle, grauenhafte Sog. Diesmal trug er Landru weiter, wirbelte ihn durchs Nichts und schleuderte ihn endlich in einer Explosion von Schmerzen gegen die Felswand des Dunklen Doms, weit über dem Boden. Landru stürzte, endlos lange. Dutzendfach härter, als er es befürchtet hatte, schlug er auf. Hörte das Brechen seiner eigenen Knochen. Sah, wie blutige Splitter sich von innen durch seine Haut spießten. Aber es – schmerzte nicht. Nicht in dem Maße zumindest, wie es hätte schmerzen müssen. Irgend etwas ließ ihn beinahe taub werden gegen diese Schmerzen. Er empfand nur unsagbares Grauen beim Anblick seines verheerten Körpers, aber er war immer noch in der Lage, sich zu bewegen, aufzustehen und zu gehen. Gehässiges Lachen traf ihn. »Versuch’s noch mal«, rief Lilith ihm zu. Und er tat es, obgleich sich alles in ihm dagegen sträubte. Wie von fremder Macht geleitet lief er über die Grate der Klüfte hinüber zum Altar, um erneut nach dem Kelch zu greifen. Scheinbar. Denn tatsächlich änderte er die Richtung seiner Bewegung, noch bevor er den Gral auch nur berührt hatte – – und stürzte sich brüllend auf Lilith Eden!
* Allein Lilith anzugreifen hatte Landru etwas wie Befriedigung beschafft. Mehr zu tun und zu empfinden war ihm nicht vergönnt ge-
wesen. Er war längst nichts weiter als ein Spielball ihrer Macht. Und wäre es ihm erlaubt gewesen zu sterben, so würde er es schon lange getan haben. Sein Körper war inzwischen nur noch eine einzige Wunde. Lilith Eden – oder was immer es sein mochte, das sich mit ihrem Körper tarnte – hatte ihn schier verwüstet, vernichtet. Landru fürchtete den Moment, da der mit den Verletzungen einhergehende Schmerz ihn schließlich treffen würde. Und zugleich sehnte er diesen Moment herbei, denn ihm konnte nur noch der Tod folgen, das endgültige Ende allen Leidens, aller Verdammnis. Nun schien dieser Augenblick nahe. Landru wand sich am Boden. Längst diktierten nur noch reflexhafte Zuckungen seine Bewegungen. Sein zertrümmerter Leib war willentlich nicht mehr zu kontrollieren. Lilith trat neben ihn. Ihre Hand geriet in sein umnebeltes Blickfeld. Und aus diesen Nebeln schälte sich – der Kelch. »Ihm war dein Leben gewidmet, nun soll er deinen Tod bedeuten«, hauchte Lilith wie aus weiter Ferne. Sie hob den Arm, den Gral zum Schlag. Landrus Blick folgte der Bewegung. Entsetzt stöhnte er auf. Liliths Finger hielten nicht länger den Kelch umklammert, sondern etwas – – Unbeschreibliches! � Etwas sich Windendes und Wogendes. � Die Erkenntnis traf Landru härter als der Hieb, den er erwartet � hatte. Dieser Kelch war nie das Unheiligtum gewesen! Lilith Eden – oder die Macht hinter ihr – hatte ihn getäuscht, von Anfang an. Und er war darauf hereingefallen, Narr, der er geworden war. Sie schlug zu.
Mit tödlicher Gewalt. Der Hieb mit dem monströsen Etwas mußte Landru den Schädel zertrümmern. Doch etwas – – zertrümmerte die Welt.
* Ein Riß spaltete den Vorhang der Bühne, auf der Landru seine Verdammnis durchlitten hatte – und dann spaltete er auch die Bühne selbst! Ein wabernder Spuk, ein Spalt, der Welten miteinander verband; ein Etwas, das den Anschein erweckte, als existierten Myriaden identischer Welt neben dieser hier … ähnliche, aber auch völlig fremde Dimensionen. Die Kulisse bröckelte und zerfiel spurlos. Der Dom, die Festung und alle darin hausenden Gestalten wurden im Sog der weichenden Trugbilder davongetragen. Auf den Flügeln eines lautlos brausenden Windes. Das einzige, was blieb, waren eine spiegelglatte Fläche, die von Horizont zu Horizont und darüber hinaus reichte (der Begriff Horizont selbst war hinfällig geworden, denn Landru sah einfach kein Ende der Ebene – in keiner Richtung), und Lilith. Seine Erzfeindin Lilith …! Sie stand nicht mehr da, um ihm mit dem unheimlichen Zerrding, in das sich der Kelch verwandelt hatte, den Schädel zu zertrümmern, sondern lag zu seinen Füßen. Regungslos und in sich gesunken, als wäre auch sie nur ein Stück aus dem Fundus dieses absurden Theaters, eine Marionette, deren Fäden nun zerschnitten waren, weil der Spieler die Lust am Betrug verloren hatte … War es so? Nein! Landru gab sich selbst Antwort. Landru tippte mit der Fußspitze
gegen Liliths Schulter. Der Widerstand bestätigte, daß sie … anders war als der verschwundene Rest seiner Heimsuchungen. Er bückte sich und fühlte ihren Puls. Er wußte, daß das Herz von Creannas Tochter langsamer als das Herz eines Menschen pochte. Doch Liliths Herz schlug überhaupt nicht mehr! Sie war tot?? Landru begriff zunächst nicht, was ihn genau an dieser Feststellung störte. Auf der anderen Seite des Tors, durch das er in diese Jenseitswelt gezogen worden war, hätte er alles dafür getan, um Lilith Eden – DAS TOR! Er wußte nicht, warum er es in der Sekunde davor noch nicht gesehen hatte, aber jetzt … erhob es sich nicht allzuweit von ihm entfernt. Das Tor, wie er es von seiner Ankunft hier in Erinnerung hatte: ein monolithisches Gebilde, dessen Höhe er damals auf etwa vier, die Breite auf drei und die Dicke auf einen Meter geschätzt hatte. Seine Präsenz, seine Dominanz inmitten dieser jetzt ins Basaltgraue wechselnden Bodenfläche war unbeschreiblich; so als konzentriere dieses Objekt alle Realität auf sich allein – weil es ein Anachronismus in jeder Umgebung dieser Dimension blieb. Das Tor hatte auf dieser Seite die Form eines Blocks. Eines massiven, undurchdringlichen und unantastbaren Monuments, das von einem schmalen »Geröllstreifen« umgeben war – auch jetzt. Diese Steine hatte Landru damals ausgestreut, als er die Umgebung des Tors erkunden wollte. Als Orientierung, um wieder zurückzufinden, denn dieses Geröll schien auf unerklärliche Weise ebenso wirklich inmitten sonstiger Halluzination wie das Tor! Mein Verhängnis, dachte er, hat erst begonnen, als ich mich von den sicheren Gestaden weg ins Ungewisse begab. Unter ihm bebte der Boden.
Immer noch und – wie es ihm schien – wieder heftiger. Der Boden, der ein Spiegel war, und in dem sich Landru sehen konnte. Dagegen reflektierte Liliths toter Körper nur verschwommen. Ich bin immer noch Mensch, dachte Landru benommen. War diese Verwandlung nicht auch nur Teil meiner Verdammnis …? Als Mensch war er schwach. Als Mensch war Alleinsein noch schwerer zu ertragen wie seinerzeit als Hüter! Ich war … nein, BIN der Hüter! Er versuchte es zu glauben. Er fühlte die Beben in seinem Körper. Und plötzlich wußte er, daß dies nicht Teil einer neuen Prüfung, Teil eines weiteren für ihn inszenierten Martyriums war, sondern – – ein nie vorgesehener BRUCH. Ein Zwischenfall, dessen Ursache er nicht kannte! Während sich Beben um Beben durch seinen Körper pflanzte, sah er sich um. Noch immer beherrschte die eintönige Fläche das Bild. Aber irgendwo formierten sich bereits Schatten zu schemenhaften Formen, braute sich neues Unheil zusammen … Die Kulissen werden wieder errichtet, dachte Landru. Die Schonfrist geht vorbei, gleich wird mich wieder mit Trugbildern umhüllen … Er vergeudete keine Zeit mehr mit dem Gedanken an weitere Marter und starrte zum Tor. Es war nicht wirklich nah – aber vielleicht war es auch nicht wirklich fern? Entfernungen und Zeit bedeuteten hier etwas gänzlich anderes als »drüben«. Vielleicht … Er hatte nichts zu verlieren, was er nicht schon verloren hatte. Er war gestorben in der Hülle Racoons. Er war auferstanden in seinem eigenen, aber menschlich gewordenen Körper. Es gab kaum mehr etwas, das ihn noch hätte schrecken können. Er griff zu, packte die Tote und schulterte sie.
Warum? Du Narr wärst soviel schneller ohne diese Bürde! Laß sie fallen! Und dann lauf, sonst … Er verfiel in schwankenden Trab, gebeugt von der Last, die er aus einem widerstreitenden Gefühl heraus nicht hergeben wollte. Zu lange hatte sein Kampf gegen Lilith Eden gewährt, als daß er so … unspektakulär sein Ende finden sollte. Vielleicht konnte er sie wiederbeleben, um sie dann den Tod sterben zu lassen, den sie verdient hatte … Ein wahnhafter Gedanke! Wurde er allmählich irrsinnig? Oder war es nur das Resultat all der Trugbilder, die er schon erblickt hatte? Was war Wirklichkeit? Was stimmte? Welchem Blick, welchem vermeintlichen Geräusch konnte er noch trauen? War Lilith Eden tatsächlich tot? Er hastete über die spiegelglatte Basaltfläche auf das schwarze, monolithische Tor zu. Wer hatte es erschaffen – und warum? War es die Pforte des Satans, durch die er auf die Erde gelangte, um sein Unwesen zu treiben? War dies hier wirklich die … Hölle? Und hatte er die ganze Zeit im Fegefeuer geschmort? Er gönnte sich keine Pause. Mit hämmerndem Herzen und geduckt, einen Feind auf der Schulter und einen noch schrecklicheren FEIND im Nacken, hetzte er auf das Gebilde zu, von dem er glaubte, es sei das Tor, durch das er gekommen war. Während er lief, während seine Beine schwer wurden und schwefelige Luft in seinen Lungen brannte, sah er die Schemen aus den Augenwinkeln heranjagen. Formen, die das Nichts ablösten. Konturen, die ein neues, noch schrecklicheres Szenario einer Umwelt entwarfen. Die Kulisse kehrte zurück. Die Beben wurden schwächer. Das, was diese Welt – oder den, der sie aufrechterhielt und mit sei-
nem Geist erfüllte – erschüttert hatte, schien vorüber. Der monströse Erdenker von Landrus Verdammnis hatte sich erholt. Je deutlicher die Kulisse zurückkehrte, desto mehr verblaßte das TOR vor Landrus Augen. Doch er ließ sich nicht mehr täuschen. Er wußte jetzt, daß es die ganze Zeit da gewesen war. Und so rannte er nun, um sich nicht irritieren zu lassen, mit geschlossenen Augen weiter! Rings um ihn fauchten Bestien, schrien, bettelten und fluchten Kelchkinder, deren Gesichter ihn bestürzt hätten, weil er sie zum ersten Mal als Mensch hätte sehen können. »Bleib stehen!« schrien sie. »So kalt! Es ist so kalt hier …« »Gib uns dein lebendes, warmes Herz!« »Und dein Blut! Wir wollen es zurü-« Die Stille stürzte so jäh auf ihn ein, daß er taumelte und stürzte, zusammen mit der Last, die ihm entglitt. Er war gestolpert, über einen Stein. Und plötzlich – – war alles vorbei. Er lag im Schatten des Monolithen, auf einem Feld aus Geröll, das die Umgebung fernhielt. All ihre Schrecken und Verfolger. Und er merkte … … wie sein Herz träger schlug. Wie seine Gefühle wieder wie gewohnt funktionierten, und wie Begierden, die er abgestreift zu haben meinte, zurückkehrten. Er starrte auf die Tote, die er mit auf dieses Eiland im Ozean des Wahnsinns geschleppt hatte. Er starrte auf die vornehme Blässe ihrer Haut und fragte sich, ob er unterbewußt gehofft hatte, hier im Schatten des Tors wieder der sein zu dürfen, der er immer gewesen war. Ein Vampir! Und daß er nur deshalb solche Mühe in sie investiert hatte, weil sie selbst als Tote das einzige Geschöpf weit und breit war, das ihm
annähernd geben konnte, wonach ihn wieder verlangen würde … Er erinnerte sich, eine Vampirin, die sich dereinst am Blut eines toten Bruders vergangen hatte, mit dem Tod bestraft zu haben, obwohl für ihn selbst kaum ein Kodex je wirklich ein Tabu bedeutet hatte … Und während er sich erinnerte, erwachte die Gier immer stärker, immer unkontrollierbarer in ihm. So wie Lilith hingefallen war, konnte er ihr Gesicht sehen. Die Häute der Lider bedeckten ihre jadegrünen Augen, in denen soviel Unerhörtes geglommen hatte. Jetzt nicht mehr. Aber vielleicht barg selbst ihr starres, steifes Blut noch, was er jetzt benötigte, um … Landru wischte alle störenden und hinderlichen Gedanken beiseite. Er achtete auch nicht länger auf die Fratzen seiner Erinnerung, die sich an der Grenze des steinernen Feldes aus dem Nichts schälten, um seiner vielleicht doch wieder habhaft zu werden. Er stürzte er sich auf Lilith. Genau in dem Moment, als … … sich ihre Lider hoben. ENDE
KNOBLAUCH oder: Von der Mühsal, Vampir zu werden Anderen es gleichzutun, ist selten leicht, dies gleich zu tun. Wappenspruch derer von Fleder Man nennt mich ‘leder, die bleiche Maus. Weshalb nicht Fleder, sondern ‘leder, ist eine andere Geschichte, die zu erzählen ich, ihres tragischen Inhalts wegen, nicht imstande bin. In der uralten Ahnentafel der weltverzweigten Nachkommenschaft transsylvanischen Ursprungs sucht ihr nach dem Namen derer von Fleder vergeblich. Jeder Familien-Clan hat eben einen weißen Fleck, der bisweilen gerne verschwiegen wird. Diesen besonderen Umstand zu erklären, ist mein heutiges und besonderes Anliegen. Ich hielt noch nie viel von Vorschriften, die ihren Ursprung aus der Riege alter Traditionen schöpfen. In einem Sarg zu schlafen war mir zuwider – viel zu eng. Außerdem trug ich lieber Jeans und Leder als diese farblos schwarze Kluft mit dem weiten Kragenmantel. Folglich entwickelte ich mich zu dem weißen Schaf eines verachteten Familienzweiges. Ein Ausgestoßener unter Ausgestoßenen. Eine doppelte Negation. Wer sich auch nur ein wenig in Mathematik auskennt, der weiß, was das bedeuten kann. So dachten auch meine Eltern und waren überzeugt, das Richtige zu tun. Ihrem flehentlichen Antrag wurde stattgegeben. Man beschloß, dem verstoßenen Zweig der Familie eine Chance einzuräumen. Ich repräsentierte diese keimende Zukunft im verlorenen Schoß der Familie, doch mein Flehen wurde nicht erhört. Ich sollte die Weihen eines Vampirs erfahren. So sandte man mich im zarten Alter von fünfundsiebzig Jahren, also kaum den Kinderschuhen entwachsen, auf das Schloß meines
Urgroßvaters. Allein hatte ich den beängstigenden Weg durch den finsteren Wald zu gehen, um dann den ermüdenden Serpentinen hoch zur Burg zu folgen. Das zaghafte Pochen war noch nicht verklungen, als ein buckliger Diener mir öffnete. Es war Laughten Charles, ein stummer Quasimodo-Typ. Den Blick seines einzigen Auges werde ich wohl nie vergessen. Nur mühsam konnte er seinen Unmut verbergen. Denn getreu einem der unzähligen Sprichwörter unserer rotblütigen Ernährer, »Kinder und Narren sagen die Wahrheit«, platzte ich heraus: »Mann, hier könnte auch mal wieder sauber gemacht werden!« Mit jedem Schritt, den er vor mir herschlurfend tat, sorgte Charles für den muffigen Gestank, der allgegenwärtig schien. Eine Schwäche, die ich naserümpfend nicht tolerieren wollte und dies ebenso zum Ausdruck brachte. Später erfuhr ich, daß es sein Aufgabenbereich war, für all diese Unordnung, den Staub und das unzählige Kleingetier zu sorgen, damit Ur-Opa sich wohlfühlen konnte. Als ich das erfuhr, war es natürlich längst zu spät. Aber es erklärte, warum Charles mich lange Zeit noch nachdrücklicher ignorierte als all die anderen Bewohner der heruntergekommenen Behausung Vlad Draculs. Die erste Begegnung mit meinem jahrhundertealten Vorfahr bleibt mir auf ewig im Gedächtnis. Vor allem, weil sie einen völlig anderen Verlauf nahm, als ich es mir in meiner unreifen Phantasie vorgestellt hatte. Mein Herz schlug in kindlicher Angst und schnürte mir die Kehle zu, während es in glitschigen Wendeln immer tiefer ging. Die Nacht war fast vorüber, und Ur-Opa zog es vor, zeitig seinen Sarg aufzusuchen. Er war im hohen Alter immer lichtscheuer geworden. Und aus der Sorge heraus, dem bedrohlichen Tagesschimmer ausgesetzt zu sein, hatte er veranlaßt, seine Ruhestätte drei Stockwerke tief unter die Fundamente seiner Burg einzugraben. So stand ich nun mit weichen Knien vor dem unbeugsamen Oberhaupt der Vampir-Sippe, unter dessen Richtspruch meine Familie in der Verbannung zu leiden hatte. Er wirkte wie ein gütiger Vater, ein
alter Freund und keinesfalls anders. So zusammengesunken, schmalbrüstig und weich gebettet in samtige Kissen sah er zart und zerbrechlich aus. Von Charles’ starken Armen liebevoll gestützt, begrüßte er mich aufrecht sitzend. »Sag, Opa, wie kommst du eigentlich die vielen Stufen hier herunter, ohne dir das Genick zu brechen?« fragte ich in aller Unschuld und ehrlich besorgt. Er lächelte müde, und seine faltigen Lippen umlagerte der süße Glanz jungfräulichen Blutes, das er soeben als Nachttrunk genossen hatte. Seine hohlen Wangen strafften sich kurz, als er die Reste des belebenden Rots aus den Mundwinkeln sog. Dann grinste er, und ich entdeckte in einem Blitzgelichter ursprünglichster Erkenntnis seine Vitalität, die ihm die verstrichenen Jahrzehnte allmählich genommen hatten. »Die Technik dieser Zeit«, vernahm ich zum ersten Mal seine brüchige Stimme. Ihr Klang, abgrundtief dunkel, hat bis heute nichts an Ausstrahlungskraft verloren, »ermöglicht es mir, in einen Kasten, gehalten von Gegengewichten, einzusteigen und nach unten zu fahren.« »Ein Aufzug? Du hast einen Aufzug in diesem alten Gemäuer?« »So nennt man das wohl in der heutigen Zeit. Ja ja. – Aber altes Gemäuer? Diese Mauern werden auch künftige Jahrhunderte noch lange überdauern, Sohn!« Ich mochte ihn von Anfang an. Und er mich ebenfalls, das spürte ich. Dieser Eindruck liegt tief eingegraben in meine Erinnerung. Und er hat mich bis heute in all meinem Tun beeinflußt. Der alte Herr hatte längst keinen Biß mehr. Die gelben Stummel seiner Eckzähne sorgten höchstens noch für Schrecken und Angst bei Ur-Opas Zahnarzt. Seit er das Blut junger Frauen nur noch aus einem Kristallkelch zu sich nahm, wurde die Gefahr, daß er sich mit zittriger Hand die Zähne einschlug, immer wahrscheinlicher. Wenn er den Pokal an seine faltigen Lippen hob, aus dem er nun schon seit
vielen Jahrzehnten den lebensspendenden Trunk zu sich nahm, hielt das gesamte Schloß, bis hin zur letzten Kakerlake, den Atem an. Was er jedoch reichlich besaß und was ich niemals vorher und auch später nie mehr habe erfahren dürfen, war diese Hingabe und Geduld. Er hatte doch tatsächlich den Ehrgeiz, aus dem verlorenen Enkel abtrünniger Kinder ein vollkommenes Mitglied seiner Familie heranzubilden. Ur-Opa – ich mag ihn einfach nicht anders nennen, weil all das, was ich durch ihn erfahren habe, einfach nicht zu seinem schreckenverbreitenden Namen paßt, unter dem er unsägliche Berühmtheit bei unseren Blutspendern erlangte und der seinem tatsächlichen Naturell völlig entgegenläuft-Ur-Opa also begann bereits in der darauffolgenden Nacht, mich auf meine Existenz als Vampir vorzubereiten. Und er wurde es nicht müde, mir all die Geschichten zu erzählen. Selbst erlebte, aber auch Erlebnisse wahrer Nachfahren, in deren Fußstapfen ich bald Willens war zu treten. Nacht für Nacht, über viele Jahre hinweg, hing ich gebannt an seinen Lippen und sog jedes Wort aus dem faltigen Mund, so wie ich längst rotes Blut hätte aus angstpochenden, zarthäutigen Hälsen hätte saugen sollen. Oh, wie beneidete ich Ur-Opa sogar um seine stumpfgelben, abgebrochenen Augzähne. Sie waren zwar offensichtlich Ruinen längst vergessenen Grauens, aber immer noch länger und gefährlicher als meine. Gebannt lauschte ich den wortgefaßten Schrecklichkeiten und genoß den Schauer seiner Erzählungen. Hingebungsvoll. Neugierig. Gierig, es ihm gleich zu tun. Die Spannung spüren, die seinen Geschichten allgegenwärtig war. In solchen Augenblicken hätte ich meine Zähne in den Strom blutpulsender Halsschlagadern senken müssen. Aber ich konnte nicht. Unersättlich war ich, und oftmals ermunterte ich Ur-Opa, bis zur Erschöpfung nicht innezuhalten, mir seine blutigen Memoiren zu offenbaren. Doch der Erfolg blieb aus. Der Grusel vergossenen Blutes beflügelte keinesfalls meinen Drang, es ebenfalls zu versuchen.
Nun begann mein Leidensweg. Bluttriefenden Erzählungen zu lauschen war das eine, es tatsächlich sprudeln zu sehen, etwas ganz anderes. Es wurde immer schwieriger zu verbergen, daß ich nicht den kleinsten Tropfen Blut sehen konnte, ohne daß mir schlecht wurde. Nach jedem Trunk war mir so übel, daß ich nächtelang Brechreiz verspürte. Ur-Opa bemerkte wohl meine Schwäche, sagte jedoch nichts. Sicher führte er es auf mangelnde Erziehung zurück. Hin und wieder deutete er an, daß er glaubte, meine Eltern hätten versagt und viel zu spät erkannt, daß sie nicht in der Lage waren, mich zu einem ordentlichen Vampir zu erziehen. Trotzdem, er wurde es nicht müde, mir das Leben eines Vampirs vertraut zu machen. Sein Eifer war lobenswert. Doch wie gesagt, es fiel mir sehr viel leichter, von jeglichem blutigen Detail zu hören, als nur einen Bruchteil davon zu sehen, oder, was noch schrecklicher war, es selbst zu verursachen. Wenn Ur-Opa müde war oder manchmal seine Mitternachtsruhe einhielt, drängte es mich, das alte Gemäuer zu erkunden. Ich streifte dann durch das verkommene Reich, das bei seiner bloßen Nennung Angst und Schrecken unter unseren rotblütigen Ernährern verursachte. Auf meinen Streifzügen traf ich immer wieder auf Charles. Ich beobachtete, wie er zärtlich mit Spinnen spielte. Unachtsam zerstörte Netze knüpfte er mit geschickten Fingern neu. Kleine Fliegen, die er flink fing, setzte er seinen Lieblingen ins Netz. Manchmal troff ihm gar Speichel aus dem schiefen Mund, wenn er die eine oder andere vorsichtig fütterte. Im Laufe der Zeit begann ich mich an Charles’ Pflege des Schlosses zu beteiligen, und er akzeptierte alsbald die Unterstützung, die ich ihm anbot, wenn ich nicht gerade etliche Stockwerke tiefer um UrOpas Sarg herumschlich und ruhelos und händeringend die Abenddämmerung erwartete. Wenn ich Charles dann die Wendeltreppe herabkommen hörte, war es wieder soweit: Meine Langeweile fand
ein Ende mit den ersten Worten meines Ahnherrn. Ur-Opa war ein verdammt guter Erzähler! Im siebzehnten Jahr meiner Ausbildung begann mein nimmermüder Lehrmeister auf mein Drängen hin, sich von dem theoretisierenden Vampirismus abzuwenden und wieder zu den Geschichten seiner Jugendzeit zurückzukehren. Eines Tages geschah etwas, das meinem Leben eine völlig neue Perspektive vermittelte ihm und eine Wende gab, deren Tragweite anfangs niemand, am allerwenigsten ich, erkennen konnte. Wieder einmal lauschte ich gespannt der Erzählung. Ur-Opa, getrieben nicht nur von Heißhunger, schlich sich in das Gemach einer üppigen Jungfrau. Er gelangte in ihr Zimmer, vorbei an einem Strang Knoblauchzwiebeln. In allen Details erzählte er mir, wie er ihr Blut in Wallung brachte und sich dann, trotz einer mir nicht näher erklärten abstoßenden Aura, die sie schützen wollte, an ihr gütlich tat, bis ihn das Grauen des Morgens zwang, den Schutz seines Sarges aufzusuchen. Auf meine Frage hin, was »Knoblauch« sei, gab Ur-Opa mir nur ausweichend Antwort. Bei der Formulierung des unbekannten Wortes verzog er sein Gesicht aber derart vor Verzückung, daß seine Züge in den Altersfalten zu versinken drohten. Nun war meine Neugier geweckt! Zum ersten Mal in der langen Zeit meiner Ausbildung zum Vampir war mein Wissensdurst ungestillt geblieben! So begann ich zu forschen. Eines Tages stellte mich Ur-Opa zur Rede, weshalb ich ihn nun nicht mehr täglich besuchte, um mehr über das Dasein eines Vampirs zu erfahren. Ich deutete meinem Lehrmeister an, daß mein Ausbleiben in den geschilderten Geschehnissen um die dralle Jungfrau begründet lag. In seinen Augen blitzte es wissend und vielleicht ein biß-
chen neidisch, aber er ließ mich ziehen, froh darüber, nach all den Jahren die Früchte seiner Geduld wachsen zu sehen. Er ermahnte mich, über all dem natürlichen Forschertrieb die Gesetze der Vampir-Zunft zu achten. Ich versprach es und ging. Natürlich hatte ich ihm mit keiner Silbe verraten, daß ich mit meinen Nachforschungen bezüglich Knoblauch noch keinen Schritt weiter war. Wen, ohne mich vor meinem Lehrmeister unsäglich zu blamieren, konnte ich nun noch wegen des Knoblauchs fragen? Charles! Er konnte zwar nicht reden, aber er wußte sicher etwas darüber. Nun muß ich erklärend sagen, daß Laughten Charles und ich inzwischen eine innige Freundschaft pflegten. Seine Spinnen und Skorpione waren auch mir ans Herz gewachsen. Auch wenn ich ihn noch immer nicht riechen konnte, so hatte unsere Vorliebe für Kleingetier eine Brücke zwischen uns geschlagen, aus der eine Freundschaft erwachsen war. Als ich ihn nun mit der Frage konfrontierte, wurde er ganz aufgeregt. Anscheinend hatte ich an etwas gerührt, wovon er wußte, daß ich damit meine lange Ausbildung krönen konnte. So stellte ich mich der letzten Aufgabe und begann, getreu den gelernten Lektionen, zu Ur-Opas Freude mit meinen nächtlichen Ausflügen. Ich wurde flügge! Es würde zu lange dauern, an dieser Stelle all die Begebenheiten zu schildern, die mir auf meiner Suche nach der graublauen Knolle widerfuhren. Epische Schilderungen von Fehlschlägen unterschiedlichster Art wären ohnehin nur ermüdend. Um den Schein zu wahren, reiste ich des Nachts, obwohl mir die Welt außerhalb der düsteren Ahnburg bei Tag sehr viel reizvoller schien … Es war im vierundzwanzigsten Jahr meiner Ausbildung. Meine Ausflüge dehnten sich nun schon über mehrere Tage, was mein Lehrmeister mit Sorge und vielen Ermahnungen begleitete. Da ich jedoch jedesmal unbeschadet zurückkehrte, ließ er sich mit meinen Schilde-
rungen von dunklen Schlafplätzen in Erdhöhlen, Felsspalten und Grotten, die ich auf meinen Reisen fand, beruhigend. Doch ich war verzweifelt. Ergebnislos wollte ich meine Suche schon beenden, als mich der Zufall einem Gemüsehändler in die Arme trieb, dem ich unter Einsatz meines Lebens in der Dämmerung einen ganzen Zopf dieser Knollen entwendete. Ekelhaft war der stechende Geruch. Zwei Nächte verbrachte ich in einer Grotte neben den Knoblauchzwiebeln, bis mein Eifer, Erfahrungen zu sammeln, meine Abneigung besiegte. Schweiß stand mir auf der Stirne, als ich die erste Knolle von dem Zopf riß, sie schälte und die hellen, krallenähnlichen Teile in meinen zitternden Fingern hielt. Ob es meinen Vorfahren, allen voran Ur-Opa, ebenso ergangen war, bevor es ihnen gelang, in die Knoblauchknolle zu beißen? Egal. Ich würde es bald wissen! Einen kurzen Moment zögerte ich noch, dann biß ich zu … Nächte später tauchte zwischen dichtverfilztem Mischwald und kargen Felsschroffen das alte Gemäuer des Karpatenschlosses auf. Mit Blasen an den Füßen und völlig entkräftet langte ich bei der düsteren Burg an. Schwarz lag die Silhouette vor dem bleichen Rund des Vollmondes. Ich war zu Hause! Noch einen kurzen Augenblick, dann konnte gefeiert werden. Mein drängendes Pochen hallte durch das Schloß. Charles öffnete mir. Stolz reckte ich ihm den Bund Knoblauch entgegen. Tränen schossen in sein Auge, sein zungenloser Mund öffnete sich; er hätte gewiß vor Begeisterung laut geschrien, wäre er nicht stumm gewesen. Dann übermannte ihn die ganze Tragweite meiner Leistung, und er fiel in Ohnmacht. Um ihn konnte ich mich jedoch im Moment nicht kümmern. Es galt, den alten Herrn zu unterrichten. Ich riß eine der Knollen ab und biß herzhaft hinein. In den Tagen meiner Wanderschaft war
Knoblauch zu einer schier unersetzlichen Bereicherung meiner einseitigen Nahrungsaufnahme geworden. Noch während ich mir den scharfen Geschmack von meinen kurzen Eckzähnen leckte, rannte ich die Wendeltreppe hinab, um Ur-Opas Bewunderung und Anerkennung zu erfahren. Noch bevor ich die schwere Türe öffnete, rief ich: »Ur-Opa! Ur-Opa! Ich habe es geschafft! Ich habe hineingebissen!« »Komm herein und laß deinen alten Ahn hören, wie dein erster Biß verlief!« hörte ich seine aufgeregte Stimme das Kreischen der Angeln übertönen und stürmte in die Gruft. »Setz dichchchch …« Es klang fast wie das Fauchen eines angreifenden Vampirs, doch ich ignorierte es, in meiner Vorfreude, alles zu berichten. »Beruhige dich, Ur-Opa, ich erzähl’s dir ja gleich.« Er schien es sich in seinen weichen Kissen bequem machen zu wollen, denn er begann zu strampeln und nach hinten zu drängen. Ich beugte mich über ihn und rückte ihn zurecht, während mein Atem in sein Gesicht blies. Doch irgendwie schien ihm nicht ganz wohl zu sein, denn er verlor Zusehens seine Totenblässe und wechselte in ein ungesundes Grün. Zurückversetzt zu werden in seine Jugendzeit, das war offensichtlich zuviel für ihn. Seine faltigen Lippen strafften sich und zeigten die gelben Eckzahnstummel. Ein Seufzen entrang sich seiner knöchernen Brust, dann lag er still. »Ur-Opa? – Ur-Opa!« rief ich entsetzt. Doch noch bevor ich gänzlich begriff, was eigentlich geschehen war, fühlte ich mich am Kragen gepackt und aus dem Raum gezerrt. Während Charles mich grob zur Treppe stieß und mich unsere Freundschaft mit einem Schlag (eigentlich waren es sehr viele Schläge) vergessen ließ, sah ich noch, wie mehrere Diener aufgeregt den Sarg umringten. Sie hoben die schlaffe Gestalt Ur-Opas aus den Kissen und flößten ihm mitgebrachtes Blut ein. Noch lange später konnte ich an meinen zerschundenen Beinen
und Knien die Spuren jeder einzelnen Stufe der Wendeltreppe erkennen. Mit ein paar Tritten beförderte mich Charles hinein in den verfilzten Bannwald, dann gab er mir mit unmißverständlicher Geste zu verstehen, daß auch ich mich, wie einst meine Eltern, auf dem Karpatenschloß nie mehr blicken lassen durfte. Ich verstand die Welt der Toten nicht mehr. Hatte ich etwas falsch gemacht? ENDE © Bernd Götz, Kleinreuther Weg 46, 90.408 Nürnberg
London 1666 � Ein Roman von Adrian Doyle Ich bin Ruby. Eine Überlebende. Meinen Vater hab’ ich nie gekannt, und Mutter lebt in diesem Heim … du weißt schon. Im letzten Jahr wütete die Seuche hier in London. Zehntausende hat sie gefressen. Mich wollte sie nicht haben. Seither wohn’ ich mal hier, mal da. Das Mannsvolk, so scheint’s, hat einen Narren an mir gefressen. Die Gier der Kerle ist größer als ihr Verstand … Oh, ich vergaß: Ich bin sehr schön. Die Beulen sind verschwunden, kaum eine Narbe blieb zurück. Ich bin eine Überlebende. Nenn’ mich Ruby und hör’ nicht auf die Leute, die mich anders nennen. Das Pestmädchen – nein, das bin ich nicht mehr! Das will ich nie mehr sein …