BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 31
DER RUF DER SCHWARZEN SONNEN von Marc Tannous
Die SESHA hat den Aqua...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 31
DER RUF DER SCHWARZEN SONNEN von Marc Tannous
Die SESHA hat den Aqua-Kubus – die Geburtsstätte einer ganzen Flotte von Foronen-Raumschiffen – verlassen. Ihr Ziel: die Große Magellansche Wolke, aus der Sobek und Siroona einst, vor Jahrzehntausenden, mit ausgewählten Angehörigen ihres Volkes vor den übermächtigen Virgh flohen. Existieren die Eroberer des Foronen-Reiches noch? Was ist aus der ursprünglichen Heimat der Kubus -Erbauer geworden? John Cloud und seine Gefährten sind gezwungen, sich der Expedition zur Nachbargalaxis anzuschließen. Die rochenförmige SESHA bricht auf, um die Verhältnisse im Alten Reich zu sondieren. Die baugleichen Giganten bleiben in der Milchstraße zurück, schwärmen mit unbekannten Befehlen aus. Doch bereits im Halo der Milchstraße endet die Reise der SESHA beinahe. Das Volk der Jaroviden versucht, sich in den Besitz des Schiffes zu bringen – ein Übergriff, der von Sobek auf grausamste Weise geahndet wird. Danach nimmt das Schiff seinen ursprünglichen Kurs wieder auf und erreicht die Randzone der Großen Magellanschen Wolke. Hier existiert eine
beispiellose Sternansammlung, die zugleich Quelle eines mysteriösen Dauersignals ist...
Gedankenverloren bewegte sich John Cloud durch das schummrige Zwielicht der ehemaligen Marsstation, begleitet von den Blicken mehrerer Hundert Toter. Sie sind nicht tot!, widersprach er sich sofort selbst. Sie schlafen... Natürlich..., höhnte der rationale Teil seines Denkens. Und der Mond der Erde besteht zu neunzig Prozent aus Weichkäse... Cloud blieb einen kurzen Moment stehen, schloss die Augen und drängte die Wut zurück, die er urplötzlich in sich aufsteigen spürte. Weshalb sollte er sich etwas vormachen? Er wusste doch genau, wie fragil die Existenz jener war, die ihn zu beiden Seiten flankierten. Ihn aus ihren Staseblöcken heraus hilflos anstarrten, wie Fische in einem Aquarium. Sicher, sie lebten noch, doch es war, als würden sie über einem gähnenden Abgrund schweben, nur noch gehalten von einem dünnen Seil. Ein weiterer Schauer kroch über seinen Nacken, als er einen leeren Sockel erblickte. Unweigerlich erinnerte er sich daran, was Jarvis ihm erzählt hatte. Was passiert war, als er und Resnick versucht hatten, zwei der Schläfer zu wecken. Sie hatten sich aufgelöst, waren verrottet und in Sekundenschnelle zu Staub zerfallen, kurz nachdem sich der Wahnsinn, der ihren Geist befallen hatte, in einem letzten verzweifelten Aufschrei entladen hatte. Der Bericht des GenTec ging konform mit den Bildern, die seit geraumer Zeit in Johns Kopf herumspukten. Seit damals, als Scobee und er in der Foronen-Station in der Nähe von Peking auf ebensolche bernsteinfarbenen Blöcke gestoßen waren. Wie Jarvis und der inzwischen verstorbene Resnick hatten auch sie versucht, einen der darin eingeschlossenen Asiaten zu »wecken« – und waren ebenfalls gescheitert. Noch heute
erinnerte sich Cloud mit Schrecken daran, wie sich der Mann unter spasmischen Zuckungen und mit einem markerschütternden Schrei auf den Lippen aufgebäumt ha tte, und dann in einem unheimlichen Tempo zu Staub zerfallen war. Kurz darauf waren auch alle anderen Schläfer erwacht und auf ebenso absonderliche Weise verendet. Männer, Frauen, Kinder, 27 an der Zahl. Cloud war der festen Überzeugung, dass er diese Bilder nie würde vergessen können. Inzwischen war er sich jedoch nicht mehr so ganz sicher, ob der Tod nicht sogar eine Erlösung für diese bedauernswerten Geschöpfe war. Denn selbst falls es gelang – und Sobek, dem obersten der Foronen würde es gelingen – einen Schläfer so zu wecken, dass ihm kein körperlicher Schaden entstand, war es mehr als fraglich, in welchem geistigen Zustand er die restlichen Jahre seiner Existenz verbringen würde. War es tatsächlich so, wie Jarvis es vermutete? Waren die Schläfer während der ganzen Zeit bei Bewusstsein? Bekamen sie mit, was um sie herum geschah, und das schon seit Jahrhunderten, wenn nicht gar Jahrtausenden? Und, falls dem so war, wie gefestigt musste dann der Charakter desjenigen sein, dessen Geist diese Zeit unbeschadet überstand? So wie der von Dad vielleicht?, blitzte es kurz in seinen Gedanken auf. Unsinn! Zweifellos war Nathan Cloud eine starke Persönlichkeit gewesen, körperlich und geistig fit, und so charakterfest wie kaum ein anderer Mann, den John jemals kennen gelernt hatte. Trotzdem. Er war kein Übermensch, auch wenn John ihn in seinen Kindheitserinnerungen stets idealisiert hatte. Seit Nathan Cloud an Bord der ARMSTRONG zur ersten Marsmission aufgebrochen und seitdem verschollen gewesen war. Bis heute.
John seufzte. Glaubte er wirklich, dass es genügte, einen Knopf zu drücken, und sein Vater würde vor ihm stehen, ganz so, wie er ihn bei seinem Abschied im Gedächtnis behalten hatte? So war es vielleicht in seinen Träumen immer gewesen. Die Realität sah anders aus. Oder doch nicht? Was, wenn doch die Möglichkeit bestand, ihn vollständig wieder herzustellen. Ihm ein neues Leben zu schenken. Seit er denken konnte, hatte sich John nach einer zweiten Chance gesehnt. War denn nicht allein schon die Möglichkeit, dass es klappen könnte, Grund genug, um nach diesem Strohhalm zu greifen – und dafür auch die möglichen Konsequenzen in Kauf zu nehmen? Nicht zuletzt dieser innere Widerstreit war es, was ihn immer wieder hierher trieb. Es war fast so, als würde er auf irgendein Signal seines Vaters hoffen. Auf eine stumme Aufforderung in seinen Augen, die ihm seine Entscheidung erleichterte. Unwillkürlich blieb Cloud ein weiteres Mal stehen und wandte sich wahllos einem der Blöcke zu. Der Mann, der darin eingeschlossen war, war deutlich kleiner als er selbst und hatte einen kleinen Spitzbart, der wie ein Stachel von seinem Kinn abstand. Es war schwer zu sagen, aus welcher Epoche er stammte, da nur Fetzen seiner Kleidung übrig geblieben waren. Erst bei genauerem Hinsehen entdeckte John einige kleinere Objekte, die wie Edelsteine aussahen. War da nicht auch so etwas wie der Teil einer Feder, schockgefroren und für die Ewigkeit konserviert? War der Mann gar ein mittelalterlicher Adliger gewesen? Ein hoher kirchlicher Würdenträger? Ein Dieb? Oder am Ende gar ein Zuhälter im New York des 21. Jahrhunderts? Und was waren die genauen Umstände seines Verschwindens gewesen? Womit hatte er sich gerade beschäftigt, als es passiert war? Cloud war
sich sicher, dass es ihn ziemlich überraschend ge troffen haben musste. Seine Augen waren zwar geweitet, doch der Zug um seinen Mund ließ darauf schließen, dass er im Augenblick seiner Entführung noch nicht vollends verstanden hatte, was da mit ihm geschah. Mühsam widerstand Cloud der Versuchung, sich nach dem Sockel des Kubus zu bücken, an der kleinen grünen Kugel zu drehen und damit den Weckmechanismus einzuleiten. Er hatte nicht das Recht, mit dem Leben anderer zu experimentieren. Auch wenn »Leben« ein Begriff war, der sich ihm beim Anblick des kleinen Mannes nicht als Erstes aufdrängte. John Cloud drehte sich wieder um und ließ seinen Blick an der Phalanx der Schockgefrorenen entlang gleiten. Knapp Tausend Menschen aus den unterschiedlichsten Zeitaltern. Konserviert und aufgereiht, wie seltene Insekten in den Schaukästen eines Museums. Und jeder von ihnen hatte seine ganz eigene Geschichte zu erzählen. John fiel es noch immer schwer, einen Sinn hinter diesem Aufwand zu erkennen. Welchen Zweck verfolgten die Foronen mit dieser Anlage, die sich bis vor kur zem noch unter der Oberfläche des Mars befunden hatte, und erst kurz vor ihrem Aufbruch geborgen worden war? Sobek und Siroona, zwei der sieben foronischen Oberhäupter und die Oberbefehlshaber an Bord des Rochenraumers SESHA, hatten sich bisher äußerst bedeckt gehalten. John hatte die Hoffnung mittlerweile begraben, ihnen in naher Zukunft mehr Details entlocken zu können. Derzeit konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Hirten, wie die Vaaren des Aqua-Kubus sie religiös verklärt nannten, auf dringlichere Angelegenheiten. SESHA war im direkten Anflug auf die Große Magellansche Wolke – von den Foronen Samragh genannt –, wohin sie von der Milchstraße aus gestartet waren.
Auch Cloud bewegte ungemein die Frage, was sie dort wohl vorfinden würden. Schon aus einer Entfernung von hunderttausend Lichtjahren hatten sie im Grenzbereich der GMW eine Reihe von Objekten geortet, die nicht nur von immenser Größe, sondern zudem foronischen Ursprungs zu sein schienen. Waren sie das wirklich? Oder war es ein Trick der Virgh, jener ominösen Rasse, über die Cloud bisher kaum mehr wusste, als dass sie die schlimmsten Feinde der Foronen und ihnen an technologischer Entwicklung und Skrupellosigkeit noch überlegen waren. Bald würde er es wissen. Spätestens dann, wenn sie die Zielkoordinaten erreichten, was nach Sobeks Angaben kurz bevorstand. Doch Cloud kam nicht umhin, sich zu fragen, ob ihnen dieses Wissen dann noch etwas nützen würde. Seine Gedanken konzentrierten sich wieder auf die unmittelbare Gegenwart, als er sich dem Bereich der Marsstation näherte, dem sein hauptsächliches Interesse galt. Obwohl ihn sein Weg in den vergangenen Tagen und Wochen häufig hierher geführt hatte, wuchs seine Nervosität mit jedem Schritt. Manchmal wünschte er sich, sein Vater wäre tatsächlich nicht mehr am Leben, wie er es all die Jahre geglaubt hatte. Und irgendwie hatte er auch in diesem Moment den Eindruck, dass es ihm um so vieles leichter fallen würde, zu wissen, dass ihn am Ende seines Weges nur ein Grab mit einem Granitblock und irgendeinem frommen Spruch darauf erwartete und nicht dieses leblose... Ding. Nackt und entblößt, seiner Würde beraubt, den Wahnsinn in den funkelnden Augen. Clouds Herz klopfte und Schweiß bedeckte seine Handflächen, als er die Stelle mit Nathan Clouds Staseblock erreichte.
Das Erste, was er empfand, als er auf den vollkommen leeren Sockel starrte, war Unglauben. Er musste sich verzählt, musste sich in der Reihe geirrt haben. Hektisch flog sein Blick über die benachbarten Staseblöcke. Zu seiner Linken sah er eine üppige blonde Frau, die den Mund weit geöffnet hatte und ihn an die Hauptakteurin einer Wagneroper erinnerte. Zur Rechten stand ein kleiner Mann mit dunkler Haut, bei dem es sich dem Aussehen nach um einen australischen Ureinwohner handeln konnte. Es waren dieselben beiden Menschen, die immer an dieser Stelle gestanden hatten. Und diese Erkenntnis erschreckte John Cloud weitaus mehr, als es der Anblick seines Vaters je vermocht hätte, erlaubte sie doch nur eine einzige Schlussfolgerung: Nathan Cloud war verschwunden!
Denkst du, sie sind noch da? Nach all den Jahren? Sobek hörte eine Spur von Unbehagen aus Siroonas Worten heraus. Er sah sie an, obwohl sein Blick scheinbar nach vorn, auf die Holosäule in der Mitte der Zentrale gerichtet war, wo unablässig neueste Ortungsdaten in Form endloser Zahlenkolonnen aufblitzten. Die Verteilung seiner optischen Sensoren über den gesamten Kopf erlaubte dem Foronen und obersten der Sieben Hohen einen nahezu lückenlosen Rundumblick. Wir waren so lange fort. Ich glaube, sie haben die Suche nach uns aufgegeben, antwortete er, ebenfalls auf telepathischem Wege. Glaubst du es, oder hoffst du es?
Spielt das eine Rolle? Wir können uns nicht ewig verkriechen. Jahrtausende hielten wir uns versteckt. In einem Würfel voll Wasser! Die Art und Weise, wie er ihr das letzte Wort mental entgegenschleuderte, verriet, wie sehr er dieses Element verabscheute. Die Foronen stammten von einer sehr heißen und wasserarmen Wüstenwelt und hatten sich bei ihren Expansionsbestrebungen stets Planeten ausgesucht, die ebenfalls diese Voraussetzungen erfüllten. Dass ausgerechnet sie gezwungen gewesen waren, ein Versteck wie Tova’Zarah, den Aqua-Kubus, zu ersinnen und zu erschaffen, um darin die lange Zeit der Stase zu überdauern, war eigentlich mit einer Demütigung dieses Volkes gleichzusetzen. Man konnte es aber auch als brillante Finte bezeichnen, mit dem sie die Virgh auf eine falsche Fährte gelockt hatten. Ihr Plan war aufgegangen. Während der letzten Jahrtausende hatte niemand ihre Ruhe in der Luftblase der Ewigen Stätte gestört. Bis ein Mann namens John Cloud und seine Gefährten gekommen waren und sie erweckt hatten. Einige Jahre zu früh zwar, was angesichts der immensen Zeitspanne, die seit ihrer Flucht vergangen war, jedoch zweitrangig schien. Wenn sich die Virgh jetzt noch nicht aus Samragh zurückgezogen hatten, würden sie es auch in naher Zukunft nicht tun. Weißt du, was ich mich am häufigsten frage?, sagte Siroona nach einem Moment des Schweigens. Sobek wartete ab was sie zu sagen hatte. Wir waren so lange im Exil. Jahrtausende des Stillstands in der Entwicklung unseres Volkes. Jahrtausende, die unsere Feinde sicher nicht untätig verstreichen ließen. Wie weit mag ihr technischer Fortschritt inzwischen gediehen sein? Welche Evolutionssprünge mögen sie seitdem vollzogen haben? Sobek konnte Siroonas Sorgen nur zu gut nachempfinden. Es war geradezu beängstigend, wenn man sich vor Augen
führte, wozu ihre schlimmsten Feinde schon damals fähig gewesen waren. Sollten sie sich wider Erwarten nicht aus dem Alten Reich zurückgezogen haben, würde den Foronen auch die beste List nicht mehr dabei helfen, sich ihrem Zorn zu entziehen. »Es ist müßig, sich in Spekulationen zu ergehen«, sagte Sobek laut, um seinen Worten mehr Ausdrucksstärke zu verleihen. »Wir müssen einfach abwarten und...« Der Forone verstummte, als eine weitere Meldung der Schiffs-KI durch die Holosäule in der Mitte der Zentrale geisterte. Es gab eine Neuigkeit in Bezug auf die Signale, die permanent aus der Nähe von Samragh ausgestrahlt wurden und die sie bereits kurz nach ihrem Aufbruch aus Bolcrain, der großen Galaxis, geortet hatten. Hatte es sich bei den bisherigen »Rufen« noch um einfache Ortungssignale gehandelt, so transportierten die zuletzt empfangenen Signale eine konkrete Botschaft. Die KI projizierte sie direkt in Sobeks Gedanken. Der Wortlaut war in foronischer Sprache abgefasst. Und ihr Inhalt war von weit reichender Bedeutung...
Je länger John Cloud die Tiefen der Station durchkämmte, desto offensichtlicher wurde es, dass tatsächlich nur ein einziger Schläfer verschwunden war. Alle anderen, an denen er vorbeikam, ruhten steif und unbeweglich in Blöcken. Wieso ausgerechnet Dad? Wer konnte ein Interesse daran haben, ihn aufzuwecken? Noch mehr als die Frage, wer seinen Vater geweckt hatte, interessierte ihn, wohin dieser Jemand ihn gebracht hatte. Und in welcher Verfassung er sich befand.
Zumindest deutete nichts darauf hin, dass Nathan Cloud das Schicksal derer teilte, die Jarvis und Resnick versucht hatten aufzutauen. Auf dem Boden rund um den leeren Sockel waren keinerlei Rückstände feststellbar gewesen. Wäre er zerfallen, so wäre zumindest Staub übrig geblieben. Wer auch immer dafür verantwortlich war, er musste sich mit der Funktionsweise des Weckmechanismus sehr gut auskennen. Bei Tausend Foronen an Bord schränkte das die Zahl der Verdächtigen jedoch nicht sehr ein... Außerdem scheute er noch davor zurück, das Verschwinden seines Vaters an die große Glocke zu hängen. Er war sich noch immer nicht sicher, inwieweit er den Foronen trauen konnte. Wenn tatsächlich einer von ihnen Nathan Cloud erweckt hatte, ohne ihm etwas davon zu sagen, war es höchst unwahrscheinlich, dass er nachträglich mit der Sprache herausrückte. Vielleicht gab es ja doch eine Chance, auf eigene Faust herauszufinden, was passiert war. Die technischen Möglichkeiten dazu waren vorhanden. Er musste sie nur richtig nutzen. Mit klopfendem Herzen trat er vor das zentrale Schaltpult der Station, das sich etwas abseits der Kuben befand, und von Dutzenden großer und kleiner Monitore umgeben war. Einige zeigten Bilder aus der Station selbst, andere überwachten die Außenbereiche. Insgesamt erlaubten sie einen hervorragenden Überblick über die weitläufige Anlage. Es musste doch mit dem Teufel zugehen, wenn sich damit nichts anfangen ließe. Vielleicht, so hoffte er, existierten ja sogar Aufzeichnungen der letzten Stunden. Cloud sank in die Sitzmulde vor den Armaturen und betätigte einen Schalter, um dessen Funktion zu testen.
Einer der Bildschirme zu seiner Rechten veränderte sich, zeigte jetzt ein anderes Motiv, als noch kurz zuvor. Mit Hilfe einer golfballgroßen Kugel, die über dem Pult schwebte und frei beweglich war, veränderte er die Perspektive. Die Kamera schwenkte herum, kreiste langsam über die Reihen der Schläfer. Cloud war zufrieden. Er hatte offensichtlich nichts von seinem instinktiven Verständnis für die Foronen-Technologie eingebüßt. Fast sah es aus, als würde sich die Kamera aus ihrer Halterung lösen und frei im Raum schweben. Cloud erschien das umso seltsamer, als er bis her keine einzige Kamera bemerkt hatte. Er betätigte einen weiteren Schalter. Das Bild veränderte sich erneut und zeigte einen Raum, der etwas weitläufiger zu sein schien. Wieder ließ er seine Handfläche über die Steuerungskugel kreisen, wieder geriet das Bild in Bewegung. Es war schwer zu erkennen, um welchen Raum es sich dabei handelte. Der Bildausschnitt zeigte weitere Staseblöcke, wie sie fast überall in der Station vorzufinden waren. Cloud verengte die Augen, suchte nach irgendeinem Hinweis. Etwas, das er wieder erkannte. Völlig unbedacht, so als würde er über Wissen verfügen, dessen er sich selbst erst in diesem Moment bewusst wurde, betätigte er eine bestimmte Tastenkombination. Er wich erschrocken zurück, als etwas dicht vor ihm aus einem kleinen Loch in der Schaltfläche hervor geschossen kam. Ein Lichtstrahl, der sich vor seinen Augen entfaltete und einen holografischen Aufriss einer Ebene der Station zeigte. Cloud stieß zischend Luft durch seine Lippen, beeindruckt von ihrer Größe. Doch es waren nicht nur die schieren Ausmaße, die ihn überraschten. Viele der Räume der Korridore waren so
unförmig und seltsam verzerrt, dass es sich dabei eigentlich nur um eine fehlerhafte Darstellung handeln konnte. Und noch etwas fiel ihm auf. Während das Gesamtbild in einem unaufdringlichen Blau schimmerte, leuchtete einer der Räume in einem hellen Rot. War das der Raum, den er vor sich auf dem Bildschirm sah? Cloud betätigte den Schalter ein weiteres Mal. Das Bild sprang um. Gleichzeitig veränderte sich auch das Hologramm, und ein anderer Raum war rot erleuchtet. Cloud benötigte noch einige Minuten, bis er die Steuerung einigermaßen verstanden hatte. Im Grunde war sie sehr benutzerfreundlich gestaltet und kinderleicht zu bedienen, wenn man erst einmal mit den einzelnen Funktionen vertraut war. Nach einer Weile bereitete es ihm keine große Mühe mehr, sich ganz gezielt durch die einzelnen Bereiche zu arbeiten, während er mit Hilfe des Hologramms versuchte, den Weg vom Ausgang bis zu dem Raum nachzuvollziehen, in dem sein Vater bis vor kurzem untergebracht war. Dabei stellte er zu seiner Enttäuschung fest, dass höchstens die Hälfte der Station überwacht war. Das System wies zahlreiche Lücken auf, möglicherweise hatte es während der Jahrtausende, die die Anlage unterhalb der Marsoberfläche überdauert hatte, einige Schäden davongetragen. Wenn Cloud versuchte, besagten Raum auf den Bildschirm zu holen, war jedes Mal stattdessen ein benachbarter Bereich zu sehen. Nach zahlreichen vergeblichen Versuchen lehnte sich Cloud zurück und verschränkte die Hände im Nacken. Wie es aussah kam er nun wohl doch nicht darum herum, Sobek um Rat zu bitten.
Im Grunde war das ohnehin die naheliegendste Lösung. An Bord der SESHA geschah nichts, ohne dass der oberste Forone davon erfuhr. Sobeks Bewusstsein war unmittelbar mit der KI des Rochenraumers vernetzt, und er war in der Lage, seine inneren und äußeren Funktionen allein mit der Kraft seiner Gedanken zu steuern. Gezeigt hatte sich das zuletzt, als er die KI gegen Jelto »aufgehetzt« hatte, nachdem sich der Florenhüter meditativ in das Erste Korn versenkt und damit ein unkontrolliertes Wachstum einiger Pflanzensamen ausgelöst hatte. Erst in letzter Sekunde, und nicht zuletzt durch das beherzte Eingreifen der zehnjährigen Aylea, war gerade noch das Schlimmste verhindert worden. Das Problem dabei war, dass sich Cloud nicht sicher sein konnte, inwieweit das Oberhaupt der Foronen seine Finger im Spiel hatte. Wenn er nicht von sich aus bereit war, ihm zu helfen, würde er sich die Zähne an ihm ausbeißen. Wenn Cloud eines über diese fremdartigen Wesen gelernt hatte, dann, dass sie anderen nur halfen, wenn sie sich selbst einen Nutzen davon erhofften. Cloud erhob sich und verließ die Schaltzentrale. Er wollte noch einmal an der Position des Staseblocks seines Vaters vorbeigehen. Er hatte die Stelle gerade passiert, als er unwillkürlich stoppte. Er ging drei Schritte zurück und blieb vor einem Staseblock stehen, den er im Vorbeigehen aus dem Augenwinkel bemerkt hatte. Mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Ekel stellte er fest, dass er sich nicht geirrt hatte. Der Mann, der da nackt und bloß vor ihm stand, hieß Jeunet und war einer der Wissenschaftler, die seinen Vater auf der legendären ersten Marsmission im Jahre 2019 begleitet hatten. Er hatte die Augen geschlossen und seine Arme hingen schlaff an seinem Oberkörper hinab.
Fröstelnd wandte sich Cloud dem Schläfer neben Jeunet zu. Es war Alexej Wolinow. Der Russe war zweiter Kommandant an Bord der ARMSTRONG gewesen. Jetzt deutete nichts mehr darauf hin, dass es sich bei dem langen, struppig behaarten Mann um einen angesehenen und mit Auszeichnungen überschütteten Wissenschaftler handelte. Sein Mund stand offen, seine Hände waren ausgestreckt. Und im Gegensatz zu Jeunet hatte er die Augen weit geöffnet. Der Ausdruck darin schnürte John Cloud die Kehle eng. Es war dasselbe Glitzern, das John in den Augen seines Vaters gesehen hatte. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, als müsse er damit rechnen, dass Wolinow sich jeden Moment von seinem Sockel erhob und auf ihn stürzte. Verdammt, zuckte es durch seine Gedanken. Die Atmosphäre an diesem Ort brachte ihn noch um den Verstand. Er fuhr herum und eilte weiter in Richtung Ausgang, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen. Und ohne die Blicke zu bemerken, die ihm aus dem Dunkel heraus folgten...
Wider Erwarten schien Sobek überrascht, als Cloud ihn zur Rede stellte. Ganz sicher war sich der Ex-Kommander jedoch nicht. Schließlich war es so gut wie unmöglich, die Mimik eines Foronen, deren Physiognomie nur rudimentär der eines menschlichen Gesichts entsprach, exakt zu deuten. Dennoch bildete er sich ein, dass es ihm zunehmend leichter fiel, die geringen Nuancen in der Vibration der Sprechmembran zu unterscheiden, und sie ihren Pendants auf der menschlichen Emotionsskala zuzuordnen.
»Ich werde mich darum kümmern«, sagte Sobek schließlich. »Sobald...« Cloud hatte den unbestimmten Eindruck, dass der Blick des Foronen in Siroonas Richtung wanderte. Doch auch das konnte er nicht mit letztgültiger Bestimmtheit sagen, da sich Sobeks Kopf nicht bewegte. »Sobald – was?«, fragte er betont ungeduldig. Beide Foronen schwiegen, doch Cloud war sich sicher, dass sie sich gerade auf mentalem Wege berieten. In solchen Momenten fühlte er sich wie ein kleiner Junge, dessen Eltern in eine Fremdsprache verfielen, um ungestört ihre Probleme zu erörtern. »SESHA hat einen Funkspruch empfangen«, erklärte Sobek nach einer Weile. »Er kommt aus genau jenem Bereich, von dem aus uns die ersten Ortungssignale erreichten.« »Heißt das, es gibt tatsächlich weitere Überlebende eures Volkes?«, fragte Cloud. »Nicht unbedingt. Es handelt sich dabei um eine knappe und in einer Endlosschleife ausgestrahlte Nachricht in foronischer Sprache. Und niemand kann sagen, wie lange schon.« »Wie lautet sie?« Cloud konnte seine Neugier kaum noch zügeln. »Auch das lässt sich nicht mit letzter Gewissheit sagen, da sie nur aus einzelnen Wortfetzen besteht. Hör am Besten selbst.« Ohne dass es ein eindeutiges äußeres Anzeichen dafür gab, ahnte Cloud, dass der Hirte in diesem Moment mit der SchiffsKI in Verbindung trat. Kurz darauf knisterten aus verborgenen Lautsprechern abgehackte, foronische Sprachfetzen durch die Zentrale. »... besiegt... Virgh... vernichtet... zurück... Samragh... besiegt... Virgh...«
»Interessant«, murmelte Cloud, nachdem die Botschaft dreimal wiederholt worden war und dann abrupt abbrach. »Wenn auch nicht ganz eindeutig.« Er überlegte kurz, versuchte sich dann an einer Interpretation. »Wir haben den Feind besiegt«, schlug er vor. »Die Virgh sind vernichtet. Kommt zurück nach Samragh.« Er wiegte den Kopf und runzelte die Stirn. »Genauso gut könnte es aber auch heißen: Wir wurden besiegt. Die Virgh haben uns vernichtet. Kommt niemals zurück nach Samragh... Oder etwas in der Art.« »Du verstehst also unser Dilemma«, sagte Siroona. »Es könnte sich bei der Botschaft durchaus um ein Lebenszeichen der Letzten unseres Volkes handeln. Foronen, die nicht mit uns in der Arche geflohen sind.« »Genauso gut«, fügte Sobek hinzu, »könnte es eine Falle sein.« »Ist inzwischen geklärt, worum es sich bei diesen, am Ursprungspunkt der Signale georteten Objekte handelt?«, fragte Cloud. Und wieder hatte der Ex-Kommander den Eindruck, als würden die beiden Foronen mehr wissen, als sie ihm gegenüber preisgeben wollten. Das Schweigen, das sekundenlang zwischen ihnen hing, deutete jedenfalls auf eine erneute Verlagerung ihres Gesprächs auf eine mentale Ebene hin. »SESHA nimmt derzeit eine Analyse ihrer Beschaffenheit vor. Endgültige Ergebnisse liegen noch nicht vor.« Cloud glaubte ihm nicht. Er war sich jetzt fast sicher, dass Sobek irgendetwas vor ihm zurückhielt. Tat er es, um ihn vor einer erschreckenden Wahrheit zu schützen? Ihn nicht zu beunruhigen? Oder führte er etwas ganz anderes im Schilde? Etwas, das er um jeden Preis vor ihm geheim halten wollte?
»Du hast Recht«, sagte Sobek, bevor Cloud ihm eine weitere Frage stellen konnte. »Ich sollte mich bis dahin um das Problem kümmern, dessentwegen du mich aufgesucht hast. Ich werde dich informieren, sobald ich Näheres über den Verbleib deines Erzeugers in Erfahrung bringen konnte.« Mit diesen Worten verschwand er in einem Lichtblitz. Seine auf Nanotechnologie basierende Rüstung hatte ihn fortteleportiert. Cloud wollte aufbegehren. Wollte sich nicht damit abfinden, auf diese Weise abgespeist zu werden. Er drehte sich um, um in die ehemalige Marsstation zu eilen. Doch Siroonas Worte bannten ihn am Fleck. »Du musst lernen, dich in Geduld zu üben, John Cloud. Es ist nicht gut, die Dinge zu überstürzen.« Cloud schüttelte den Kopf, suchte vergeblich nach einem überzeugenden Einwand. Was konnte man einem Wesen, das die letzten Jahrtausende mit Warten verbracht und dabei eine geradezu übermenschliche Geduld bewiesen hatte, denn schon entgegnen?
Auch wenn er es in Gegenwart des Menschen Cloud niemals zugegeben hätte, so beunruhigte Sobek die Nachricht von Nathan Clouds Verschwinden zutiefst. Diese Unruhe verstärkte sich, nachdem ihm auch die KI auf eine erste kurze Anfrage keine Antwort geben konnte. Obwohl die ehemalige Marsstation nun ein Teil der SESHA war, sich nahtlos in sie eingefügt hatte, hatten die Überwachungssysteme des Rochenraumers nach wie vor nur beschränkten Zugriff auf sie.
Wie bei einem abgetrennten und später wieder angenähten Gliedmaß würde es eine Weile dauern, bis die entsprechenden Verbindungen wieder hergestellt waren. Außerdem galt es, einige Schäden und Störungen zu beseitigen, die sich während eines so langen Zeitraums, in dem die Station in Betrieb gewesen war, unweigerlich ergaben. Umso unabdinglicher war es, dass er selbst nach dem Rechten sah. Die Tatsache, dass sich jemand ohne seine Erlaubnis an den Schläfern zu schaffen gemacht hatte, untergrub bei weitem nicht nur seine Autorität. Sie implizierte vielmehr, dass sich jemand an Bord befand, der ganz offen ent gegen seiner eigenen Ziele und Pläne agierte. Und der dritte Punkt, der ihm zu schaffen machte, war der, dass keinem Mitglied seiner Besatzung ein solcher Verrat zuzutrauen war. Foronen stellten sich nie gegen die Interessen der Hohen ihres eigenen Volkes. Mochten sie sich anderen Völkern gegenüber noch so rücksichtslos verhalten, so stand an erster Stelle ihres Strebens stets das Wohl aller Foronen. Wenn es also kein Forone gewesen war, der den Schläfer geweckt hatte, musste er daraus schließen, dass noch jemand anders an Bord war. Ein blinder Passagier, von dessen Existenz bisher noch nicht einmal die nahezu allwissende Schiffs-KI etwas gemerkt hatte. Ein ungeheurer Vorgang, dem es mit aller Entschlossenheit entgegenzutreten galt. Er würde alles daran setzen, den Eindringling aufzuspüren. Und wenn er ihn gefunden hatte, würde er ihn wie einen Wurm zertreten... Sobek drängte seine Rachegelüste zurück, als er die Stelle mit Nathan Clouds leerem Sockel erreichte. Bevor er die Klauen wetzen konnte, war erst einmal kühles Nachdenken gefordert.
Der Hohe schaute sich um. Sein Blick fiel auf die Reihen der Schläfer. Und da kam ihm auch schon ein interessanter Gedanke. Ja, so könnte es klappen. Und falls nicht, war es zumindest ein interessantes Experiment...
»Irgendwann erwürge ich ihn mit bloßen Händen«, knurrte John Cloud und ließ sich in einen der Schalensessel in Scobees Kabine fallen. Die GenTec musterte ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Amüsement. »Ich bezweifle, dass du diesen Kampf für dich entscheiden würdest.« Scobee musste nicht, nachfragen, um zu wissen, wem die Wut des Ex-Commanders galt. Es gab nur ein Wesen an Bord des Rochenraumers, das die Gabe besaß, den sonst so beherrschten Raumfahrer derart zur Weißglut zu treiben. Scobee konnte ihm diese Gefühle durchaus nachempfinden. Sie ärgerte sich selbst immer wieder über die herablassende Arroganz des Foronen, die nur noch von seiner erdrückenden Autorität übertroffen wurde. Diese Eigenschaften, gepaart mit seiner imposanten Statur und einer Körpergröße von knapp zweieinhalb Metern, machten es jedoch nicht gerade leicht, sich ihm zu widersetzen. Ganz davon abgesehen, dass der Hirte die absolute Befehlsgewalt über die KI des Rochenschiffs besaß und nicht zögerte, sie gegen jeden einzusetzen, der sich seinen Zielen in den Weg stellte. »Was ist passiert?«, fragte Jarvis, der in dem Schalensitz rechts von Cloud saß. Sein amorpher, quecksilberartiger Körper, der einst dem verstorbenen Hirten Mont als Rüstung
gedient hatte, bildete wie fast immer den ursprünglichen Körper des GenTec nach. »Sobek und Siroona wissen bereits, was es mit diesen riesenhaften Objekten am Rande der Großen Magellanschen Wolke auf sich hat«, sagte Cloud mit grimmigem Blick. »Dennoch halten sie uns hin. In ihren Augen sind wir nur eine Hand voll Unmündiger. Nicht reif genug, um uns an einer Entscheidungsfindung zu beteiligen.« In knappen Worten berichtete Cloud von seiner Unterredung mit den Foronen und erwähnte dabei auch den Wortlaut des mysteriösen Funkspruchs. Scobee zog ihre verschnörkelten Tattoos in die Höhe, die bei ihr an der Stelle der Augenbrauen saßen. »Könnte eine Falle sein«, mutmaßte sie. »Allerdings. Es macht mich wahnsinnig, dass Sobek nicht mit der ganzen Wahrheit herausrückt. Außerdem...« Er verstummte, während ihn die beiden Freunde erwartungsvoll ansahen. Über die Aufregung der letzten Minuten war das plötzliche Verschwinden seines Vaters kurzzeitig seinen Gedanken entrückt. Mit einem Schlag kehrte die Erinnerung zurück. Und mit ihr der Schmerz. Rasch erzählte er den GenTecs davon. Beide zeigten ganz offen ihre Bestürzung. »Dein Vater ist verschwunden?«, fragte Scobee mit belegter Stimme. »Wie kann das sein?« »Ich nehme an, dass irgendjemand ihn... aufgetaut hat.« »Wer sollte so etwas tun?«, fragte Jarvis. Cloud schwieg und blickte ihn nur viel sagend an. »Du denkst, Sobek könnte etwas damit zu tun haben?« »Wieso nicht? Wir wissen doch, dass an Bord dieses Schiffes nichts geschieht, ohne dass unser Gastgeber Wind davon kriegt. Wahrscheinlich weiß er sogar, worüber wir in diesem Moment sprechen.«
Jarvis senkte den Blick. Ihm war klar, worauf Cloud anspielte. In letzter Zeit hatten sich die Hinweise verdichtet, dass der GenTec nicht ganz uneingeschränkt über seinen neuen Körper verfügte, sondern dass Sobek nach wie vor die Möglichkeit hatte, ihn in seinem Sinne zu manipulieren. War Sobek am Ende sogar in der Lage, mit Jarvis' Augen zu sehen, mit seinen Ohren zu hören? Diente der ehemalige GenTec ihm unbewusst als Späher? Als Maulwurf, der ihn stets über die Vorgänge im Lager der Menschen informierte? Jarvis selbst hätte einiges gegeben, um Antworten auf diese Fragen zu erhalten. Mehr denn je fühlte er sich wie ein Objekt. Wie ein Werkzeug, nur dazu geschaffen, um einem anderen zu dienen. Unwillkürlich musste er an seinen Freund Resnick denken, der auf dem Mars sein Leben ausgehaucht hatte. Vielleicht, ging es ihm für einen schrecklich langen Moment durch den Kopf, hatte es sein Partner ja am Ende doch besser getroffen als er... »Jedenfalls hat Sobek versprochen, Licht ins Dunkel zu bringen«, sagte Cloud. »Wenn es ihm ernst damit ist, wird er deinen Vater auch finden«, meinte Scobee. Und als sie John Clouds ernsten Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Lebend.« Cloud räusperte sich, um den Kloß in seinem Hals zu lockern. »Ich weiß nicht, ob das so wünschenswert wäre...« »Du denkst, er...?« Jarvis war taktvoll genug, um das letzte Wort unausgesprochen zu lassen. »Er war über zweihundert Jahre wach, hat wahrscheinlich seine Umgebung wahrgenommen, konnte aber nichts tun. Es ist zumindest wahrscheinlich, dass Dad einen irreparablen psychischen Schaden davongetragen hat.« Scobee und Jarvis tauschten einen kurzen Blick. Die erschreckende Deutlichkeit von Johns Worten überraschte sie.
Aber wahrscheinlich manifestierte sich darin der Versuch, den Schmerz, der in seinem Innern wühlte, zu überdecken. »Habt ihr den Ausdruck in seinen Augen gesehen?«, fragte Cloud, während sein eigener Blick ins Leere driftete. »Das waren nicht die Augen eines geistig gesunden Menschen.« Sekundenlang schwebte eine unheilsschwangere Stille im Raum. Scobee fragte sich unwillkürlich, wie sie sich an Johns Stelle verhalten würde. Würde sie sich dafür entscheiden, einen geliebten Menschen um jeden Preis zurück ins Leben zu holen? Selbst wenn er den Rest davon in einem Zustand geistiger Umnachtung verbringen müsste? Freilich war es müßig, darüber zu philosophieren, angesichts der Tatsache, dass John Cloud diese Entscheidung möglicherweise bereits abgenommen worden war. Scobee wollte zu einer tröstenden Bemerkung ansetzen, als sich eine Stimme aus den verborgenen Lautsprechern des Kommunikationssystems meldete. »Mensch John Cloud, unverzüglich in die Steuerzentrale der Marsstation kommen!« Die Anspannung auf Clouds Zügen verhärtete sich. »Dann wollen wir unseren knöchernen Freund mal nicht warten lassen«, murmelte er und erhob sich schwerfällig. Trotz seiner Erleichterung darüber, dass die Zeit des Wartens ein Ende hatte, war ihm die Sorge um seinen Vater noch deutlicher ins Gesicht gemeißelt, als jemals zuvor. »Ich komme mit dir«, erklärte Scobee in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. Jarvis schloss sich ebenfalls an. Es war, als wollten ihm die GenTecs zeigen, dass er immer, auch in seinen möglicherweise schwersten Stunden, auf sie zählen konnte. Er dankte es ihnen mit einem Lächeln...
Sobek erwartete sie in Gesellschaft von zwei weiteren Foronen, die beide etwas kleiner als der Kommandant der SESHA waren und ihn regungslos einrahmten. »Handelt es sich bei dem Namen ›John Cloud‹ neuerdings um einen Sammelbegriff?«, fragte Sobek. Cloud war wieder einmal überrascht über die Selbstverständlichkeit, mit der sich der Forone den menschlichen Sinn für Sarkasmus zu Eigen machte. »Freunde stehen einander bei«, entgegnete Scobee schnippisch. »Aber ich nehme nicht an, dass du das verstehst.« Sobek ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er übergangslos fortfuhr. »Du hattest Recht, John Cloud. Wie es scheint, existieren keinerlei Aufzeichnungen, die Aufschluss über den Verbleib deines Vaters geben könnten. Die Station ist nur unzureichend überwacht und weist zudem etliche Schäden auf. Ich musste daher zu anderen Mitteln greifen, um mich der Lösung unseres Problems zu nähern.« Cloud blickte Scobee an, und eine böse Ahnung manifestierte sich in seinem Gesicht. Was hatte der Forone nur getan? Sobek drehte sich um und setzte sich in Bewegung. Die beiden anderen Foronen ließen Cloud, Scobee und Jarvis den Vortritt. Dann erst folgten sie dem Tross auf seinem Weg durch die weitläufigen Gänge. »Mangels einer lückenlosen, technischen Überwachung der Station«, setzte Sobek schließlich an, »begab ich mich auf die Suche nach einem geeigneten Augenzeugen...« Die böse Ahnung, die Clouds Denken vereinnahmt hatte, verfestigte sich. »Ich musste nicht lange suchen«, fügte der Hirte hinzu, und blieb vor einer schweren, silbern schimmernden Tür stehen, die wie der Zugang zu einem Tresorraum aussah.
Durch eine kurze Berührung des Foronen öffnete sich eine kleine Luke in der so massiv wirkenden Oberfläche der Tür. »Tretet näher und seht ihn euch an!« Sobek selbst trat einen Schritt zur Seite. Zögernd nahm Cloud seinen Platz ein. Da die verglaste Öffnung für die über zwei Meter großen Foronen gemacht worden war, musste er sich auf die Zehenspitzen stellen, um hindurchblicken zu können. Zunächst sah er nur einen vollkommen leeren, quadratischen Raum und wollte sich schon wieder zurückziehen, als urplötzlich ein Schatten von unterhalb der Luke kommend in die Höhe schoss. Cloud wich erschrocken zurück. Kurz darauf erschien ein Gesicht in der Öffnung, nur wenige Zentimeter von seinem Eigenen entfernt. Der Atem des anderen ging so hektisch, dass das plexiglasartige Material beschlug. Daher dauerte es eine Weile, bis Cloud das Gesicht erkannte. Es gehörte Alexej Wolinow, dem russischen Wissenschaftler. Doch der Ausdruck in seinen Augen hatte nicht mehr das Geringste mit dem eines brillanten Kopfes zu tun. Er war der eines Geisteskranken...
Sie haben die Verfolgung aufgenommen, sind mir auf den Fersen. Noch sind sie ahnungslos. Sie hetzen vorbei an meinem Versteck, wie Jäger, die einer falschen Fährte folgen. Doch auch wenn sie einen Umweg gewählt haben, tasten sie sich langsam näher heran.
Sie haben einen der Schläfer geweckt. Hoffen, dass er ihnen dabei hilft, mich... uns zu finden. Er sieht nicht aus, als ob er dazu in der Lage wäre. Sein Blick ist so leer und kalt wie ein sternenloser Nachthimmel. Dennoch muss ich mich vorsehen. Der Boden, auf dem ich mich bewege, ist ungewohnt. Das hier ist nicht mein Revier. Hier regieren andere. Vielleicht haben sie ihre Fallen bereits ausgelegt. Genau weiß ich es nicht. Diese fremde Umgebung schwächt meine Instinkte und lähmt meinen Geist. Ich muss mich vorsehen...
»Mein Gott, Sobek! Was habt ihr mit ihm gemacht?« John Cloud war einen Schritt zurückgetreten, doch sein Blick war weiterhin auf die verzerrte Grimasse des Russen gerichtet, der kaum noch etwas Menschliches an sich hatte. Er erinnerte mehr an ein eingesperrtes Tier. »Ich habe ihn ins Leben zurückgeholt«, sagte Sobek trocken. »Wie konntest du das tun? Du musstest doch wissen, dass...« »Ich wusste, dass der Freund deines Erzeugers irgendetwas gesehen haben muss. Sein Blickfeld reichte bis zu der Stelle, an der bis vor kurzem Nathan Clouds Staseblock stand. Allerdings...« Cloud ließ sich von Sobek zur Seite drängen und sah dabei zu, wie der Forone den Öffnungsmechanismus der Tür betätigte.
Im selben Moment, in dem das Schott in die Höhe glitt, warf sich der Russe nach vorn, um sich durch die immer größer werdende Öffnung zu stürzen. Cloud, Scobee und Jarvis wichen zur Seite. Im selben Moment flammte der gesamte Türausschnitt in einem grellen Orange auf, und Wolinow prallte zurück, als wäre er gegen ein Hindernis gerannt. »Ein Kraftfeld«, murmelte Jarvis, der sich als Erster wieder gefangen hatte. Cloud wagte sich langsam wieder vor und betrachtete den rücklings auf dem Boden liegenden Russen genauer. Sein Körper war seltsam verkrümmt, seine Arme wie mit einer Fessel um seinen Körper geschlungen. Er sah aus, als würde er eine unsichtbare Zwangsjacke tragen. Und dann entdeckte Cloud winzige, grelle Entladungen, die immer wieder um seinen Oberkörper herum aufblitzten. »Wir mussten ihn in eine energetische Zwangsjacke stecken. Eine notwendige Maßnahme, die nicht zuletzt seinem eigenen Schutz dient. Die Gefahr einer selbst zugefügten Verletzung ist zu groß.« Noch während Sobek sprach, richtete sich Wolinow bereits wieder auf und blieb im Schneidersitz auf dem Boden hocken. Sein Oberkörper wippte unstet vor und zurück und aus seinem rechten Mundwinkel löste sich ein dünner Speichelfaden. »Ihr hättet ihn niemals wecken dürfen«, ächzte Cloud, während er dicht vor dem unsichtbaren Energiefeld stehen blieb. Sofort schob sich wieder das Bild seines Vaters vor Johns inneres Auge. War es diesem genauso ergangen wie Wolinow? War auch er nur noch ein sabberndes, sinnlos vor sich hin brabbelndes Bündel, das man an erster Stelle vor sich selbst schützen musste? »Du wolltest wissen, was aus deinem Vater geworden ist«, sagte Sobek, ohne auf Clouds anklagende Worte einzugehen.
»Vor dir sitzt der Mann, der es dir möglicherweise sagen kann. Na los! Frag ihn!« John Cloud warf einen Blick über die Schulter. Scobee und Jarvis standen wenige Schritte hinter ihm. Beide wirkten ähnlich entsetzt wie er selbst, dennoch nickten sie aufmunternd. Cloud atmete tief durch und wandte sich dem Russen zu. »Hallo Alexej!«, sagte er leise, aber mit fester Stimme. Der Russe zeigte keine Reaktion. Er saß einfach auf dem Boden, starrte stur ins Leere und bewegte sich wie ein nervöses Kleinkind vor und zurück. »Ich bin's, John Cloud. Nathans Sohn. Ich war noch ein kleiner Junge, damals...« Keine Reaktion. »Du erinnerst dich doch an Nathan, nicht wahr? Ihr wart zusammen auf der ARMSTRONG. Habt als erste Menschen die Oberfläche des Mars betreten.« Jetzt hielt Wolinow in seinen Bewegungen inne und hob den Kopf. Cloud glaubte, einen Funken von aufkeimendem Interesse in seinen Augen zu erkennen. Und dann, urplötzlich, spalteten sich seine rissigen Lippen und ein einziges Wort rollte heiser aus seiner Kehle. »Nathan...« Cloud nickte. »Nathan braucht deine Hilfe. Weißt du, wo er ist? Hast du gesehen, was mit ihm geschehen ist?« Mit einem Mal verdüsterte sich Wolinows Gesicht, wurde zu einer Grimasse der Angst, während sein Körper von spastischen Zuckungen durchgeschüttelt wurde. Eine Reihe keuchender Laute quoll über seine Lippen. Einige dieser Laute ähnelten durchaus Wörtern der englischen Sprache, ohne jedoch einen rechten Sinn zu ergeben. Cloud bildete sich ein, neben dem Vornamen seines Vaters die Begriffe »Monster« und »Phantom« herauszuhören.
»Er scheint tatsächlich etwas gesehen zu haben«, flüsterte Scobee und trat neben ihren ehemaligen Kommandanten. »Ich bezweifle jedoch, dass er in der Lage ist, uns davon zu erzählen.« »Wir müssen vielleicht nur ein wenig Geduld aufbringen«, meinte Cloud. »Vielleicht gelingt es uns, zu ihm vorzudringen, wenn wir den richtigen Ton anschlagen.« Er wandte sich wieder an den Russen. »Alexej. Hörst du mich?« Falls er es tat, gab er es mit keiner Reaktion zu erkennen. »Was genau hast du gesehen? Es ist wichtig, dass du uns alles erzählst. Wichtig für Nathan.« Der ehemalige Biologe hielt abrupt in seinem Gebrabbel inne und schaute zu Cloud auf. Was folgte, war eine Flut von scheinbar zusammenhangslosen Wörtern. Es hörte sich an, als würde er nur wiederholen, was ihm eine irre Stimme in seinem Kopf soufflierte. Und wieder waren es die Worte »Phantom« oder »Bestie«, die sich in auffälliger Häufung wiederholten. »Offenbar ist dein Vater vom Schwarzen Mann geholt worden«, versetzte Scobee trocken. »Mehr ist wohl nicht aus ihm herauszubekommen.« Cloud zuckte mit den Schultern. »Vielleicht haben wir nur noch nicht die richtigen Fragen gestellt.« An Wolinow gerichtet sagte er: »Wie sah dieses Monster aus? Kannst du es beschreiben?« Irres, hohes Gelächter war zunächst Wolinows einzige Antwort auf Clouds Frage. Doch ganz plötzlich verstummte er, als habe jemand einen Schalter in seinem Kopf umgelegt. Er beugte sich vor und nuschelte etwas, das Cloud zunächst nicht verstand. Erst als er es einige Male wiederholte, glaubte er zu verstehen. »Katzenmann... murmelte John und wandte sich Scobee zu. »Ist es das, was er gesagt hat?« »Könnte hinkommen«, meinte die GenTec mit ratlosem Blick.
»Stimmt das, Alexej? Wurde Nathan von einem Katzenmann geholt?« Völlig unerwartet rollte sich der Russe auf den Rücken und begann wild mit den Beinen zu strampeln. Und diesmal hatten weder Cloud noch Scobee den geringsten Zweifel daran, was Wolinow dabei rief, geradezu schrie. »Ein Katzenmann mit Stacheln auf dem Rücken?«, knurrte Cloud. »Was, zum Henker, hat das zu bedeuten?« »Keine Ahnung. Ich...« Scobee verstummte, als Jarvis neben sie trat. Bisher hatte er sich im Hintergrund gehalten, doch jetzt brach er sein Schweigen. Das eine Wort, das er flüsternd aussprach, dabei jede Silbe einzeln betonte, trug jedoch nicht gerade dazu bei, Johns und Scobees Verwirrung zu mindern. »Boreguir...«
Sie kommen näher. Ich kann den Atem der Verfolger bereits in meinem Nacken spüren. Der Silberhäutige. Er kennt meinen Namen. Er... erinnert sich an mich. Wie kann das sein? Nie zuvor habe ich davon gehört, dass sich jemand an einen Vergessenen erinnert. Dieses Wesen muss etwas Besonderes sein. Ich muss auf der Hut sein, muss schlauer vorgehen. Es ist so, wie ich es befürchtet habe. Meine Gegner sind mächtige Zauberer. Ich muss ihnen immer zwei Schritte voraus sein, wenn ich mich ihrem Zugriff entziehen will.
Dieser Kampf lässt sich nicht mit dem Herzblut-Schwert führen. Ein scharfer Verstand und ständige Wachsamkeit sind die einzigen Waffen, die mir jetzt noch helfen können...
»Was hast du da gesagt?«, fragte Cloud und hätte den amorphen Körper am liebsten durchgeschüttelt. Der GenTec wirkte im ersten Moment völlig abwesend. Cloud wollte seine Frage wiederholen. Doch Jarvis kam ihm mit seiner Antwort zuvor. »Boreguir. Der Saskane.« Er betonte die beiden Worte wie Vokabeln einer fremden Sprache, die er in diesem Moment zum ersten Mal aussprach. »Wer oder was ist ein Saskane?«, fragte Scobee. »Ich... bin mir nicht sicher«, gab Jarvis stockend zurück. »Es kommt mir vor, als würde sich ein Vorhang in meinem Bewusstsein öffnen. Eine Sperre in meinem Gedächtnis, die bis zu diesem Moment einen bestimmten Bereich meinem Zugriff entzogen hat. Nur ganz langsam fließt die Erinnerung in mich zurück. Ich sehe ein Bild vor mir. Doch es ist verschwommen...« »Lass dir Zeit!«, flüsterte Cloud eindringlich. »Versuch einfach, dich zu erinnern!« Jarvis nickte. Sein amorpher Körper sah einen Moment lang so aus als würde er zerfließen. John bemerkte einige kleine Auswüchse, die sich auf dem Oberkörper bildeten. Offenbar ein Zeichen höchster Erregung. »Da ist ein seltsames Wesen. Auf dem Mars, etwas abseits des Kristallturms. Ich glaube, dort sind wir ihm begegnet.
Einem katzenartigen Krieger, mit ausfahrbaren Stacheln auf dem Rücken. Er rettete Resnick vor dem Incus und...« Jarvis hielt inne, als müsse er erst über die Konsequenzen dieses plötzlichen Erinnerungsschubs nachdenken. »Was ist mit ihm geschehen?«, wollte Scobee wissen. »Er...« Der GenTec schüttelte den Kopf, als könne er selbst nicht daran glauben, was ihm sein wiederkehrendes Gedächtnis weiszumachen versuchte. »Er kam mit mir an Bord der SESHA!« »Wie ist das möglich?«, fragte John. »Wieso hat niemand etwas davon bemerkt?« Sein Blick glitt in Sobeks Richtung, doch der Forone ließ mit keiner Regung erkennen, was er von Jarvis' Worten hielt. »Ihr alle habt Boreguir bemerkt«, sagte der GenTec voller Überzeugung. »Ihr habt ihn nur... vergessen...« Scobee runzelte die Stirn und widerstand ihrem ersten Impuls, der sie aufforderte, Jarvis zu widersprechen. Auch John Cloud hielt sich zurück, obwohl seine Neugier kaum noch zu zügeln war. »Genauso war es«, sagte Jarvis, als fühlte er sich aufgefordert, noch etwas zu sagen. »Fragt mich nicht, wie er das gemacht hat. Aber ich denke, er hat das Wissen um seine Existenz aus unserer Erinnerung getilgt. Das ist die einzige Erklärung.« Johns Blick schweifte erneut zu Sobek. Doch der Forone gab sich ahnungslos. »Ich habe noch nie von einer solchen Fähigkeit gehört. Doch wenn es stimmt, was dein Freund sagt, werden wir den Eindringling bald aufgespürt haben. Zweifelsohne befindet er sich noch an Bord. Und nun wissen wir von ihm...« Sobek hielt plötzlich inne und senkte den Kopf. Er sah dabei aus, als habe er eine Nachr icht erhalten, die nur er hören konnte.
Genau das war offenbar auch der Fall, denn er sagte: »Ihr werdet allein suchen müssen. Ich werde vorerst an anderer Stelle benötigt.« Er drehte sich um und wollte gerade gehen, als John ihn fragte: »Hat es etwas mit dem Signal aus der Großen Magellanschen Wolke zu tun?« Sobeks Schweigen war ihm Antwort genug. »Falls dem so ist, haben wir dasselbe Recht zu erfahren, was los ist, wie jeder deiner Foronen. Wir haben nicht darum gebeten, euch auf eurer Reise begleiten zu dürfen. Du allein hast diese Entscheidung für uns getroffen. Lass uns wenigstens an den Ereignissen teilhaben, die möglicherweise unser aller Schicksal bestimmen!« Mit welcher Reaktion Cloud auch gerechnet haben mochte, die folgenden Worte des Foronen überraschten ihn dann doch. »Ich hätte ohnehin von euch erwartet, dass ihr mich begleitet«, sagte Sobek, ohne sich umzudrehen. Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Was hat dir Siroona in Bezug auf Geduld geraten? Denk darüber nach!«
Die Atmosphäre in SESHAs Zentrale glich der in einer Kirche. Neben Cloud, Scobee und Jarvis hatten sich ein gutes Dutzend Foronen eingefunden, die allesamt zum Führungskader der Schiffsbesatzung gehörten. Obwohl die meisten von ihnen vermutlich bereits wussten, was die beiden Hohen in den nächsten Minuten mitzuteilen gedachten, sprach keiner ein Wort – aber vielleicht unterhielten sie sich ja auch telepathisch.
Während die Mienen der Foronen kaum zu deuten waren, war die Anspannung auf den Gesichtern der Menschen nicht zu übersehen. Jetzt, da sie nach schier endlosen Tagen und Wochen im All endlich ihr Ziel erreicht hatten, erklomm die Spannung allmählich ihren Höhepunkt. Vermutlich, dachte Cloud, war ihre bisherige Reise nicht mehr gewesen als ein Picknick, im Vergleich zu den Dingen, die noch vor ihnen lagen. Was würde sie im ehemaligen Herrschaftsbereich der Foronen erwarten? Welche Geheimnisse, welche Gefahren? Waren die Virgh nach der Flucht der Foronen weiter gezogen, oder hatten sie ihre Herrschaft über das Alte Reic h in den letzten Jahrtausenden zementiert? Die Existenz einer offenbar foronischen Hinterlassenschaft im Grenzgebiet der GMW ließ noch einen anderen Schluss zu. War es am Ende tatsächlich einigen foronischen Rebellen gelungen, den Feind zurückzudrängen, wie es eine Interpretation des Funkspruchs suggerierte? Zumindest Sobek schien sich an diese Hoffnung zu klammern. Siroona wirkte auf Cloud dagegen ungleich pessimistischer. Ihm war nicht entgangen, dass sie von Anfang an dagegen gewesen war, die georteten Objekte, über die sie nicht das Geringste wussten, anzusteuern. Ahnte sie etwas? Cloud hoffte inständig, dass sie sich irrte, dass sich Sobeks Instinkt als der Bessere herausstellte. Denn für eine schnelle Flucht, davon musste er ausgehen, war es möglicherweise zu spät. Nachdem er sich der Aufmerksamkeit aller versichert hatte, begann Sobek zu sprechen: »SESHA hat die Objekte im Grenzgebiet unseres Reiches eindeutig identifiziert. Es handelt sich dabei um ein Phänomen, dessen Tragweite sich auch uns noch nicht ganz erschließt.«
»Die Giganten, mit denen wir es hier zu tun haben, ähneln in ihren Eigenschaften den erkalteten Kernzonen früherer Sonnen, so genannten Schwarzen Zwergen«, übernahm Siroona das Wort. »Sie sind vollkommen dunkel, strahlen kein noch so schwaches Licht aus. Allerdings«, es schien, als müsse sie sich noch einmal mit der KI des Schiffes kurzschließen, um sich der Richtigkeit ihrer Angaben zu versichern, »weisen sie ein Vielfaches an deren üblicher Masse auf. Demnach müsste man sie eher als Schwarze Riesen bezeichnen.« Cloud schüttelte den Kopf und warf Scobee einen raschen Blick zu. Auch die GenTec runzelte ungläubig die Stirn. Nach allgemeiner Lehrmeinung der Menschen des 21. Jahrhunderts hatte die Existenz Schwarzer Zwerge als äußerst ungewiss gegolten. Man hatte damals geschätzt, dass eine alte, fast erloschene Sonne, also ein Weißer Zwerg, bis zu seiner vollständigen Erkaltung gut 50 Milliarden Jahre benötigen würde. Das Universum wäre demnach noch viel zu jung für eine derartige Erscheinung gewesen – auch wenn sich ihre Entstehung angesichts der Existenz zahlreicher Weißer Zwerge und deren allmählicher Erkaltung, irgendwann in ferner Zukunft unweigerlich ergeben würde. Für Objekte der Größe, wie sie Siroona beschrieben hatte – jene Schwarzen Riesen –, hatte dagegen noch nicht einmal eine brauchbare Theorie existiert. »Die Konstellation dieser Objekte erscheint wahllos und ungeordnet«, fuhr Sobek fort. »SESHA konnte keine zugehörigen Planeten orten. Allerdings stehen sie in einer Art Wechselwirkung zueinander. Ihre Ausrichtung ist stabil. Die Gesamtkonstellation vollzieht jedoch eine Eigenbewegung, in der sie stets dieselbe Position zu Bolcrain einnimmt, sodass die Schwarzen Sonnen in dem wahrscheinlichsten Anflugwinkel liegen.«
Sobek ließ seine letzten Worte verklingen, als wolle er den Anwesenden die Möglichkeit geben, das Gehörte zu verarbeiten. Cloud war der Erste, der die Stille brach. »Glaubt ihr, es handelt sich bei dieser Formation um eine natürliche Erscheinung?« »Nein«, entgegnete Sobek. »Zu Zeiten des Alten Reiches der Foronen gab es diese Konstellation nicht.« »Wenn sie künstlichen Ursprungs ist«, sagte Scobee ehrfurchtsvoll, »wer hat sie dann erschaffen?« »Vermutlich dieselben, die auch für die Ausstrahlung dieses Signals verantwortlich sind«, sagte Cloud. »Ich würde jedenfalls zur Vorsicht raten. Es könnte sich um eine Falle handeln. Und nach allem, was ihr uns bisher über die Virgh erzählt habt, wäre es ihnen wahrscheinlich sogar zuzutrauen, ein solches Kolossalbauwerk zu erschaffen.« Zu Clouds Überraschung pflichtete Sobek ihm bei. »Auch wir haben uns dafür entschieden, vorerst abzuwarten und noch weitere Analysen durchzuführen. Vor allem unsere Messungen aus dem Innern des Sonnenhofs sind bisher sehr ungenau. Dies sind die Aufzeichnungen unserer ersten Sonden.« Gebannt beobachtete Cloud, wie sich der riesige Hauptschirm am gegenüberliegenden Ende der Zentrale in vier gleichgroße Teilbereiche aufspaltete. Jeder von ihnen zeigte jene Aufnahmen, die eine der vier entsandten Sonden übertrugen. Viel zu sehen war jedoch nicht. Lichtlose Schwärze füllte den Schirm aus und lediglich die Positionsangaben, die am unteren Rand jedes Bildausschnitts entlang rauschten, zeigten, dass die Übertragung einwandfrei funktionierte. Mehrere Erdstunden waren vergangen seit die Sonden auf die Reise geschickt worden waren.
Unwillkürlich war Cloud doch erleichtert, nicht daran beteiligt gewesen zu sein. Das Warten wäre gewiss nervenaufreibend gewesen. »In wenigen Augenblicken nähert sich Sonde Eins der äußeren Tangente der beiden nächstgelegenen Sonnen«, gab Sobek bekannt. Clouds Blick wanderte zu dem Bildausschnitt im linken, oberen Eck des Hauptschirms. Zu sehen war dort noch immer nicht mehr als tintige Schwärze. Doch! Auf einmal überzog ein leichtes Flimmern den Schirm. Es sah aus, als würde die Sonde durch eine Wolke aus feinem weißen Staub fliegen. Cloud wandte sich Sobek zu, doch der Forone zeigte keine Reaktion. »Sonde Eins befindet sich im Anflug auf den Grenzbereich des Sonnenhofs«, vermeldete er kurz darauf roboterhaft. »Jetzt bin ich mal gespannt«, murmelte Cloud mehr zu sich selbst. Er war nur froh, dass Sobek die Menschen endlich einweihen würde. Gleichzeitig fiel ihm auf, dass das Flimmern, das kurzzeitig aufgehört hatte, nun nicht nur zurückgekehrt, sondern sogar stärker geworden war. Irgendetwas schien die Übertragung massiv zu stören. Auffällig war vor allem, dass die Störung erst in unmittelbarer Nähe des Sonnenhofs begonnen hatte. Existierte zwischen den Himmelskörpern eine Art Kraftfeld, das sie miteinander verband, sie auf ihre Position fixierte? »Sonde Eins erreicht die Tangente – jetzt!« Als habe Sobek damit das Stichwort gegeben, explodierte der zugehörige Bildschirmausschnitt in einem weißen Rauschen und wurde kurz darauf wieder völlig dunkel. Doch nicht nur das. Auch die Positionsdaten erloschen. Der Kontakt zur Sonde war komplett ausgefallen.
»Das«, murmelte Cloud und verschränkte die Arme vor der Brust, »ging in die Hose.« Sobek blieb ruhig, er kannte das Ergebnis des Sondenvorstoßes schließlich bereits. »Sonde Zwei im Anflug.« Dort zeigten sich schon ähnliche Störsignale wie bei ihrer Vorgängerin. Der Forone machte dieses Mal keine vorherige Ankündigung, bevor die zweite Sonde in den Grenzbereich des Sonnenhofs eintrat. Cloud ahnte bereits, was passieren würde. Tatsächlich brach die Übertragung so abrupt ab, als habe jemand einen Schalter umgelegt. Blieben Sonde Drei und Vier. John wagte kaum noch hinzusehen, doch den Blick abwenden konnte er auch nicht. Man musste wahrlich kein Hellseher sein, um zu ahnen, wie das Experiment enden würde. Die beiden verbliebenen Bildausschnitte hatten bereits zu flackern begonnen. Nur wenige Minuten später brach zunächst die Verbindung zu Sonde Drei, kurz darauf auch die zu Sonde Vier ab. Die vollkommene Schwärze, die den Schirm jetzt ausfüllte, sprang auf Cloud über und brachte auch noch seinen letzten Hoffnungsfunken zum erlöschen. »Es war ein Versuch«, versetzte Sobek trocken und fügte überflüssigerweise hinzu: »Er ist gescheitert. Wir haben den Kontakt verloren.« Damit wollte sich Cloud nicht zufrieden geben. »Was genau ist passiert?« Er nahm an, dass der Forone, der das Ergebnis ja längst kannte und mit der KI in ständiger Verbindung stand, vielleicht mehr über die Hintergründe der gescheiterten Mission erfahren hatte, als es für ihn selbst ersichtlich gewesen war.
»Könnte der Ausfall auf einen Angriff zurückzuführen sein?«, setzte er nach, nachdem er auf seine erste Frage nur Schweigen geerntet hatte. »Das ist nicht auszuschließen«, sagte Siroona an Sobeks Stelle. »Unwahrscheinlich!« Der Widerspruch erfolgte in einer Schärfe, wie Sobek sie im Umgang mit Seinesgleichen nur selten zeigte. »Da alle vier Ausfälle beim Überschreiten einer unsichtbaren Grenzlinie erfolgten, sind sie mit aller Wahrscheinlichkeit auf die Bedingungen im Innern des Sonnenhofs zurückzuführen. Ich werde die Arche nicht mutwillig riskieren. Doch wenn weitere Scans kein Ergebnis bringen«, er zögerte, »dann haben wir wohl keine andere Wahl.« Dann werden wir zwischen die Schwarzen Sonnen vorstoßen, überlegte Cloud. In eine Falle? »Die Verhältnisse dort scheinen äußerst instabil zu sein«, fuhr Sobek fort. »Bis SESHA über neue Daten verfügt, behalten wir unsere augenblickliche Position bei. Falls sich irgendeine Änderung ergibt, setzen wir euch davon in Kenntnis. Bis dahin, John Cloud, willst du dich wahrscheinlich deinem eigenen kleinen Problem zuwenden.« Cloud entging nicht der herablassende Tonfall, den der Forone wieder einmal anschlug. »Ich werde dir die Mittel gewähren, die du benötigst, um deinen Vater so schnell wie möglich zu finden.« Cloud lächelte grimmig. Ihm war klar, dass der Hirte in erster Linie eines wollte: ihn und seine Freunde aus dem Weg haben. Andererseits sah er auch ein, dass es nichts gab, was seine Anwesenheit in der Zentrale erfordert hätte. Die eigentliche Arbeit leistete derzeit die Schiffs-KI, und Menschen wie Foronen konnten nur darauf hoffen, dass die
von ihr erhobenen Daten irgendwann eindeutig genug waren, um als Grundlage für eine Entscheidung zu dienen. Eine Entscheidung, von der sie sicher sein konnten, dass sie sie später nicht bereuen würden...
Was beschäftigt dich?, fragte Sobek seine Gefährtin, nachdem die Menschen die Zentrale verlassen hatten. Er spürte, dass da mehr war, als nur die Ungewissheit in Bezug auf ihre mysteriöse Entdeckung. Schon seit geraumer Zeit hatte er die mentalen Schwingungen aufgefangen, die von Siroona ausgingen. Sie zeugten nicht etwa nur von Ratlosigkeit oder Unsicherheit. Nein, es war ein deutlich spürbares Gefühl von Besorgnis, um nicht zu sagen Angst, das die Foronin beherrschte. Wir sollten den Einzugsbereich der Schwarzen Sonnen verlassen, entgegnete sie mit einer Überzeugung, die Sobek überraschte. Lass uns weiter ins Alte Reich vorstoßen, wie wir es ursprünglich geplant hatten. Was ängstigt dich so?, wollte der Hohe wissen. Ich wundere mich, dass du es nicht selbst spürst, entgegnete sie. Irgendetwas stimmt hier nicht. Es ist ein unheiliger Ort. Ich fühle es mit jeder Faser meines Bewusstseins. Was, wenn es sich bei der Sonnenformation wirklich um eine Schöpfung der Virgh handelt? Eine kolossale Falle, gebaut um uns anzulocken und zu vernichten? Ich verstehe deine Sorge, gestand Sobek. Doch deinen Pessimismus teile ich nicht. Was, wenn es Foronen waren, die dieses Bauwerk erschufen? Foronen, die die Virgh nach unserer Flucht besiegten? Vielleicht dient es dazu, die nach Bolcrain Geflohenen zurückzurufen?
Ein solches Vorhaben würde selbst die technischen Möglichkeiten unseres Volkes sprengen, gab Siroona zu bedenken. Sobek war anderer Meinung. Du übersiehst, dass unser Volk, so es denn im Alten Reich überlebt hat, inzwischen eine jahrtausendelange Entwicklung vollzogen haben muss. Wer weiß, wozu Foronen nach einer so langen Zeit in der Lage wären? Vielleicht wären sie dazu fähig, ganze Sonnen zu bewegen – oder sie gar zu erschaffen. Siroona schwieg betreten. Selbst die Überschwänglichkeit, mit der Sobek an ihren Stolz als eine der Obersten eines mächtigen Volkes appellierte, konnte sie nicht überzeugen. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich bereits in den Fäden eines gewaltigen Spinnennetzes verfangen hatten – und sich immer tiefer darin verhedderten, je länger sie die Entscheidung zum Abzug hinauszögerten. Gleichzeitig wusste sie aber auch, dass Sobek von seiner Entscheidung nicht abzubringen sein würde. Ganz deutlich spürte sie die Faszination, die ihn ergriffen hatte. Schon der bloße Verdacht, auf eine foronische Hinterlassenschaft solch gigantischen Ausmaßes gestoßen zu sein, hatte seine Euphorie in neue Höhen katapultiert. Versprich mir, dass wir uns der Formation nicht weiter nähern, bevor wir nicht über verlässliche Ortungsergebnisse bezüglich der Gegebenheiten in ihrem Innenbereich verfügen!, bat sie. Ich habe nicht vor, Angehörige unseres Volkes einer wie auch immer gearteten Gefahr auszusetzen, gab Sobek zurück. Meine Entscheidung bleibt bestehen. Wir beschränken uns darauf, abzuwarten und zusätzliche Messungen vorzunehmen. Ich bin mir sicher, dass es uns in absehbarer Zeit gelingt, die Geheimnisse um dieses Phänomen zu ergründen.
Oh, ich habe keinen Zweifel, dass uns das gelingt, behauptete Siroona und hätte ihren nachfolgenden Gedanken lieber für sich behalten. Doch bevor sie ihn von Sobek abschotten konnte, war er ihr auch schon entglitten. Ich fürchte nur, dass wir dann nicht mehr in der Lage sind, noch einen Nutzen aus unserem Wissen zu ziehen...
Boreguir... Jarvis kam nicht umhin, sich diesen fremdartigen Namen immer wieder von neuem auf der Zunge zergehen zu lassen. Wer war dieser seltsame Krieger, dessen Bild er unscharf in sich trug und über den er doch nicht mehr wusste, als dass er ihn offenbar auf einem Teilabschnitt seines Weges begleitet hatte? Alles andere verbarg sich hinter einer Wand aus Nebel, der so dicht war, dass es mehr als fraglich erschien, ob er sich jemals vollständig lichten würde. Mit nach innen gerichtetem Blick streifte der GenTec durch das Dämmerlicht der ehemaligen Marsstation, obwohl seine Erinnerungen an diesen Ort nicht gerade angenehm waren. Mit Grausen dachte er an die Maßnahmen zurück, die die KI damals ergriffen hatte, um ihn, Resnick – und Boreguir? – zu beseitigen. Resnick. Der Name seines Freundes nahm einen ganz besonderen Platz in seiner Erinnerung ein. Ebenso unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt waren die grauenhaften Bilder von Resnicks Tod – der Wurm, der sie verfolgt hatte und seinen Freund mit ins Verderben gerissen hatte. All das sah Jarvis in deutlicher Schärfe vor sich, wenn er die Augen schloss.
Ein katzenhaftes Wesen namens Boreguir tauchte auf diesen Bildern niemals auf. Und doch hatte er das seltsame Gefühl, als sei es ursprünglich darauf zu sehen gewesen. Es war ähnlich wie bei einer Photographie, auf der ein bestimmtes Motiv wegretuschiert worden war. Man sah es nicht mehr, aber wenn man auf die leere Stelle blickte, wusste man, dass etwas fehlte. Und doch... Wenn er sich genau konzentrierte, kam es ihm vor, als würde mit jeder Sekunde ein winziges Bruchstück seiner verblassten Erinnerung sichtbar gemacht. Boreguir... Tatsächlich. Auf einmal erschie n ihm der Name schon etwas weniger fremd...
In den wenigen Jahren, die Nathan Cloud geblieben waren, um seinen Sohn zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft zu erziehen, hatte er ihm vieles beigebracht. Ganz alltägliche Dinge. Wie man einen Drache n steigen lässt. Wie man einen Baseball schlägt. Wie man die verschiedenen Sternbilder unterscheidet. Aber auch, wie wichtig es ist, an sich selbst zu glauben, seine Träume zu leben und dabei nie seine Ideale zu verraten. Und vor allem, nie die Hoffnung zu verlieren, ganz gleich wie viele Steine einem das Schicksal in den Weg legt. John Cloud hatte diesen Ratschlag sein Leben lang beherzigt. Er hatte ihm maßgeblich dabei geholfen, den Schmerz über den Verlust seines Vaters zu überwinden und ihn dazu inspiriert, irgendwann in dessen Fußstapfen zu treten.
In diesen Momenten jedoch war Hoffnung das Geringste, das er empfand. Er hatte sich wieder in die Marsstation begeben und dort Wolinows Gummizelle aufgesucht. Er wusste selbst nicht so genau, was er sich davo n erhoffte. Der Geist des Russen war so sehr zerrüttet, dass es ihm schwer fiel, auch nur einen zusammenhängenden Satz zu äußern. Zwar schien er sich vage an Nathan Cloud zu erinnern, und auch daran, was mit ihm passiert war. Doch war ihm die intellektuelle Fähigkeit, seine Gedanken in verständlicher Weise zu artikulieren, gänzlich abhanden gekommen. Der Mann war einst eine international anerkannte Koryphäe auf dem Gebiet der Biologie, dachte Cloud betrübt. Jetzt sieh ihn sich einer an... Wolinow saß noch immer – oder wieder – im Schneidersitz auf dem Boden, und summte die Begleitung zu einer Melodie, die nur er hören konnte. Jede Sekunde, die Cloud den Russen beobachtete, nährten seine Zweifel, ob er seinen Vater wirklich wieder sehen wollte. Zwar ließ ihn ein winziger Hoffnungsfunke noch immer daran glauben, dass Nathan Cloud all die Jahre im Staseblock besser verdaut hatte als sein zweiter Kommandant. Ein Indiz, das diese Hoffnung auf eine ernst zu nehmende Grundlage gestellt hätte, fand er jedoch auch nach längerem Nachdenken nicht. Nichts, aber auch rein gar nichts, sprach dafür, dass sich sein Vater von dem brabbelnden Etwas unterschied, das nur wenige Schritte entfernt auf dem Boden kauerte. War er für einen solchen Anblick wirklich bereit? John wusste es nicht, aber vermutlich spielte das ohnehin keine Rolle mehr. Die Suche nach Nathan Cloud und seinem Entführer war längst in vollem Gange. Sobek hatte dafür mehrere Foronen abkommandiert und zudem einige Sonden entsandt. Letztere sollten vor allem die nur unzureichend oder
gar nicht von der Schiffs-KI überwachten Bereiche der Station erkunden. Außerdem beteiligten sich natürlich auch Scobee, Jarvis, Aylea und Jelto an der Suche. Noch immer war völlig unklar, was es mit Nathans Entführer auf sich hatte. Boreguir... Hatte Jarvis mit seiner Vermutung Recht? War das wirklich der Name des mysteriösen Phantoms, das Wolinow gesehen haben wollte? Je öfter ihn sich Cloud auf der Zunge zergehen ließ, desto mehr kam es ihm so vor, als habe er ihn schon einmal irgendwo gehört. Er klang wie der Name eines entfernten Verwandten, dem man in seiner Kindheit ein, zwei Mal begegnet ist, an den man sich aber auch nach angestrengtem Nachdenken nicht richtig erinnern kann. Auch Jarvis Erinnerung war nach seinen eigenen Aussagen noch immer unscharf, doch er schien davon überzeugt, dass ihnen das Geschöpf, das er auch den Saskanen nannte, im Grunde seines Herzens freundlich gesonnen war. Warum Dad?, fragte sich Cloud zum wiederholten Male. Was bezweckt dieses Wesen mit seiner Entführung? Sein Blick verlor sich in den Augen des Russen, der in diesem Moment zu ihm aufsah, als habe er seine letzten Gedanken vernommen. Sie waren matt und glanzlos. Wie zwei Schwarze Sonnen..., dachte er, wobei ihm bewusst wurde, dass das Problem, das ihn an zweiter Stelle beschäftigte, immer wieder an die Oberfläche seines Denkens drängte. Ihm blieb keine Zeit, sich weiter damit zu beschäftigen. Eine Stimme in seinem Rücken ließ ihn herumfahren. »John Cloud?« Sein Blick wanderte an der hünenhaften Gestalt eines Foronen entlang und blieb an seinem knöchernen Gesicht hängen.
Wenn ihn nicht alles täuschte, handelte es sich bei ihm um eines der Besatzungsmitglieder, die Sobek mit der Suche nach Nathan Cloud betraut hatte. Sein Kopf war etwas kleiner als Sobeks. Einige Stellen seiner pergamentartigen Gesichtshaut waren etwas dunkler und seine Sprechmembran hatte eine leicht ovale Form. »Eine der Sonden ist fündig geworden«, sagte er mit tiefer Stimme. Cloud bildete sich ein zu spüren, wie die Schwingungen der Stimme des Foronen in seinem Magen vibrierten. »Sie erstattete Rückmeldung. Kurz darauf erstarb ihr Signal. Sie scheint beschädigt zu sein.« »Konnte sie noch irgendetwas aufzeichnen?«, fragte Cloud hoffnungsvoll. »Das wissen wir noch nicht, da wir sie noch nicht geborgen haben. Ich dachte, du willst der Bergung vielleicht beiwohnen.« Cloud nickte und warf einen letzten Blick über seine Schulter. »Ja«, sagte er dann, da der Forone mit der Geste vermutlich nicht viel anzufangen wusste. Ein Schauer überlief ihn, als er sah, dass Wolinow ihn noch immer anstarrte. Einen Moment lang kam es ihm vor, als würde, ähnlich wie bei einer Doppelbelichtung, das Gesicht des Russen von einem anderen überlagert. Dem Gesicht von Nathan Cloud. John kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Als er sie wieder öffnete, war das Trugbild verschwunden...
Scobee kam sich vor wie auf einem Friedhof nach Sonnenuntergang.
Tatsächlich erinnerten die mächtigen Quader, die den Gang beidseitig und in mehreren Reihen flankierten, an gewaltige Grabsteine. Der hauptsächliche Unterschied bestand darin, dass die Männer und Frauen, zu deren Ehren sie errichtet worden waren, nicht darunter in feuchter Erde lagen, sondern für aller Augen sichtbar in ihnen eingeschlossen waren. Immer wieder hatte die GenTec das Gefühl, als würden ihre Blicke sie streifen. Manchmal kam es ihr vor, als habe sie eine leichte Bewegung im Augenwinkel wahrgenommen. Doch jedes Mal wenn sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass es ihr eigener Schatten war, der sie genarrt hatte. Die schwache Beleuchtung, für die es keine erkennbare Quelle gab, schuf ein unwirkliches Zwielicht, in dem viele der Schläfer tatsächlich so aussahen, als würden sie im nächsten Moment von ihren Sockeln springen. Ist der Begriff »Schläfer« überhaupt angebracht?, fragte sich Scobee, während sie vor einem etwa 13-jährigen Jungen stehen blieb. Nach allem was Jarvis erzählt hatte, musste sie davon ausgehen, dass sich die armen Seelen keineswegs in einem komatösen Schlafzustand befanden. Bekam dieser Junge, der dem Aussehen nach vermutlich ein Inuit war, wirklich mit, was um ihn herum geschah? Konnte er sie sehen, und war er in der Lage, den Anblick auch gedanklich zu verarbeiten? Aber wie war so etwas möglich? Was hielt diese bedauernswerten Kreaturen am Leben? Scobee entdeckte keinerlei Schläuche, durch die eine Nahrungszufuhr oder eine Versorgung mit Sauerstoff hätte erfolgen können. Wie konnte es sein, dass die ältesten dieser Geschöpfe schon seit Jahrtausenden in diesem Zustand vor sich hinvegetierten? Ein leises Geräusch lenkte Scobees Aufmerksamkeit auf den hinteren Bereich des Raumes.
Instinktiv tauchte die GenTec hinter dem Quader mit dem Eskimojungen in Deckung und wurde sich im selben Moment bewusst, dass das durchsichtige Material sie nur unzureichend vor möglichen Blicken schützte. Sie spannte ihre Muskeln an, schob sich leicht in die Höhe und spähte an der Kante des Quaders vorbei. Die Beleuchtung in den Reihen dahinter war noch etwas schlechter als in unmittelbarer Nähe des Korridors. Nur das schwache, von den Sockeln ausgehende, rötliche Leuchten sorgte für ein wenig Helligkeit. Es war schwach genug, dass Scobees Augen automatisch auf Infrarotsicht wechselten – eine Fähigkeit, die sie ihrer genetischen Optimierung verdankte. Ihr fiel auf, dass sie mit dem Licht im Rücken eine nahezu perfekte Zielscheibe für jemanden abgab, der sie aus dem Dunkel heraus anvisierte. Blitzschnell verließ sie ihre Deckung und huschte gebückt durch die schmale Lücke zwischen den Quadern. Als sie die dritte Reihe erreicht hatte, hielt sie inne und ließ sich schutzsuchend zu Boden sinken. Ihr Blick fiel auf die Gestalt im gegenüberliegenden Block. Er sah aus wie ein Mongolenkrieger und trug sogar noch etwas Kleidung am Leib. Einen lederartigen Rock, der ihm bis knapp über die Knie reichte. Schaudernd wandte sie sich ab und schaute nach rechts, die endlos erscheinende Reihe aus Staseblöcken entlang. Sie wollte sich gerade wieder aufrichten, als sie erneut ein Geräusch vernahm. Diesmal hatte es deutlich näher geklungen als kurz zuvor. Behutsam reckte sie den Kopf in die Höhe und versuchte, an den Mongolen vorbei durch den bernsteinfarbenen Block zu spähen.
Tatsächlich glaubte sie, einen wabernden Schatten zu sehen, der in einiger Entfernung durch ihr Blickfeld huschte, bevor er kurz darauf wieder abtauchte. Scobee lehnte sich zurück und wog ihre Möglichkeiten ab. Konnte sie es riskieren, sich dem Unbekannten auf eigene Faust zu stellen? Oder war es ratsamer, Hilfe zu holen? Sie war unbewaffnet, hatte nichts als ihre bloßen Fäuste und ihre zugegebenermaßen nicht gerade geringe Körperkraft, um sich ihrer Haut zu erwehren. Was wusste sie schon über ihren Gegner? Selbst Jarvis, der glaubte, in Wolinows Beschreibung einen ehemaligen Weggefährten erkannt zu haben, hatte bishe r mit nur wenigen Einzelheiten dienen können. Scobee verharrte noch eine Weile mit angehaltenem Atem. Als sich das Geräusch nicht wiederholte, erhob sie sich und drang weiter in die Tiefe des Raumes vor, immer darauf bedacht, sich so kurz wie möglich in den Lücken zwischen den Blöcken zu zeigen. Sie hielt abrupt inne, als sie schräg vor sich eine zuckende Bewegung ausmachte. Sie hatte sich also nicht getäuscht. Irgendjemand schlich zwischen den Staseblöcken umher – und bewegte sich dabei kontinuierlich in ihre Richtung. Hatte er sie bereits gesehen? Egal. Wenn, dann war es jetzt ohnehin zu spät, noch etwas daran zu ändern. Scobee überlegte. Vielleicht gelang es ihr ja, ihn auszutricksen. Ihm in den Rücken zu fallen und sich dadurch einen immensen Vorteil zu verschaffen. Völlig lautlos überwand sie den Zwischenraum bis zum Quader rechts von ihr. Ihr kam es vor, als würden die Augen der weißhaarigen Frau, die darin eingesperrt war, tadelnd auf sie herabblicken.
Aber wahrscheinlich lag das an der Perspektive, vo n der aus Scobee sie betrachtete. Ich darf mich nicht weiter von diesen armen Teufeln ablenken lassen, dachte sie und überwand den Zwischenraum bis zum nächsten Quader. Dort stoppte sie und lauschte. Von dem anderen war nichts mehr zu hören. Hatte er eine andere Richtung eingeschlagen? Scobee trat in den nächsten Zwischenraum und huschte ihn entlang. Acht Quaderreihen weiter blieb sie stehen, drehte sich um und ließ ihre Blicke schweifen. Da! Ganz kurz nur, aber dafür absolut deutlich, sah sie den humanoiden Schatten, der sich fünf Reihen weiter und etwa zehn Zeilen rechts von ihr scharfkantig vor dem Licht des Korridors abzeichnete. Im nächsten Moment war er auch schon wieder abgetaucht. Obwohl Scobee ihn nicht erkannt hatte, war sie sich sicher, dass es sich bei der Gestalt um keinen Foronen handelte. Dazu war er zu klein und nicht massig genug. Na gut, du Lump! Wollen doch mal sehen, was es mit dir auf sich hat. Leichtfüßig bewegte sie sich in die Richtung, in der der andere aufgetaucht war. Nachdem sie fünf Kuben passiert hatte, huschte sie wieder in Richtung Korridor und von da aus drei Zeilen nach rechts. Jetzt hatte sie die Stelle erreicht, an der es brenzlig wurde. Sie rechnete nicht damit, dass der andere verharrt war, um auf sie zu warten. Vielleicht hatte er dieselbe Idee wie sie gehabt und versuchte nun, sich ihr von hinten zu nähern. Umso wichtiger war es, dass sie ihre weiteren Schritte mit Bedacht setzte. Wieder drang von rechts ein leises Geräusch an ihr Ohr.
Scobee presste sich mit dem Rücken so an einen Kubus, dass sich ihre Silhouette mit der des darin Eingeschlossenen überlagerte und von der anderen Seite aus nicht gesehen werden konnte. Gleichzeitig glaubte sie, im Augenwinkel zu erkennen, wie jemand rechts an ihr vorbeihuschte. Doch als sie direkt zu der Stelle blickte, war dort nichts. Sie drehte den Kopf, wollte sich gerade aus ihrer Deckung lösen, als es geschah. Etwas... jemand wuchs direkt vor ihr in die Höhe. Und das war durchaus wörtlich zu nehmen. Zuerst war es nur ein unförmiger Schatten in Bodennähe, der sich jedoch in rasender Geschwindigkeit zusammenzog, sich zu einer immer länger werdenden Säule verdichtete und dabei menschliche Gestalt annahm. Scobees Herz pochte bis zum Hals. Um ein Haar hätte sie sich auf das seltsame Wesen gestürzt, um es niederzuringen. Erst im letzten Moment erkannte sie, wer sich so plötzlich vor ihr aufgebaut hatte. »Jarvis!« Sie atmete erleichtert aus, dann blaffte sie ihn an: »Wie konntest du nur? Du hast mich fast zu Tode erschreckt.« »Sorry«, sagte Jarvis mit ernsthaftem Bedauern. »Das war nicht meine Absicht. Ich dachte, ich hätte etwas gehört.« Scobee sah ihn noch sekundenlang entgeistert an, dann konnte sie nicht mehr an sich halten, und die Anspannung der letzten Minuten entlud sich in einem lautstarken Prusten, in das Jarvis kurz darauf einstimmte. »Wir sind vielleicht Helden«, sagte sie, als sie sich wieder einigermaßen gefangen hatten. »Allerdings. Ich würde vorschlagen, wir bleiben ab jetzt zusammen.« »Gute Idee. Noch so eine Aktion und ihr könnt mich einliefern.«
Noch immer amüsiert glucksend, traten sie zurück ins Licht des Korridors. Was keiner von beiden sah, war die Gestalt, die sich just in diesem Moment aus der Deckung eines Staseblocks erhob und ihnen aus glitzernden Augen nachschaute...
John Cloud blieb stehen und spitzte die Ohren. Gerade eben hatte er noch geglaubt, eine unsichtbare Präsenz zu spüren, die sich ihm von hinten näherte. Er atmete tief durch und sah sich um. Hinter ihm lag nur der leere, düstere Korridor. Verdammt, zuckte es durch seinen Kopf. Die Anspannung macht sich allmählich bemerkbar. Ein Wunder war das nicht. In dieser Umgebung musste man ja irgendwann die Nerven verlieren. Und das lag nicht nur an diesen starren Gestalten mit ihren von Wahnsinn durchtränkten Blicken. Die schummrige Beleuchtung, die vollkommene Stille und die schiere Größe dieses bizarren Bauwerks leisteten einen beträchtlichen Beitrag, den Geist mit unheilschwangeren Gedanken zu vergiften. Kurz nachdem John begonnen hatte, dem Foronen hinterher zugehen, war ihm klar geworden, wie wenige der zahlreichen Räume und Gänge er bisher gesehen hatte. Bisher hatte sich Cloud nur in die ehemalige Marsstation begeben, um seinen Vater zu besuchen. In diesen Bereich hingegen hatte er noch keinen Fuß gesetzt. Es war schwer zu schätzen, wie groß der Raum war, den er gerade betreten hatte. Die Beleuchtung war hier noch schwächer als in den meisten anderen Bereichen. Möglicherweise war auch dies auf einen Defekt im System
zurückzuführen. Die Station schien einige Schäden davongetragen zu haben. Cloud bemerkte, dass sich der Forone bereits ein ganzes Stück von ihm entfernt hatte. Rasch ging er weiter und schloss zu ihm auf. »Wir nähern uns jetzt dem Bereich, aus dem das letzte Signal empfangen wurde«, erklärte der Forone. Seine Klauenhand umschloss ein ovales, silbern glänzendes Ortungsgerät, auf dem er offenbar die genauen Koordinaten ablesen konnte. Plötzlich blieb er stehen, verließ den Korridor und trat zwischen den Staseblöcken hindurch. Cloud folgte und sah sich dabei in alle Richtungen um. Wer auch immer die Sonde außer Gefecht gesetzt hatte, befand sich möglicherweise noch ganz in der Nähe. Beobachtete er sie gerade aus dem Dunkel heraus? Und war sein Opfer, Nathan Cloud, bei ihm? »Hier ist sie«, sagte der Forone schließlich und bückte sich. Dann drehte er sich zu Cloud um. In seiner ausgestreckten Klauenhand lag eine knapp golfballgroße, metallisch glänzende Kugel. Zumindest war es mal eine Kugel gewesen. Irgendjemand musste mit gewaltiger Kraft auf sie eingeschlagen haben. Sie war stark lädiert, eingedellt und zu einem unförmigen Klumpen verformt. »Lässt sich damit noch etwas anfangen?«, fragte Cloud, der seine Hoffnungen bereits schwinden sah. »Überprüfen wir es!« Der Forone schloss die Sonde direkt an einem dafür vorgesehenen Stecker des Ortungsgeräts an und bedeutete Cloud, sich neben ihn zu stellen und seinen Blick auf das Display zu richten. Zunächst blieb alles schwarz, dann überzog hektisches Flimmern den winzigen Bildschirm, in das sich kurz darauf
bewegte Bilder mischten. Sie waren etwas undeutlich, flimmerten mal mehr, mal weniger stark. »Der Schlag auf den Kopf hat dem kleinen Burschen wohl nicht besonders gut getan«, murmelte Cloud und erntete bei dem Foronen nur Ratlosigkeit. Wieder einmal wurde er daran erinnert, wie fremd den Foronen die Ausdrucksweise der Menschen zuweilen vorkommen musste. Bevor er ihm erklären konnte, was er mit seinen Worten gemeint hatte, wurde seine Aufmerksamkeit von den Geschehnissen auf dem Display gebannt. Undeutlich, aber doch erkennbar, waren bisher die Staseblöcke zu sehen gewesen, die das winzige Kameraauge der Sonde abgetastet hatte. Jetzt schob sich ein Schatten über die untere Hälfte des Bildes. Er war äußerst unscharf. Was es auch war, es musste sich im Moment der Aufnahme unmittelbar vor der Linse befunden haben. Wieder überlagerte heftiges Flackern die Aufzeichnung. Gleichzeitig sah es aus, als würde sich der Schatten von der Linse wegbewegen. Dabei wurde er schärfer, nahm Konturen an, die entfernt an ein humanoides Wesen erinnerten. Kurz darauf schoss etwas über ihm in die Höhe. Etwas in der Form eines langen Stocks oder eines Schwertes... Cloud zuckte zusammen, als das Ding direkt auf die Kameralinse zuraste und sie kurzerhand außer Gefecht setzte. Im selben Moment erlosch das Bild und das Flimmern breitete sich wie ein heftiger Schneesturm auf dem gesamten Display aus. Cloud ballte die Fäuste. Der Gedanke, dass dieses Wesen, das sich an seinem Dad zu schaffen gemacht hatte, sich immer wieder ihrem Zugriff entzog, ihre Bemühungen vielleicht sogar aus der Ferne beobachtete, brachte seine Gefühle in Wallung. All die unterdrückte Wut, die Hilflosigkeit, die sich während der
letzten Stunden in ihm angestaut hatte, bahnte sich urplötzlich einen Weg an die Oberfläche. In diesem Moment war es ihm auch egal, wie lächerlich sein Verhalten anmuten mochte. Es musste einfach aus ihm heraus. Er riss die Hände wie einen Trichter an seinen Mund, drehte sich wie ein Kreisel um die eigene Achse und begann aus Leibeskräften zu brüllen... »Zeig dich, du Hurensohn!«, schrie er. »Was hast du mit meinem Vater gemacht? Wage es nicht, ihm auch nur ein Haar zu krümmen! Ich ramm dich ungespitzt in den Boden!« Der Ausbruch dauerte gut zwei Minuten, dann hielt Cloud erschöpft inne und fuhr durch seine schweißnassen blonden Haare. Hätte er die Mimik des Foronen deuten können, hätte er einen Ausdruck höchster Verwunderung darin bemerkt – aber das konnte er sich auch denken. »Sorry, aber das musste sein«, sagte Cloud, wandte sich von ihm ab und ging zurück in den Hauptkorridor. Der Forone blieb noch sekundenlang wie eingefroren stehen. Was für eine fremdartige Spezies...
»Die Ortungsergebnisse lassen noch immer zu wünschen übrig«, fasste Siroona zusammen. Erst kurz darauf fiel ihr auf, dass sie laut gesprochen hatte. Sie passte sich immer mehr den Verhaltensweisen der Menschen an, je länger sie sich mit ihnen umgab. »Du hast Recht«, gab Sobek zurück, während er die Messdaten beobachtete, die auf dem Holoschirm an ihm vorbeizogen. »Es scheint, als würde SESHAs Ortung von irgendetwas abgelenkt. Als gäbe es eine unsichtbare Grenze,
die den Innenbereich der Schwarzen Sonnen vor äußerem Zugriff abschottet.« »Ein Grund mehr, diesen Sektor so bald wie möglich zu verlassen.« Sobek schwieg, suchte nach einem passenden Argument, das er seiner Gefährtin entgegenhalten konnte. Er fand keines, außer den bereits zur Genüge hervorgebrachten. »Falls es sich bei den Schöpfern der Sonnen um Foronen handelt, können wir der Sache auch später noch nachgehen«, sagte Siroona. »Nachdem wir mehr über die derzeitigen Gegebenheiten im Alten Reich wissen.« Während ihrer Worte hatte Sobek die Ortung noch einmal neu kalibriert. Er musste dafür nicht extra an einem der Schaltpulte Platz nehmen. Die KI führte jeden seiner mentalen Befehle umgehend aus. »Was«, fragte er dann, »wenn die Virgh tatsächlich über das Alte Reich triumphiert haben und es sich bei diesem Signal um eine foronische Warnung handelt, nicht weiter in unser früheres Hoheitsgebiet vorzudringen? Wir würden uns in unschätzbare Gefahr begeben, würde ich deinem Rat folgen.« Da war es, das Argument, das die Foronin nachdenklich werden ließ. Sobek spürte ganz deutlich ihre Unsicherheit, die mit jedem ungenutzt verstrichenen Moment größer wurde. So kenne ich sie gar nicht, dachte er. Wo ist ihre Führungsstärke geblieben, die ich immer so an ihr geschätzt habe? Hatte die lange Zeit in der Stase doch mehr an ihren Kräften gezehrt, als sie es sich damals ausgemalt hatten? Oder war es die Nachricht vom plötzlichen Tod ihres Freundes Mont, der noch in ihr nachhallte und ihre Entschlusskraft schwächte? War ihr dadurch ihre eigene Sterblichkeit bewusst geworden, die die Hohen Sieben angesichts ihrer gewaltigen Machtfülle häufig vergaßen? Was ist das? Siroonas telepathisch gestellte Frage durchbrach seine Gedanken.
Erst jetzt konzentrierte er sich wieder auf die Ortungsergebnisse, die permanent von der KI aktualisiert und korrigiert wurden. Tatsächlich. SESHAs Sensoren hatten etwas entdeckt. Die neuen Analysen erfolgten zunächst zögernd, als sei sich die KI selbst noch etwas unsicher. Doch dann, urplötzlich, stürmte eine solche Masse an neuen Daten auf die Foronen ein, dass es ihnen trotz ihrer beeindruckenden Auffassungsgabe schwer fiel, alles auf einmal zu verarbeiten...
Aylea stand starr am Fleck, als sei sie durch den bloßen Anblick der regungslosen Kreatur in dem bernsteinfarbenen Block selbst zu Eis gefroren. Der Mann, der groß und drohend vor ihr in die Höhe wuchs, sah aus wie das Musterbeispiel eines Seeräubers, wie sie es aus den alten Geschichtsbüchern kannte, in die sie früher mit Begeisterung ihre Nase gesteckt hatte. Die Ähnlichkeit war wirklich erschreckend, obwohl er weder ein Holzbein, noch einen Haken besaß. Er trug auch keine Augenklappe und hatte keinen Papagei auf der Schulter, und die Kleidung, die ihm in Fetzen von seinem massigen Körper hing, glich eher der eines Bettlers. Was sie dennoch an einen Piraten erinnerte, waren der rote Rauschebart, der zu einem wilden Schrei aufgerissene Mund, und die dunklen, blitzenden Augen, die sie unter seinen buschigen Brauen finster anstarrten. Anders als die meisten anderen der in der Marsstation Ausgestellten schien er sich nicht in sein Schicksal ergeben zu haben. Er sah vielmehr so aus, als habe er versucht, sich der
fremdartigen Bedrohung mit aller Entschlossenheit zu widersetzen. Seine Hand war weit nach vorn gestreckt und derart verkrümmt, dass es den Anschein hatte, als habe sich bis vor kurzem noch eine Hieb- oder Stichwaffe, vielleicht auch nur ein einfacher Stock, darin befunden. »Schaurig...«, sagte jemand. Aylea zuckte zusammen und blickte zur Seite. Es war Jelto, der unvermittelt neben sie getreten war. In der Hand hielt er noch immer das kleine zarte Pflänzchen, das er aus seinem hydroponischen Garten mitgenommen ha tte. Die Zehnjährige wusste noch immer nicht, was er sich davon versprach. Doch der Florenhüter schien der festen Überzeugung zu sein, dass es ihnen auf irgendeine Weise auf der Suche nach dem mysteriösen Phantom behilflich sein konnte. Mehr hatte er bishe r nicht verraten, und nach einer Weile hatte sie es aufgegeben, ihn danach zu fragen. Sie wusste, wie unglaublich stur der Klon mit der besonderen Gabe mitunter sein konnte. »Allerdings«, sagte Aylea mit rauer Stimme. »Er sieht aus, als könne er jeden Moment von seinem Sockel springen.« »Glaubst du, er sieht uns?«, fragte Jelto mit wachsendem Unbehagen. »Dass er sich an uns erinnern kann, wenn er irgendwann einmal... geweckt wird?« Aylea wiegte den Kopf. »Ich hoffe nicht.« Obwohl sie rein gar nichts über diesen Mann wusste, gefiel ihr der Gedanke nicht, dass sie vielleicht der erste Mensch war, der ihm seit mehreren Hundert Jahren gegenübergetreten war. Schaudernd wandte sich das Mädchen ab und blickte den Korridor entlang. Die beiden Foronen, denen sie sich auf ihrer Suche angeschlossen hatten, waren in der Ferne zu unscharfen Schatten zerfasert. Es schien sie nicht im Geringsten zu kümmern, dass die beiden Menschen so weit zurückgefallen waren. Sie hatten
wohl allein ihr Ziel im Auge. Und die Tatsache, dass Jelto und Aylea sich ohne ihren Beistand möglicherweise hoffnungslos verirrten oder in Gefahr gerieten, stand der Erreichung dieses Ziels offenbar nicht im Wege. In den langen Wochen, die sie in Gesellschaft der Foronen an Bord des Rochenraumers verbracht hatten, hatte Aylea so manches über diese seltsamen Wesen herausgefunden. Zum Beispiel, dass Begriffe wie »Freundschaft« oder »Nächstenliebe« in ihrem Vokabular nicht zu existieren schienen. Sie waren stets auf ihr eigenes Wohl bedacht, und alle Bündnisse, die sie eingingen, hatten sich diesem unterzuordnen. Obwohl, überlegte das Mädchen, was Scobee und G.T. von Siroona und Mont erzählt haben... Vielleicht gibt es doch Freundschaft bei den Foronen. Aylea drehte sich um und zupfte Jelto am Ärmel seines sackartigen Gewandes. »Komm! Gehen wir weiter!«, schlug sie vor. Sie fühlte sich auf einmal unbehaglich, inmitten dieser teils schaurigen, teils bemitleidenswerten Gestalten, deren Blicke im Halblicht wie tausend Sterne glitzerten. Der Florenhüter bewegte sich nicht. Sein Blick sank auf das Pflänzchen, das direkt aus einem Erdklumpen in seiner Hand wuchs. Es bestand aus einem dünnen, zentimeterlangen Stängel, der in einer knollenartigen Verdickung endete. Einer Art Knospe, die halb geöffnet war und einen unange nehmen, aber nicht wirklich penetranten Geruch verströmte. »Willst du mir nicht endlich sagen, was...?« Aylea verstummte als sie sah, dass das Leuchten von Jeltos Haut stärker wurde. Der Schein war zwar nicht annähernd so hell wie in jenen Momenten, in denen seine Aura vollständig erstrahlte, doch er reichte aus, um seine Umgebung in einem Radius von gut einem halben Meter in ein überirdisch
wirkendes Licht zu tauchen. Dabei hatte er die Augenlider halb geschlossen, als habe er sich in einen tranceartigen Zustand versetzt. Für Aylea stand außer Frage, was gerade geschah – Jelto hatte seine geistigen Fühler ausgestreckt und war in mentalen Kontakt zu dem Pflänzchen getreten. Der Vorgang dauerte nur wenige Momente, dann wurde das Licht langsam wieder schwächer, bis es nur noch eine helle Glasur auf seiner Haut war. Und dann geschah es! Wie im Zeitraffer öffnete sich die Knospe und entfaltete eine leuchtend blaue Blüte mit herzförmigen Blättern. Gleichzeitig bemerkte Aylea, dass der unangenehm stechende Geruch von einem eher milden, süßlichen verdrängt wurde. Jelto öffnete die Augen wieder. Er lächelte knapp, als er in Ayleas ratloses Gesicht blickte. »Beeindruckend, nicht wahr?«, fragte er. Doch die Zehnjährige zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir, ehrlich gesagt, nicht so ganz sicher, was gerade passiert ist.« Mit dem liebevollen Blick eines Vaters, der sein Neugeborenes betrachtet, erklärte der Florenhüter: »Dieser kleine Bursche ist eine ganz spezielle Züchtung von mir. Er verfügt über einen genetisch verankerten Selbstschutz. Er reagiert auf die Körperwärme größerer Säugetiere. Sobald sich ihm ein Warmblüter bis auf zehn Meter nähert, schließt er seinen Blütenkelch und verströmt statt seines Lockduftes einen Übelkeit erregenden Gestank, der alle potentiellen Feinde abschreckt. Er ist ein biologischer Wärmesensor, wenn du so willst.« »Verstehe...«, murmelte Aylea. »Du denkst, dass er es dir anzeigt, sobald sich das Phantom in unserer Nähe befindet.« Jelto nickte, sichtlich stolz auf seine Idee.
Doch Aylea hatte einen Einwand: »Stört meine Anwesenheit denn nicht seine Wahrnehmung?« »Normalerweise schon. Aus genau diesem Grund habe ich mich soeben in sein Bewusstsein versenkt und ihm erklärt, dass von dir keine Gefahr ausgeht. Das Ergebnis hast du ja gerade mit eigenen Augen gesehen. Er nimmt dich nicht mehr wahr, reagiert aber dennoch auf jeden weiteren Warmblüter, der sich ihm nähert.« »Faszinierend...« Tatsächlich war Aylea immer wieder von neuem von den mannigfaltigen Fähigkeiten ihres Freundes beeindruckt, die weit über eine bloße Begünstigung des Wachstums der ihm anvertrauten Pflanzen hinausgingen. Sie warf einen weiteren Blick in die Richtung, in der die Foronen verschwunden waren. Beide hatten die Krümmung des Ganges mittlerweile hinter sich gelassen, sodass nichts mehr von ihnen zu sehen war. Nur ihre Stimmen, mit denen sie ihre fauchend abgehackten Laute ausstießen, klangen in kurzen Abständen auf. Aylea fasste Jelto und zog ihn mit sich. »Komm, bevor wir sie noch ganz verlieren. Wir...« Das Mädchen verstummte, als sie in Jeltos entsetztes Gesicht sah. Unwillkürlich folgte sie seiner Blickrichtung und fühlte sich im nächsten Moment selbst wie vom Blitz getroffen. Die Pflanzenblüte hatte sich wieder geschlossen...
»Was könnte das sein?«, fragte Cloud und zeigte auf die Daten auf dem Holoschirm.
Er hatte die Zentrale alleine betreten. Scobee und Jarvis hatten ihre Suche in der Marsstation nach einer mehrstündigen Pause fortgesetzt. »Wir... sind uns nicht sicher.« Cloud ahnte, dass Siroona dieses Eingeständnis nicht gerade leicht fiel. »Wenn die Messergebnisse korrekt sind, müssen wir davon ausgehen, dass der Innenbereich der Sonnen nicht etwa leer ist, wie wir bisher vermutet haben.« »Hat die KI doch noch einen Planeten geortet?«, fragte Cloud. »Nein, das können wir ausschließen«, erwiderte Sobek. »Der Sektor ist zwar angefüllt mit zahlreichen Objekten unterschiedlichster Größe und Form. Allerdings handelt es sich dabei ziemlich sicher um Objekte künstlichen Ursprungs.« »Foronischer Bauart?« »Das lässt sich von hier aus nicht sagen. Fest steht nur, dass die Positionen dieser Objekte völlig stabil sind. Sie bewegen sich um keinen Fortak von der Stelle. Gerade so, als wären sie im All festgefroren.« Stille kehrte ein. Jeder der Anwesenden hing seinen Gedanken nach, doch die Antworten auf die vielen im Raum schwebenden Fragen schienen noch immer in weiter Ferne zu liegen. »Mittlerweile«, sagte Sobek schließlich, »halte ich es sogar für denkbar, dass es sich bei dem Sonnenhof auch um den neuen Lebensraum von Foronen handeln könnte, die nach dem Rückzug der Arche aus dem Alten Reich fliehen mussten. Vielleicht haben sie sich damit einen relativ überschaubaren Bereich geschaffen und ihn auf irgendeine Weise gegen Angriffe von außen abgeschottet. Das würde auch erklären, warum sich keine genauen Daten erheben lassen. Irgendetwas scheint die Ortungssensoren zu stören.«
Er legte eine kurze Pause ein. »Wie auch immer. Wir werden uns nicht länger mit Spekulationen zufrieden geben, sondern der Sache endgültig auf den Grund gehen.« »Was hast du vor?«, fragte Cloud skeptisch. Sobek gab keine Antwort, doch Siroona erklärte: »Wir werden in den Sonnenhof vorstoßen.« Obwohl sie völlig emotionslos blieb, glaubte Cloud, eine gewisse Erregung aus ihren Worten herauszuhören. Es war weniger ihr Tonfall, als vielmehr eine Art außersinnliche Schwingung, die von ihr ausging. »Wir können uns nicht für alle Zeiten in eine Beobachterrolle zurückziehen«, stellte Sobek fest. »Irgendwann müssen wir eine Entscheidung treffen. Es sieht jedenfalls nicht so aus, als würden sich unsere Fragen in absehbarer Zeit von selbst beantworten.« »Da gebe ich dir durchaus Recht«, ergriff Cloud das Wort. »Trotzdem... Du hast selbst gesagt, dass wir so gut wie nichts über diesen Bereich wissen. Was hat es mit den erloschenen Sonnen auf sich? Wir wissen weder, wer dieses Monument geschaffen hat, noch, welchem Zweck es dient. Von den Objekten, die sich in seinem Innenraum befinden ganz zu schweigen. Wir verfügen ja nicht einmal über verlässliche Daten, was die physikalischen Zustände in diesem Bereich angeht. Denk nur mal an die Vakuumzone bei den Jaroviden! Um ein Haar wären wir dort für alle Zeiten gestrandet.« Vor allem das letzte Argument schien eine gewisse Wirkung zu erzielen. Cloud glaubte zu sehen, dass die Entschlossenheit des Foronen bröckelte. Er hatte sich geirrt. »Die Entscheidung ist bereits gefallen«, stellte Sobek klar.
»Er muss ganz in der Nähe sein...« Jeltos brüchige Stimme verstärkte die Gänsehaut, die sich auf Ayleas Rücken gelegt hatte. Die Pflanze vibrierte leicht, sodass es aussah, als sei sie zu einem unheimlichen Eigenleben erwacht. Doch es war nur das Zittern von Jeltos Hand, das sich auf ihren zarten Körper übertrug. Fasziniert betrachtete Aylea die grüne Hülse, die sich blitzschnell um die Blüte geschlossen hatte. An ihrer Vorderseite war eine winzige Öffnung geblieben, in der es bläulich schimmerte. Der stechende Geruch, der davon ausging, brachte Ayleas Augen zum Tränen. Sie wich zurück und wandte sich ab. Gleichzeitig spitzte sie die Ohren. War da nicht eben ein Geräusch gewesen? Das leise Tappen von nackten Füßen? Aylea zuckte herum. Ihr Blick glitt über die durchsichtigen Kuben, die sich in ihrer unmittelbaren Nähe befanden. Falls sich tatsächlich jemand dahinter versteckte, konnte er laut Jelto höchstens zehn Meter entfernt sein. Andernfalls hätte die Pflanze nicht reagiert. Mit angehaltenem Atem trat sie einen Schritt vor, auf einen weißhaarigen, vertrocknet wirkenden Greis zu, der als einer der wenigen Schläfer so alt aussah, wie er tatsächlich sein musste. Seine Haut wirkte wie altes Pergament, und sein verfilzter Bart reichte bis auf seine Brust. Aylea atmete tief durch und nahm all ihren Mut zusammen. Falls sich tatsächlich jemand im Bereich der Blöcke versteckte, hatte er sie ohnehin längst gesehen. Da konnte sie genauso gut die Flucht nach vorne antreten – außerdem war sich Jarvis doch sicher, dass das Phantom ein Freund war, oder? »Hallo?«, sagte sie mit wankender Stimme. »Ist da jemand?« Sie tat einen weiteren Schritt.
»Geh lieber nicht weiter!« Aylea zuckte zusammen, und ihr Herz übersprang einen Schlag. Fast im selben Moment wurde ihr klar, dass es Jelto war, der diese Bitte geäußert hatte. Sie warf ihm einen giftigen Blick, aus dem die Nervosität jedoch nicht völlig getilgt war, über ihre Schulter hinweg zu. Dann drehte sie sich wieder um, wollte weitergehen – und blieb stattdessen regungslos stehen. War da nicht gerade ein Schatten gewesen? Eine schnelle huschende Bewegung in der Lücke zwischen zwei Blöcken? Das Zittern ihrer Knie wurde stärker, und der Kloß in ihrem Hals schwoll weiter an. Jelto hatte Recht. Es war leichtsinnig, sich dem Unbekannten auf eigene Faust zu nähern. Was, wenn der Fremde sein Versteck verlassen und sich mit wildem Gebrüll auf sie stürzen würde? Wenn Jarvis sich geirrt hatte? Weder sie noch Jelto besaßen die Kraft, sich gegen eine solche Attacke zur Wehr zu setzen. Sie... Da war es wieder. Und diesmal kam es ihr so vor, als würde sich die Dunkelheit zwischen den Kuben verdichten, sich zu etwas zusammenballen, das entfernt menschliche Gestalt besaß. Aylea stolperte zurück, bis sie mit dem Rücken gegen den Florenhüter prallte. Jetzt erst wandte sie sich von dem Anblick ab und begann zu rennen. Der Florenhüter heftete sich ohne zu zögern an ihre Fersen. Hinter der nächsten Biegung wären sie beinahe mit einem der beiden Foronen zusammengestoßen, der in der Mitte des Korridors stehen geblieben war. Japsend und in kurzen, abgehackten Sätzen berichteten sie von ihrem Erlebnis.
Wie immer bereitete es Aylea einige Mühe, die Reaktion der Außerirdischen zu deuten. Doch ihre Worte schienen Wirkung zu zeigen. Die Foronen wechselten eine Reihe fremdartig klingender Laute, dann forderten sie die beiden Menschen auf, sie zu besagter Stelle zu führen. Das Mädchen und der Florenhüter hielten einen respektvollen Abstand, als sich ihre Begleiter schließlich daran machten, den Bereich der Staseblöcke peinlich genau in Augenschein zu nehmen. Jelto versuchte indes, auf seine Weise zu helfen. Seine Aura leuchtete auf, als er sich erneut in das Bewusstsein der Pflanze versenkte. Nach einer Weile öffnete er die Augen und schüttelte den Kopf. Er musste nichts sagen, Aylea verstand auch so. Wer oder was auch immer bis vor kurzem zwischen den Blöcken gelauert hatte – es war verschwunden...
Obgleich die Zentrale von einer atemlosen Stille erfüllt war, spürte John Cloud die Unruhe, die sich um ihn herum ausbreitete wie langsam ausströmendes Gas. Sie manifestierte sich in so unmerklichen Signalen, wie dem unsteten Flattern von Scobees Augenlidern oder die Unmengen an Informationen, die den Holoschirm geradezu überschwemmten. Cloud hielt es noch immer für völligen Wahnsinn, in einen Sektor vorzustoßen, über den keine verlässlichen Ortungsdaten vorlagen. Doch seine Gedanken kreisten nicht nur um Sobeks Plan. Sie waren auch bei Jelto und Aylea, die nichts von dem ahnten, was um sie herum geschah. Cloud hatte es für besser befunden,
ihnen das Wissen über die bevorstehenden Ereignisse zu ersparen. Daher befanden sie sich noch immer in der ehemaligen Marsstation auf der Suche nach seinem Vater. Seit Sobek dem Florenhüter einen Bereich für die Einrichtung eines hydroponischen Gartens gestattet hatte, verbrachten die beiden Freunde dort einen Großteil ihrer Zeit. Vor allem Jelto hatte seine depressive Phase seitdem überwunden und ging ganz in der Aufgabe auf, für die er einst genetisch »programmiert« worden war. Dennoch hatten beide nicht gezögert – sie hatten geradezu darauf bestanden –, Cloud bei der Suche zu helfen. Dieser wurde den Gedanken nicht los, dass es seine Schuld war, wenn den beiden etwas passierte. Schließlich hatten sie ihren Aufenthalt an Bord des Rochenraumers nur einer Zufallsbegegnung mit ihm zu verdanken. Und obwohl Cloud wusste, dass Aylea ohne sein Eingreifen ihr Dasein vermutlich noch heute im Pekinger Getto der Rechtlosen und Ausgestoßenen fristen würde, fragte er sich, ob dieses Schicksal nicht doch besser gewesen wäre, als irgendwo in den Weiten des Universums verschollen zu sein. Scobees leises Räuspern riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. Sie hatte die Suche nach Nathan Cloud vorerst eingestellt, nachdem John sie von den neusten Entwicklungen unterrichtet hatte. Der knappe Blick, den sie ihm zuwarf, zeugte davon, dass ihr das Warten allmählich zu lang wurde. Doch Cloud war froh, dass sich Sobek wenigstens dazu entschlossen hatte, sich vorsichtig an die Grenze des Sonnenhofs heranzutasten. Dabei hatte weniger die Angst vor einem unerwarteten Angriff eine Rolle gespielt, als vielmehr die Furcht vor einem Debakel, wie sie es bei den Jaroviden erlebt hatten. Der Hauptantrieb SESHAs beruhte, wie Cloud seit diesem Vorfall wusste, auf der im Universum allgegenwärtigen
Dunklen Energie, die das Raumschiff über seine Außenhülle abzapfte. Damit verdichtete es die Dunkle Materie des Raumes, um so eine Verfaltung des normalen Raumzeitkontinuums zu erzeugen, durch die sie sich wie durch ein Wurmloch bewegte. Das völlige Fehlen von Dunkler Energie in jener Vakuumzone hätte sie um ein Haar für immer dort stranden lassen. Auch Sobek hatte seine Lehren aus diesem Vorfall gezogen. Durch ein behutsames Vordringen in den unbekannten Bereich konnte er austesten, ob dort auch wirklich die für einen schnellen Rückzug erforderlichen Bedingungen herrschten. Dementsprechend schleppend gestaltete sich die Aktion. John kam es dennoch vor wie der knappe Aufschub einer unweigerlich bevorstehenden Hinrichtung. Sein Blick blieb sekundenlang an Scobees schlanker Gestalt hängen. Sie wirkte bedrückt. Wie gerne hätte er ihr irgendetwas Aufmunterndes gesagt. Ihm fiel auf, dass sie sich nie richtig ausgesprochen hatten, seit damals. Seit sie sich in Peking unverhofft auf Cronenbergs Seite geschlagen hatte. Und obwohl sie diese Entscheidung ihrer genetischen Programmierung zu verdanken hatte, wusste er, dass ihr der Vorfall in ihrem Innersten noch immer keine Ruhe ließ. Das lag nicht nur an dem vermeintlichen Verrat, den sie an ihren Freunden und Weggefährten begangen hatte. In erster Linie war es wohl ihr Stolz, der gelitten hatte. Sie hatte als genetisch optimierter Mensch Zeit ihres Lebens mit Vorurteilen zu kämpfen gehabt. Auch Cloud war ihr und den anderen GenTecs zu Beginn ihrer Zusammenarbeit mit gewissen Vorbehalten begegnet. Scobee hatte das gespürt und nichts unversucht gelassen, um die Eigenständigkeit ihres Handelns und Denkens ständig unter Beweis zu stellen.
Dass sie die Früchte dieser Bemühungen innerhalb weniger Stunden selbst zunichte gemacht hatte, nagte an ihrem Selbstbewusstsein. John wusste das, obwohl sie ihm gegenüber nie etwas gesagt hatte. Er nahm sich in diesem Moment fest vor, mit ihr zu einem späteren Zeitpunkt ausgiebig darüber zu sprechen. Ihr zu sagen, wie sehr er sie in den vergangenen Monaten schätzen gelernt hatte. Cloud wunderte sich über seine eigenen Gedanken. Warum schweiften sie ausgerechnet jetzt in vergangene Zeiten ab? War es die Furcht vor dem, was vor ihnen lag? Die Sorge, dass so viele Dinge, die ihm noch auf der Seele lasteten, möglicherweise für immer unausgesprochen bleiben würden? Er atmete tief durch und mahnte sich trotz der angespannten Situation zu Gelassenheit. »SESHA befindet sich kurz vor dem Eintritt in den Sonnenhof«, sagte Siroona. Augenblicklich kam es Cloud so vor, als würde sein Magen im luftleeren Raum schweben. Die Entscheidung stand kurz bevor. Und alles was er jetzt noch tun konnte, war, zu hoffen, dass der Hirte seinen Entschluss nicht bereuen würde. Er konzentrierte sich auf den Panoramaschirm, der ihre unmittelbare Umgebung zeigte. Bisher war kein noch so schwaches Licht in der Dunkelheit des Alls zu erkennen gewesen. Doch plötzlich, für die Dauer eines Lidschlags, war da ein kurzes Aufblitzen. So, als habe das Schiff eine Art unsichtbare Membran durchstoßen, die erst dann für einen kurzen Moment sichtbar geworden war. Cloud hielt den Atem an. Die Zeit schien für Sekunden – oder waren es Minuten? – still zu stehen.
Irgendetwas passierte, auch wenn es ihm schwer fiel, konkrete Umschreibungen für diese Veränderung zu finden. Seltsame Wellenbewegungen erfassten die Schwärze des Schirms. Es sah aus als bestünde der sie umgebende Raum aus einer zähen Masse, die durch die Schubkraft des Schiffes Falten warf – um dann mit einem Ruck zu reißen. »Mein Gott...«, hörte er Scobee mit belegter Stimme sagen. Ihm fiel auf, dass sich die Frequenz, mit der die Ortungsdaten auf dem Holoschirm erneuert wurden, von einer Sekunde auf die andere verzigfachte. »Neue Ortungsdaten verfügbar«, verkündete die KI. »Die Ortung arbeitet auf einmal völlig präzise«, präzisierte Siroona. »In der Tat. Es ist, als würde ein Schleier fallen«, bestätigte Sobek. »Was auch immer die Signale gestört hat, hier im Innenbereich ist seine Wirkung gleich Null.« »Diese Objekte...«, murmelte Scobee und deutete mit einem Kopfnicken auf den Schirm, wo auf einmal mehrere Punkte aufblinkten. »Was hat es damit auf sich?« Sie hatte die Frage kaum ausgesprochen, als sich in der Mitte des Panoramaschirms ein Fenster öffnete, in dem eines der Objekte herangezoomt wurde. Als Cloud erkannte, was es war, verschlug es ihm beinahe den Atem. »Ein Raumschiff!«
Gefahr! Dieses eine Wort, auf telepathischem Wege empfangen, ließ Sobek zum ersten Mal die Richtigkeit seines Handelns hinterfragen. Siroona hatte Recht.
Etwas war faul. Auch er spürte es jetzt mit jeder Faser seines Verstandes. Das Ganze roch nach einer gewaltigen Falle. Dutzende, nein Hunderte unbekannter Raumschiffe verschiedenster Größe und Form hatten sich über den gesamten Sonnenhof verteilt. Das Einzige, was Sobek mit ziemlicher Gewissheit sagen konnte, war, dass sie nicht foronischer Herkunft waren. Und allein das war für ihn Grund genug, Siroonas Intuition zu vertrauen. Rückzug! Sobek war es gewohnt, dass die KI auf seine prompten Befehle ebenso prompt reagierte. Umso mehr überraschte es ihn, dass das Schiff keinerlei Reaktion zeigte, sondern mit unverminderter Geschwindigkeit weiter in den rätselhaften Sektor vorstieß. Er versuchte es noch einmal, mit demselben Erfolg. Was passiert nur?, fragte Siroona. Ich habe keine Ahnung, gab Sobek zu, während er sich gleichzeitig auf die riesigen Datenmengen konzent rierte, die über seine mentalen Kanäle auf ihn einstürmten. Es scheint, als würden wir von irgendetwas angezogen. Etwas, dem sich selbst SESHAs Antrieb nicht zu widersetzen vermag. Es geht von den Sonnen aus, glaubte Siroona zu erkennen. Ihre Anziehungskraft wurde gebündelt und ist genau auf die SESHA fokussiert. Irgendetwas versucht gezielt, uns am Rückzug zu hindern. Siroona hatte Recht. Selbst eine oberflächliche Überprüfung der Daten ließ daran keinen Zweifel. Es war tatsächlich so, als würden Lenkstrahlen von den Sonnen ausgehen, die das Schiff erfasst hatten und immer tiefer in den Innenraum zogen und drängten... Die verschiedenartigen Objekte, die im Sekundentakt in der Vergrößerung des Panoramaschirms auftauchten, schienen keiner einheitlichen Flotte anzugehören. Zu sehr unterschieden
sie sich in Form, Größe und Alter, als dass sie auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen konnten. Vielmehr schienen sie aus den unterschiedlichsten Bereichen der Galaxis zu stammen. Cloud entdeckte drei verschiedene Kugelraumer und Schiffe, die wie flache Scheiben aussahen. Eines hatte die Form einer stilisierten Haifischflosse, ein anderes glich einem abgeschnittenen Kegel. Unwillkürlich fühlte er sich an ein Museum erinnert. An eine Ausstellung mit allen nur erdenklichen Arten von Raumfahrzeugen. »Es scheint keine Gefahr von ihnen auszugehen«, stellte Scobee nach einigen Sekunden fest. Tatsächlich hatte bisher keines der Schiffe das Feuer eröffnet. Auch gab es keine Anzeichen einer in Kürze bevorstehenden Attacke. »Ob eines von ihnen der Urheber jenes Signals ist, das SESHA empfangen hat?«, fragte die GenTec. Cloud bezweifelte es. Auch wenn einige Schiffe eine beachtliche Größe aufwiesen, sah keines von ihnen aus, als verfügte es über die technischen Kapazitäten, um ein solches Signal über eine Distanz von Hunderttausend Lichtjahren zu senden. Obwohl sie immer nur kurz in der Vergrößerung des Schirmes zu sehen waren, so fiel doch auf, dass viele von ihnen die besten Jahre bereits hinter sich hatten. Ihre zernarbten Oberflächen sahen aus, als ob der Zahn der Zeit schon seit einer Ewigkeit an ihnen nagte. »Weißt du, woran mich das alles erinnert?«, fragte Cloud. Scobee warf ihm nur einen ratlosen Blick zu. »An einen gigantischen, galaktischen Schrottplatz.« »Du denkst, die Schiffe wurden hier zurückgelassen?«, fragte die GenTec.
»Die meisten bestimmt. Sieh dir nur an, in welchem Zustand sie sich befinden. Ich würde jedenfalls freiwillig keinen dieser fliegenden Schrotthaufen mehr betreten.« »Demnach wären sie unbemannt. Was wiederum bedeutet, dass auch keine Gefahr von ihnen droht.« »Von ihnen nicht.« Es war Siroona, die sich in die Unterhaltung der beiden Menschen einmischte. Bis zu diesem Moment hatte sie etwas entfernt von ihnen gestanden, und sich auf die Ortungsdaten konzentriert, die noch immer unaufhörlich über die HauptHolosäule und verschiedene Bildschirme liefen. »Was meinst du damit?« Cloud war die seltsame Betonung nicht entgangen, mit der die Foronin Scobees Vermutung bestätigt hatte. Verkürzt schilderte sie die Situation, die sich durch den Vorstoß in den Sonnenhof ergeben hatte. Scobee erbleichte und auch John fühlte sich endgültig in seinen Befürchtungen bestätigt. Was Siroona ihnen da verkündete, bedeutete nichts anderes, als dass sie sich im Griff eines unbekannten, aber eindeutig zielgerichteten Kraftvektors befanden, der sie unablässig in die Tiefen des Sonnenhofs zog. Mit anderen Worten: Sie hingen wie ein Fisch am Haken. Ein ziemlich passendes Bild, angesichts der Tatsache, dass SESHA die Form eines gewaltigen Mantarochens hat, dachte Cloud in einem Anflug von Galgenhumor. Rein äußerlich blieb er jedoch ernst. »Ich wusste es«, zischte er und ballte die Fäuste. »Hätte ich ihm dieses wahnwitzige Vorhaben nur ausgeredet.« »Das«, sagte Siroona mit unerschütterlicher Überzeugung, »lag nie in deiner Macht.« Cloud nickte. Obwohl die Worte der Foronin überaus demütigend waren, waren sie nicht mehr als eine einfache Feststellung. Es war
schließlich nicht das erste Mal, dass den Menschen vor Augen geführt wurde, wer hier an Bord das Sagen und wer sich unterzuordnen hatte. Cloud stellte mit einigem Unbehagen fest, dass er sich an diese Machtverteilung allmählich gewöhnte. »Das haben wir nun davon, dass er uns jederzeit und ohne Rücksicht auf Verluste seinen Willen aufzwingen muss. Wir treiben mit unbekanntem Ziel durch einen Sektor, von dem wir nicht das Mindeste wissen und...« »Falsch!« John Cloud fuhr erschrocken herum. Es war Sobek, der ihm so harsch ins Wort gefallen war. Jetzt näherte er sich ihm bis auf wenige Schr itte. Cloud mühte sich redlich, dem Foronen gegenüber keine Unsicherheit zu zeigen. »Soll heißen...?«, fragte er herausfordernd. »Wir treiben nicht mehr, wir stehen. Offenbar haben wir die uns zugedachten Koordinaten erreicht.« Clouds Blick schweifte zur Positionsanzeige des Holoschirms. Ein kurzer Blick genügte, um zu erkennen, dass der Forone die Wahrheit gesagt hatte. Der Rochenraumer stand bewegungslos im Raum, wie an den Fleck gebannt. »Um es kurz zu sagen: Wir sind gefangen.« Niemand widersprach Scobees Feststellung. Genau genommen hätte eine tiefgründigere Analyse die Situation kaum besser beschrieben. Wie Sobek gerade ausgeführt hatte, arbeiteten sämtliche internen Systeme des Schiffes weiterhin völlig uneingeschränkt. Dennoch hing SESHA wie festgefroren mitten im Raum – und teilte damit das Schicksal hunderter anderer Schiffe um sie herum. Auch sie trieben nicht etwa durch den Raum, sondern »standen« wie das Rochenschiff am Fleck, von irgendeiner
mysteriösen Kraft auf ihrer jeweiligen Position gefangen gehalten. »Wenn ich mich so umsehe«, sagte Cloud, »drängt sich mir der Verdacht auf, dass sich an unserer Situation sobald nichts ändert. Ich frage mich, wie lange unsere ›Nachbarn‹ hier schon festsitzen.« »Seit Äonen«, vermeldete Siroona mit Blick auf die Ortungsdaten. »Strahlungsrückstände und Altersanalysen der Schiffshüllen lassen diesen Schluss zu.« Unheilsschwangere Stille breitete sich nach ihren Worten aus. War das das Schicksal, das auch ihnen vorbestimmt war? Für alle Zeiten im Kräftefeld neun erloschener Sonnen gefangen zu sein? Eine grauenhafte Vorstellung, mit der sich Cloud keineswegs abfinden wollte. Er hatte bereits damit begonnen, in Gedanken nach einem Ausweg zu suchen. Wenn er eines aus ihren bisherigen Erlebnissen in der Zukunft gelernt hatte, dann, dass es für jedes Problem eine Lösung gab, ganz gleich wie ausweglos die Lage auf den ersten Blick auch erscheinen mochte. »Wenn ihr mich fragt, handelt es sich bei diesem Konstrukt um eine einzige monumentale Mausefalle«, meinte er. »Ich verstehe das nicht«, sagte Scobee und schüttelte den Kopf. »Warum sollte jemand einen solchen Aufwand betreiben, nur um ein paar Schiffe in die Falle zu locken?« »Das werden wir wohl noch früh genug erfahren. Ich glaube kaum, dass man uns nur hierher gelockt hat, um uns aus der Ferne verzweifeln zu sehen.« »Du denkst, wir werden bald von unseren ›Gefängniswärtern‹ hören?« »Dessen bin ich mir sicher. Die Frage ist, ob wir so lange warten wollen, oder ob wir uns dazu entschließen können, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.«
»Wir könnten versuchen, mit einem der anderen Schiffe in Kontakt zu treten«, schlug die GenTec vor. »Vielleicht befindet sich irgendwo noch jemand an Bord.« Cloud wiegte den Kopf. »Den Versuch wäre es wert. Ich befürchte jedoch, dass wir uns auf einem Friedhof befinden.« An Sobek gewandt fragte er: »Welche Schiffe lassen sich in unmittelbarer Nähe orten?« Der Forone wandte sich an die KI. Kurz darauf waren die Bilder zweier Raumschiffe auf dem Hauptschirm zu sehen. Das erste sah aus wie ein platt gedrücktes Eiscremehörnchen. Die Oberfläche wies zahlreiche Schäden auf. Entweder war das Schiff vor oder nach seiner Strandung massiv unter Beschuss genommen worden oder in einen Meteoritenschauer geraten. Das nächstgelegene Schiff, eine riesige flunderartige Scheibe, war fast dreimal so weit entfernt, und sein Zustand war um keinen Deut besser. »Die KI findet keinerlei Anzeichen für organisches Leben in diesem Bereich«, sagte Sobek nach einer Weile. »Allerdings...« Er zögerte. »Sie teilt mir soeben mit, dass sie den Ursprung des mysteriösen Funkspruchs geortet hat.« Cloud rümpfte die Nase. Er fand es befremdlich, wie der Hohe die Künstliche Intelligenz des Schiffes vermenschlichte. Als wollte die KI den Menschen und Foronen in der Zentrale die mysteriöse Botschaft ins Gedächtnis zurückrufen, spielte sie sie noch einmal ab: »... besiegt... Virgh... vernichtet... zurück... Samragh... besiegt...« »Er kommt unmittelbar aus dem Zentrum der Formation und stammt von einem Objekt, bei dem es sich höchstwahrscheinlich um kein Raumschiff handelt.« »besiegt... Virgh... vernichtet...« Cloud schöpfte neue Hoffnung. »Aus dem Zentrum sagst du?« Er überlegte. »Dann könnte es sich dabei um eine Art
Zentrale handeln, die das gesamte Konstrukt zusammenhält. Gibt es eine Möglichkeit, auf die Botschaft zu reagieren?« Wenn es denn eine gab, sollte Cloud nichts mehr davon erfahren. Denn bereits einen Moment später, änderte sich alles...
Es geschah urplötzlich, völlig lautlos und ohne jede Vorwarnung. Auf einmal war da dieses weiße Licht, das sekundenlang die Zentrale erhellte. Es war merkwürdig. Trotz der immensen Helligkeit, die die Umgebung in grelles Weiß tauchte, fühlte Cloud sich nicht geblendet. Er konnte die Augen mühelos geöffnet halten. Die Quelle des Lichtes war nicht auszumachen. Es schien aus keiner bestimmten Richtung zu kommen, sondern war einfach nur da. Und mit seiner Ankunft schien die Zeit zu gefrieren. Cloud konnte nicht einmal schätzen, wie lange dieser Zustand anhielt. Er sah nur, wie alle um ihn herum am Fleck erstarrten. Vermutlich war auch er nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Genau konnte er es nicht sagen. Er war zu sehr auf die Vorgänge in seiner Umgebung konzentriert. Seltsam unberührt stellte er fest, dass das Licht die Körper der anderen durchdrang, sie durchleuchtete und von innen heraus erhellte. Ganz deutlich sah er die innere Beschaffenheit der Foronen. Sah ihre Knochen, ihre inneren Organe, sah Muskelstränge und etwas wie Adern.
Er stellte dabei fest, dass sich die Außerirdischen nicht nur äußerlich deutlich von den Menschen unterschieden. Auch er selbst fühlte sich durchleuchtet. Es fühlte sich an, als ob sein Körper umgekrempelt, sein Innerstes nach außen gestülpt wurde. Cloud hob seine Hand. Tatsächlich konnte er durch sie hindurch sehen, als sei die Haut abgeschält worden, um den Blick auf Adern, Muskeln und Knochen freizulegen. Im nächsten Augenblick war alles vorbei. Das Licht verschwand so schnell, wie es gekommen war. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich Clouds Augen wieder an die ursprünglichen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Sekundenlang sah er nichts als dunkle Schatten, die vor seinem Blickfeld waberten. Nur schwach sah er dabei die Umrisse der beiden Foronen. Sah, wie Sobek und Siroona in gekrümmter Haltung verharrt waren – und schon im nächsten Moment wie zwei gefällte Bäume zusammenbrachen. Sobek! Mit drei weiten Schritten hatte Cloud die Distanz zu dem Foronen überwunden, dann sank er vor ihm auf die Knie. Der Forone war völlig leblos. Selbst als Cloud ihn an der Schulter berührte, ihn leicht schüttelte, zeigte er keine Reaktion. An einigen Stellen zuckten kalte Entladungen über seine Rüstung, die jedoch mit jeder Sekunde schwächer wurden. Cloud hob den Kopf, sah zu Scobee hinüber, die sich über Siroona gebeugt hatte. Auch die GenTec wirkte vollkommen hilflos. Sie hatte die schlaffe Klauenhand der Hirtin ergriffen, hielt sie in die Höhe und ließ sie wieder sinken. Ihre Augen weiteten sich und die Blässe in ihrem Gesicht nahm stetig zu. »Mein Gott, John! Sie sind tot!«
Sekundenlang schien es, als sei die Zeit erneut eingefroren. Alles, was er noch wahrnahm, war Scobees entsetztes Gesicht, und ihre Worte, die als böses Echo in ihm nachhallten. »Woher willst du das wissen?« Clouds schneidender Tonfall entlockte ihr einen Ausdruck der Verwunderung. Die Frage war jedoch berechtigt. Was wussten sie schon über den Metabolismus der Foronen? Wodurch ließen sich Tod, Bewusstlosigkeit und tiefer Schlaf bei diesen fremdartigen Wesen unterscheiden? Scobee runzelte die Stirn. Ihr war durchaus bewusst, dass selbst das Fehlen jedes noch so geringen Lebenszeichens allein noch kein hinreichender Beweis für ein tatsächliches Ableben war. GenTecs zum Beispiel besaßen die Fähigkeit, sich in eine Art »Winterschlaf« zu versetzen, indem sie ihre lebenserhaltenden Körperfunktionen auf ein kaum noch wahrnehmbares Minimum herunterfuhren. Natürlich lagen die Dinge in diesem Fall etwas anders. Die Foronen hatten sich nicht freiwillig in diesen Zustand versetzt. Sie waren urplötzlich und wie vo m Blitz gefällt zusammengebrochen. Kurz nachdem... »Diese Lichterscheinung...«, murmelte Scobee, während sie sich erhob. »Was war das nur?« »Ich weiß nur, dass sie höchstwahrscheinlich der Grund für den Zustand unserer Gastgeber ist.« »Aber warum hat es nur sie getroffen? Warum nicht uns? Ich habe deutlich gesehen, wie auch wir durchleuchtet wurden.« »Vielleicht«, murmelte Cloud nachdenklich, »war es nicht auf unseren Metabolismus eingestellt.« »Du denkst, die Attacken galten nur den Foronen an Bord? Jemand wollte sie ganz gezielt ausschalten.« Scobee blickte
sich hektisch um, doch Sobek und Siroona waren im Moment die einzigen Foronen in der Kommandozentrale. »Das würde bedeuten...« »... dass es wahrscheinlich nicht nur die Hohen getroffen hat.« Einen unerträglichen Moment lang schwebte die böse Vermutung unwidersprochen im Raum. Dann setzte sich Scobee in Bewegung und eilte zum Schott. »Ich werde nachsehen.« »In Ordnung. Ich halte hier so lange die Stellung. Wer weiß, was noch alles passiert.« Cloud schaute ihr hinterher, während sie durch das Schott trat. Bevor es sich hinter ihr schließen konnte, sagte er: »Scobee?« Die GenTec drehte sich um, blickte ihn fragend an. »Sieh auch nach Jelto und Aylea.« »Denkst du...?« »Nein«, sagte John schnell. »Wenn es dich und mich verschont hat, dann wahrscheinlich auch die beiden. Es gibt keinen Grund, etwas anderes anzunehmen.« Scobee nickte, dann schloss sich das Schott hinter ihr. Zurück blieb John Cloud. Allein mit zwei möglicherweise toten Foronen. Und seinen düsteren Gedanken... Wie sollte es jetzt weitergehen? Sie waren Gefangene einer fremden Macht, die sich bisher nicht zu erkennen gegeben hatte, jedoch keinen Zweifel an ihrer Skrupellosigkeit gelassen hatte. Was kam als Nächstes? Gab es einen bestimmten Grund dafür, dass nur die Foronen ausgeschaltet worden waren, oder war es einfach nur Zufall? Cloud war davon überzeugt, dass die Lichtattacke nicht das letzte Lebenszeichen der mysteriösen Herren des Sonnenhofs bleiben würde. Er war sich fast sicher, in Kürze noch mehr von ihnen zu hören.
Und bis dahin, das nahm er sich fest vor, wollte er gewappnet sein. Doch dazu musste er erst einmal wissen, was genau passiert war und wie sich die derzeitige Lage im Sonnenhof darstellte. Es gab nur eine Instanz, die ihm diese Fragen beantworten konnte. Clouds Blick pendelte einige Male zwischen den am Boden liegenden Foronen und den sieben sarkophagartigen Steuersitzen am anderen Ende des Raumes hin und her. Ob Sobek und Siroona nun tot oder nur bewusstlos waren – in jedem Fall lag es jetzt allein an ihm, die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Jede Scheu, die ihn nach den Erfahrungen der Vergangenheit bisher davon abgehalten hatte, sein Bewusstsein noch einmal mit dem der KI zu vernetzen, fiel mit einem Mal von ihm ab. Entschlossen trat er auf den mittleren Sarkophagsitz zu und ließ sich in die Mulde gleiten. »Wollen doch mal sehen, ob du dich noch an mich erinnerst...« Er schloss die Augen und spürte, wie Kontakte hergestellt wurden. Es war wie ein leichtes Kribbeln, das seinen Körper umfloss, aber nicht unangenehm war. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, dass sich der Sarkophag geschlossen hatte. Es war das Letzte, das er mit seinen eigenen Augen sah. Im nächsten Moment wechselte seine Wahrnehmung auf eine andere Ebene. Die Wucht der Eindrücke, die mit Sturmgewalten auf ihn einstürmten, presste ihn tiefer in den Sitz. Am eigenen Leib fühlte er die Kälte, die SESHA umgab. Gleichzeitig spürte er die gewaltigen Kräfte, die auf den Rochenraumer einwirkten. Es fühlte sich an, als sei er im unnachgiebigen Griff eines gewaltigen Schraubstocks gefangen, der ihm die Luft aus den Lungen drückte und seine
Knochen bis zum Höchstmaß ihrer Belastbarkeit zusammenpresste. Er versuchte, den Schmerz, das Ziehen in seinen Gliedern zu ignorieren und konzentrierte sich ganz auf die Kontaktaufnahme. Aktuelle Statusanzeige? Wie ist die Lage an Bord? Verlange Aufklärung über das Befinden der foronischen Besatzungsmitglieder! Obwohl es ihm vorkam, als würde er die Worte ins All hinausbrüllen, erntete er keinerlei Reaktion. SESHA schwieg...
Die Stille dröhnte in Scobees Ohren, als sie aus der Zentrale in den leeren Korridor trat. Es war keine beruhigende, keine die Seele labende Stille, wie man sie etwa in einsamer Natur findet. Sie erinnerte mehr an die Stille auf einem Schlachtfeld, nachdem die Sieger davongezogen und die Besiegten sich ihrem Schicksal ergeben haben. Scobee war sich nicht sicher, aber sie hatte den Eindruck, als sei die zuvor schon unwirkliche Beleuchtung, die die Gänge des Schiffes erfüllte, einen Deut schwächer geworden. So, als habe ihr irgendetwas einen Teil ihrer Energie geraubt. Vielleicht waren es aber auch nur die Nachwehen des Lichtblitzes, die noch immer ihre Netzhäute irritierten. Es dauerte nicht lange, bis sie auf den ersten Foronen stieß. Auch er lag verkrümmt am Boden, genau wie seine Herren in der Zentrale. Es stimmt also, dachte sie mit wachsendem Entsetzen. Vermutlich war das ganze Schiff von den Auswirkungen der Lichterscheinung betroffen.
Mit jedem weiteren Foronen, den sie fand, verdichtete sich diese Vermutung immer mehr zu grauenhafter Gewissheit. Eine Gänsehaut kroch über ihren Nacken, als ihr bewusst wurde, dass möglicherweise Hunderte von Leichen an Bord waren. Waren wirklich alle tot? Hatte kein Einziger die Attacke überlebt? Ein kurzer Rundgang durch die foronischen Mannschaftsquartiere nährte diesen Verdacht. Wohin sie auch blickte, sah sie nichts als leblose, hünenhafte Körper, die teilweise in den unmöglichsten Positionen auf dem Boden zusammengebrochen waren. In einem Raum waren es gut dreißig dieser Wesen, die kreuz und quer verstreut lagen. Ein Gefühl von tiefer Trauer überrollte sie bei diesem Anblick. Scobee konnte nicht behaupten, dass sie jemals die Sehnsucht verspürt hätte, mit einem von ihnen Freundschaft zu schließen. Zu fremd waren ihr diese Wesen immer geblieben, zu bedrohlich ihre schier erdrückende Präsenz. Doch dieses Schicksal hätte sie keinem von ihnen gewünscht. Unterm Strich waren sie ja doch so etwas wie Weggefährten gewesen. Schicksalsgenossen, die wie sie aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. Scobee sah entsetzt auf, als ein plötzlicher Schrei das Band ihrer Gedanken durchschnitt. Es war nicht schwer zu erraten, wer diesen schrillen, mädchenhaften Schrei ausgestoßen hatte. »Aylea!« Scobee rannte los...
Es kam völlig überraschend.
Aylea und Jelto hatten die Suche zwar nicht aufgegeben, doch beide waren sich einig gewesen, dass sie nach dem Schrecken eine Pause benötigten. Daher hatten sie sich gemeinsam in den Garten des Florenhüters zurückgezogen, um zu verschnaufen. Eben noch hatte die Zehnjährige gebannt Jeltos Vortrag über die Eigenschaften einer besonders seltenen Orchideenart gelauscht und schon im nächsten Moment war da dieses Licht. Zunächst glaubte sie, dass Jelto es aussandte. Doch dann merkte sie, dass es nichts, aber auch gar nichts mit seiner Aura, jenem gelegentlichen Auflodern seiner Kirlianhaut gemein hatte. Dieses Licht war anders. Es war von solcher Intensität, dass es alles durchdrang. Sie bemerkte es, als sie Jelto anblickte. Der Florenhüter stand noch immer in derselben Haltung vor ihr, wie vor der Ankunft des mysteriösen Lichtes. Dennoch hatte er sich verändert. Auf einmal konnte sie in ihn hineinblicken, als sei seine Haut aus Glas. Ganz deutlich konnte sie die einzelnen Rippen seines Brustkorbs sehen. Und dahinter sein Herz, das in ruhigem Takt Blut durch seine Adern pumpte. Ayleas Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. Sie wollte zurückweichen, doch ihre Beine fühlten sich an wie mit Blei ausgegossen. Und dann sah sie, dass nicht nur Jelto von dem Licht durchleuchtet wurde. Ihr Blick flatterte umher wie ein aufgescheuchter Vogel, ohne länger an einer bestimmten Stelle zu verharren. Sämtliche Pflanzen des mittlerweile zu beachtlicher Größe angewachsenen Bestandes sahen aus, als seien sie durchsichtig. Jedes Blatt, jede Blüte offenbarte ihr ihre innere Beschaffenheit und sah dabei aus, wie die Bilder in ihren
Biologiebüchern, die sie zu Hause auf der Erde ihr Eigen genannt hatte. Dann war es vorbei. Das Licht verschwand und alles war wieder so, als wäre nie etwas geschehen. Sowohl Aylea als auch Jelto benötigten einige Augenblicke, um die Fassung wiederzuerlangen. »Hast du das auch gesehen?«, fragte die Zehnjährige überflüssigerweise. Der Florenhüter nickte mit sorgenvoller Miene. »Es war... gespenstisch.« Seine Worte sanken zu einem Flüstern hinab. »Woher ist es gekommen?« Jelto zuckte mit den Schultern. »Wir sollten John und Scobee davon erzählen. Vielleicht wissen sie Rat.« »Du hast Recht. Ich gehe sie suchen.« Aylea drehte sich um und eilte zum Ausgangsschott, das sich automatisch vor ihr öffnete. Sie wollte auf den Gang hinausstürmen – und prallte stattdessen zurück, als wäre sie gegen eine Gummiwand gelaufen. Mitten auf dem Boden, nur wenige Schritte von der Tür entfernt, lagen zwei leblose Foronen! Jetzt konnte Aylea nicht mehr an sich halten, und ein gellender Schrei verließ ihre Kehle...
Schon von weitem sah Scobee, was das Mädchen in solche Aufregung versetzt hatte. Sie entdeckte die Foronen, noch bevor sie Aylea im geöffneten Schott des Pflanzengartens stehen sah. Jelto war hinter sie getreten, hatte seine Arme um ihren Brustkorb geschlungen und redete beruhigend auf sie ein.
»Was ist mit ihnen passiert?«, fragte Aylea mit feucht schimmernden Augen, als Scobee schließlich vor ihr stehen blieb. »Das versuchen wir herauszufinden. Wir...« »Hat es mit diesem seltsamen Licht zu tun?«, fiel sie der GenTec ins Wort. Scobee zog ihre Augenbrauen- Tattoos in die Höhe. »Ihr habt es also auch gesehen?« Jelto und Aylea nickten synchron. »Dann stimmt es also. Vermutlich war das ganze Schiff von diesem seltsamen Phänomen betroffen.« So ausführlich wie nötig erzählte sie den beiden Freunden von den Dingen, die sie und John ihnen bisher verheimlicht hatten. Sie bemühte sich dabei, die Bedrohung, der sie sich ausgesetzt sahen, herunterzuspielen und allzu schreckliche Wahrheiten unerwähnt zu lassen. Nichtsdestotrotz füllten sich die Mienen der beiden mit Furcht. »Wir sind gefangen?«, hauchte Aylea fassungslos. »Inmitten von neun schwarzen Sonnen?« »Leider ja. Aber John setzt bereits alles daran, um uns auf dem schnellsten Wege wieder raus zubringen.« Aylea runzelte die Stirn. »John? Was ist mit Sobek und...« Siroonas Namen sprach sie schon gar nicht mehr aus. Scobees Gesichtsausdruck war so eindeutig, als stünde ihr die grausige Wahrheit mit greller Leuchtfarbe auf die Stirn geschrieben. »Es hat auch sie... erwischt?« »Offenbar sind alle Foronen davon betroffen«, erklärte die GenTec. »Warum wir Menschen davon verschont wurden, ist mir im Moment noch ein Rätsel.« Nachdenklichkeit schob sich über die Besorgnis auf ihren Zügen. »Nur Foronen?« »Was ist mit Jarvis?«, wollte Aylea wissen.
Scobee stutzte und wunderte sich dabei, weshalb sie sich diese Frage selbst noch nicht gestellt hatte. Jarvis besaß das Bewusstsein eines Menschen. Die amorphe Substanz, die seinem Geist als Zufluchtsstätte diente, war jedoch foronischer Herkunft. Sobeks und Siroonas Rüstungen bestanden aus derselben Substanz – tatsächlich war Jarvis' neuer Körper ja die ehemalige Rüstung eines der Sieben Hohen. Aber viel genutzt hatten die Körperpanzer den beiden Foronen offensichtlich nicht. Hieß das, dass auch der GenTec von den Auswirkungen des Lichtes betroffen war? Scobee bat – nein, sie befahl – Jelto und Aylea, sich auf schnellstem Wege in ihre Kabinen zu begeben und sich dort einzuschließen. Sie selbst hatte es auf einmal sehr eilig...
»Also, ich finde das merkwürdig...«, sagte Jarvis, ohne den Foronen anzusehen, der neben ihm herging. Während einer kleinen Ewigkeit, die er den Außerirdischen nun schon durch die Tiefen der Marsstation begleitete, versuchte er, ihm irgendeine Reaktion zu entlocken – bisher ohne Erfolg. Sein Begleiter, von dem er nicht einmal den Namen wusste, vermied es, auch nur ein überflüssiges Wort mit dem GenTec zu wechseln. Von Anfang an hatte er keinen Zweifel daran gelassen, dass es sich bei ihrer Zusammenarbeit lediglich um ein Zweckbündnis handelte. Dass er es nicht im Entferntesten in Erwägung zog, Jarvis wie einen der Seinen zu behandeln. Damit übertraf das Ausmaß seiner Arroganz sogar die des Hohen Sobek, der sich immerhin gelegentlich dazu herabließ,
das eine oder andere Wort mit seinen menschlichen Passagieren zu wechseln. Auch dieses Mal zeigte er nicht den Ansatz einer Reaktion auf Jarvis' Versuch, ein Gespräch anzuleiern. Ungebeten sprach der GenTec weiter. »Ihr seid so ein überaus stolzes und überaus mächtiges Volk. Seid in der Lage, ganze Welten zu versetzen und verfügt über eine Lebenserfahrung von einigen Hundert Jahren. Trotzdem versagt ihr, wenn es darum geht, einen einzigen Eindringling an Bord eures eigenen Schiffes aufzuspüren.« Jarvis hatte den Eindruck, dass ihn der Blick des anderen für einen kurzen Moment traf. Ganz sicher war er sich jedoch nicht – schließlich verfügten die Foronen nicht über Augen, sondern ihre Sinneszellen waren über die gesamte Kopfhaut verteilt. Jarvis stieß etwas aus, das wie ein Seufzer klang und ein Überbleibsel aus seiner Zeit als echter, wenn auch genetisch optimierter Mensch war. Er bereut e es allmählich, dass er sich einem der Foronen auf der Suche nach Nathan Cloud angeschlossen hatte. Ganz kurz überlegte er, ob er sich nicht besser verabschieden und zu John und Scobee zurückgehen sollte. Vermutlich war die Suche ohnehin sinnlos. Je länger sie dauerte, desto mehr hatte Jarvis den Eindruck, dass sie dieses merkwürdige Wesen, das nur der Abglanz einer Erinnerung in seinem Gedächtnis war, ohnehin erst dann finden würden, wenn es selbst gefunden werden wollte. Wenn schon die moderne Technik ve rsagte, die die Foronen aufgefahren hatten, um den Saskanen und sein Opfer zu finden, konnte wohl auch er nichts daran ändern. Doch dann erinnerte er sich an die Hoffnungslosigkeit, die ihn zuvor in der Zentrale überkommen hatte, und er sah ein, dass es immer noch besser war, irgendetwas zu tun, anstatt nur dekorativ rumzustehen. Indem er sich an der Suche nach
Nathan Cloud beteiligte, fühlte er sich wenigstens ansatzweise wie eine Hilfe. Urplötzlich blieb der Forone stehen, blickte auf das Ortungsgerät in seiner Klaue und sagte: »Da ist etwas. Ich empfange ein Signal.« Was es damit auf sich hatte, sollte Jarvis nicht mehr erfahren. Der bisher diffus erleuchtete Raum wurde so schlagartig hell, dass Jarvis zunächst glaubte, jemand habe einen Flutscheinwerfer eingeschaltet. Doch dann bemerkte er die Veränderung, die mit dem Foronen geschah. Es sah aus, als würden Röntgenstrahlen die dicke Haut des Außerirdischen durchdringen. Dann erlosch das Licht. Und nur einen Lidschlag später sackte der Forone in sich zusammen.
SESHA, verdammt, antworte mir! Ich verlange dringend Aufklärung! John Cloud hatte seine Bitte an die Schiffsinstanz bereits drei Mal wiederholt, ohne eine Rückmeldung zu erhalten. Konnte oder wollte die KI nicht reagieren? Erst als er schon gar nicht mehr damit rechnete, vernahm er die heiß ersehnte Antwort. Hallo, John Cloud... Als er die klanglose Stimme in seinem Kopf hörte, fühlte John sich augenblicklich an seine ersten Gespräche mit der KI erinnert. Besonders angenehm war diese Erinnerung nicht. Damals, auf der Flucht aus dem Aqua-Kubus, als er versucht hatte, das Schiff unter seine Kontrolle zu bekommen
und dabei hatte feststellen müssen, dass die KI lange Zeit nur mit ihm gespielt, ihn in trügerische Sicherheit gewiegt hatte, um ihn für ihre eigenen Ziele zu missbrauchen. Diesmal würde es anders ablaufen. Was hat es mit diesem Licht auf sich?, fragte er und fügte eine noch wesentlich dringlichere Frage hinzu. Was ist mit den Foronen passiert? Wieder erschien es Cloud wie eine Ewigkeit, bis er die so nüchterne wie erschreckende Antwort erhielt. Sie sind tot. Cloud war zutiefst entsetzt. Die Nachricht traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Dabei erschütterte ihn nicht nur die Erkenntnis, dass sie von jetzt an auf sich allein gestellt waren. Nein, zu seiner eigenen Überraschung war der Verlust, den er empfand, durchaus mit dem Verlust eines guten Freundes zu vergleichen. Das, obwohl Menschen und Foronen sich nie wirklich nahe gekommen waren. Vermutlich waren es die gemeinsam überwundenen Hürden und abgewendeten Gefahren, die dieses Empfinden in ihm weckte. Kein einziger hat überlebt? Er stellte die Frage eigentlich nur, weil er irgendetwas sagen und damit die Leere in seinem Kopf vertreiben wollte, nicht weil er an SESHAs Behauptung zweifelte. Umso mehr überraschte ihn die Antwort. Keiner – mit Ausnahme der beiden Hohen. Im ersten Moment glaubte er, die KI würde ihn foppen. Er wartete förmlich darauf, dass sie ihre Behauptung widerrief. Stattdessen vermeldete sie: Sie wurden durch ihre Rüstungen geschützt und sind nur bewusstlos. Eine solche Erleichterung hatte Cloud lange nicht mehr verspürt. Kannst du irgendetwas für sie tun?, fragte er.
Hilfe ist unterwegs. Um die Hohen musst du dir vorerst keine Sorgen mehr machen...
Aylea und Jelto waren noch ein ganzes Stück von ihren Kabinen entfernt, als das Mädchen unvermittelt stehen blieb. Der Florenhüter, der indes weitergegangen war, bemerkte erst nach einigen Metern, dass sie nicht mehr neben ihm war. Dann drehte er sich ihr zu ihr um. Aylea hatte den Kopf gesenkt und stützte sich mit einer Hand an der glatten Wand des Korridors ab. Jelto glaubte zunächst, das Mädchen habe aufgrund der Aufregung einen Schwächeanfall erlitten. »Geht's dir nicht gut?«, fragte er. Aylea legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und beantwortete die Frage mit einem eindringlichen: »Pssscht!« Jelto ging die letzten Schritte zurück und blieb neben ihr stehen. »Was ist denn los?« Sie sah ihn aus großen Augen an. »Hörst du das denn nicht?« Der Florenhüter neigte den Kopf. »Was?« »Dieses Geräusch...« Tatsächlich. Auch Jelto vernahm es jetzt ganz deutlich, obwohl es weit entfernt zu sein schien. Ein metallisches Klacken, das vielstimmig von den Wänden widerhallte. Es hörte sich an, als würde jemand ganz leise und rasend schnell mit einem Metallstift auf eine harte Unterlage trommeln. »Unheimlich«, sagte er heiser. »Wir sollten tun, was Scobee gesagt hat, und in unsere Kabinen gehen.« »Es kommt näher«, stellte die Zehnjährige fest, ohne auf Jeltos Vorschlag einzugehen. »Und das ziemlich schnell!«
Mit wachsendem Unbehagen sah der Klon in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Tatsächlich waren sie in den letzten Sekunden immer lauter geworden. Was auch immer sich da näherte – lange würde es nicht mehr dauern, bis es sie erreicht hatte. »Komm schon!«, bat er. Jelto packte Aylea am Arm um sie mit sich zu zerren, doch das Mädchen verharrte wie gebannt am Fleck. »Ich habe so etwas hier noch nie gehört«, murmelte sie. »Noch ein Grund, schleunigst von hier zu verschwinden. Irgendetwas Gespenstisches geht hier vor sich.« Aylea presste die Lippen zusammen und nickte. Sie wollte Jelto gerade folgen, als sie die Schatten sah, die weit hinter ihr, am anderen Ende des Ganges, um die Ecke schossen. Sie waren etwa so groß wie Schäferhunde und schienen nur aus mehreren langen dünnen Beinen zu bestehen, mit denen sie sich in irrsinniger Geschwindigkeit über den Boden bewegten. »Oh, oh!«, keuchte Aylea mit weit aufgerissenen Augen. »Ich hab's doch gesagt!«, kreischte Jelto und fing an zu rennen. Aylea wollte seinem Beispiel folgen, schaffte es jedoch nicht, sich vom Anblick der herannahenden Krabbler abzuwenden. Spinnen!, schrie es in ihr auf. Zwei riesige Spinnen aus Metall! Panikerfüllt sprang sie zur Seite, presste sich mit dem Rücken an die Wand, und stellte kurz darauf erleichtert fest, dass die Viecher gar nichts von ihr wollten, sondern in ungebremstem Tempo an ihr vorbeistürmten. Fasziniert sah sie ihnen nach und beobachtete mit Entsetzen, dass sie jetzt auf Jelto zustürmten. Der Florenhüter rannte, was das Zeug hielt, und befand sich dabei genau in der Mitte des Korridors.
Zweifellos waren die Spinnen zu groß, um sich an ihm vorbeizuquetschen. Wenn sie nicht bald abbremsten, würden sie den Florenhüter gnadenlos überrennen. »Jelto!«, schrie Aylea. »Geh in Deckung!« Er schien sie in seiner Panik nicht zu hören. Die Spinnen waren jetzt dicht hinter ihm. Noch knapp zehn Meter. Fünf. Drei... »Jelto!« In Gedanken sah sie ihren Freund bereits am Boden liegen, während ihn die Spinnen mit ihren Metallbeinen zertrampelten. Nichts dergleichen geschah. Kurz bevor die roboterartigen Tiere den Klon erreicht hatten, trennten sie sich, krochen ohne ihr Tempo zu verringern die Wände hoch – eine links, die andere rechts – und bewegten sich so an dem völlig überraschten Jelto vorbei. Nachdem sie ihn passiert hatten, krochen sie zurück auf den Boden, rannten weiter bis zum Ende des Ganges und bogen dort nach rechts ab, bis sie Jeltos und Ayleas Blicken entschwunden waren. Hechelnd verlangsamte Jelto sein Tempo, blieb dann schließlich ganz stehen und wartete, bis Aylea zu ihm aufgeschlossen hatte. »Frag mich bloß nicht, was das war«, sagte das Mädchen und streckte ihm abwehrend die Handflächen entgegen. »Was auch immer, es ist offenbar auf dem Weg zur Zentrale«, meinte Jelto. Beide tauschten einen ratlosen Blick. Auf einmal hatten sie es mehr als eilig, in ihre Kabinen zu gelangen...
»Jarvis!« Scobee sah ihn bereits von weitem aus einem der Zugänge zur Marsstation treten. Er wirkte etwas angeschlagen. Sein amorpher Körper bebte und warf kleine Blasen, die an seiner Oberfläche zerplatzten. »Bist du in Ordnung«, rief sie ihm zu. Er antwortete erst, als er sie erreicht hatte. »Ich schon. Aber die Foronen...« »Ich weiß«, gab Scobee grimmig zurück. »Irgendetwas hat sie...« Sie ersparte es sich, den Satz zu vollenden. »Es war dieses eigenartige Licht. Urplötzlich war es da und...« Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Wir haben es auch gesehen«, sagte Scobee. »Es war scheinbar überall an Bord. Ich bin mir sicher, dass die Schöpfer dieser verfluchten Zone dafür verantwortlich sind.« Schnell erzählte sie ihm, was sich während seiner Abwesenheit alles ereignet hatte. »Du glaubst nicht, wie erleichtert ich bin, dass dir, John und unseren beiden Blumenkindern nichts passiert ist. Als ich gesehen habe, was mit den Foronen passiert ist, habe ich mit dem Schlimmsten gerechnet.« »Was das angeht, kann ich dich beruhigen. Wer auch immer hinter diesen Vorgängen steckt, hat es bisher nur auf die Foronen abgesehen. Allerdings fürchte ci h, dass das erst der Anfang war. Es muss einen Grund für diese Geschehnisse geben. Ich sage es ungern, aber wir müssen uns wohl auf das Schlimmste gefasst machen.« »Wo ist John?«, wollte Jarvis wissen. »Er hält in der Zentrale die Stellung.« »Na, dann sollten wir ihn nicht länger allein lassen. Wer weiß, was in genau diesem Moment so alles passiert...?«
Noch immer in den Sarkophag des Steuersitzes eingeschlossen, bekam John Cloud nicht mit, wie sich das Schott der Zentrale öffnete und zwei Spinnenroboter herein gekrochen kamen. Auf flinken Beinen bewegten sie sich auf jeweils einen der beiden Hohen zu, senkten sich vor ihm ab und hoben ihn auf ihre flachen, leicht eingebuchteten Körper. So schnell sie gekommen waren, verließen sie mit ihrer Fracht die Zentrale. Nachdem sich das Schott hinter ihnen geschlossen hatte, deutete nichts mehr auf die beiden Foronen hin, die bis vor kurzem noch wie tot am Boden gelegen hatten...
Je länger sich Cloud in dem geschlossenen Sarkophagsitz aufhielt, desto schwerer fiel es ihm, die immensen Kräfte zu ertragen, die auf seinen – SESHAs – Körper einwirkten. Dennoch konnte und wollte er die Verbindung zur Schiffsinstanz jetzt nicht abbrechen. SESHAs Bewusstsein war momentan seine einzige Waffe im Kampf gegen den noch unsichtbaren Feind. Neun schwarze Sonnen... Obwohl Cloud jetzt mit den Sinnen des Schiffes sah, konnte er die völlig lichtlosen Himmelskörper nicht erkennen. Er spürte lediglich ihre Präsenz – wie die eines Raubtieres, das sich im Dunkel eines nächtlichen Waldes verbarg. Dafür sah er etwas anderes.
Hunderte Raumschiffe, über den gesamten Sonnenhof verteilt, die meisten von ihnen seit einer Ewigkeit an diesem Ort. Handelte es sich bei ihnen um die Hinterlassenschaften unbedachter Raumfahrer, die aus purem Leic htsinn in den Sonnenhof vorgestoßen waren? Was war mit ihren Besatzungen passiert? War auch ihnen dieses merkwürdige Licht erschienen und hatte es sie ebenso dahingerafft, wie die bedauernswerten Foronen der SESHA? Als habe er damit das Stichwort gegeben, drängte sich die Schiffsinstanz in seine Gedanken. Eine neue Entwicklung ist eingetreten, meldete sie. Was ist passiert? Der Ruf, den ich bisher aufgefangen habe, ist verstummt. Dann haben seine Urheber wohl ihr Ziel erreicht, dachte Cloud bitter. Das ist noch nicht alles. Ein neues Signal wird anstelle des alten ausgestrahlt. Sein Ziel liegt in Samragh... Ein böses Gefühl breitete sich in Johns Magengegend aus. Alles in ihm sträubte sich dagegen, die folgende Frage zu stellen. Und dennoch musste er es einfach wissen. Was ist das für eine Botschaft? Wieder verging ein schier endloser Moment. Dann kam es knüppeldick. Es handelt sich vermutlich um eine Meldung, dass wir uns hier befinden, erklärte sie. Sie ist in der Sprache der Virgh verfasst! Das Gefühl in seinem Magen verklumpte zu einem Eisblock. Da war sie, die Bestätigung für die schreckliche Vermutung, die sich ihm aufgedrängt hatte, seit SESHA zwischen den Schwarzen Sonnen buchstäblich in Ketten gelegt worden war. Der Jahrhundertplan der Foronen war gescheitert. Die Virgh hielten das Alte Reich der Foronen offenbar noch immer besetzt.
Und wie es aussah, hatte ihr grenzenloser Hass auf ihre Feinde sogar die Jahrtausende überdauert. Wie sonst war es zu erklären, dass sie SESHA gezielt mit einem Ruf in foronischer Sprache hergelockt und alle Foronen an Bord getötet hatten? Was sollte er jetzt tun? Würden sich die Virgh mit dem Tod der Foronen zufrieden geben? Unwahrscheinlich, dachte Cloud. Das Signal, das die Zentralstation des Sonnenhofs ausstrahlte, ließ kaum noch einen Zweifel an ihren Absichten. Sie werden kommen. Wahrscheinlich sind sie bereits auf dem Weg hierher und... Urplötzlich schrillte ein Warnsignal in seinem Kopf. SESHA schlug Alarm. Was ist passiert? Diesmal kam die Antwort prompt. Jemandem ist es soeben gelungen, die Schilde zu überwinden. Cloud fröstelte. Soll das heißen, dass...? Es gibt nicht den geringsten Zweifel, bestätigte das Schiff. Etwas ist von draußen an Bord gelangt... ENDE