Dein Körper hat schon ja gesagt Raye Morgan
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Dein Körper hat schon ja gesagt Raye Morgan
Die ansonsten so überaus vernünftige Linda fühlt sich wie im siebten Himmel, seit sie den Schriftsteller Colin McCloud kennengelernt hat. In den stürmischen Liebesstunden mit Colin versucht Linda immer wieder zu verdrängen, daß ihr kleiner Sohn gedroht hat, wegzulaufen, wenn er einen Stiefvater bekommt – bis er eines Tages verschwunden ist…
1984 by Raye Morgan Unter dem Originaltitel: „Crystal Blue Horizon“ erschienen bei Silhouette Books, Division of Harlequin Enterprises Limited Übersetzung: Roswitha Krüger Deutsche Erstausgabe in der Reihe TIFFANY Band 99 (7’), 1985 by CORA VERLAG GmbH & Co. Berlin
1. KAPITEL Verirrt. Das Wort, das dem Ranger leicht über die Lippen kam, traf Linda zutiefst. Ihr elfjähriger Sohn verirrt in der Wildnis des Hochgebirges der Sierra Nevada! Obgleich Linda sich dagegen wehrte, spürte sie kalte Furcht in sich aufsteigen. „Patrick hat sich nicht wirklich verirrt“, protestierte Linda, als wolle sie nicht den Ranger, sondern vor allem sich selbst davon überzeugen. „Verstehen Sie mich denn nicht? Ich versuche Ihnen zu erklären, daß sich Patrick nur versteckt.“ Ein kühler Wind strich durch die offene Tür der Ranger-Station. Linda erschauerte unter der Brise, die von den schneebedeckten Gipfeln der Sierra herabwehte. Der Blick des Mannes folgte jeder ihrer Bewegungen. Linda ärgerte sich. War er nun mehr an ihrem Aussehen oder an ihrem Problem interessiert? Seit sie dieses Büro betreten hatte, ließ der Ranger sie ungeniert merken, wie attraktiv er sie fand. Vielleicht sollte sie sich diese Vertraulichkeit verbitten. Linda zögerte, irgend etwas hinderte sie daran, diesem Mann ihre Meinung zu sagen. Lag es am Humor, der aus seinen Augen sprach oder an seinem Mitgefühl? Plötzlich wußte Linda, was es war: Dieser Mann fand sie nicht nur attraktiv, er mochte sie auch. Wie konnte sie sich darüber beklagen? „Lassen Sie uns doch einmal von vorne beginnen“, schlug der Ranger vor. „Erzählen Sie mir, was passiert ist.“ Linda atmete tief durch und begann: „Mein Sohn und ich wohnen in einer der Blockhütten hier im Naturpark. Seit heute morgen ist Patrick nun verschwunden. Zuerst machte ich mir darüber keine Gedanken, denn Patrick liebt die Berge. Ich nahm an, er hätte nur die Zeit vergessen. Doch dann fand ich Patricks Brief. Ich lief damit sofort zur Ranger-Station und gab ihn Ihrem diensthabenden Kollegen. Dieser stellte sofort zwei Suchtrupps zusammen und brach mit ihnen auf, um Patrick zu suchen.“ Linda legte eine kurze Pause ein. „Aber die Trupps gingen in die falsche Richtung. Der Brief sagt genau, wohin Patrick gegangen ist.“ Sie hielt dem Ranger den Zettel entgegen. „Lesen Sie bitte selbst.“ Der große breitschultrige Mann zog skeptisch eine Augenbraue hoch, nahm ihr aber den Brief nicht ab. „Diese Männer haben viel Erfahrung. Warum glauben Sie, es besser zu wissen?“ Warum wohl? Linda seufzte ungeduldig. Patrick war doch schließlich ihr Sohn. Sie konnte doch von dem Ranger erwarten, ihr zu glauben, daß sie ihr Kind besser kannte als die Leute vom Suchtrupp, selbst wenn es sich um eine erfahrene Rettungsmannschaft handelte. Um das Verschwinden ihres Sohnes zu melden, war Linda heute schon einmal zur Ranger-Station gekommen. Der diensthabende Ranger hatte sofort das Kommando übernommen und sie nur väterlich „arme kleine Frau“ genannt. Eilig wurden zwei Suchtrupps zusammengestellt, und ehe Linda noch einen klaren Gedanken fassen oder gar darauf bestehen konnte mitzugehen, waren die Männer schon aufgebrochen. Das durfte nicht noch einmal geschehen. Dieser Ranger, der sich ihr als Colin McCloud vorgestellt hatte, hörte ihr wenigstens zu. „Lesen Sie den Brief“, forderte Linda ihn auf. „Patrick erwähnt da etwas, dessen Bedeutung ich erst jetzt klar erkenne.“ Colin McCloud nahm den Zettel. Nun konnte Linda diesen großen, rauh wirkenden Mann etwas genauer betrachten. Ihr Blick wanderte von seinen breiten Schultern zu den schmalen Hüften. Sie kannte diesen Typ Mann nur zu
gut. Das gewellte, an den Schläfen schon leicht ergraute kastanienbraune Haar, die wachen grünen Augen unter den dichten Brauen, das breite Kinn, die hohen Backenknochen und das braungebrannte Gesicht sagten viel über ihn aus: er war sportlich, selbstsicher und mutig. Dieser Mann ließ sich nicht unterkriegen und war allzeit bereit, jeden Gipfel zu erstürmen. Unwillkürlich mußte Linda lächeln. Gegen diesen naturverbundenen Typ Mann hatte Linda eigentlich nichts einzuwenden. Genaugenommen war er genau der Mann, den sie jetzt brauchte, um ihren Sohn so schnell wie möglich zu finden. Jedoch hatte Linda schon früh gelernt, rauhe und tatendurstige Männer zu meiden. Sie erinnerten sie zu sehr an ihre Kindheit in den Bergbaucamps. Am harten Leben dort war ihre Mutter zerbrochen. Ihr Vater, der wieder heiratete, schleppte die Familie von einer trostlosen staubigen Stadt zur anderen, bis auch er starb. Diese Zeit war für Linda ein Alptraum gewesen. Schon früh hatte sie sich deshalb vorgenommen, alles daranzusetzen, um aus diesem Leben herauszukommen. Der Aufstieg war nicht leicht gewesen, aber sie hatte es schließlich geschafft. Lindas Blick schweifte durch den Raum. Die Ranger-Station war in einem einfachen Holzhaus untergebracht und besaß nur die notwendigste Ausstattung. Durch das kleine Fenster sah sie den gewaltigen östlichen Steilabfall der Sierra, deren Gipfel noch immer mit Schnee bedeckt waren, obgleich schon Hochsommer war. Dort oben irgendwo war Patrick. „Es tut mir leid, ich verstehe das nicht ganz.“ Der Ranger sah sie fragend an. Dann las er aus dem Brief vor: „Es ist dein Leben, aber zieh mich da nicht mit hinein. Ich brauche keinen Vater. Ich suche mein Glück bei den Geistern. Folge mir nicht.“ Um Colin McClouds Mundwinkel zuckte es verdächtig. „Hatte er Streit mit seinem Vater?“ fragte er. Patricks Vater ist tot, dachte Linda, doch das geht diesen Ranger nichts an. „Patrick und ich hatten Streit wegen einer Familienangelegenheit.“ „Ich nehme an, die ,Geister’ erinnern Sie an etwas, an das Sie nicht sofort dachten.“ „Ja. Ihr Kollege und ich gingen vorhin davon aus, daß es sich nur um eine Drohung handelt, die mir Angst machen soll. Doch als ich wieder in meiner Hütte war, fielen mir die Erzählungen meines Bruders Brian ein. Er und Patrick wandern oft in den Bergen. Brian erzählte Patrick von den Geistern der alten Indianer, die in den Bergen nördlich von hier hausen sollen. Patrick konnte diese Geschichten nicht oft genug hören.“ Hoffnungsvoll blickte Linda den Ranger an. „In seiner Lieblingsgeschichte kamen zwei Gipfel vor, die ein Gletschertal umschließen.“ Colin McCloud nickte langsam. „Ich kenne einen solchen Platz. Die Indianer nannten es ,Das Tal der Alten’. Es liegt nördlich von hier.“ „Wunderbar, dort werden wir ihn wahrscheinlich finden.“ Linda atmete erleichtert auf. „Aber die Suchtrupps gingen in die Wälder südlich von hier.“ Aufmerksam sah Colin McCloud sie an. „Erzählen Sie mir mehr von Ihrem Sohn. Was für ein Kind ist er?“ Linda blickte wieder aus dem Fenster. Vor ihrem geistigen Auge erschien das lebhafte Bild ihres Sohnes. „Mein Bruder nennt ihn ,Patrick, der Schrecken von Nevada’.“ Sie mußte unwillkürlich lächeln. „Er ist ein richtiger Lausbub, voller Streiche, aber ein lieber Kerl.“ Tief und rauh klang Colins Lachen. Es gefiel Linda so sehr, daß sie es gern noch einmal hervorgerufen hätte. „Ist er ein guter Bergsteiger?“
„Ja. Patrick liebt die Natur und alles, was man an der frischen Luft machen kann, wie Bergsteigen, Reiten, Floßfahren. Nur die Mannschaftssportarten liegen ihm nicht. Er ist fast ein Einzelgänger.“ „Womit spielt er am liebsten?“ wollte Colin McCloud wissen. Was hat das denn mit dem Verschwinden meines Sohnes zu tun, dachte Linda, antwortete jedoch bereitwillig: „Mit elektronischen Spielen, wie fast alle Kinder heutzutage.“ Sie überlegte kurz. „Am meisten liebt Patrick Phantasiespiele mit einer Welt voll Monstern, Zwergen und Drachen, gegen die der Spieler kämpfen muß. Wenn er an ein solches Spiel gerät, vergißt er meist Zeit und Raum.“ Der Ranger lächelte und schaute sie freundlich an. Nur kurz konnte Linda diesem Blick standhalten. Dieser Colin McCloud verwirrte sie zunehmend. Selbst wenn sie ihn nicht ansah, spürte sie seine starke physische Ausstrahlung. Sein markantes Gesicht war ihr schon so vertraut, als hätte sie es schon stundenlang betrachtet. Sie glaubte, die Wärme seines Körpers zu spüren, obwohl sie ihn nie berührt hatte. Linda ging zum Fenster hinüber. Gedankenverloren fuhr sie mit dem Finger durch den Staub auf dem Fensterbrett. Sie mußte sich zusammenreißen. Jetzt war nicht der Zeitpunkt für dumme Gedanken. „Untermauert das Ihre Theorie, Mr. McCloud?“ fragte sie. Es war genug geredet worden. Linda wollte endlich mit der Suche beginnen. „Ja, das paßt alles zusammen. Wenn der Suchtrupp Funkkontakt mit der Station aufnimmt, dann sagen sie ihm, wohin ich gegangen bin.“ . „Ich komme mit“, erklärte Linda bestimmt und trat einen Schritt auf ihn zu. „Das geht nicht, ich breche sofort auf“, sagte er ablehnend. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich arbeite fast immer allein.“ Man sah ihm den Individualisten an. Wahrscheinlich bedurfte es eines solchen Mannes, um Patricks Katz-und-Maus-Spiel in der Wildnis ein Ende zu bereiten. Aber die Chancen stünden noch besser, wenn sie mitging. „Ich verspreche Ihnen, Mr. McCloud“, sagte Linda und sah ihm dabei ruhig in die Augen, „daß ich Ihnen nicht zur Last fallen werde. Ich kann sehr gut auf mich aufpassen.“ Colin musterte sie mit amüsierter Skepsis: die modische Hose und die dazu passende Kakibluse aus einer teuren Boutique, die langen blonden Haare, die sie im Nacken mit einer Spange zusammenhielt, die gepflegten Fingernägel, die im gleichen Lachsrot wie ihre vollen Lippen glänzten. Für einunddreißig wirkte Linda noch sehr mädchenhaft, strahlte jedoch gleichzeitig die Selbstsicherheit einer reifen Frau aus. Unter Colins prüfendem Blick wurde Linda rot. Er zeigte sehr deutlich, daß ihm gefiel, was er sah. Ungeduldig wandte sie sich ab. Linda spürte deutlich, daß Colin McCloud sie für eine verwöhnte Städterin hielt, die nicht geschaffen war für die unwegsamen Pfade der Wildnis. „Ich verstehe ja Ihre Unruhe, Mrs. Angeli.“ Er zog einen Gürtel durch die Schlaufen seiner abgetragenen Jeans und befestigte daran einen Steinhammer. „Das wichtigste ist doch, daß Ihr Sohn bald gefunden wird.“ Die korrekte Anrede wäre Miss Angeli gewesen, aber Linda berichtigte ihn nicht. Ihr Mann hatte Daniels geheißen, sie selbst trug nur während der Schwangerschaft diesen Namen. Als ihr junger Ehemann schließlich entschied, daß eine Frau und ein Baby zuviel für ihn waren, nahm Linda wieder ihren Mädchennamen an. „Selbstverständlich möchte ich, daß Patrick so schnell wie möglich gefunden wird“, sagte Linda kühl. Sie verübelte ihm seinen Ton. Glaubte dieser Mann etwa, sie wolle nur mitgehen, um ihm Gesellschaft zu leisten?
Linda wäre nicht überrascht gewesen, wenn seine Gedanken in diese Richtung gingen. Seit ihrer Ankunft in der Ranger-Station machte Colin McCloud keinen Hehl daraus, wie attraktiv er sie fand. Die Tatsache jedoch, daß sie etwas in sich verspürte, das darauf ansprach, suchte sie zu ignorieren. „Sie warten besser in der Station“, sagte Colin. „Jede Nachricht geht zuerst hier ein; alle neuen Informationen werden hier ausgewertet, bevor sie an die Suchtrupps übermittelt werden. Wenn Sie hierbleiben, wissen Sie genau, was vor sich geht. Wenn Sie mitkommen, erfahren Sie nicht, ob Patrick inzwischen gefunden wurde. Sie könnten sich also unnötige Sorgen ersparen.“ Doch Linda sorgte sich nicht nur um Patrick, sie war auch wütend auf ihn. Er war ein sehr eigenwilliger Junge und wollte sie mit seinem Verschwinden bestrafen. Linda wußte, er würde sich nicht ernsthaft in Gefahr begeben. Zweifellos saß Patrick jetzt irgendwo in einer kleinen versteckten Höhle und wartete darauf, von ihr gefunden zu werden. Dennoch war der Gedanke, daß sich ihr elfjähriger Sohn ganz allein in der Wildnis aufhielt, nicht eben beruhigend. Dieser Ranger würde sie nicht zurücklassen wie vorhin sein Kollege. Ihre Daumen in den Gürtel gehakt, sah Linda ihn durchdringend an und forderte: „Ich bestehe darauf mitzukommen.“ Colin blickte amüsiert auf ihren Busen, dessen Rundungen sich bei dieser entschlossenen Haltung deutlich abzeichneten. „Es tut mir leid, Mrs. Angeli.“ Seine Stimme klang sehr sanft. „Ich denke, Sie werden es hier bequemer haben.“ „Ich will es aber nicht bequem haben!“ Mit zwei Schritten stand sie vor ihm und packte ihn an den Aufschlägen seiner Jacke. „Ich will zu meinem Sohn, und zwar jetzt. Ich werde nicht hier herumsitzen und auf Nachricht warten.“ Bevor Colin antworten konnte, fuhr sie hastig fort: „Ich weiß, worauf ich mich einlasse. Es ist nicht das erste Mal, daß ich mit dem Rucksack ins Gebirge steige. Sogar den reißenden Coloradofluß habe ich einmal mit dem Floß befahren. Sie sehen, ich bin keine Anfängerin. Ich werde mit Ihnen gehen.“ Linda sprach so eindringlich, daß Colin endlich begriff, wie ernst es ihr war. Erst jetzt bemerkte sie, daß er ihre Hände von seiner Jacke gelöst hatte und mit festem Griff ihre Handgelenke umspannte. Er zog sie etwas näher zu sich heran. „Aber da gibt es noch etwas“, sagte Colin mit sanfter Stimme. Seine Augen blitzten vor Vergnügen. „Es besteht eine Gefahr, mit der Sie vielleicht nicht so einfach fertig werden, Mrs. Angeli.“ Mißtrauisch blickte Linda ihn an. Wenn er doch nur meine Hände losließe, dachte sie und wünschte plötzlich, ihm nicht so nahe zu sein. Colin McCloud strahlte eine gefährliche Männlichkeit aus. Es war ein Fehler gewesen, ihm so nahe zu treten, ihn zu berühren. Er verunsicherte sie ungeheuer. „Und was ist das für eine Gefahr?“ Vergeblich versuchte Linda, ihre Hände freizubekommen. Colins Blick glitt langsam von ihren Augen zu ihren weichen vollen Lippen, über die geröteten Wangen zu dem schlanken Hals. Dann sagte er betont langsam: „Wenn Sie mitkommen, dann sind Sie und ich ganz allein, zumindest für den Rest des Tages, wahrscheinlich sogar für die Nacht.“ „Na und?“ Mit Gewalt versuchte sich Linda zu befreien, doch Colin ließ nicht los. „Auch darin bin ich keine Anfängerin“, zischte sie und errötete im selben Moment. „Wirklich nicht?“ Colin McCloud zeigte sich freudig überrascht. Es ärgerte Linda, daß er sie absichtlich mißverstand. „Jetzt hören Sie mir mal zu…“ „Wo ist eigentlich der Vater des Jungen?“ unterbrach Colin sie scharf. „Warum
kommt er denn nicht mit?“ „Patricks Vater ist tot. Sie müssen also mit mir, ob es Ihnen nun paßt oder nicht, vorlieb nehmen.“ Aus Colins Augen sprach nicht nur Mitgefühl. „Unter anderen Umständen wäre ich glücklich, Sie ertragen zu müssen. Glauben Sie mir, ich rate Ihnen nicht hierzubleiben, weil ich Ihre Gesellschaft nicht schätze.“ Linda suchte nach einer scharfen Antwort. Den Kopf wollte sie ihm zurechtsetzen und ihm klarmachen, daß seine Anspielungen sie nur beleidigten. Doch ihr fiel nichts Überzeugendes ein. Sie beschloß deshalb, ihn eiskalt abblitzen zu lassen. Aus schmalen, dunklen Augen sah sie ihn kalt an. „Mr. McCloud, Naturburschen entsprechen nicht im geringsten meinem Typ. Ich sehe somit also keine Schwierigkeit, egal, wann und wo auch immer wir allein sein mögen.“ Colin lachte leise, was Linda erboste. Aber wenigstens ließ er jetzt ihre Handgelenke los. „Ich bin also ein Naturbursche“, sagte er amüsiert. „Dann vergessen Sie nicht, daß wir Naturburschen gewöhnlich unserem Instinkt folgen. Bedenken Sie dies, wenn Sie beschließen, mitzukommen“, warnte er. „Denn ich verspreche nichts, überhaupt nichts.“ Hoch aufgerichtet blickte Linda ihn an. „Aber ich verspreche Ihnen etwas, Mr. McCloud, und zwar alle erdenklichen Schwierigkeiten, wenn Sie versuchen sollten, dieses Unternehmen für eine romantische Episode auszunutzen.“
2. KAPITEL Colin sah Linda ernst an. Schließlich sagte er: „Gut, machen wir uns auf den Weg. Uns bleiben nur noch wenige Stunden, bis es dunkel wird.“ Um sie zuerst ins Freie gehen zu lassen, trat er zur Seite. „Sie benötigen eine Ausrüstung“, bemerkte er dabei. „Ich habe alles Notwendige in meinem Wagen.“ Linda freute sich, ihm diese Antwort geben zu können. „Schlafsack, Proviant, Streichhölzer“, zählte sie auf und lächelte Colin triumphierend an. „Sogar eine Jacke, falls mich das Klettern nicht genug erwärmt.“ „Gut“, antwortete er munter. „Dann holen Sie die Sachen, damit es losgehen kann.“ Mit seinem Jeep fuhren sie soweit es ging. Der Weg war steinig und voller Schlaglöcher, aber immer noch ein Zeichen von Zivilisation. Linda blickte etwas ängstlich hinauf zu den gewaltigen Bergen. Entschlossen wandte sie sich wieder ab und ließ sich von Colin helfen, den fast dreißig Pfund schweren Rucksack zu schultern. Der Marsch in die Wildnis konnte beginnen. Die Nachmittagssonne leuchtete durch die Pinien. In der Nähe stritten Eichelhäher und Stare zeternd um ihre Abendmahlzeit. Linda fühlte sich gelöst, fast heiter; der Anblick der endlosen, gewaltigen Sierra beeindruckte sie sehr. Direkt aus der Wüste erhoben sich die Berge, und auf vielen ihrer zerklüfteten Gipfel glitzerte Schnee. Das feuchte dichte Gras gab leicht unter ihrem Tritt nach. Wie ein dunkelgrüner Teppich wirkte die Wiese, und blau und gelb gesprenkelt mit Glockenblumen und Hahnenfuß. In schattigen Winkeln versteckten sich noch Reste braungeränderten Schnees, der erst in der Hitze des Hochsommers schmelzen würde. Der Himmel spiegelte sich in kleinen Pfützen. Während sie wanderte, wich die Spannung von Linda. Sie würden Patrick bald finden, sie mußten es einfach. Wehe diesem Jungen, wenn sie ihn erst einmal erwischt hatte! Aber nein, gestand sie sich ein. Wenn wir ihn gefunden haben, werde ich viel zu glücklich sein, um an Strafe zu denken. So war es immer, und Patrick wußte das. Es war nicht einfach gewesen, dieses lebhafte Kind allein aufzuziehen. In den ersten Jahren hatte sie es nur mit großer Mühe geschafft. Ohne Berufsausbildung mußte sie Arbeiten annehmen, deren Lohn kaum für das Notwendigste reichte. Manchmal hatte sie geglaubt, in einen Strudel geraten zu sein, der sie immer weiter in die Tiefe zog. Nur das Kind hatte ihrem Leben einen Sinn gegeben. Doch jetzt war alles besser, sehr viel besser. Und wenn sie erst mit Anthony verheiratet sein würde, brauchte sie sich nie wieder Sorgen zu machen. Leider widersetzte sich Patrick diesen Heiratsplänen. Deswegen war er auch davongelaufen und hatte sich versteckt. Der Junge mußte endlich seine Meinung ändern. Colin McCloud, der vorausging, drehte sich um. „Alles in Ordnung?“ fragte er und musterte Linda aufmerksam. „Ist der Hang zu schwer für Sie?“ Mit ein paar Schritten holte Linda ihn ein. „Bin ich etwa außer Atem? Oder sehen Sie sonst irgendwelche Anzeichen von Erschöpfung?“ „Nein. Noch nicht.“ Colin verlangsamte seinen Schritt, so daß sie nebeneinander gehen konnten. „Sie sind eine seltsame Frau“, bemerkte er und sah Linda von der Seite an. „Die meisten Mütter wären längst hysterisch, wenn sie ihre Kinder solange vermißten.“
„Ich bin nicht wie die meisten Mütter, und Patrick ist nicht irgendein elfjähriges Kind“, erwiderte sie und blickte ihn voll an. „Mein Sohn ist schlau wie ein Fuchs, und er will mir etwas beweisen.“ Sie lächelte und verriet damit, daß sie ihren Sohn trotz allem bewunderte. „Er wird darauf achten, daß wir ihn finden. Das gehört zu seinem Plan, verstehen Sie?“ „Wunderschön, das sollten Sie öfter tun.“ Colins Stimme klang tief und weich. „Wie bitte?“ fragte sie verständnislos. „Lächeln. Sie sind wunderschön, wenn Sie lächeln.“ Wieder spürte sie dieses warme Gefühl aufsteigen. Nein, rief sich Linda zur Vernunft. Auf diese alte Masche falle ich nicht herein. Doch dieser Mann hatte etwas Unwiderstehliches an sich. Sie hatte es sofort bemerkt, als sie die RangerStation betrat. Ja, sie sprach auf seine körperliche Anziehungskraft an. Der Blick seiner Augen rief in ihr Bilder an Küsse im Mondschein und zärtliches Flüstern wach. Zweifellos hatte er Erfolg bei Frauen. Colin war genau der Mann, dem romantische Eroberungen leicht gemacht wurden. Aber sie würde nicht eines seiner Abenteuer sein. Mit Liebesverhältnissen war sie sehr vorsichtig, mied sie sogar seit dem abrupten Ende ihrer kurzen Ehe. Sie hatte an ihren Sohn zu denken und eine Zukunft aufzubauen. Bis sie Anthony kennenlernte, hatte sie nicht einmal daran gedacht, sich wieder verlieben zu können. War sie wirklich verliebt? Manchmal zweifelte sie daran. Doch, sie liebte Anthony ganz gewiß. Er war genau der Mann, den sie sich immer wünschte. Sein gutes Aussehen, seine erstklassige Bildung und seine gesellschaftliche Stellung machten ihn zum Inbegriff des idealen Mannes. Auch Patrick würde das schließlich einsehen. Wieder mußte Linda lächeln, als sie an ihren Dickkopf von Sohn dachte. Warte nur, du kleiner Teufel, bis ich dich am Kragen habe! Ihr Weg führte sie an einem Bergsee vorbei. Ein fröhliches Froschkonzert tönte aus dem Schilf. Gewaltige Granitblöcke lagen zerstreut auf der Ebene, die einst ein Gletscher bedeckte. An den Seiten erhoben sich Moränen, langgestreckte, jetzt bewachsene Geröllhügel, die die Schmelzwasser des Gletschers dort abgelagert hatten. Unwillkürlich erschauerte Linda bei dem Gedanken an das Naturereignis, das sich hier abgespielt hatte, und neben dem das menschliche Leben fast unbedeutend erschien. „Wo müssen wir eigentlich hin?“ fragte Linda ihren Führer. Colin wies auf zwei Berge vor ihnen. „Zwischen diesen beiden Gipfeln liegt eine Wiese. Genau dort ist ein Platz, den die Abenteurer so unwiderstehlich finden und wo ich im Laufe der Jahre schon manchen Jungen aufspürte.“ Linda nickte zustimmend: „Das hört sich gut an. Dort ist er seinen geliebten Geistern ganz nahe.“ „Patrick scheint ein richtiger Lausbub zu sein. Warum ist er eigentlich weggelaufen? Hat er Streit mit Ihnen gehabt?“ Zuerst wollte Linda seine Frage überhören, doch als sie Colin McCloud ansah, empfand sie den Wunsch, sich ihm anzuvertrauen. „Er ist böse auf mich und will mir zeigen, wie sehr er gegen meine Pläne ist.“ „Pläne?“ Colin blieb stehen, um das Gepäck auf seinem Rücken zurechtzuschieben. „Was für Pläne?“ Um auch Lindas Rucksackgurte zu richten, beugte Colin seinen Kopf. Da verspürte Linda den fast unbändigen Wunsch, ihm mit den Fingern durch den braunen, widerspenstigen Haarschopf zu fahren. Verärgert über ihre unsinnigen Gefühle drehte sie ihr Gesicht zur Seite.
„Was für Pläne?“ Colins Hand lag noch immer auf dem Schulterriemen. „Heiratspläne“, sagte Linda kurz und wandte den Kopf ab. „Patrick will, daß alles beim alten bleibt. Er lehnt einen neuen Vater ab.“ Warum nur nahm Colin seine Hand nicht von ihrer Schulter? „Was hat er gegen den Mann Ihrer Wahl?“ „Patrick spielt verrückt“, sagte Linda schnell. „Er wird Anthony schon mögen, sobald er begriffen hat, daß seine Auflehnung sinnlos ist.“ Ihre Worte klangen zuversichtlich. Was aber würde sie tun, wenn Patrick seine Meinung nicht änderte? Colins Finger strichen langsam den Riemen entlang und berührten dabei ihren Rücken. Durch die dünne Bluse spürte sie deutlich seine Wärme. Mit einer ärgerlichen Bewegung schüttelte sie die Hand ab. „Sie ruinieren Ihre schöne Bluse. Konnten Sie nicht etwas Passenderes anziehen?“ „Nein.“ Er würde das nicht verstehen. Es hatte keinen Sinn, Colin zu erklären, wie sehr sie als Kind ihre abgetragenen Kleider gehaßt hatte, und dies der Grund dafür war, daß sie sich jetzt so fein wie nur möglich anzog. „Ich fühle mich wohl darin.“ Natürlich wußte Linda, daß es dumm war, diese Bluse zu tragen. Schließlich besaß sie auch einige einfache T-Shirts, die für dieses Unternehmen geeigneter gewesen wären. Aber für sie war die Bluse eine Art Symbol, das nicht einmal mehr Patrick verstand, der die Armut vor seinem fünften Geburtstag längst vergessen hatte. Doch in ihr war die Erinnerung noch sehr lebendig, zu sehr, dachte sie manchmal. Ein steiler Pfad führte bergauf und schloß jede Unterhaltung aus. Der Anstieg war zu anstrengend. Linda bemühte sich, mit Colin Schritt zu halten. Aber schließlich konnte sie nicht mehr. Colin bemerkte, daß sie langsam zurückfiel. Er drehte sich um und wartete auf sie. „Setzen Sie sich“, befahl er und holte seine Wasserflasche hervor. „Wir rasten ein paar Minuten.“ Linda ließ sich auf einem Felsblock nieder. Den Kopf in den Nacken gelegt, trank sie das kühle klare Wasser. Einen Moment lang schloß sie die Augen, genoß die Erfrischung und entspannte sich. Als sie die Augen wieder öffnete, begegnete sie Colins begehrlichem Blick, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte. „Sehen Sie mich nicht so an!“ „Ich kann nichts dagegen tun.“ Colin lächelte sie entwaffnend an. „In Ihrer Gegenwart ist das ganz natürlich.“ „Folgen Sie immer Ihren natürlichen Impulsen?“ „Ich versuche es zumindest“, gab er zurück. „So bleibt das Leben einfach und schön.“ „Einfach ist nicht immer gut“, gab Linda zu bedenken und senkte den Kopf. Colin beugte sich vor und küßte zart ihren Nacken. Unter dieser Berührung erstarrte Linda. Die Stelle, wohin er sie geküßt hatte, brannte wie Feuer. Langsam hob Linda den Kopf und sah ihn wütend an. Doch Colins Augen blitzten vor Übermut. „Ich nehme an, das kam auch ganz natürlich“, schimpfte sie. „Das war das Natürlichste, das ich heute getan habe“, verkündete er mit ernster Stimme. „Es gibt da noch ein paar so ganz natürliche Regungen.“ „Die vergessen Sie schnell wieder!“ Linda erhob sich hastig und eilte bergauf.
„Männer wie Sie sollte man in Wildreservaten einsperren“, rief sie ihm zu. „Dort können Sie sich so natürlich aufführen wie Sie wollen, ohne andere Leute zu belästigen.“ Colin steckte die Wasserflasche weg und holte Linda wieder ein. „Hat er Sie gestört?“ zog er sie auf. „Dieser kleine unschuldige Kuß?“ Schweigend konzentrierte sich Linda auf den Weg. „Es tut mir sehr leid, Mrs. Angeli.“ Der Ton seiner Stimme strafte seine Worte Lügen. „Als mein Blick auf Ihren Schwanenhals fiel, konnte ich nicht widerstehen. Diese Biegung, diese schneeweiße Haut…“ „Hören Sie endlich auf, sich auf meine Kosten lustig zu machen“, befahl Linda wütend. „Bemühen Sie sich lieber, meinen Sohn zu finden. Allein aus diesem Grund sind wir hier.“ Sie blickte in sein lachendes Gesicht. „Übrigens, ich heiße Linda.“ Warum hatte sie das bloß hinzugefügt? Es war ein Fehler, und sie wußte es. „Nennen Sie mich Colin. Nun werden wir also doch noch Freunde.“ „Sicher.“ Linda sah wieder auf den Weg. „Aber sehr platonische Freunde“, betonte sie. Schweigend wanderten sie weiter, bis sie den Eingang des Hochtals erreichten, wo sie Patrick vermuteten. Lindas Beine schmerzten, und die Gurte ihres Rucksacks schnitten ihr in die Schultern. Schon lange hatte sie keine so große Wanderung mehr unternommen. Doch sie war stolz, es so gut geschafft zu haben. „Es ist recht spät geworden“, bemerkte Linda und sah ängstlich zu den beiden Gipfeln hinauf. „Die Sonne geht bald unter.“ „Ja“, stimmte Colin ihr zu. „Wir werden nicht mehr genug Licht für unsere Suche haben.“ Er griff nach ihrem Arm. „Aber sehen Sie, dort drüben ist es schon“, sagte er. „Wir schaffen es noch rechtzeitig.“ Sie durchquerten zügig ein Sumpfgebiet und erreichten einen Pappelhain, durch den sie bereits die große Wiese des Hochtals sahen. „Da ist es.“ Colin zeigte auf ein Wäldchen. „Wenn er in diesem Tal ist, wird er dort sein Lager aufgeschlagen haben.“ Lindas Herz schlug schneller vor Erwartung. Gleich würde sie Patrick wiedersehen. Nur ungern gestand sie sich ihre Angst ein. „Schauen Sie sich das an“, rief Colin ihr zu, der das Wäldchen zuerst betreten hatte. „Kommt Ihnen das bekannt vor?“ Er hielt einen roten Wollpullover hoch, und Linda rief voller Freude: „Patrick, wo bist du?“ Das war Patricks Pullover, aber wo befanden sich sein Schlafsack, seine Ausrüstung und der Proviant? „Schlechte Nachrichten“, sagte Colin mit ungewöhnlich ernster Stimme. „Das ist für Sie.“ Er reichte ihr einen Umschlag, der an Miss Linda Angeli adressiert war. Das Wort „Miss“ war mit einem schwarzen Stift dick unterstrichen. Mit zitternden Fingern riß Linda den Brief auf. Ängstlich überflog sie den Inhalt. „Liebe Mutti!“ las sie laut vor. „Du glaubst wohl, mich schon gefunden zu haben. Ha, ha! Ich beweise dir, daß es mir ernst ist. Ich will mit diesem Kerl nicht zusammenleben. Deshalb gehe ich zu den Geistern auf dem Berg. Versuche nicht, mir zu folgen. Viele liebe Grüße, Patrick.“ Lindas Stimme erstarb. Verzweifelt blickte sie auf den Brief in ihrer Hand. Dann sah sie zu Colin auf. Tränen schimmerten in ihren Augen. „Das kann er doch nicht machen“, stöhnte sie. „Nein, er hat sich irgendwo hier
versteckt. Er würde dort nie allein hinaufklettern.“ In der rasch zunehmenden Dämmerung suchte Colin mit den Augen den Berg ab. Als er sich umdrehte und Lindas Verzweiflung sah, trat er schnell zu ihr und nahm sie in die Arme. Sie versuchte sich zu befreien. Doch Colin drückte sie sanft an sich und sprach leise und beruhigend auf sie ein. Langsam entspannte sie sich und blieb in seinen Armen. „Dem Jungen passiert schon nichts. Er besitzt Mut und Intelligenz. Machen Sie sich keine Sorgen um ihn.“ Die Geborgenheit seiner Arme war verlockend. Sie hatte sich so lange allein durchschlagen müssen, daß sie es als unglaublich angenehm empfand, umsorgt zu werden, wenn auch nur für einen Augenblick. Wie schön es doch wäre, noch eine Weile so verharren zu dürfen, und diesem starken und fähigen Mann die Entscheidung und das Risiko zu übertragen. Welch ungewohnte romantische Anwandlungen! dachte Linda. Sie war zu sehr Realistin, um nicht zu wissen, daß sie von Colin keine ernsten Absichten erwarten konnte. Er hatte klar zum Ausdruck gebracht, woran er interessiert war. Und sie würde sich nicht einreden, daß es mehr sein könnte. Im Augenblick brauchte sie lediglich eine Schulter, an die sie sich anlehnen konnte, und keinen Mann, der ihr Leben durcheinander brachte. Außerdem wollte sie bald heiraten. Dennoch verweilte Linda in seinen Armen. Sie hörte sein Herz gleichmäßig schlagen und genoß das beruhigende Streicheln seiner Hände. Leise redete er auf sie ein. „Dies ist Patricks Spiel. Er stellt die Regeln auf, und er ist klug genug, sie so zu gestalten, daß er mit ihnen durchkommt. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen um ihn zu machen.“ Unwillkürlich war Colin zum Du übergegangen, und Linda fühlte sich wohl in dieser Vertrautheit. Sie legte die Arme um seine Taille, um ihm noch näher sein zu können. „Patrick kann nicht weit sein“, fuhr Colin fort. „Wir werden ihn finden. Er weiß es, und wir wissen es auch.“ Zärtlich strich Colin ihr über das Haar. Seine Finger fühlten sich angenehm rauh an. Fast hätte Linda nach ihnen gegriffen und sie an ihre Lippen geführt. Dieser Wunsch schockierte Linda. Sie war schon viel zu nahe daran, die Kontrolle über sich zu verlieren. Es wurde höchste Zeit, wieder zur Vernunft zu kommen. „Wir müssen den Jungen suchen“, sagte sie mit bebender Stimme und löste sich aus seinen Armen. „Wenn er nicht weit weg ist, können wir ihn vielleicht noch vor Einbruch der Dunkelheit finden.“ Doch Colin schüttelte den Kopf. Linda blickte in sein ernstes Gesicht. Im Tal war es jetzt ziemlich dunkel; schwarz zeichneten sich die Berge gegen den Himmel ab. „Aber wir müssen ihn finden. Patrick ist nur ein kleiner Junge. Wir können ihn nicht ganz allein in der Wildnis lassen.“ „Schau dich doch um, Linda. Wir haben jetzt keine Chance mehr, ihn zu finden.“ In der kurzen Zeit seit ihrer Ankunft war das Tal langsam in einer schwarzen, fast unwirklichen Dunkelheit versunken. Neben sich hörte Linda einen metallischen Klang, doch sie konnte Colin, der die Laterne befestigte, in der Dunkelheit nicht sehen. Ein Streichholz zischte, und warmes Licht erhellte den kleinen Lagerplatz. „Wir könnten ihn mit der Laterne suchen.“ Lindas Stimme klang leicht hysterisch. „Wir sollten wenigstens nach ihm rufen. Wenn er Angst hat, antwortet er bestimmt.“
Wieder schüttelte Colin den Kopf. Wütend fuhr Linda ihn an: „Du kannst ja hierbleiben, aber ich gehe mein Kind suchen.“ Sie wollte weglaufen, doch Colin hielt sie am Arm fest. „Nein, Linda, du bleibst hier“, sagte er ruhig. „Wenn du jetzt verschwindest, muß ich morgen früh zwei Menschen suchen.“ Beschwörend sah ihn Linda an. „Ich kann doch mein Kind nicht allein lassen.“ Colin lächelte. „Du läßt ihn nicht allein. Er hat dich doch verlassen.“ Beruhigend nahm er Lindas Kopf zwischen die Hände. „Du erzähltest mir selbst, daß der Junge schlau wie ein Fuchs ist.“ Er hob ihr Gesicht, so daß sie ihn anschauen mußte. „Patrick hat sich das alles gut ausgedacht. Ich wette, er plante auch einen gemütlichen Unterschlupf für die Nacht ein.“ Linda zitterte am ganzen Körper, doch allmählich ließ ihre Verzweiflung nach. Es war geradezu verlockend, das Problem auf Colins starke Schultern abzuladen. Warum sollte er die Verantwortung nicht tragen, wenn er dazu bereit war? Er kannte sich schließlich in dieser Gegend aus. War vertraut mit verirrten Wanderern und Bergsteigern. Wenn er sagte: „Patrick ist in Sicherheit“, dann war er es auch. Plötzlich verstand Linda, was Vertrauen bedeutete. Vorsichtig ließ Colin sie auf einen großen flachen Stein gleiten. Dann nahm er sein Gepäck vom Rücken und holte ein kleines Funkgerät heraus. Er mußte der Ranger-Station ihren Standort durchgeben und den Männern mitteilen, daß sie dem Jungen auf der Spur waren. „Nein, wir brauchen keine Verstärkung“, hörte Linda ihn sagen. „Ich glaube, ich weiß, wo der Junge ist, und ich werde ihn gleich am Morgen herausholen. Falls ich Hilfe brauche, melde ich mich.“ Herausholen. Hilfe brauchen. Bei diesen Worten kehrte Lindas Angst zurück. Doch mit aller Macht kämpfte sie dagegen an. Sie beobachtete Colin, der das Funkgerät wegräumte und ihr Nachtlager vorbereitete. „Was hast du damit gemeint, daß du vielleicht Hilfe brauchst, um ihn herauszuholen?“ „Ach, das sagen wir immer so. Es hat nichts zu bedeuten.“ Colin lächelte sie an. Linda mußte sich mit dieser Antwort zufriedengeben. Wirre Gedanken schossen durch ihren Kopf. Wenn Patrick nun etwas zugestoßen war? Sie würde es sich nie verzeihen können, daß sie nicht solange gesucht hatte, bis sie ihn fand. Aber Colin hatte recht, es war sinnlos, in der stockfinsteren Nacht herumzuirren. Sie mußten bis zum Morgen warten. Ärger stieg in Linda auf. Von allen schlimmen Streichen war dies der schlimmste. Wie konnte Patrick nur so grausam sein. Begriff er denn nicht, was er ihr damit antat? Es gab so viele Dinge, die Patrick nicht verstehen konnte; dazu gehörte beispielsweise, daß die Sehnsucht nach Sicherheit zum einzig erstrebenswerten Ziel im Leben werden konnte. Dieses Bedürfnis war indessen Linda nur zu gut vertraut. Es hatte sich mit der Zeit abgeschwächt, doch tief in ihrem Innern verspürte sie noch immer den Wunsch nach noch größerer Sicherheit. Sie wußte auch, daß dies einer der Gründe war, warum sie Anthony heiraten wollte. Mit Anthony an ihrer Seite würde sie sich nie wieder finanzielle Sorgen machen müssen. Aber ihr Sohn verstand dies natürlich nicht. Patrick war ja auch nie von seinen Klassenkameraden ausgelacht worden, weil er in abgelegter und umgearbeiteter Kleidung die Schule besuchen mußte. Und Hunger, weil kein Geld für Nahrung im Haus war, kannte er nicht. Doch Linda hatte dies und vieles mehr durchgemacht, und sie war fest
entschlossen, daß ihr Kind so etwas nie kennenlernen sollte. Patrick aber verachtete ihre Ängste und lachte über ihre Bemühungen, sich immer weiter abzusichern, damit jene Tage nie zurückkehrten. Patrick sah keine Notwendigkeit für eine Wiederverheiratung. „Ich brauche keinen Vater. Wir kommen sehr gut ohne einen Mann aus“, erklärte er seiner Mutter. „Außerdem werde ich bald erwachsen, und dann sorge ich für dich.“ Er konnte so lieb sein. Nein, es durfte ihm nichts zustoßen. Als erwache sie aus einem Traum, hob Linda den Kopf und sah sich auf dem Lagerplatz um. Colin kam auf sie zu einen Becher mit Kaffee in der Hand. „Hier“, sagte er. „Zum Aufwärmen.“ Linda umfaßte die Tasse mit beiden Händen. Schuldbewußt stellte sie fest, daß Colin fleißig gewesen war, während sie ihren Gedanken nachgehangen hatte. In einer Steinmulde prasselte ein Feuer, und darüber hing ein Topf, aus dem es köstlich duftete. Der Kaffee in ihrer Tasse war heiß. Colin mußte ihn zubereitet haben, ohne daß sie es bemerkte. Jetzt rollte er ihre Schlafsäcke auf. „Du bist wirklich ein Experte auf diesem Gebiet.“ Linda lächelte ihn an. „Es ist herrlich, sich zurückzulehnen und anderen bei der Arbeit zuzusehen.“ „Du kommst auch noch an die Reihe“, versprach Colin lachend. „Aber jetzt möchte ich, daß du dich erst einmal entspannst.“ „Entspannen“, rief Linda empört. „Ich will nur schlafen, aufwachen und sofort weitersuchen.“ „Immer eins nach dem anderen. Zuerst wird gegessen, dann schön gebadet und dann geschlafen.“ Überrascht sah ihn Linda an. Sein zerzaustes braunes Haar ließ ihn jetzt noch jünger aussehen. Unwillkürlich mußte sie lächeln. „Das hört sich nach einem erstklassigen Hotel an. Und wo finde ich hier das Bad?“ erkundigte sie sich. Colin rührte mit einem großen Löffel die Gulaschsuppe um. Dann füllte er einen Teller und reichte ihr die Mahlzeit. „Ganz in der Nähe gibt es heiße Quellen“, sagte er und beobachtete Lindas Reaktion. „Glaub mir, das wird das beste Bad, das du je hattest.“ „Du meinst, das beste Bad, das du je hattest“, entgegnete Linda und schüttelte den Kopf. „Rechne nicht mit mir.“ Vorsichtig probierte sie die Gulaschsuppe. Noch war sie zu heiß, und so stellte sie den Teller zum Abkühlen auf den Boden. „Warum nicht?“ Colin akzeptierte ihre Ablehnung nicht so einfach. „Hast du noch nie in einer heißen Mineralquelle gebadet?“ Kampflustig begegnete Linda seinem spöttischen Blick. „Selbstverständlich bin ich schon in heißen Quellen geschwommen. Warum weigerst du dich einzusehen, daß ich mich in der Natur auskenne. Bisher schlug ich mich doch recht tapfer, oder nicht?“ Colin fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar. „Doch, das hast du“, gab er zu. „Ich verstehe nur nicht, daß eine Frau, die so genau weiß, was sie tut, sich für ein solches Unternehmen kleidet, als plane sie einen Einkaufsbummel. Könntest du mir das bitte erklären?“ „Nein.“ Linda probierte ihr Gulasch wieder, nahm einen ganzen Löffel davon und bemerkte überrascht, daß es großartig schmeckte. „Deine Frau hat dir einiges im Kochen beigebracht. Nicht viele Männer können unter diesen Umständen eine so köstliche Mahlzeit herzaubern.“ Es schien ihr angebracht, das Thema zu wechseln. „Immer diese weiblichen Vorurteile! Warum kann ich mir diese Kochkenntnisse nicht selbst beigebracht haben?“
Nachdenklich blickte Linda ihn an. „Das ergibt keinen Sinn“, sagte sie. „Du magst ganz offensichtlich Frauen. Also mußt du auch verheiratet sein. Habe ich recht?“ Wann würde sie endlich lernen, den Mund zu halten? Das hörte sich ganz nach Männerfang an. Egal, Linda wollte wissen, ob Colin verheiratet war oder nicht. „In einem Punkt hast du recht“, antwortete Colin und blickte sie forschend an. „Ich mag Frauen.“ „Und bist du verheiratet?“ „Nein.“ „Warum nicht?“ „Ich bin zu beschäftigt.“ Linda lachte. „Zu beschäftigt? Womit? Mit den Geheimnissen der Natur?“ „Genau, ich schreibe darüber.“ Colins Stimme klang ernst. „Dann bist du auch noch Schriftsteller?“ Linda war überrascht. „Man könnte so sagen.“ „Hast du schon etwas veröffentlicht?“ „Mehrere Artikel in Zeitschriften, einige Bücher und ein etwas größeres Werk, das vor kurzem erschienen ist.“ Linda konnte sich gut vorstellen, daß es sich um eine Abhandlung über die Rettung der Natur handelte, von der sich gerade genug Exemplare verkaufen ließen, um die Produktionskosten zu decken. Doch dies zeigte wenigstens, daß Colin sich nicht damit zufrieden gab, in der Natur herumzuvagabundieren. „Und eine Frau wäre dabei im Wege?“ Colin lachte. „Ich gestehe Bedenken in dieser Richtung ein. Aber ich hätte bestimmt schon vor Jahren geheiratet, wenn mir die richtige Frau begegnet wäre.“ „Die berühmte ‚richtige Frau’, das hört man doch immer.“ „Und du glaubst nicht an sie?“ Colin sah sie so seltsam an, daß Linda ein kleiner Schauer über den Rücken lief. „Nein, sie ist immer nur eine Entschuldigung, um Verpflichtungen zu meiden.“ Ihre Stimme hatte einen bitteren Unterton. „Früher hätte ich dir zugestimmt“, sagte Colin mit sanfter Stimme. „Aber das war, bevor ich ihr begegnete.“ Diese Unterhaltung begann Linda unangenehm zu werden. Sie fühlte, daß Colins Worte eine Bedeutung hatten, die sie lieber nicht ergründen wollte. „Das schmeckt wirklich gut.“ Linda versuchte, das Gespräch auf ein unverfängliches Thema zu lenken. „Ich weiß, es kommt aus der Dose, aber du mußt noch etwas hineingetan haben. Was ist es?“ Colin stand auf, sah nach dem Feuer und kam wieder zurück. „Ich verrate dir mein Geheimnis, wenn du mir deins erzählst.“ „Ich habe keine Geheimnisse“, protestierte Linda. „Mein Leben ist ein offenes Buch.“ „Ein offenes Buch?“ Colin lächelte. „Dann blättere doch einmal ein paar Seiten für mich um.“ Linda wich seinem Blick aus und löffelte weiter ihre Suppe. „Was willst du wissen?“ fragte sie zwischendurch. „Ich will wissen, warum du Angst vor mir hast?“ „Angst vor dir?“ Lindas Stimme klang verächtlich. Herausfordernd sah sie zu ihm auf. „Ich habe kein bißchen Angst vor dir. Bilde dir nur nichts ein. Du könntest enttäuscht werden.“ Colin wartete, bis sie mit dem Essen fertig war. „Linda Angeli, vor irgend etwas fürchtest du dich“, beharrte er. „Wenn nicht vor
mir, vor was dann?“ Am liebsten wäre Linda aufgestanden und hätte ihm und seinen Fragen den Rücken gekehrt. Doch Colin stand jetzt so dicht über sie gebeugt, daß sie nicht davonlaufen konnte. „Warum gehst du mit teurer Kleidung in die Berge? Warum muß sich dein Sohn in der Wildnis verstecken, damit du seinen Standpunkt verstehst?“ Colin hat kein Recht, mir diese Fragen zu stellen und sich in meine persönlichen Angelegenheiten zu mischen, dachte Linda wütend. „Kümmere dich um deine Probleme.“ Lindas dunkle Augen funkelten. „Warum hat ein erwachsener Mann wie du nichts Besseres zu tun, als die Wälder zu durchstreifen? Warum hast du keinen richtigen Ehrgeiz? Warum bist du nicht verheiratet und sorgst für eine Familie? Warum versteckst du dich hier in der Wildnis?“ „Touche“, parierte Colin vergnügt. „Du erhältst eine Antwort auf alle Fragen, sobald du meine beantwortet hast. Akzeptiert?“ Aber Linda wollte keine Antworten. Sie war nicht an ihm interessiert, zumindest redete sie sich das ein. Sie sah ihn an und wünschte, ihm nicht ganz so nahe zu sein. Er griff nach einer Haarsträhne, die sich aus der Spange gelöst hatte. Linda überlegte, wie sie ihm entweichen könnte. „Verrate mir, warum du wie eine Modepuppe gekleidet bist, und ich erzähle dir, warum ich Jeans bevorzuge.“ Colin gab nicht nach. Seine Finger spielten mit der Haarsträhne. Linda versuchte, seine Hand wegzuschieben, aber Colin hielt sie fest. Er blickte lächelnd auf sie hinunter. Ein Prickeln durchlief ihre Haut, aber Linda konnte weder ihre Hand befreien noch seinem Blick ausweichen. Sein Gesicht kam immer näher. Als sein Mund dicht über ihrem war, bot Linda ihm die Lippen zum Kuß. „Das war köstlich“, flüsterte Colin. „Genauso, wie ich es mir vorgestellt habe.“
3. KAPITEL Linda verharrte bewegungslos in Colins Armen. Die Wärme seiner Haut und die zärtliche Stimme machten es unmöglich, sich von ihm zu trennen. Gern hätte sie ihm zugeflüstert, wie wohl sie sich bei ihm fühlte. Aber sie wagte es nicht. Laß ihn nicht zu nahe kommen, warnte sie eine Stimme in ihrem Innern. Ein Kuß, eine Umarmung, aber nicht mehr. Paß auf, daß er dein Leben nicht in Unordnung bringt. „Hast du mir nicht ein Bad versprochen?“ Mehr konnte Linda nicht sagen. Colin lehnte sich zurück und betrachtete sie. „Ja, das habe ich.“ Colin erwähnte mit keinem Wort, diesen Vorschlag vorhin abgelehnt zu haben. „Hast du alles aufgegessen?“ Linda zeigte auf den leeren Teller neben sich auf dem Boden. Colin sammelte das schmutzige Geschirr ein und beseitigte die Essensreste mit Sand und Blättern. „Wir nehmen es mit zur Quelle“, sagte er und packte das Geschirr in einen Beutel und hängte ihn über die Schulter. Dann griff er nach der Laterne. „Bist du fertig für den Ausflug in die Nacht?“ „Wenn Patrick unser Licht sieht, kommt er vielleicht aus seinem Versteck.“ Lindas Stimme klang hoffnungsvoll. Colin antwortete nicht, und sie schloß daraus, daß er diese Möglichkeit für unwahrscheinlich hielt. Die Laterne zeichnete einen schwankenden Lichtkreis auf die Erde. Linda betrachtete ihn als eine Art Sicherheitszone, denn sie fürchtete sich vor der Dunkelheit. Sorgfältig achtete sie darauf, diesen Kreis nicht zu verlassen. „Kennst du den Weg?“ fragte sie ängstlich. „Werden wir zum Lagerplatz zurückfinden?“ Colin blickte über die Schulter zurück. „Keine Angst, ich kenne den Weg ganz genau.“ Da hörte Linda auch schon das angenehme Gurgeln des Wassers. Im Lichtschein der Lampe wallte ihnen der Dampf wie Nebel entgegen. „Wir sind da.“ Colin stellte die Laterne auf die Erde. Das heiße Wasser sprudelte aus einer Kalksteinspalte und füllte die vielen Kavernen und kleinen Buchten ringsum. „Wieviel Grad hat das Wasser?“ „Es gibt jetzt nur eine Möglichkeit, dies festzustellen.“ Colin öffnete den Gürtel seiner Hose. Schnell wandte sich Linda ab und schaute angestrengt auf das Wasser. Ein Planschen zeigte schließlich an, daß Colin in die dampfende Quelle gesprungen war. „Es ist phantastisch. Komm herein!“ Das glaubte sie ihm gern. Ihr Blick wanderte zu den dunklen Bergen. Angst um Patrick stieg in ihr auf. Sie durfte nicht an ihn denken, sonst geriet sie wieder in Panik. „Sieht einladend aus.“ Lindas Stimme zitterte ein wenig. „Ich komme gleich.“ Unsicher blickte sie sich um. Wie konnte sie das Wasser erreichen, ohne sich nackt zur Schau zu stellen? Colin schien ihre Gedanken zu erraten und zeigte auf seine Tasche. „Da ist ein Handtuch drin.“ Linda zog es heraus und ging an den Rand des Lichtscheins. Mit dem Rücken zu Colin zog sie sich rasch aus. Die Nachtluft war kühl auf ihrer nackten Haut. Linda freute sich auf das warme Wasser. Mit dem Handtuch bedeckt ging sie zurück zur Quelle. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß Colin sie nicht beobachtete, ließ sie das
Handtuch fallen und glitt in das Wasser. Das Wasser war angenehm heiß, aber ein Schritt in Richtung Mitte und es wurde eiskalt. Linda schrak zurück. „Dort fließt ein Bach durch“, erklärte Colin. „Du wirst schon herausfinden,- wo die Quellen sind. Halte dich in ihrem Umkreis auf, aber komm ihnen nicht zu nah.“ Linda befolgte seinen Rat und merkte, daß sie sich auf Colin zubewegte. Der Sand unter ihren Füßen war weich, und die Wassertemperatur wechselte fast mit jedem Schritt. „Das ist herrlich.“ Linda lächelte und näherte sich Colin. Nur ihre Schultern ragten aus dem Wasser. „Und entspannt die Muskeln. Komm hier herüber und setz dich.“ „Sitzt du etwa? Worauf denn?“ „Auf einem Felsvorsprung, etwa einen halben Meter unter dem Wasser und direkt über einer Quelle. Das Wasser wird manchmal ziemlich heiß, aber wenn du auf deine Füße aufpaßt, ist es angenehm.“ Linda fand den Felsvorsprung und tastete sich zuerst mit dem Fuß, dann mit der Hand hinauf und setzte sich schließlich vorsichtig hin. Das heiße Wasser drängte sprudelnd an die Oberfläche und wirkte wie eine Unterwassermassage. „Das ist wirklich etwas Neues“, sagte sie und machte es sich auf der Steinbank bequem. Plötzlich bemerkte sie, daß das Wasser sie nicht mehr bis zum Hals bedeckte, sondern ihre weißen Brüste freigab. Schnell rutschte sie etwas tiefer. „Erwähntest du nicht, daß du schon in einer solchen Quelle gebadet hast?“ Linda kicherte. Die Situation war zu komisch: Sie saß nackt auf einem Felsvorsprung im Wasser und plauderte ungezwungen mit einem Mann, so als säße sie ihm an einem gedeckten Tisch gegenüber. „Stimmt, ich badete schon einmal in einer Thermalquelle, aber ich war damals fast sieben und erinnere mich nicht mehr an Einzelheiten.“ Colin war ihr so nah, daß sie ihn fast berühren konnte. Eigentlich sollte ich etwas wegrutschen, dachte sie. Aber hier war es so angenehm warm. „Dann hast du als Kind wohl oft mit deinen Eltern in freier Natur kampiert?“ „Das kann man wohl sagen“, Linda lachte laut auf. „Aber nicht zum Vergnügen.“ Endlich war es ihr einmal gelungen, Colin zu verwirren. „Mein Vater war Bergarbeiter, eine Art Goldgräber“, erklärte sie. „Das heißt, er grub nach allem, was sich zu graben lohnte. Meist lebten wir in Zelten oder halbverfallenen Hütten. Nicht, weil wir es romantisch fanden, o nein.“ Jetzt klang ihr Lachen bitter. „Und all die Jahre über warteten wir auf den großen Fund, der uns mit einem Schlag reich machen würde.“ „Sag bloß nicht, dein Vater war einer von jenen altmodischen Typen, die mit einer Spitzhacke über der Schulter und einem Maultier am Zügel durchs Land gezogen sind?“ Erstaunt sah Colin sie an. „Ja, wir waren auch auf Wanderschaft.“ Linda lehnte sich mit dem Rücken gegen den Felsen und lachte wieder. Zum ersten Mal konnte sie über ihre harte Kindheit lachen. Bisher hatte sie sich ihrer nur ungern und mit Ärger oder Scham erinnert. „Aber meist arbeitete Vater für irgendwelche Bergwerksunternehmen. Überall, wo etwas gefunden wurde, da zogen wir hin. Er holte Talk und Borax aus den Bergen in Kalifornien. In Nevada baute er Silber ab und Kupfer in Arizona, Mexiko und Montana.“ „Das war bestimmt kein leichtes Leben für ein Kind“, sagte Colin nachdenklich. Es war für alle hart gewesen. Linda erinnerte sich an das müde Gesicht ihrer Mutter, an die Resignation in ihren Augen. Ihre Mutter hatte einen Mann geheiratet, der in der Natur zu Hause war, und zahlte bitter dafür. Vor ihrer Zeit gealtert, starb sie schon früh, Linda war erst acht Jahre alt gewesen, und ihr
Vater wartete nicht lange, bis er wieder heiratete. Er brauchte jemanden für seine kleine Tochter. Vor allem aber brauchte er eine Frau, die für ihn sorgte. So nahm er Marcy zu sich. Marcy war Linda eine gute Stiefmutter, und sie schenkte ihr einen kleinen Bruder, Brian. Auch heute standen sich die drei noch sehr nahe. Doch im allgemeinen waren die Erinnerungen an jene Tage nicht sehr glücklich. Linda schob sie beiseite. Sie wollte das warme Gefühl, das sie in sich verspürte, nicht verlieren. „Ich haßte dieses Leben“, gab sie lächelnd zu. „Alles hätte ich dafür getan, um ihm zu entkommen.“ „Hast du deshalb Patricks Vater geheiratet?“ Linda hatte eine scharfe Entgegnung auf der Zunge. Doch sie zögerte, denn in gewisser Hinsicht entsprach dies ja der Wahrheit. „Das mag einer der Gründe für meine Heirat gewesen sein; aber ich glaubte auch, Patricks Vater zu lieben.“ Sogar darüber konnte Linda jetzt lächeln. „Wir glaubten damals beide, uns zu lieben, ganze sechs Monate lang.“ „Hast du die Verbindung bereut?“ „O nein, nie. Dieser Ehe verdanke ich schließlich Patrick, und er bedeutet mir alles im Leben.“ Bei dem Gedanken an ihren verirrten Sohn rann ein Schauer durch Linda. Doch die Angst kam nicht wieder. Das Wasser blubberte zwischen ihnen, und Linda lauschte schweigend dem Geräusch. „Warum hast du solange gewartet, ehe du an eine neue Heirat dachtest?“ fragte Colin in die Stille hinein. „Mir fehlte dazu ganz einfach die Zeit. Nachdem ich Jimmy, Patricks Vater, mit meinem Baby auf dem Arm verlassen hatte, ging es uns eine Zeitlang ziemlich schlecht. Ohne Berufsausbildung mußte ich jede Arbeit annehmen, um mein Kind ernähren zu können.“ Bei der Erinnerung daran schüttelte Linda unwillig den Kopf. „Ich wusch Geschirr ab in schäbigen Lokalen, reinigte sogar Toilettenräume. Einmal versuchte ich auch, Staubsauger an der Wohnungstür zu verkaufen.“ Linda kicherte, als sie an diesen Reinfall dachte. „Zwei Wochen lang zog ich von Tür zu Tür und verkaufte nicht ein Gerät.“ Diesen Mißerfolg hatte Linda bisher niemandem erzählt. Warum sie ihn jetzt Colin anvertraute, wußte sie nicht. „Dann lernte ich ein Mädchen kennen, das mich als Serviererin in einem kleinen hübschen Restaurant unterbrachte. Von da ab lief alles besser. Das Mädchen brachte mir das Servieren bei, und schon bald fand ich eine Anstellung in einem noch besseren Restaurant, wo die Trinkgelder höher waren. Jetzt ging es mit uns bergauf.“ „Aber noch immer mußtest du für jeden Pfennig schuften“, warf Colin ein. „Natürlich, aber wir hatten endlich genug zu essen, und ich fand Zeit, Kurse an einem College zu belegen. Dann kam Jimmy bei einem Autounfall ums Leben. Zu meiner Überraschung hinterließ er uns eine schöne Summe. Ich investierte das Geld, wurde Teilhaberin eines Restaurants und übernahm dessen Leitung.“ „Du führst also ein Restaurant?“ Linda lachte. „Das beste Restaurant in Reno, Nevada. Du mußt uns einmal besuchen.“ „So wurde aus dir eine Städterin“, sagte Colin bedächtig. „Du verleugnest deinen Ursprung.“ „Einen Ursprung, den ich hasse“, entgegnete Linda vehement. „Ein paar Ferientage in der Natur sind ja ganz hübsch, aber für immer möchte ich hier nicht leben.“
Colin erwiderte nichts darauf. Linda schloß die Augen. Dieser Mann konnte ihre Empfindungen nicht verstehen und begriff nicht, daß für sie das Leben in der Stadt Sicherheit bedeutete, während er dort seine Freiheit zu verlieren fürchtete. „Jetzt habe ich dir meine Geheimnisse anvertraut“, neckte Linda und blickte Colin erwartungsvoll an. „Nun bist du an der Reihe.“ Kam er etwa näher? Natürlich. Sie mußte ihn aufhalten, aber sie konnte es nicht. Es war hier so angenehm warm, so friedlich, und sie war so müde, so unglücklich. Außerdem mochte sie diesen Colin McCloud und genoß sein aufrichtiges Interesse. „Was genau wolltest du wissen?“ Colin rückte noch näher. „Alles.“ Linda blickte ihn offen an. Was sie sah, gefiel ihr außerordentlich. Colin wirkte sehr männlich, aber nicht auf eine bedrohliche Art. Sie spürte, daß er sie mochte und sie attraktiv fand. Wenn sie noch einen Rest Vernunft hatte, würde sie jetzt aus dem Wasser steigen, sich anziehen und zum Lagerplatz zurückkehren. Aber dazu war sie nicht fähig. „Wo wohnst du eigentlich?“ wagte Linda zu fragen. „Wenn ich in dieser Gegend bin, in einem Haus, das ich mir selbst am Ufer des Tonkan-Sees gebaut habe.“ „Ein kleines Blockhaus in den Wäldern?“ „Nicht ganz, aber es genügt meinen Ansprüchen.“ Wieder herrschte Schweigen. Colin schien nicht sonderlich an dieser Konversation interessiert zu sein, aber Linda traute sich nur an unverfängliche Themen. „Du hast mir noch immer nicht dein Geheimrezept verraten.“ „Mein Geheimrezept?“ „Von der Gulaschsuppe.“ Colins Lachen klang weich und zärtlich. „Was für ein Geheimnis! Und ich hielt dich für eine Expertin der Wildnis.“ „Was soll das nun wieder heißen?“ „Mein großes Geheimnis kennt jeder Rucksackträger: Man nehme eine Büchse Gulasch, öffne sie und schütte den Inhalt in einen Topf. Diesen wasche man zuvor mit Quellwasser aus. Dann füge man die Erschöpfung eines Wandertages und den Rauch eines Lagerfeuers hinzu, und schon hat man ein Göttermahl.“ Linda schüttelte verträumt den Kopf. „Ich hätte mir denken können, daß du es mir, einem Außenseiter, nicht verrätst. Euch Männer der Berge kenne ich.“ „Wirklich? Und was weißt du über uns?“ Colin lachte laut. „Noch nicht so viel, wie ich wissen werde, wenn du mir deine Geheimnisse anvertraut hast.“ Linda wartete, dann drängte sie. „Fang an, du hast es versprochen.“ Colin saß dicht neben ihr. „Ich fange mit dem Wichtigsten an“, sagte er leise. Plötzlich spürte Linda die kreisende, sanfte Bewegung seiner Finger auf ihrem Rücken. Das Gefühl war so angenehm und so entspannend, daß sie ihren Kopf nach vorn hängen ließ und es genoß. Natürlich wußte sie, daß sie sich dies nicht gefallen lassen durfte. Schließlich war sie an einen anderen Mann gebunden. Doch sie fühlte sich zu träge, zu erschöpft, um sich gegen Colin zu wehren. Seine Gegenwart wirkte auf sie wie ein Zauber, der sie von allen Ängsten befreite. Sie brauchte Colin. „Ich bin ein einfacher unkomplizierter Mann“, begann Colin. „Ich liebe die Natur und die Wildnis. Dieser Liebe habe ich mein Leben angepaßt. Hier draußen herrscht eine Freiheit, die man sonst nirgends mehr findet. Ein Mann kann sich hier selbst behaupten und völlig unabhängig leben.“ Langsam strich Colins Hand ihre Wirbelsäule entlang nach unten, massierte sanft ihren Rücken. Mit geschlossenen Augen und bewegungslos genoß Linda dieses
verführerische Streicheln. Gleichzeitig redete sie sich ein, daß sie nur träumte. „Meine zweite große Liebe gehört den Frauen“, gestand er. Linda spürte seine vollen Lippen hinter ihrem Ohr. Sein Mund wanderte weiter und hinterließ auf ihrem Nacken eine brennende Spur. „Vor allem Frauen mit langen blonden Haaren, die wie Gemsen klettern.“ Colins eine Hand kreiste auf ihrer Hüfte, mit der anderen streichelte er zärtlich ihre Wange. Spielerisch berührte seine Zunge die Haut ihres Nackens. Linda drängte sich seinen Lippen entgegen. Noch immer brachte sie es nicht fertig, ihn zurückzuweisen. Sie schob die Gewissensbisse beiseite, lauschte dem Plätschern des Wassers und gab sich ganz diesem neuen, erregenden Gefühl hin. Langsam hob sie den Kopf und wandte Colin das Gesicht entgegen, bereit für seinen Kuß. Der Kuß war wie der Mann: erregend, kontrolliert, forschend und auch neckend. Linda empfand ihn nicht als bedrohlich, nein, sie empfing ihn gern. Durch diesen Kuß schenkte und erhielt sie Freude. Es war, als lernten sie sich durch ihn kennen, als tasteten sie sich zueinander vor, um herauszufinden, wie sie einander am besten gefielen. Langsam, fast unbewußt, legte Linda die Arme um Colins Hals und zog seinen Kopf noch näher, um den Kuß zu vertiefen. Ihre Brust berührte seinen Oberkörper. Linda gab dem drängenden Spiel von Colins Zunge nach und öffnete ihren Mund. Dabei schmiegte sie ihren Körper an ihn, sie wollte ihn ganz nah spüren. Colin drückte ihre Hüften fest an seine. Es war jetzt höchste Zeit, Colin zurückzuweisen. Wenn sie sich nicht sofort wehrte, würde es zu spät sein. Colin würde das leidenschaftliche Spiel sicher nicht von sich aus abbrechen. Aber eigentlich wollte sie noch nicht aufhören. Es wurde Linda heiß, und das nicht nur vom Wasser. Colins Hand glitt von ihrer Wange über ihren Hals, tauchte ins Wasser und streichelte ihre Brust. Ein fast schmerzliches Verlangen durchfuhr Linda, als seine Finger die harte Brustwarze berührten. Aber sie hielt ihn nicht ab, wollte das Gefühl noch ein wenig auskosten. „Genug.“ Ihrem eigentlichen Wunsch widerstrebend, befreite sich Linda aus der Umarmung. „Niemals.“ Colin zog sie wieder in seine Arme. „Ich glaube nicht, daß ich jemals genug von dir bekommen könnte.“ „Unersättlicher.“ Lindas Lachen klang warm und tief. „Ich will dich ganz“, fuhr er fort, hob ihr Kinn und biß ihr zärtlich in die Lippen. Dann küßte er sie wieder. „Jeder Kuß schmeckt süßer als der vorangegangene. Nein, davon habe ich noch lange nicht genug.“ Endlich gab Colin sie frei, wenn auch unter Protest. „Sei vorsichtig, unter dem Zuckerguß könnte leicht Gift verborgen sein“, warnte Linda. Colin lachte und küßte sie noch einmal, bevor er sie endgültig freigab. „Das wäre ein himmlischer Tod“, rief er. Zurückgelehnt beobachtete Linda, wie sich Colin unruhig im Wasser hin- und herbewegte. Warum habe ich jetzt kein schlechtes Gewissen, überlegte sie. Die Schuldgefühle würden gewiß am nächsten Morgen kommen, aber im Augenblick erschien ihr das Zusammensein mit Colin als die natürlichste Sache der Welt. Er hatte etwas an sich, worauf jede Faser ihres Körpers ansprach. Was für dumme Gedanken, schalt sich Linda. Um sich abzulenken, fragte sie schließlich: „Kommst du oft hierher?“ „Ich war schon seit Jahren nicht mehr hier“, antwortete Colin. „Dann mußt du ein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen haben.“ Colin lächelte sie schelmisch an. „Ich war mir zwar ziemlich sicher, den Platz zu
finden, aber es war auch eine Portion Glück dabei.“ „Ich hoffe nur, das Glück wird uns morgen nicht verlassen.“ Wie ein Schatten legte sich die Erinnerung an den Grund dieses Ausflugs auf ihr Gemüt. „Hoffentlich finden wir Patrick gleich.“ „Wir werden ihn finden“, sagte Colin zuversichtlich. „Patrick ist höchstens eine oder zwei Stunden von hier entfernt. Nach dem, was er in seinem Brief über die Geister schreibt, glaube ich zu wissen, wo er sich befindet.“ „Wo?“ „In einer Marmorhöhle hoch oben im Berg. Den Indianern, die hier durchzuziehen pflegten, war der Platz heilig.“ Linda überlegte: Eine Höhle, das hört sich nach einem Unterschlupf an, nach Sicherheit. „Mach dir keine Sorgen“, versicherte Colin ihr noch einmal. „Wir werden ihn noch am Vormittag finden. Das verspreche ich dir.“ Natürlich wußte sie, daß er ihr ein solches Versprechen eigentlich nicht geben konnte; dennoch glaubte sie daran. Entspannt lehnte sie sich zurück und genoß ihr Bad. Es wurde Zeit, sich auf den Rückweg zum Lager zu machen. Colin erwies sich als Gentleman und schaute weg, als Linda aus dem Wasser stieg. Schnell trocknete sie sich ab und zog sich an. Auch Colin war in wenigen Minuten angezogen und wusch noch das Eßgeschirr ab, bevor sie in die Dunkelheit aufbrachen. Die Luft war kühl auf der erhitzten Haut. Wieder folgte Linda Colin dicht auf den Fersen und war noch immer ängstlich darauf bedacht, den Lichtkreis nicht zu verlassen. Auf dem Lagerplatz war das Feuer inzwischen niedergebrannt. Colin mußte es erneut entfachen; bald aber loderten die Flammen wieder prasselnd empor. „Da gibt es noch etwas, was ich unbedingt tun muß.“ Colin drehte dem Feuer den Rücken und ging auf Linda zu. „Und ich dulde keine Widerrede.“ Er griff nach der Spange in Lindas Haar und löste sie. „Seit du in die Ranger-Station gekommen bist, wünsche ich mir, dies zu tun.“ Lindas langes Haar fiel nun locker über ihre Schultern. Ihr Gesicht wirkte sehr zart in dem weichen Rahmen aus blondem Haar. Colin trat einen Schritt zurück und sah sie lange an. Linda wich diesem Blick aus. Er sollte nicht annehmen, er könne fortfahren, womit er an der Quelle begonnen hatte. „Ist noch Kaffee da?“ fragte sie schnell, blickte sich nervös um und ließ sich auf einem Felsbrocken nieder. Colin erriet ihre Gedanken, grinste und trat noch weiter zurück, um ihr zu zeigen, daß von ihm keine Gefahr ausging. „Ich hole dir welchen.“ Unter Colins prüfendem Blick trank Linda den dampfenden Kaffee. Langsam legte sich ihre Nervosität, und schließlich brachte sie es fertig, ihn wieder anzulächeln. „So ist es besser“, sagte Colin und schien erleichtert. Er setzte sich neben sie, legte seinen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Linda wehrte sich nicht. Ihre dicken daunengefütterten Jacken verhinderten die hautnahe Berührung ihrer Körper. Somit kam keine Spannung zwischen ihnen auf. Eine Weile saßen sie freundschaftlich nebeneinander und unterhielten sich. Verwundert stellte Linda fest, daß sie sich in Colins Nähe freier und fröhlicher fühlte. Schließlich sprach sie Colin daraufhin an. „Gelingt dir das bei anderen Menschen auch?“ Fragend blickte er sie an. „Ich meine, bringst du andere auch zum Lachen, gibst ihnen das Gefühl, glücklich zu sein?“ „Solltest du mich für die Göttin Fortuna halten, die ihr Füllhorn über allen
Menschen ausleert, dann irrst du dich“, antwortete Colin amüsiert. „Mit dieser Gabe beglücke ich nur ganz besondere Menschen.“ Colin vermittelte Linda das Gefühl, ihm alles sagen zu können. „Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich werde sonst nicht so schnell mit Menschen vertraut“, gab sie zu. „Es liegt nicht nur daran, daß du mir hilfst, meinen Sohn zu finden. Was ist es dann?“ Langsam ließ Colin ihr silberblondes Haar durch seine Finger gleiten. Er schien ihrem fragenden Blick ausweichen zu wollen. „Vielleicht liegt es an der Atmosphäre“, fuhr Linda fort. „Oder es ist der Höhenrausch.“ „Vielleicht.“ Colin lächelte. „Ich weiß, daß ich berauscht bin.“ Er blickte Linda in die Augen. „Und zwar von dir.“ Mit einem flüchtigen Kuß auf ihre Wange besiegelte Colin seine Worte, die seltsam ernst geklungen hatten. Einen Augenblick lang fühlte sich Linda verunsichert. Aber Colins offenes und kameradschaftliches Lächeln wirkte ansteckend. „Erzähl mir von dem Mann, den du zu heiraten gedenkst.“ Linda erschrak, als sie so plötzlich in die Realität zurückgerufen wurde. Wie ein Keil schob sich diese Bemerkung zwischen sie. Linda verspürte den Wunsch, von Colin wegzurücken. „Ich gedenke ihn nicht nur zu heiraten“, antwortete sie spitz. „Ich werde es auch tun.“ Colin schüttelte den Kopf. Der Humor war aus seinen Augen verschwunden. „Das wirst du nicht“, sagte er bestimmt. Erstaunt, ja etwas verärgert, blickte Linda ihn an. „Selbstverständlich werde ich das tun“, erklärte sie. „Nein, das wirst du nicht“, wiederholte Colin ernst. „Nicht, nachdem du mich kennengelernt hast.“ Wo blieb das Lachen, das sie jetzt brauchte? War dieser Mann verrückt geworden? Machte er sich gar lustig über sie und tat nur so ernst, um die Wirkung seines Scherzes zu verstärken? „Du und ich, wir passen nun wirklich nicht zusammen“, sagte Linda leichthin. „Die Stadtmaus und die Feldmaus.“ „Vielleicht hast du recht“, antwortete Colin. „Aber würde es nicht großen Spaß bereiten, es herauszufinden?“ Sein leidenschaftlicher Blick ließ Linda erschauern. Sie fror plötzlich. Er begehrte sie, wollte eine Affäre. Doch die würde er nicht bekommen. Seine Heftigkeit erschreckte sie, aber noch mehr fürchtete sie die Antwort, die sie in sich verspürte. Was sollte das alles? Sie war schließlich verlobt. Allein der Gedanke an eine Affäre mit diesem Mann war unmöglich. Am besten ging sie auf diese Bemerkung überhaupt nicht ein. „Es wird spät“, sagte sie deshalb. „Wir sollten jetzt schlafen gehen.“ Doch Colin beachtete ihren Vorschlag nicht. „Du hast dich schon einmal in eine Ehe geflüchtet, die dann scheiterte. Warum willst du den gleichen Fehler ein zweites Mal begehen?“ Er wollte sie nicht verstehen. Das zeigte sein Gerede von Freiheit und Unabhängigkeit in der Natur. Wie Patrick begriff er nicht, daß für sie Sicherheit die Voraussetzung für Freiheit und Unabhängigkeit war. „Nun erzähl mir, was dir an dem Mann gefällt.“ Colin gab nicht auf. Linda schluckte und wünschte, dieses Spiel zu beenden. Welche Absicht lag wohl dahinter? Sie kannte Colin doch kaum und doch hatte sie ihn so nah kommen lassen. Das
entsprach überhaupt nicht ihrer Art. „Was mir an Anthony gefällt?“ Sie holte tief Luft, doch auf einmal war ihr Kopf leer und sie wußte keine Antwort darauf. „Anthony ist höflich und freundlich. Und er sieht gut aus. Wir streiten uns nie. Er ist ein angesehener Geschäftsmann, Mitglied der besten Clubs.“ Was noch? Er hatte bestimmt noch mehr Vorzüge. Warum konnte sie sich nicht daran erinnern? Colin hatte sie in eine Falle gelockt. Triumphierend lächelte er sie an und verkündete: „Anthony ist ganz und gar nicht dein Typ.“ „Woher willst du das wissen?“ „Ich kenne deinen Typ genau“, antwortete Colin selbstgefällig. Er kniff die Augen zusammen, als denke er angestrengt nach. „Er ist aufgeschlossen, freundlich, tapfer und männlich.“ Er grinste verschlagen. „Und verrückt nach deinem Körper, deinem schönen Gesicht.“ Er küßte sie sanft auf den Mund. „Groß, braune Haare, grüne Augen…“ Endlich konnte Linda wieder lachen. Colin beschrieb sich selbst, er scherzte nur. Humor sprach wieder aus seinen Augen. Sie wehrte sich nicht gegen Colins Kuß, sondern gab sich ganz dem Genuß hin. „Du bist ein Spaßvogel.“ Linda kicherte an seiner rauhen Wange. „Und du bringst mich zum Lachen.“ Sie befreite sich etwas und sah Colin an. Ein seltsam ernster Blick lag in seinen Augen. „Ich bin jetzt wirklich müde“, sagte sie. „Du nicht?“ Linda hatte schon befürchtet, daß es zu einem kleinen Kampf kommen würde, doch zu ihrer Überraschung lächelte Colin nur bedauernd und half ihr, den Schlafsack auszurollen. „Bleib in der Nähe des Feuers“, sagte er. „Und schlaf gut.“ Sie hörte, wie er in seinen Schlafsack kroch, dann drehte sie sich zur Seite und schloß die Augen. Nach dem herrlichen warmen Bad und in dem Bewußtsein, einen guten Kameraden an ihrer Seite zu haben, gelang es Linda, ihre Angst zu beherrschen. Colin hatte ihr versprochen, daß alles gut werden würde, und sie glaubte ihm. Tief in der Nacht wachte Linda wieder auf. Das Feuer war erloschen. Sterne standen am Himmel und funkelten durch die Bäume. Lindas Zweifel kehrten zurück; vergeblich kämpfte sie dagegen. Patrick war allein in dieser furchterregenden Wildnis, und sie hatte entsetzliche Angst, ihm könnte etwas zugestoßen sein. Bären, Berglöwen, Giftschlangen tauchten vor ihren Augen auf. Vielleicht war Patrick gefallen, konnte sich nicht bewegen, seine Wunde nicht versorgen? Eine schreckliche Vision folgte der anderen. Warum hatte sie nur auf Colin gehört und die Suche abgebrochen? Was für eine Mutter war sie doch, flirtete mit einem fremden Mann in einer heißen Quelle und vergaß darüber ihr Kind. Sie mußte sofort aufstehen und ihren Sohn im Licht der Sterne suchen. Aber wo? Linda fühlte sich sehr einsam. Kein Feuer schützte sie mehr vor der Dunkelheit, und der Mann, der ihr geholfen hatte, den Alptraum zurückzuhalten, schlief. Die Verzweiflung wuchs, schnürte ihr fast die Kehle zu. Tränen stiegen Linda in die Augen. Dann weinte sie, wie sie es schon seit langem nicht mehr getan hatte. All die Ängste und Zweifel der letzten Jahre holten sie ein und brachen zusammen mit der Furcht um Patrick aus ihr hervor. Linda ließ den Tränen freien Lauf, versteckte nur ihr Gesicht im Schlafsack, um das Schluchzen zu ersticken. Da spürte sie Colins Arme um sich. Sie hatte nicht gemerkt, daß er aufgewacht war. Ganz fest hielt er sie und murmelte leise, beruhigende Worte in ihr zerzaustes Haar, bis sie nicht mehr zitterte. Langsam gab er sie frei. Als er ihren
Schlafsack öffnete, protestierte Linda. „Nein, bitte nicht.“ „Es ist ja alles gut.“ Vorsichtig hob er sie auf. „Ich tu dir nichts, Linda, vertrau mir.“ Was blieb ihr anderes übrig? Widerstandslos ließ sie sich zu seinem Schlafsack tragen. Er bettete sie hinein und legte sich neben sie. Linda schmiegte sich an ihn, fühlte sich wohl und geborgen in seinen starken Armen. Wie oft schon war es Linda schlecht gegangen. Hunger, Schmerz, Einsamkeit und Verzweiflung waren ihr nicht unbekannt. Aber noch nie hatte sie jemand getröstet wie dieser Mann heute nacht. Linda preßte ihr Gesicht an Colins Brust. Er roch so angenehm nach frischer Luft, so männlich. Für sie zählte nur noch dieser Augenblick, dieser Platz, alles andere wurde unbedeutend. Colin erweckte in ihr Gefühle, die sie mitrissen, wie noch kein anderer Mann zuvor. Gegen ihn war sie machtlos. Sie schlang ihre Arme um ihn und bot ihm ihre Lippen. Nur leicht küßte er sie, fast flüchtig. Linda spürte, daß er sich zurückhielt. Seltsamerweise ermutigte sie das. Mit ihren Lippen hielt sie seiner Mund und zwang ihn, seinen Kuß zu vertiefen. Erregung erfaßte Colins Körper, und dieses Anzeichen ihrer Macht berauschte Linda. Seine Hände strichen über ihren Rücken, preßten ihre Hüften an seine. „Ein solcher Kuß bringt einen Mann auf Gedanken“, stöhnte Colin. Linda legte den Kopf weit zurück und gab seiner warmen suchenden Hand freien Zugang zu ihrem Hals, ihrer Brust. Er öffnete ihre Bluse, neigte den Kopf und liebkoste ihre Brust mit seinen Lippen. Alles was Colin tat, erschien Linda gut und richtig. Sie wollte ihn spüren und sehnte sich nach den Empfindungen, die nur er in ihr entfachen konnte, „Du fühlst dich wunderbar an“, flüsterte er und streichelte die harten Kuppen ihrer Brust. „Das ist einmalig.“ Seine Lippen folgten dem Weg, den seine Finger soeben gezeichnet hatten. „Ich glaube, ich bin dir verfallen.“ Linda wand sich unter seiner Zärtlichkeit und stöhnte. Ein Beben erfaßte ihren Körper. „Colin“, flüsterte sie und drängte sich an ihn. „Colin, bitte.“ Plötzlich machte er sich frei. Verwirrt sah sie zu ihm auf. „Ich kann das nicht tun, Linda. Du bist jetzt so verletzlich. Es wäre nicht richtig.“ Colins Stimme klang heiser. Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und küßte sie zärtlich auf den Mund. „Ich nutze diese Situation nicht aus.“ Sprachlos blickte Linda ihn an. Was war das für ein Mann, der ihre Gefühle so selbstverständlich über seine eigenen Wünsche stellte? „Das bedeutet allerdings nicht, daß ich nicht noch einmal darauf zurückkomme“, fuhr Colin fort. „Ich werde deinen Sohn finden, und dann werde ich mir die Belohnung dafür abholen.“ Sein leises Lachen entschärfte die Worte. Er scherzte nur. Linda empfand tiefe Zärtlichkeit für ihn. Aus Furcht vor dem unbekannten Gefühl, das sie erfaßt hatte, zitterte sie. Colin spürte das Zittern und mißdeutete es. „Es wird alles gut, glaub mir“, versicherte er. „Wenn wir beide zusammen sind, kann doch gar nichts schiefgehen.“ Und Linda glaubte ihm, obgleich sie sich dafür dumm schalt. Colin hielt sie in den Armen, glättete ihr Haar und streichelte ihre Wangen. Sie legte ihr Gesicht an seine breite Brust. Ein Frieden, wie sie ihn nie zuvor gekannt hatte, erfüllte sie. Seine Wärme schien Linda zu durchfluten. „Schlaf jetzt“, sagte Colin. „Ich halte die Alpträume von dir fern.“ Mit einem zufriedenen Seufzer schlief Linda ein.
4. KAPITEL Linda erwachte in einer anderen Welt. Als sie die Augen öffnete, hatte die Sonne ihren Lagerplatz zwar noch nicht erreicht, aber färbte bereits den Himmel und tauchte die Berge in tiefes Rosa. Wie zartes Spinngewebe hingen Nebelfetzen über der Wiese. Colin war fort. Noch etwas benommen richtete sich Linda auf und hielt Ausschau nach ihm, dessen Nähe sie in der Nacht so wunderbar getröstet hatte. Ihr erstes Erschrecken über seine Abwesenheit schlug in Verlegenheit um, als sie ihn zwischen den Bäumen hervortreten sah. Sie war in seinem Schlafsack. Dies berührte Linda noch peinlicher als die Vorstellung, in seinem Bett aufzuwachen. Hoffentlich würde Colin dem Geschehen der Nacht nicht zuviel Bedeutung beimessen. Bei Tageslicht, ohne die Schrecken der Nacht, kam Linda ihr eigenes Verhalten unglaublich vor. Colin hätte sie letzte Nacht ganz nehmen können. Bei diesem Gedanken schlug ihr Herz schneller. Ja, sie hätte sich ihm hingegeben. Was war mit ihr geschehen? Sie war doch nicht der Typ, der sich Hals über Kopf verliebte. Aber etwas an diesem Mann zog sie unwiderstehlich an. Sie mochte Colin. Mehr als Anthony, fragte sie sich, mehr als den Mann, den ich zu heiraten beabsichtige? Diese Frage konnte und wollte sie jetzt nicht beantworten. Doch eines wußte Linda bereits: Colins Nähe, seine Berührung weckten Empfindungen in ihr, die sie bei Anthonys Zärtlichkeiten nie verspürt hatte. Aber hatte das etwas mit Liebe zu tun? Linda mußte sich eingestehen, daß sie sich nicht nur körperlich zu Colin hingezogen fühlte. Da war mehr, und das erschreckte sie. Doch das durfte Colin, der eben den Lagerplatz erreichte, nicht wissen. „Guten Morgen.“ Colin war schon angezogen, und aus ihrer Sicht wirkte er beängstigend groß. Sie zog den Schlafsack enger um sich. „Hast du schon ein Zeichen von Patrick entdeckt?“ Eigentlich erwartete Linda keine positive Antwort auf diese Frage. „Nein.“ Colin war neben ihr stehen geblieben. „Mach dir keine Sorgen, wir werden ihn bald finden. Hier.“ Damit reichte er ihr ein Handtuch, das er in heißes Wasser getaucht hatte. „Ich war schon an der Quelle. Das wird dich beleben, während ich Feuerholz suche.“ Das warme feuchte Tuch war ein Genuß. Schnell sammelte Linda die Kleidungsstücke ein, die sie während der Nacht abgelegt hatte. Sie wollte fertig sein, wenn Colin zurückkehrte. „Können wir darauf nicht verzichten?“ drängte sie, als Colin sich um das Feuer bemühte. „Beruhige dich.“ Er erhob sich und sah sie zum ersten Mal an diesem Morgen richtig an. „Der Aufstieg wird uns leichter fallen mit einem guten Frühstück im Magen.“ Überrascht bemerkte Linda, daß Colin etwas verlegen war. Spürte auch er die seltsame Entwicklung ihrer Beziehung und erschreckte sie ihn ebenfalls? Linda blickte ihn an und entdeckte Verletzlichkeit in seinen Augen. Schnell schaute sie weg und überlegte, wie sie ihm ihre Freundschaft anbieten und gleichzeitig klarmachen konnte, daß es für ihre Beziehung keine Zukunft gab. „Das nennst du Frühstück?“ fragte sie leichthin und zeigte auf die Büchse mit Cornedbeef in seiner Hand. „Das sieht zum Abgewöhnen aus.“ Linda wollte an ihm vorbei zum Feuer gehen, doch Colin hielt sie am Arm fest. „Hast du gut geschlafen?“ fragte er. Linda wußte, daß er an mehr als einem
Bericht über ihren Schlaf interessiert war. Sie sollte die Tatsache anerkennen, daß ihre Beziehung neue Dimensionen angenommen hatte. Aber dazu war sie nicht bereit. „Ich will Patrick finden“, wich sie ihm aus. „An etwas anderes kann ich im Augenblick nicht denken.“ Colin ließ sie los. Doch Linda spürte seine Unruhe, während sie aßen und anschließend das Lager aufräumten. „Die meisten Sachen können wir hierlassen“, sagte er. „Mit weniger Gepäck läuft es sich leichter.“ Auch Linda nahm nur das Nötigste mit und ließ ihren Schlafsack und den Proviant zurück. „Wir haben einen anstrengenden Aufstieg vor uns“, warnte Colin. „Bitte sag mir sofort, wenn es dir zuviel wird, und geh kein Risiko ein.“ Linda nickte und wich seinem beunruhigenden Blick aus. Die Sonne stand jetzt hoch am blauen Himmel. Vor ihnen ragte der schneebedeckte Gipfel auf, den sie bezwingen wollten. Sie wußte, sie würde dafür all ihren Mut und ihre Kraft brauchen. Eine Auseinandersetzung mit Colin mußte sie zumindest heute meiden. Der Aufstieg war so unwegsam, wie Colin vorhergesagt hatte. Schon bald erreichten sie die Baumgrenze und überquerten ein Gebiet, in dem nur wenig wuchs, und wo die Steine bei jedem Schritt wegrutschten. In schattigen Winkeln lag Schnee. Linda empfand die Luft als schneidend kalt. Auf einer Felsplatte legten sie eine kurze Rast ein. „Sieh mal nach unten“, forderte Colin sie auf. Seine Augen glänzten und zeigten Linda an, wie sehr er die Schönheit dieser Landschaft bewunderte. Folgsam blickte sie hinunter ins Tal, das sich unter ihnen ausbreitete. Doch sie konnte diesem großartigen Anblick nicht viel abgewinnen. Für sie war er nur ein Nachweis, wie hoch sie schon waren. Ihre Beine taten weh, und ihr Körper schmerzte vor Anstrengung. Aber sie beachtete es kaum. Sie hatte nur ihr Ziel vor Augen: Patrick zu finden. Nur einmal geriet Lindas Vertrauen ins Wanken. Sie hielten an, um einen Schluck Wasser zu trinken. Stirnrunzelnd blickte Colin zum Gipfel hinauf. Da wurde Linda unsicher. Wußte Colin wirklich, was er tat? Wieso glaubte sie, daß er die Gedanken ihres Sohnes lesen konnte? Wenn sie Patrick nun doch in der falschen Richtung suchten? „Was ist los?“ fragte sie gereizt. „Weißt du überhaupt, wo wir hingehen müssen?“ Leicht verärgert drehte sich Colin um. Als er ihre Furcht sah, wurde sein Gesicht freundlich. „Keine Angst“, sagte er ruhig und lächelte zuversichtlich. „Ich weiß genau, wo wir hingehen müssen, und Patrick wird dort sein.“ Er machte einen Schritt auf sie zu, doch Linda ging schnell zur Seite. Sie wollte jetzt nicht mit Zärtlichkeiten beruhigt werden. Colin folgte ihr nicht. Doch die Sehnsucht nach seiner Berührung erfüllte sie und stimmte sie traurig. Während sie ihren Aufstieg fortsetzten, bemerkte Linda, wie sehr sich die Stimmung heute von der gestrigen unterschied. Am Tag zuvor hatten sie sich kaum gekannt, sich ungezwungen unterhalten und miteinander gescherzt. Heute jedoch herrschte eine gewisse Spannung zwischen ihnen. Die Unbekümmertheit des Vortages wollte sich nicht mehr einstellen. Linda bedauerte dies und war dennoch nicht bereit, von sich aus etwas dagegen zu tun. „Siehst du dort den Felsvorsprung mit der Nische darüber?“ fragte Colin. Linda beschattete die Augen mit der Hand. „Ja, ich sehe ihn“, rief sie aufgeregt. „Ist das der Ort?“
„Das ist er.“ Colin stieg weiter und wartete nicht mehr auf Linda. „Ich gehe schon voraus“, rief er über die Schultern zurück. „Laß dir ruhig Zeit. Bis du ankommst, wird dein Sohn zur Begrüßung bereitstehen.“ Glaubte er wirklich, irgend etwas könnte sie jetzt noch daran hindern, so schnell wie möglich zu ihrem Kind zu kommen? Linda sammelte ihre letzten Kräfte, doch Colin war schneller, und verschwand schon bald hinter dem Felsvorsprung. Linda erwartete, jeden Augenblick Patricks Gesicht herunterblicken zu sehen und schaute immer wieder nach oben. Als nichts geschah, bekam sie wieder Angst. Wo war Patrick? Warum meldete sich Colin nicht? Eilig kletterte sie den steilen Hang empor. Ihr Herz klopfte wild. Entweder war der Junge nicht da, oder es war ihm etwas zugestoßen. Felsbrocken gaben unter ihren Füßen nach. Verzweifelt klammerte sie sich am Gestrüpp fest und arbeitete sich zum Felsvorsprung hinauf. Oben angekommen, streckte ihr Colin seine Hand entgegen und zog sie über die Kante. „Wo ist er?“ fragte Linda außer Atem. „Ist ihm etwas passiert?“ Colin antwortete nicht und zeigte zum Eingang einer Höhle, deren Inneres im Schatten verborgen lag. Linda konnte nichts erkennen, doch der harte Zug um Colins Mund verriet, was er befürchtete. „Mach dir bitte keine Sorgen, ich finde den Jungen. Es ist ihm bestimmt nichts zugestoßen. Er hat sich nur verirrt“, sagte Colin zuversichtlich. Linda betrat die Höhle. Auf dem Boden gleich neben dem Eingang lag verlassen Patricks Schlafsack. „Wo ist er?“ flüsterte Linda ängstlich. „Er muß in der Höhle sein.“ Colins Stimme klang beruhigend. „Wie tief ist sie denn?“ Linda hörte, wie Colin tief durchatmete, bevor er antwortete. „Das ist eine riesige Höhle. Ich bin schon einige Male zuvor hineingeklettert und werde ihn finden.“ „Hineingeklettert? Was willst du damit sagen?“ Colin sah ihr in die Augen und versuchte, ihr mit seinem Blick Mut zu übermitteln. „Dies ist eine weitverzweigte Höhle“, erklärte er. „Gleich hinter dem Eingang geht es über eine rutschige Schräge hinab bis zu einem etwa vier Meter tiefen senkrechten Abgrund. Darunter zweigen mehrere Gänge ab, die in verschiedenen weit im Berg liegenden Höhlen enden. Ich muß Seil und Steigeisen benutzen, um hinunterzukommen.“ „Laß uns sofort hinunterklettern“, sagte Linda ruhig und entschlossen. Colin nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. „Diesmal kannst du nicht mitkommen“, sagte er bestimmt und ließ Linda los. „Du kennst diese Höhle nicht, und du würdest mir nur im Weg sein.“ Das sah Linda ein. Sie war bereit, allem zuzustimmen, wenn er dadurch Patrick schneller fand. „Ich warte hier“, sagte sie. „Bitte, Colin“, sie legte ihre Hand auf seinen Arm, „finde mein Kind.“ Er hob ihr Kinn und sah sie zuversichtlich an. „Ich bringe dir deinen Sohn zurück“, versprach er. Colin entnahm seinem Rucksack Seile, Steigeisen und andere Gerätschaft, die er für den Abstieg benötigte. Das Seil befestigte er an einem Eisenhaken, der am Fels über dem Abgrund angebracht war. „Hält das auch?“ fragte Linda ängstlich. „Aber natürlich“, versicherte er. „Dies ist ein richtiges Kletterseil, und diese
Eisenhaken wurden von Männern in den Fels gehauen, die ihr Geschäft verstehen.“ Colin schlang sich das eine Ende des Seils um die Taille, befestigte es an einem Karabinerhaken und zog es durch die Ösen der Seilbremse. Dann warf er das andere Seilende in das dunkle Einstiegsloch und setzte einen Grubenhelm mit Lampe auf. Weitere Lampen und Reservebatterien hatte er in seinen Gürteltaschen verstaut. „Ist es nicht gefährlich, sich so am Seil hinunterzulassen?“ „Ich war schon ein paar Mal dort unten und weiß, was mich erwartet“, erklärte Colin. „Glück auf!“ „Sei vorsichtig, Colin“, bat Linda leise und küßte ihn leicht auf die Wange. Mit einem rätselhaften Blick in den Augen und einem kurzen Nicken verschwand Colin in der unheimlichen Tiefe. Linda sah dem flackernden Licht der Helmleuchte eine Zeitlang nach und trat dann vor die Höhle, um sich die kalten Hände in der Sonne zu wärmen. Plötzlich überfielen sie tausend Fragen, die sie Colin hätte stellen müssen. Wie kalt war es da unten? Konnte ein elfjähriger Junge die Nacht dort überleben? Sollte sie mit dem Funkgerät Hilfe herbeirufen? Gab es dort Tiere? Wenn Patrick nun abgestürzt war… Die Hände gegen die Stirn gepreßt, kämpfte Linda gegen die aufsteigende Panik. Aus der Tiefe hallte Colins Stimme. Sofort lief Linda zum Abgrund. „Was ist?“ rief sie aufgeregt und versuchte, ihn zu verstehen. „Ich habe den Jungen“, hörte sie die Antwort. „Es geht ihm gut, nur sein Knöchel ist verletzt. Es dauert noch einige Minuten, bis ich ihn am Gurt festgemacht habe.“ Linda schickte ein Dankgebet zum Himmel. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen, bereit, Hilfe zu leisten, wenn es nötig sein würde. Sie hörte, wie die beiden langsam die steile Marmorwand nach oben kletterten. Colin keuchte vor Anstrengung, und dann vernahm sie Patricks schwache Stimme. Endlich waren sie oben. Linda zog ihren Sohn über den Rand des Einstiegs und schloß ihn in die Arme. Colin rief über Funk die Ranger-Station und forderte einen Hubschrauber an. Doch Linda nahm dies kaum wahr. Sie hielt ihren Sohn fest in den Armen, streichelte und hätschelte ihn wie ein Baby. Verärgert befreite sich Patrick schließlich. „Ich bin vollkommen in Ordnung, Mutti“, versuchte er sie zu überzeugen. „Ich bin nur ein bißchen gefallen. Fast war ich schon unten, als mir die Taschenlampe wegrutschte. Da konnte ich nicht mehr sehen, wo ich hintrat.“ „Klettere nie in eine Höhle mit nur einer Lichtquelle“, warf Colin ein. „Wie willst du zurückfinden, wenn sie plötzlich versagt?“ „Das nächste Mal werde ich daran denken.“ Linda lächelte erstaunt, als ihr Sohn Colins Ratschlag bereitwillig aufnahm und nicht – wie gewöhnlich – als Beleidigung betrachtete. Das Ergebnis seines Fehlverhaltens war wohl zu offensichtlich. Vielleicht hatte es ihm einen Dämpfer versetzt. Patricks Fußgelenk war blau und geschwollen, wahrscheinlich von einem Bruch oder einer Zerrung. Unzählige Schrammen bedeckten seine Arme und Beine. „Ich bin dir sehr böse, Patrick.“ Tränen traten Linda in die Augen und sie drückte ihn wieder fest an sich. „Wenn ich nicht so glücklich über den glimpflichen Ausgang wäre, würde ich dich für den Rest des Lebens einsperren.“ „Anthony zum Vater zu bekommen ist ebenso schlimm wie ins Gefängnis zu gehen“, murrte Patrick.
Über den blonden Kopf des Jungen hinweg begegnete Linda Colins Blick. „Darüber unterhalten wir uns später“, sagte sie schnell. „Jetzt müssen wir dich erst einmal zu einem Arzt bringen.“ Linda versorgte Patricks Hautabschürfungen so gut sie konnte, und Colin unterhielt den Jungen mit Geschichten von den Geistern, die sich in dieser Höhle aufhalten sollten. „Schade, daß ich nicht eine Nacht dort unten verbringen konnte“, bedauerte Patrick und ignorierte den ungläubigen Blick seiner Mutter. „Dann wüßte ich, ob es diese Geister wirklich gibt.“ „Wie lange warst du denn dort unten?“ fragte Linda. Sie wagte kaum Luft zu holen. „Ich kam erst bei Einbruch der Dunkelheit hier an“, berichtete Patrick. „Also mußte ich mit der Erforschung der Höhle warten, bis es wieder hell wurde. Ich war nur ein paar Stunden da unten.“ „Und du hast keinen Geist gesehen?“ fragte Colin ungläubig. „Das ist komisch. Mir sind zwei begegnet, als ich hinunterkletterte, um dich zu holen.“ „Wirklich?“ Patrick war sich nicht sicher, ob er Colin glauben sollte. „Wie sahen sie denn aus?“ erkundigte er sich deshalb sicherheitshalber. Linda lächelte beim Anblick der beiden, die allein des Spaßes wegen vorgaben, die alten Geschichten zu glauben. Dann hörte sie den Hubschrauber kommen und war erleichtert, wieder in die Zivilisation zurückzukehren. Wie ein riesiges Insekt stand der Hubschrauber über ihnen, und verursachte ohrenbetäubenden Lärm. Linda beobachtete mißtrauisch, wie ein Seil und verschiedene Geräte heruntergelassen wurden. Patrick fand es natürlich ungeheuer aufregend, auf einer Trage festgeschnallt und per Seil nach oben transportiert zu werden. Das entschädigte ihn fast dafür, daß er keine Geister gesehen hatte. Linda empfand ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit über die Rettung ihres Sohnes. „Kommst du nicht mit?“ fragte sie Colin. „Nein, ich muß zum Lagerplatz, um die Schlafsäcke und die anderen Sachen zu holen, die wir zurückließen.“ „Ich weiß gar nicht, wie ich dir für alles danken kann.“ „Wirklich nicht?“ Colins Augen funkelten. Er legte die Arme um Linda und zog sie an sich. „Ich sagte dir schon letzte Nacht, was ich will, nämlich dich, und zwar ganz.“ „Nein, das geht nicht“, sagte sie sanft. „Warum nicht?“ Der Druck seiner Hände schmerzte. „Du solltest es wenigstens versuchen.“ „Du weißt, ich bin mit einem anderen Mann verlobt. Verlange nichts Unmögliches von mir.“ Sie wich seinem Blick aus und konzentrierte sich auf das Seil, das für sie vom Hubschrauber heruntergelassen wurde. Colin half ihr beim Anlegen des Sicherheitsgurtes, und dann entschwebte Linda in Richtung Helikopter. Noch einmal blickte sie nach unten. Auf dem Felsvorsprung stand Colin und schaute ihr nach. Er sah so verloren aus, daß sie sich herabbeugte und ihm etwas zurufen wollte. „Vorsicht!“ schrie ihr jemand aus dem Hubschrauber zu. „Es sei denn, Sie möchten allein durch die Luft fliegen.“ Wenig später war sie im Hubschrauber und auf dem Weg zum Krankenhaus. Sie war glücklich, ihren Sohn wiederzuhaben. Doch ein Gefühl der Leere überschattete ihr Glück. Ständig sah sie das Bild von Colin vor sich, der so allein auf dem Felsen stand.
5. KAPITEL An dieses Bild erinnerte sich Linda eine Woche später, als sie vom Fenster ihres Restaurants „Chez Linda“ im achten Stock des „Banks Gebäudes“ den Sonnenuntergang über den Bergen beobachtete. Der Ausflug in die Berge hatte ihr Leben verändert. Davor war Linda eine Frau gewesen, die ihre Ziele genau kannte. Durch Colin war alles durcheinandergeraten. Sie heiratete Anthony Banks nun doch nicht. Schon als Colin sie zum ersten Mal küßte, hatte sie gefühlt, daß sie ihr Vorhaben nicht verwirklichen könnte. Die Gründe für diese Heirat waren falsch gewesen. Ihr Leben lang hatte Linda für die Sicherheit gekämpft, die sie als Kind vermißte. Die Ehe mit Anthony wäre nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel gewesen. Sie wußte jetzt, sie hatte sich die Liebe zu Anthony nur eingeredet. Anthony hatte ihre Entscheidung auf seine höfliche, vornehme Art akzeptiert. Ohne große Einwendungen hatte er den Ring zurückgenommen. „Wir können trotzdem Freunde bleiben“, hatte er erklärt, „und selbstverständlich Geschäftspartner.“ Linda war einverstanden gewesen. Aber ihre Beziehung war nicht mehr wie früher. Linda traf Anthony nur noch, um Angelegenheiten des Restaurants zu besprechen. Mochte Colin McCloud ihr auch die Augen für die Wirklichkeit geöffnet haben, sie war dennoch nicht gewillt, ihm in die Berge nachzulaufen. Nein, sie wollte wieder zu dem Leben zurückkehren, das sie jahrelang geführt hatte: ein Leben ohne Männer, aber mit viel Arbeit. Arbeit war stets ein gutes Mittel zur Ablenkung gewesen und schien ihr eine bessere Grundlage zu sein, als romantische Flausen im Kopf. Patrick und ihr Restaurant waren ihr immer genug gewesen und auf keines von beiden würde sie verzichten, wegen jenes undefinierbaren und erschreckenden Gefühls, genannt Liebe. „Linda, können wir jetzt die Speisekarte durchgehen?“ Die Stimme ihres Oberkellners Gregory riß Linda aus ihren Gedanken. Sie blickte auf und lächelte. „Um ehrlich zu sein, ich habe nicht mehr darüber nachgedacht, seit wir gestern davon sprachen. Geben Sie mir noch einen Tag Zeit dafür.“ Gregory strahlte kühle Vornehmheit aus. Dahinter verbarg sich jedoch eine leicht erregbare Natur. Meist war er für Linda ein „Fels in der Brandung“ des Geschäfts, doch stellte ein nörgelnder Kunde unmögliche Forderungen, konnte Gregory jähzornig werden. Linda kannte inzwischen die Vorzeichen dafür – unruhige Augen, angespanntes Gesicht, zitternde Hände – und es gelang ihr im allgemeinen, Gregory rechtzeitig ins Büro zu manövrieren, wo er die Wände anschreien konnte. War der Wutanfall vorüber, erschien er wieder mit eiserner Miene und untadeligem Äußerem im Restaurant. „Die Stedweillers haben für acht Uhr einen Tisch bestellt“, erinnerte er sie jetzt. Linda nickte. „Lassen Sie Jamie noch einmal die Tischdecke überprüfen“, ordnete sie an. „Wenn diese Frau wieder Fliegendreck zu entdecken glaubt, sind wir geliefert.“ Die Stedweillers zählten zu Renos ältesten Pionier-Familien und verdankten ihr Vermögen den alten Comstock-Silberminen im nahen Virginia City. Sie gehörten der sogenannten feinen Gesellschaft an und galten als „Trendsetter“. Mrs. Stedweiller schrieb außerdem für den Unterhaltungsteil einer Lokalzeitung. „Auch letztes Mal war kein Fliegendreck auf der Tischdecke“, erklärte Gregory.
„Es handelte sich lediglich um Pfeffer, den Mrs. Stedweiller so reichlich über ihre ,Potage Parmentier’ gestreut hatte. Ich werde es ihr bei Gelegenheit einmal sagen.“ Linda lachte. „Wehe Ihnen! Wir brauchen eine gute Kritik in ihrer Zeitung.“ Sie verzog ihr Gesicht, als sie sich daran erinnerte, wie unglücklich sie über Mrs. Stedweillers letzten Artikel über das Restaurant gewesen war. Sie hatte lesen müssen, daß man im „Chez Linda“ zwar gut speisen könne, das Management sich aber nach einer neuen Wäscherei umsehen solle, weil auf dem Tischtuch Insektenschmutz gewesen sei. Gerade auf die Sauberkeit ihres Restaurants legte Linda großen Wert. Daher verletzte sie dieser Bericht besonders. „Oh, beinahe hätte ich vergessen, daß auch Freunde von Mr. Banks kommen. Es handelt sich um den Besitzer des ,Black Swan’ in Las Vegas, einen Mr. Burton und seine Frau. Gregory, bitte achten Sie darauf, daß diese Gäste in jeder Hinsicht zufriedengestellt werden.“ Das war das mindeste, was sie für Anthony tun konnte. Gregory zog sich zurück. Zufrieden sah sich Linda in ihrem kleinen Reich um. Mit Genugtuung stellte sie fest, wie nahe sie der Erfüllung ihrer Wünsche war. Linda hatte davon geträumt, eines Tages das feinste französische Restaurant in Reno zu besitzen. Vor zwei Jahren übernahm sie das heruntergewirtschaftete Lokal, das nur von der Nähe des „Banks Casino“ und dessen Mitternachts-Gästen gelebt hatte. Linda verpflichtete Phillipe. Armand, einen Gourmet-Koch aus San Franzisko, und ließ alle Räume renovieren. Heute strahlte das Restaurant jene elegante Exklusivität aus, die sie sich vorgestellt hatte. Weiße Damastdecken, schweres Silber, Rosen in schlanken Kristallvasen, dicke Teppiche, gepflegter Service und das beste Essen der Stadt waren ihr Markenzeichen. „Guten Abend, Linda. Wie geht es meiner Lieblingsschwester?“ Sie drehte sich um und erblickte ihren großen gutaussehenden Bruder. Wie immer freute sie sich über seinen Besuch. Untadelig gekleidet, so wie sie es ihm beigebracht hatte, bewegte er sich mit selbstsicherer Zwanglosigkeit auf sie zu. Nichts ließ darauf schließen, daß dieser junge Mann vor zweiundzwanzig Jahren in der dunklen Ecke eines leeren Güterzuges auf der Fahrt nach Arizona zur Welt gekommen war. Linda erinnerte sich noch sehr gut an jene Nacht und war froh, daß Brian es nicht konnte. Brian trug das schwarze Haar etwas länger, als es Linda gefiel. Aus seinen dunklen Augen blickte der Humor. Man sah ihm das Indianerblut seiner Mutter deutlich an. Leicht küßte er sie auf die Wange. Sie gaben ein hübsches Paar ab: Linda kühl und blond in einem Chanel-Kostüm, Brian groß und dunkel, mit maßgeschneidertem Anzug und guten Manieren. Uns sieht man das Landstreicherleben unserer Kindheit nicht mehr an, stellte Linda befriedigt fest. Vielleicht wurde es jetzt wirklich Zeit, sich endlich zu entspannen und anzuerkennen, daß sie sicher genug vor der Armut war. „Ist der Lausejunge fertig?“ erkundigte sich Brian. Er hatte Patrick und Marcy nach Lake Tahoe eingeladen. Dort besaßen sie ein Haus, das Linda für sie kaufte. Für Brian hatte sie eine Eisdiele einrichten lassen, mit der er seinen Unterhalt verdienen konnte. „Ich hoffe nur, er wird dir und Marcy nicht zuviel Mühe bereiten.“ „Bestimmt nicht. Du weißt ja, wir sind der Meinung, daß Patrick zu abhängig von dir wird. Ihm wird eine Woche ohne dich guttun.“ Linda konnte nur hoffen, daß ihr Bruder recht hatte. Mit seinem Weglaufen glaubte Patrick Erfolg gehabt zu haben, da sie sich von Anthony getrennt hatte.
Linda begann sich zu fragen, wie sie mit ihrem Sohn in ein paar Jahren fertig werden wollte, wenn es ihr jetzt schon kaum gelang. Vielleicht tat ihm für eine Woche der Umgang mit einem Mann recht gut. „Du siehst gut aus“, flüsterte Linda und lächelte Brian an. „Woher hast du den tollen Anzug?“ Überrascht registrierte Linda Brians Zögern und den vorsichtigen Ausdruck seiner Augen. „Ich kann mich ja nicht immer wie ein Eisverkäufer kleiden“, bemerkte er leichthin. Linda betrachtete den Anzug genauer, der offensichtlich sehr teuer gewesen war. Da entdeckte sie auch Brians neue, kostspielige Uhr am Handgelenk. „Das Geschäft muß unwahrscheinlich gut gehen“, stellte sie fest. Suchend sah sich Brian im Restaurant um, doch Linda hatte das Gefühl, er weiche nur ihrem Blick aus. „Ich kann nicht klagen“, sagte er. „Die Touristensaison hat begonnen, und wir haben viel zu tun.“ Gern hätte Linda Einzelheiten erfahren, aber Ort und Zeitpunkt schienen ihr nicht günstig, um sich danach zu erkundigen. „Patrick wartet im Penthouse auf dich“, sagte sie nur. „Bereits seit fünf Uhr heute früh ist er fertig für die Abreise.“ „Ich laufe nach oben und hole ihn.“ Brian schien es eilig zu haben. „Genieße deinen Urlaub von der Mutterschaft.“ „So etwas gibt es nicht.“ Linda lachte. „Mutter ist man immer, ob das Kind nun da ist oder nicht.“ „Sorge dafür, daß er seine Krücken mitnimmt“, erinnerte sie Brian noch. „Seit der Reiz des Neuen vorbei ist. vergißt er sie gern und hüpft lieber auf seinem Verband herum.“ Brian ergriff ihre Hand. „Mach dir keine Sorgen, wir passen schon auf das Kind auf.“ Er küßte sie flüchtig auf die Stirn. „Bis zum nächsten Wochenende, wenn du ihn abholen kommst. Vielleicht kann ich eine Segelpartie auf dem See arrangieren.“ Als Brian fort war, kehrten Lindas Gedanken wieder zu der Sierra zurück. Sie setzte sich an einen abgelegenen Tisch des Restaurants und blickte aus dem Fenster. Das letzte Licht des Tages färbte die Berge rot. Eine andere Abenddämmerung fiel ihr ein, und sie überlegte, was Colin McCloud wohl in diesem Augenblick dort draußen in der Wildnis tat. Seit dem Abenteuer in den Bergen dachte Linda oft an Colin. Aber sie hatte ihn nicht wiedergesehen. Mit dem Hubschrauber waren Patrick und sie zum Krankenhaus gebracht worden, wo man feststellte, daß der Fuß des Kindes glücklicherweise nur verstaucht war und eingegipst werden mußte. Nachdem auch die Schrammen versorgt waren, fuhr ein Ranger sie zurück zur Ferienhütte, wo Colin zwischenzeitlich ihren Schlafsack und das restliche Gepäck abgelegt hatte. Linda benötigte nur eine halbe Stunde, um alle Sachen zusammenzupacken und in ihrem Auto zu verstauen. Dann fuhr sie mit Patrick zurück nach Reno. Für Colin hinterließ sie einen Brief, in dem sie ihm noch einmal für alles dankte und versprach, in seinem Namen eine Summe für die Stiftung zur Erhaltung der Natur zu spenden. Aber sie gab ihm weder ihre Adresse, noch deutete sie an, daß sie sich über ein Wiedersehen freuen würde. Warum eigentlich? fragte sie sich jetzt. Hatte ich etwa Angst, Colin könnte kommen und mein geregeltes Leben aus den Angeln heben? Es war besser, ihn zu vergessen. Sein Leben in den Bergen war von dem ihren in der Stadt soweit entfernt wie die Erde vom Mond. „Miss Angeli?“
Linda wandte sich um. Wenn Gregory sie so formell anredete, handelte es sich entweder um eine geschäftliche Angelegenheit, oder er ärgerte sich über etwas. „Hier ist jemand, der Sie unbedingt zu sehen wünscht.“ Die besondere Betonung des Wortes „jemand“ hätte Linda warnen müssen. Doch als sie aus der Nische, in die sie sich zurückgezogen hatte, hervortrat, traf sie der Anblick des großen gutaussehenden Mannes völlig unvorbereitet. Einen Augenblick lang wußte sie nicht, ob sie wachte oder träumte. „Colin“, flüsterte Linda und bemerkte, wie die Gäste ringsum sie neugierig beobachteten. Er war zwar ordentlich gekleidet, doch seine Ausstrahlung rief Erinnerungen an die freie Natur, an die Wildnis wach. „Guten Abend, Linda.“ Colins grüne Augen funkelten vergnügt. Er war sich seines sensationellen Auftritts voll bewußt. „Dieser Herr hat keine Reservierung.“ Gregory zeigte seine Abneigung deutlich. „Wir sind heute abend ausgebucht.“ Gelegentlich ärgerte sich Linda über Gregorys väterliche Bevormundung, doch jetzt fand sie sie komisch. Es war, als springe ein Funke von Colins Humor auf sie über. „Ich bezweifle, daß sich dieser Herr um einen Tisch bemüht.“ Linda lachte ihren Oberkellner an. Gregory hob eine Augenbraue. Linda hakte sich bei ihm unter und zog ihn dichter zu Colin hin. „Darf ich Ihnen Colin McCloud vorstellen, den Ranger, der Patrick gerettet hat.“ Sofort änderte sich Gregorys Verhalten. Patrick war der Liebling der Belegschaft. „Mr. McCloud.“ Er verbeugte sich leicht. „Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen. Für uns sind Sie ein Held. Patrick spricht nur noch von Ihnen und denkt ständig an sein Abenteuer in den Bergen.“ „Welch ein Zufall“, sagte Colin und sah Linda an. „Auch ich kann an nichts anderes mehr denken.“ Obwohl Linda glücklich war, ihn wiederzusehen, fühlte sie sich auch alarmiert. „Was machst du in Reno?“ fragte sie schnell. Colin tat überrascht. „Kannst du dir das nicht vorstellen? Ich bin gekommen, um meine Belohnung abzuholen.“ Seine Direktheit verschlug ihr den Atem. Aus seinem Blick sprach feste Entschlossenheit. Verschwunden waren die Zweifel, die Linda am Morgen nach der Nacht im Schlafsack an ihm entdeckt hatte. Colin wußte, was er wollte. Im Foyer warteten Gäste darauf, an ihre Tische geführt zu werden. Linda spürte deren Unruhe mit jenem sechsten Sinn, den sie im Laufe der Jahre entwickelt hatte. „Warten Sie.“ Linda hielt Gregory fest, der sich um die Gäste kümmern wollte. „Das mache ich. Finden Sie bitte einen Tisch für Mr. McCloud.“ Ungeduldig winkte sie ab, bevor Gregory wieder sagen konnte, daß sie ausgebucht seien. „Und servieren Sie ihm das beste Menü.“ Linda eilte davon und wußte, daß Sie sich auf Gregory verlassen konnte. Er würde Colin an einem der hinteren Tische unterbringen, wo sie sich später mit ihm in Ruhe unterhalten konnte. Bis dahin war ihr eine Gnadenfrist vergönnt. In den nächsten fünfzehn Minuten wurde Linda voll von den Gästen beansprucht, die jetzt in großer Zahl eintrafen. Gregory kam zurück und nickte ihr zu. So wußte sie, daß er ihrem Wunsch entsprochen hatte. Geschäftig lief sie vom Foyer in die Küche, präsentierte eine Weinliste, beantwortete das Telefon. „Die Stedweillers“, flüsterte Gregory ihr zu. Linda zwang sich zu einem freundlichen Lächeln und ging, das Ehepaar zu begrüßen.
„Guten Abend, Mrs. Stedweiller, Mr. Stedweiller.“ Linda ignorierte den herablassenden Blick, mit dem sie von beiden bedacht wurde und führte das Paar in den Saal, als seien sie alte Freunde. „Wir haben einen besonderen Tisch für Sie reserviert, mit Aussicht auf den Park.“ Entrüstet blickte Mrs. Stedweiller sie an. „Auf den Park? Ich habe kein Interesse, auf schmutzige, mit künstlichen Lichtern geschmückte Baumkronen zu sehen. Ich wünsche einen Ausblick auf die Berge.“ Mit diesen Worten setzte sie sich in Bewegung und steuerte, gefolgt von ihrem Gatten, auf die Tische im hinteren Teil des Restaurants zu, von wo aus man – zumindest bei Tag – die Berge sah. Da betrat Anthony Banks zusammen mit seinen Freunden das Restaurant. „Gregory, bitte bringen Sie die Stedweillers gut unter“, flüsterte Linda verzweifelt. „Ich muß mich jetzt erst um Mr. Banks und seine Freunde kümmern.“ Nachdem Anthony Linda mit den Burtons bekannt gemacht hatte, verabschiedete er sich wieder. Linda geleitete die neuen Gäste an ihren Tisch und beriet sie bei der Auswahl des Menüs. Da sah sie Gregory in Richtung Küche eilen. Sie entschuldigte sich bei den Burtons und folgte ihm. „Machen Sie nicht mich dafür verantwortlich“, empfing Gregory Linda in der Küche. „Die Stedweillers haben sich zu ihm gesetzt. Vergessen Sie den Fliegendreck, jetzt bekommen wir richtigen Ärger.“ Linda brauchte nicht zu fragen, von wem er sprach. Beunruhigt verließ sie die Küche und näherte sich der abgeschirmten Nische, in der die Stedweillers und Colin saßen. „Nein, nein, nein!“ hörte sie Mrs. Stedweillers energische Stimme. Gewiß wehrte sich die Frau gegen Colins Anwesenheit. Linda überlegte krampfhaft, wie sie Colin ohne Aufsehen an einen anderen Tisch lotsen konnte. „Die Einstürze waren das größte Problem“, hörte Linda die Frau sagen und blieb stehen. „Hätten sich die Eigentümer an die Vorschriften für das richtige Abstützen gehalten, wären in den Comstock-Minen nicht wöchentlich ein Mann getötet und ein weiterer täglich verletzt worden.“ Linda wagte einen Blick in die Nische und sah Colin entschieden den Kopf schütteln. „Sie irren sich“, erwiderte er. „Die Einstürze waren schlimm, die Temperaturschwankungen aber tödlich. Die Männer arbeiteten unter Tage bei fast vierzig Grad. Wenn sie dann erschöpft hinauf an die kühle Luft kamen, wurde ihnen schwindelig. Sie fielen in den Schacht zurück, und ihre Körper zerschmetterten an den Felswänden.“ Eine passende Unterhaltung für ein Festessen, dachte Linda kläglich. Lächelnd versuchte sie eine Unterbrechung. „Mrs. Stedweiller.“ Aber die Dame würdigte sie nur eines flüchtigen Blicks und wandte sich wieder an Colin. „In der ,Toro-de-Oro’-Goldmine, die den Stedweillers gehörte, gab es so etwas nicht.“ „Das passierte häufig.“ Colin lächelte Linda an und widmete sich wieder seiner Tischnachbarin. „Und vergessen Sie nicht die Feuer und die zu früh explodierten Sprengladungen.“ Colin lehnte sich zurück, zufrieden mit sich und seiner Umwelt. Natürlich konnte er nicht ahnen, wie wichtig diese Gäste für Linda waren und wie sehr sie auf eine gute Kritik von Mrs. Stedweiller angewiesen war. Wie konnte sie ihn nur warnen, ihn von diesem Tisch weglocken? „Es tut mir leid, uns ist ein Fehler unterlaufen. Ihr Tisch…“ Verärgert sah Mrs. Stedweiller auf. „Dieser Tisch ist genau richtig. Ich sagte
Ihnen doch bereits, daß ich einen Ausblick auf die Berge wünsche.“ Linda schaute aus dem Fenster in die schwarze Nacht, in der nur die Lichter der Stadt zu erkennen waren. „Aber Mrs. Stedweiller…“ „Sie glauben wohl, ich kann die Berge nicht sehen?“ unterbrach Mrs. Stedweiller. „Das zeigt, wie wenig Sie davon verstehen. Colin hier weiß was ich meine.“ Triumphierend sah sie ihn an. „Nicht wahr?“ Colin lächelte genüßlich. „Selbstverständlich, Mrs. Stedweiller.“ „Nan, junger Mann. Nennen Sie mich einfach Nan.“ Sie wedelte mit ihrer kleinen Hand über den Tisch. „Holen Sie meinem Mann noch ein paar Oliven, wenn Sie sich unbedingt nützlich machen wollen.“ Damit entließ sie Linda und wandte sich wieder Colin zu. Völlig verwirrt, aber zu beschäftigt, um länger darüber nachzudenken, zog sich Linda zurück. Sie mußte sich um die anderen Gäste kümmern und überließ Gregory den Stedweiller-Tisch. Als sie später noch einmal nach ihnen sah, waren sie bereits beim Mocca angelangt und schienen sich blendend mit Virginia-CityAnekdoten zu amüsieren. „Sie müssen mich einmal besuchen kommen und sich meine Originalfotografien aus jener Zeit ansehen“, sagte Mrs. Stedweiller zu Colin. „Sie zeigen deutlich, welche Höllen diese Minen waren.“ „Mrs. Stedweiller.“ Linda zwang sich zur Ruhe. „Ich hoffe, Sie waren mit allem zufrieden.“ „Ich glaube schon“, antwortete diese und krauste die Stirn. „Ich kann mich zwar im Moment nicht daran erinnern, was uns serviert wurde, aber es muß wohl ganz ordentlich gewesen sein.“ Linda widerstand der Versuchung, der Dame die Kristallvase über den Kopf zu leeren. Mit höflichem Lächeln antwortete sie: „Kein Problem. Ich werde Gregory bitten, Ihnen eine genaue Beschreibung zusammen mit der Rechnung zu bringen.“ Nach einem flüchtigen Blick in Colins lachende Augen drehte sie sich um und überließ die drei ihrer Unterhaltung. Als die Stedweillers das Restaurant verließen, hielt sich Linda im Hintergrund. Dann ging sie entschlossen zu dem Tisch, an dem Colin nun allein saß. „Würdest du mir bitte erklären, was hier los war?“ fragte sie und stützte sich mit den Händen auf. Überrascht sah Colin sie an. „Was meinst du damit?“ „Wieso haben die Stedweillers an deinem Tisch Platz genommen?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe sie eingeladen.“ So sehr Linda auch versuchte, Colin streng anzusehen, es mißlang ihr. Nur mühsam konnte sie das Lachen unterdrücken. Seine Unschuldsmiene war zu komisch. „Ach Colin.“ Sie ließ sich ihm gegenüber auf den Stuhl sinken. „Ich weiß nicht, ob du mich heute abend zerstört oder gerettet hast.“ „Ich wußte gar nicht, daß die beiden so wichtig für dich sind.“ Waren sie das eigentlich? Linda wußte es selbst nicht mehr. „Warum hast du sie an deinen Tisch gebeten?“ „Ich erkannte Nan, als sie hier anrückte, um zu sehen, welchen Ausblick man von hier hat. Früher arbeitete ich selbst einmal als Reporter für eine Lokalzeitung und wir entdeckten noch mehr Gemeinsamkeiten.“ Linda sah ihn über das flackernde Kerzenlicht hinweg an. „Du kennst sie?“ „Natürlich. Vor zehn Jahren etwa lebte ich eine Zeitlang in Reno. Wie ich dir schon erzählte, schreibe ich in meiner Freizeit. In meinem letzten Werk zitierte ich auch einige Nachforschungen von Mrs. Stedweiller, die sie über die
Geschichte Nevadas veröffentlichte.“ „Eine Geschichte über die Comstock-Silberminen?“ Linda lächelte, wartete aber seine Antwort nicht ab. „Weicht das nicht etwas von deinen Naturbeschreibungen ab? Aber vielleicht läßt es sich an die Touristen in Virginia City verkaufen, wenn es gedruckt wird.“ Sie schaute aus dem Fenster. „Und jetzt wirst du mir wohl auch noch erzählen, daß du die Berge erkennen kannst.“ Alles was Linda sehen konnte, war die Spiegelung des Raumes in der Scheibe und dahinter die schwarze Nacht. „Du etwa nicht?“ fragte Colin sanft. Linda fühlte sich verunsichert und versuchte, seine Gedanken aus seinem Gesicht zu ergründen. „Ich bin ebenfalls an Mrs. Stedweillers Artikeln interessiert, aber ich lese nur ihre Restaurantbesprechungen.“ Sie seufzte. „Heute abend habe ich mich so angestrengt, und dann ging alles schief. Mit dieser Dame ist es wirklich zum Verzweifeln. Die schafft mich noch.“ Colin lächelte spöttisch. „Das sieht dir nicht ähnlich.“ „Daß ich Leuten hofiere?“ Linda lachte. „Das gehört zum Geschäft. Anthony setzte alles daran, die Stedweillers zu diesem Besuch zu überreden. Ihr erster Besuch war ein Reinfall.“ „Was hat Anthony damit zu tun?“ fragte Colin. „Ihm gehört dieses Gebäude.“ Vor einigen Wochen hätte sie noch hinzugefügt: „Und er beabsichtigt, die Pächterin dieses Restaurants zu heiraten.“ Doch das stimmte nicht mehr. Linda zögerte und überlegte, ob sie es Colin sagen sollte. Aber vielleicht war es vorteilhafter, wenn er annahm, sie sei noch immer verlobt. Ist er wirklich nur meinetwegen gekommen, überlegte Linda, oder hatte er zufällig in Reno zu tun und schaute einmal vorbei? „Es wird spät“, bemerkte sie. „Mußt du nicht gehen?“ „Sobald du bereit bist.“ „Sobald ich wofür bereit bin?“ Colin griff über den Tisch nach ihrer Hand. „Ich kam, um dich zu holen, Linda. Und ich werde nicht ohne dich fortgehen.“ „Du bist verrückt“, flüsterte Linda und lächelte ihn an. „Ja, das ist genau die richtige Beschreibung für meinen Zustand, seit ich dich kenne.“ Der Druck seiner Hand wurde fester. „Und dagegen gibt es nur ein Mittel: dich.“ Die Intensität seiner Worte rührte Linda. Ein seltsamer Rausch erfaßte sie, und es gelang ihr nicht, ihren Blick von seinem Gesicht zu wenden und sich der Leidenschaft seiner Stimme zu entziehen. Colin lehnte sich über den Tisch, und Linda kam ihm entgegen. Ihre Lippen trafen sich und berührten sich zärtlich. Dem Spiel seiner Zunge nachgebend, öffnete Linda die Lippen und überließ ihren Mund ganz dem leidenschaftlichen Kuß. Zögernd trennten sie sich, ohne jedoch den Blick voneinander zu lösen. Linda sehnte sich nach Colins Armen, wünschte zu spüren, wie sich sein Herzschlag steigerte und seine Erregung wuchs. Verwundert registrierte Linda diese Gefühle und bemerkte Gregory erst, als er sie ansprach. „Miss Angeli.“ Der Tadel in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Die Burtons wünschen Sie zu sprechen, bevor sie das Dessert wählen.“ Höflich abwartend stand er vor ihr und erwartete ihre Antwort. Noch immer im Netz ihrer Empfindungen gefangen, nickte Linda Gregory zog sich zurück. „Wo übernachtest du?“ fragte Linda schließlich. „Bei dir.“
„Unmöglich.“ Linda lachte leise. „Warum? Muß ich erst Anthony hinauswerfen?“ Colins entschlossener Gesichtsausdruck zeigte an, daß er genau das zu tun bereit war. „Nebenan gibt es ein sehr gutes Hotel.“ Er schüttelte den Kopf. Die Burtons warteten. Sie mußte Colin hier herausbekommen, bevor die gesamte Belegschaft aufmerksam wurde. „Hier.“ Laura zog einen Schlüsselbund aus der Jackentasche und entnahm ihm den Schlüssel zu ihrer Wohnung. „Ich wohne im Penthouse. Geh nach oben und warte auf mich. Wir unterhalten uns, sobald ich hier weg kann.“ Linda wußte genau, worauf sie sich einließ und wohin das führen konnte. Doch damit mußte sie später fertig werden. Hoffentlich besaß sie dann noch die Kraft dazu. Rasch stand sie auf und eilte davon. Sie unterdrückte ihre Aufregung und wurde wieder zur perfekten Gastgeberin.
6. KAPITEL Von Lindas Wohnung aus überblickte man das Lichtermeer der Stadt. Mit großer Sorgfalt und viel Liebe hatte Linda jeden einzelnen Gegenstand der Einrichtung für die weitläufigen Zimmer selbst ausgewählt. Dies war ihr Reich, und es war ein Spiegel ihrer Person. Die modernen Eschenmöbel und die helle Polstergarnitur paßten genau zu den silbergrauen Tapeten und dem gleichfarbigen, einen Ton dunkleren Teppichboden. Zurückhaltende Eleganz, klare Linienführung und kostbare Materialien prägten den Gesamteindruck. Mit dem Gefühl, sie gehe in eine fremde Wohnung, trat Linda ein. Colin erwartete sie und erhob sich lässig. Das gedämpfte Licht schimmerte auf seinem braunen Haar. Er hatte das Jackett ausgezogen und das Hemd am Hals geöffnet. Die aufgekrempelten Ärmel enthüllten seine muskulösen Arme. Wieder strahlte Colin diese rauhe Stärke aus, die in so krassem Gegensatz zu dem stand, was sie sich mühevoll aufgebaut hatte. Dennoch war seine Anziehungskraft stärker denn je. Was war nur an diesem Mann, das sie so unwiderstehlich in seinen Bann zog? Linda unterdrückte das Verlangen, ihn zu berühren. „Ich durchsuchte bereits alle Räume, aber ich konnte Anthony nirgends finden, nicht einmal ein Zeichen von ihm.“ „Du hattest kein Recht, meine Wohnung zu durchsuchen“, sagte Linda ärgerlich und hoffte, mit diesem Tadel Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Sie ging hinüber zur Bar und schenkte sich ein Glas Weißwein ein, stellte es jedoch unberührt ab. Colin hatte im Kamin ein Feuer angezündet. Den Blick auf die darin tanzenden Flammen gerichtet, dachte Linda darüber nach, warum sie so leichtsinnig gewesen war, diesen Mann in ihre Wohnung einzuladen. Jetzt würde es schwer sein, ihn wieder loszuwerden. Anlocken und zurückweisen – ich benehme mich wie ein Schulmädchen, dachte Linda. Colin war nicht der Mann, der sich das gefallen lassen würde. „Daß Patrick hier wohnt, sieht man allerdings“, fuhr Colin fort. „Wo ist der Junge überhaupt? Ich hätte ihn gern gesehen.“ „Er ist für ein paar Tage in Tahoe am See bei meiner Stiefmutter und meinem Bruder.“ Lindas Stimme zitterte leicht. „Er wird traurig sein, dich verpaßt zu haben.“ Colin sagte nichts, aber Linda konnte ihm die Freude darüber ansehen, daß sie allein waren und nicht gestört werden konnten. „Patrick ist ein lieber Junge.“ Colin brach schließlich das Schweigen. „Ja.“ Linda ging unruhig durch das Zimmer. „Hast du Kinder?“ fragte Linda, nur um die Stille zu überbrücken, „Nein.“ Colins Stimme klang sanft und tief. „Aber immer, wenn ich über einen Sohn nachdachte, stellte ich mir einen Jungen wie Patrick vor.“ Linda konnte nicht länger widerstehen, Colin anzusehen. Das Licht zeichnete Schatten auf sein Gesicht und unterstrich seine markanten Züge, ohne jedoch die menschliche Wärme zu verbergen. Hätte Patrick in all diesen Jahren doch nur einen Vater wie Colin gehabt, dachte Linda. Tränen traten ihr in die Augen. Langsam kam Colin auf sie zu, aber Linda sah durch die Tränen nur seine Umrisse. „Komm“, sagte er sanft. „Du bist müde. Du brauchst ein langes heißes Bad.“ „Nein.“ Linda schob ihn weg und blinzelte, um die Tränen zu vertreiben. „Ich bin nicht müde. Ich bin nur ein wenig überreizt. Colin, wir müssen etwas zwischen
uns klären.“ Sie biß sich auf die Lippe. „Komm, setz dich. Wir sprechen uns aus, und dann gehst du.“ Sie ließen sich auf dem Sofa nieder. Linda achtete darauf, daß sich zwischen ihnen etliche Kissen auftürmten. Ganz aufrecht saß sie da, die Beine artig nebeneinander gestellt, die Hände im Schoß gefaltet. Colin lehnte bequem in der anderen Ecke und betrachtete sie mit amüsierter Bewunderung. „Ich gab dir bereits im Restaurant zu essen“, begann Linda in scherzhaftem Ton. „Sieh mich also nicht so hungrig an.“ „Tut mir leid, aber soweit es dich betrifft, bin ich unersättlich.“ Lindas Lachen klang unnatürlich. „Muß ich mir erst eine Peitsche besorgen, um dich auf Abstand zu halten?“ Auch Colin lächelte jetzt. „Das ist nicht nach meinem Geschmack“, erklärte er und rückte näher. „Ich habe diesbezüglich ganz normale Wünsche.“ „Bleib, wo du bist“, befahl Linda und hob abwehrend die Hand. „Ich will eine Aussprache und keinen Ringkampf.“ „Dann rede, ich höre zu.“ Vielleicht hörte Colin wirklich zu, dabei rückte er aber stetig näher. Linda sprach so schnell sie konnte, als könne sie mit Worten seine Annäherung aufhalten. „Ich will mit dir kein Verhältnis anfangen, Colin. Du würdest mein Leben durcheinanderbringen, und das kann ich mir nicht leisten. Ich muß an meinen Sohn und an mein Restaurant denken. Und das reicht mir.“ „Dabei bin ich ein so genügsamer Mensch“, protestierte Colin. „Ich esse nicht viel und räume immer auf.“ Linda sah ihn nicht an. „Ich habe schwer gearbeitet, um meinen jetzigen Lebensstandard zu erreichen.“ Was versuchte sie Colin zu erzählen? Wie sollte er sie verstehen, wenn sie es selbst kaum konnte? Verzweifelt fuhr sie fort: „Ich kann und will es nicht riskieren, all das wieder zu verlieren, was ich mir so hart erkämpfte.“ Linda verlor den Faden. Colin war jetzt so nahe, er brauchte sie nur zu berühren, und sie wäre verloren. Noch immer gewillt, ihn aufzuhalten, drückte sich Linda in die äußerste Ecke der Couch. „Ich weiß, du bist stark und eine Kämpfernatur.“ Colin blickte ihr in die Augen. „Beides hast du bei der Suche nach deinem Sohn bewiesen.“ Unter Colins Blick wurde Linda unruhig. „Diese Eigenschaften zeige ich nicht nur in Ausnahmesituationen. Sie sind ein Teil von mir. Um nach oben zu kommen, habe ich den Kampf zu meiner Lebensdevise ernannt.“ „Kampf sollte nur ein Mittel zum Zweck sein“, erklärte Colin. „Wenn das Ziel erreicht ist, muß der Kampf aufhören, sonst kann man die Früchte des Sieges nicht genießen.“ Linda sah ihn an und dachte an sein einfaches Leben in der Wildnis. „Wann hast du jemals so kämpfen müssen wie ich?“ „Glaubst du etwa, ich bin nicht bereit zu kämpfen für das, was ich will?“ Colins Augen blitzten. Die Barrikade aus Kissen fiel. Linda spürte Colins Körper an ihrem, und als sich sein Mund näherte, stählte sie sich für den nächsten Ansturm. Zu ihrer Überraschung war sein Kuß zwar fordernd aber zärtlich, eher eine sanfte Verführung als ein leidenschaftlicher Angriff. Seine Arme hielten sie stark und unnachgiebig umfangen, seine Lippen aber fühlten sich weich an und berührten die ihren mit erregender Sinnlichkeit. Seine warme, fordernde Zunge eroberte ihren Mund. Ein verräterisches Verlangen erfüllte Linda und schwächte ihren Willen zur Gegenwehr.
Colin hatte einen ungerechten Vorteil: ihr Körper war auf seiner Seite. Nur einen Moment lang versuchte Linda, sich zu befreien. Sie blickte in seine lachenden Augen und seufzte. War es denn unrecht, daß sie ihn wollte, sich nach seinem Körper, seiner Wärme sehnte? „Wenn ich nachgebe, müssen wir dann weiterkämpfen?“ fragte sie leise. Colin bedeckte ihr Gesicht mit kleinen Küssen. Ihre Lippen trafen sich wieder, spielten zärtlich miteinander und vereinigten sich dann in einem langen leidenschaftlichen Kuß. Zögernd gab er ihren Mund wieder frei. „Wenn ich einen solchen Kampf beginne“, sagte er heiser, „dann führe ich ihn auch zu Ende.“ Linda fuhr mit ihren Fingern durch Colins kastanienbraunes Haar. Sie versuchte erst gar nicht, sich einzureden, daß er gehen müsse, sondern gab dem Verlangen ihres Körpers nach. Daß sie dieses überwältigende, aufregende Gefühl der Hingabe noch nie für einen anderen Mann empfunden hatte, wunderte sie jedoch. Warum gelang es ausgerechnet Colin, so starke Empfindungen in ihr zu wecken? Vorsichtig löste Colin die Kameebrosche an ihrem Hals. Unwillkürlich wollte sie ihn daran hindern, doch dann ließ sie ihre Hände sinken und legte den Kopf zurück. Sie genoß es, von ihm ausgezogen zu werden, zu spüren, wie seine Finger die Knöpfe ihrer Bluse öffneten. Linda konnte nicht widerstehen, auch sein Hemd aufzuknöpfen. „Du strahlst Wärme aus“, flüsterte sie. „Wie mein ganz persönlicher Sonnengott.“ Zärtlich und voller Bewunderung streichelte sie seine breite Brust. Leise lachend schob Colin ihre Bluse beiseite. „Das ruft deine Berührung hervor und der Anblick deines wunderbaren Körpers.“ Colin streichelte ihre Brustwarzen unter dem seidigen Büstenhalter, bis sie sich hart unter dem zarten Stoff erhoben. „Bitte, Colin, hör auf.“ „Aber Liebling, dein Körper sagt mir etwas anderes.“ Ja, sie verlangte ihn mit einer Heftigkeit, die sie erschreckte. Würde er jetzt aufhören und sie verlassen, sie könnte es nicht ertragen. Linda ließ sich zurücksinken und zog ihn zu sich herab. „Nein“, gab sie zu. „Du darfst nicht aufhören.“ „Na siehst du“, sagte Colin sanft und zog ihr den Büstenhalter aus. „Man soll der Natur gehorchen.“ Behutsam streifte er ihr den Rock ab. „Die Natur hat ihre eigenen Gesetze, um die Ängste der Menschen auszulöschen. Entspann dich und folge deinem Instinkt.“ Linda stöhnte leise und wand sich unter seinen streichelnden Händen. Die Luft war kühl und angenehm auf ihrer Haut. „Was zwischen uns geschieht“, fuhr Colin fort und hob ihren nackten Körper auf, „ist so natürlich, wie der Wasserfall in den Bergen.“ Er küßte ihre Brust. Eng an Colins Oberkörper geschmiegt, schloß Linda die Augen und ließ sich von ihm durch die Wohnung tragen. Als sie die Augen wieder öffnete, stellte sie erstaunt fest, daß Colin sie nicht wie erwartet ins Schlafzimmer, sondern ins Badezimmer getragen hatte. „Was tust du sonst nach einem anstrengenden Tag?“ „Ich nehme ein langes entspannendes Bad“, gab Linda zu und schaute in die große, bis zum Rand mit Wasser und weißem Schaum gefüllte Badewanne. „Das dachte ich mir.“ Linda lachte vergnügt. Ihr brennendes Verlangen nach Colin wich einem schwelenden Sehnen, dessen Erfüllung warten konnte. Langsam ließ er sie in das warme duftende Wasser gleiten.
„Es ist schon etwas kalt, und auch der Schaum muß aufgefrischt werden“, bemerkte Colin und drehte den Warmwasserhahn auf. Zufrieden trat er zurück und beobachtete sie. „Kommst du nicht herein?“ Linda lächelte zu ihm auf und streckte sich wohlig. „Möchtest du das?“ Prüfend sah er ihr in die Augen. „Du hast deine heiße Quelle mit mir geteilt“, erinnerte sie ihn. „Ich schulde dir noch eine Gegenleistung.“ Ungeniert schaute sie zu, wie er den Gürtel seiner Hose öffnete. Sie dachte daran, wie sie an der Quelle vermieden hatte, seinen nackten Körper anzuschauen. Jetzt wollte sie ihn sehen, und sie wollte, daß er es wußte. Das Badezimmer war in Zartblau und Weiß gehalten, und Colins starker brauner Körper bildete erneut einen harten Kontrast zu der Welt, die sie sich geschaffen hatte. Wie wenig paßte doch seine muskulöse Erscheinung in diese künstliche Schaumwelt. Linda lachte, reichte ihm die Hand und hieß ihn im warmen Wasser willkommen. „Was ist denn so komisch?“ fragte er und betrachtete skeptisch seinen nackten Körper. „Glaub es oder nicht, du bist die erste, die darüber lacht.“ Linda lachte noch mehr, drohte fast daran zu ersticken. Colin klopfte ihr mit der flachen Hand auf den Rücken, damit sie wieder Luft bekam. „Ich lache dich doch nicht aus“, keuchte sie. „Ich lache über all das hier.“ Mit ihrem Arm beschrieb sie einen weiten Kreis, der das ganze Badezimmer einschloß. „Und besonders über die Seifenblasen.“ Sie nahm etwas Schaum auf die Hand und blies ihm die Flocken zu. „Das ist alles so albern und künstlich.“ Sie wurde ernst und sah ihn an. „Aber du bist wahr, so unverfälscht.“ „Vielleicht brauchst du genau das“, sagte Colin nachdenklich, fügte dann mit leicht ironischem Unterton hinzu: „Das einzig Wahre.“ Linda zweifelte nicht mehr daran, daß sie genau das begehrte, wenigstens im Augenblick. Das Wasser war angenehm heiß. Linda lehnte den Kopf an die Seite der quadratischen Wanne, schloß die Augen und genoß die entspannende Atmosphäre in dem Bewußtsein, daß Colin bei ihr war. Die Wanne war groß genug, so daß sie beide genug Platz hatten, ohne sich beengt zu fühlen. Es gab jetzt nur eine Gefahr, und die hieß „Denken“. Sie wollte nicht denken und sich eingestehen, daß sie einen Fehler beging. Das würde den Spaß verderben. Spaß, war es wirklich nicht mehr? Wieso leistete sie sich einen Spaß, der alle ihre Pläne gefährden konnte? Bis vor einer Woche erschien Linda die Welt einfach: Man bekam, was man bezahlte. Wollte man mehr, arbeitete man mehr. Man setzte sich Ziele und strengte sich an, sie zu erreichen, ohne dabei nach rechts oder links zu blicken. Diese einfachen Regeln hatte Linda bisher befolgt. Als kleines Mädchen, barfuß im Staub der Minencamps, hatte sie von einem Leben als Erwachsene geträumt, von einem schönen Haus, teuren Kleidern, wertvollen Gemälden. Dieser Traum verblaßte, als sie sich mit ihrem Baby allein durchschlagen mußte. Damals änderte Linda ihr Ziel. Ihr Sohn sollte ein besseres Leben haben, schwor sie sich. Seitdem setzte sie alles daran, dies zu verwirklichen. Jetzt aber wollte sie wieder etwas für sich selbst – einen Mann. Hatte sie überhaupt das Recht dazu? Wie ein Eisbrecher kam Colin durch die Wanne auf sie zu. Er nahm sie in die Arme und küßte sie. Schaumflocken stoben durch den Raum. Linda lehnte sich zurück und sah ihn an. Es wurde Zeit, das Bad zu verlassen.
Rasch trockneten sich Colin und Linda gegenseitig ab. Eingewickelt in Badetücher liefen sie in das Schlafzimmer. „Deine Wohnung ist wirklich einmalig.“ sagte Colin und sah sich in dem weinrot und weiß gehaltenen Zimmer um. „Ich wage kaum etwas zu berühren.“ Linda ließ sich auf das breite Bett sinken und zog das Badetuch fester um ihren Körper. „Ich zerbreche nicht“, sagte sie leise, aber Colin ging nicht auf diesen Scherz ein. „Das Gebäude gehört also Anthony Banks.“ Colin kam auf sie zu. „Er wohnt jedoch nicht hier.“ Dicht vor ihr blieb er stehen. „Schlaffer mit dir, Linda?“ Sie errötete und wich seinem Blick aus. Immer wieder hatte sie Anthony – im Gegensatz zu Colin – vertröstet. Eigentlich sollte sie dies Colin erzählen und auch, daß Anthony keine Rolle mehr in ihrem Leben spielte. Doch Colin gab ihr dazu keine Chance. Seine Finger fuhren durch ihr langes Haar und erfaßten zwei dicke Strähnen. Mit einem kurzen Ruck zwang er sie, ihn anzusehen. „Du schläfst nicht mit ihm.“ Seine Augen drückten Zufriedenheit aus. „Ich bin froh, denn ab heute wirst du es nie tun.“ Seine Lippen fanden ihre. Er war sicher, willkommen zu sein. „Du willst ihn nicht so, wie du mich willst, Linda.“ Colin zog ihr das Badetuch weg und ließ sie zurück auf das Bett gleiten. „Warum mußt du ausgerechnet jetzt von Anthony reden?“ fragte Linda ärgerlich. Colin spielte mit ihren Haaren. „Damit du die Wahrheit erkennst“, sagte er einfach. „Du brauchst Anthony nicht, sonst würdest du mich nicht in deine Nähe lassen.“ Entrüstet schob sie ihn weg. „Ich hatte keine Wahl. Sie sind sehr hartnäckig, Mr. McCloud.“ Er drückte ihre Schultern in das weiche Bett, beugte sich über sie und lachte sie an. „Willst du damit etwa sagen, ich hätte dich verführt oder gar gezwungen?“ Dieses Lächeln. Sie würde ein Mittel dagegen finden müssen, sonst war sie verloren. „Ja“, flüsterte Linda, legte ihre Arme um seinen Hals und zog ihn zu sich herab. „Verführ mich, Colin.“ Als sie neben ihm lag und seinen Körper mit dem gleichen Vergnügen erforschte wie er den ihren, gestand Linda sich ein, daß sie diesem Mann verfallen konnte. Wie ein Zauberer verhexten seine Hände ihre Haut. Linda seufzte und schloß die Augen. Colin liebkoste ihre Brüste, strich immer wieder über die harten Spitzen. Ein brennendes Begehren durchzuckte Linda. Seine Hände glitten tiefer und erreichten das Zentrum ihrer Empfindsamkeit, jede Berührung steigerte ihr Verlangen. Zitternd bog sie sich ihm entgegen, bereit für die Vereinigung. Colins Liebe war so klar und natürlich wie der Wind in den Bergen. In dieser Rückkehr zur Wildnis ging Linda auf. Es existierten keine Schranken mehr zwischen ihnen; sie gab sich ihm ohne Rückhalt hin. Sie ergänzte Colins Leidenschaft perfekt und strebte gemeinsam mit ihm dem Höhepunkt zu. Voll Ekstase schrie Linda auf, als sie dies Ziel erreichten. Erschöpft sanken sie zurück, hielten sich aber fest umschlungen, als befürchteten sie, sich zu verlieren. „Bist du jetzt überzeugt?“ fragte Colin mit dem Mund an ihrer Brust. „Begreifst du nun, daß du Anthony niemals heiraten kannst?“ „Sprich nicht“, flüsterte Linda. „Ich will darüber nicht reden.“ „Du brauchst überhaupt nicht zu reden, hör mir nur zu.“ Sein warmer Atem kitzelte sie. „Solange ich nicht über das, was du sagst, nachdenken muß.“ „Denk nicht, fühl nur.“ Colin streichelte zärtlich ihre Hüften. „Ich wartete lange darauf, jemanden wie dich zu finden, Linda, und ich lasse mich nicht mehr
zurückstoßen. Du wirst keine lieblose Ehe eingehen.“ Colins Hand massierte sanft ihre Schulter. „Das ist ein Versprechen.“ Nur widerwillig öffnete Linda die Augen. Es war viel schöner, einfach still zu liegen und seine Zärtlichkeiten zu genießen. Aber eine Erklärung war überfällig. „Colin, ich gab Anthony den Verlobungsring bereits zurück.“ „Gut“, sagte Colin und richtete sich auf. Sein Gesicht zeigte keinerlei Überraschung, aus den Augen leuchtete Triumph. „Ich wußte, daß du es tun würdest.“ Er denkt, ich hätte seinetwegen mit Anthony gebrochen, dachte Linda. War es nicht so gewesen? Nein. Durch Colin war ihr zwar bewußt geworden, daß sie Anthony nicht liebte, aber deswegen brauchte er sich nicht einzubilden, sie sei bereit, mit ihm in die Berge zu ziehen. „Nachdem Patrick weggelaufen war, erkannte ich, daß mir mein Sohn mehr bedeutete als… als irgend jemand.“ „Du hast deine Verlobung mit Anthony wegen Patrick gelöst?“ fragte er kalt. Sein Gesicht erstarrte zur Maske. Nein, gestand sie sich ein. Ich habe meine Verlobung gelöst, weil ich festgestellt habe, daß mir ein anderer Mann mehr bedeutet. Aber das konnte sie Colin nicht sagen. Er würde Rechte beanspruchen, die sie ihm nicht zugestehen wollte. „Es gab mehrere Gründe“, erklärte Linda ausweichend. „Ich erkannte, daß für mich vor allem mein Sohn und meine Arbeit wichtig sind, und daß mir daneben weder Zeit noch Energie für eine ernsthafte Verbindung bleiben.“ „Ich verstehe.“ Wieder herrschte Schweigen. „Und wie steht es mit einer nicht ernsthaften Verbindung? Kannst du dafür Zeit und Energie aufbringen?“ Erleichtert atmete Linda auf. Colin war ihr nicht böse, er verstand sie. „Hier und da werde ich mir schon einmal fünf Minuten abzwacken können“, antwortete sie und lächelte ihn an. Er beugte sich herab und küßte sie. „Gut, du hast die richtige Wahl getroffen. Eine Ehe kann eine sehr einengende Institution sein.“ Linda kicherte. „Es ist mir neu, daß du auch darin Erfahrung hast. Du weißt doch gar nicht, was es heißt, verheiratet zu sein.“ „Da irrst du dich, Linda“, sagte Colin ruhig. „Ich weiß sehr genau, wie eine Ehe ist.“ „Du bist verheiratet?“ fragte sie entsetzt. „Nein, seit vielen Jahren nicht mehr, aber ich war es.“ Linda war erstaunt über die Gefühle, die sein Geständnis in ihr hervorrief. Nie hatte sie sich Colin mit einer Ehefrau vorgestellt. Jetzt, da sie davon gehört hatte, empfand sie eine irrationale Eifersucht, die sie überraschte. „Was ist passiert?“ Ihre Stimme klang fremd und steif. „Ich heiratete meine Jugendliebe, genau wie du. Wir waren beide achtzehn. Damals ritt ich Rodeos und hoffte, ein Vermögen beim Abrichten von Rindern und wilden Pferden zu gewinnen. Wir zogen von Stadt zu Stadt und schließlich verließ mich Cindy wegen eines Lehrers, der ihr ein Häuschen mit Garten bieten konnte.“ „Das tut mir leid.“ Linda saß mit gekreuzten Beinen vor ihm und zog sich ein wenig verlegen die Bettdecke über. Colin grinste. „Mein Herz war gebrochen, doch es heilte sehr schnell. Ich stellte fest, daß meine Frau mir einen Gefallen getan hatte.“ „Wahrscheinlich warst du froh, deine Freiheit wiederzuhaben.“ „Ich begriff, daß ich auch allein glücklich sein konnte“, erklärte Colin. „Nachdem Cindy mich verlassen hatte, ging ich zurück ans College, erarbeitete mir akademische Würden in Forstwirtschaft und Journalismus und erkannte, daß es
bessere Möglichkeiten gab, Geld zu verdienen, als mit seinem Hintern im Dreck zu landen.“ Linda fiel ein, daß er für eine Zeitung in Reno gearbeitet hatte. „Machte dir der Journalismus keinen Spaß?“ „Ich arbeitete nur ein paar Jahre als Journalist. Aber es machte mir keinen Spaß, den Anweisungen eines Redakteurs zu folgen und über Dinge zu schreiben, die mich langweilten. Auch gefiel es mir nicht, ein strittiges oder heikles Thema auf Geheiß des Verlegers fallen lassen zu müssen.“ „Dein Geist war zu wild und frei, um gezähmt zu werden.“ Linda streckte ihre Hand nach ihm aus und fuhr mit einem Finger seine Brust entlang bis zu den Härchen um seinen Nabel. „So ähnlich war es wohl. Außerdem fühlte ich mich in der Stadt eingesperrt.“ „Also bist du in die Freiheit der Natur geflohen.“ Linda zog die Stirn kraus und wunderte sich, warum sie von einer Flucht und nicht von einem Wechsel des Lebensstils sprach. Colin wand sich unter ihrer Berührung wie eine Katze, die gestreichelt wird. Eine große wilde Bergkatze, so geschmeidig und stark. „Ungezähmt“, flüsterte sie, so daß er die Augen öffnete und sie amüsiert anblickte. „Ist das so schlecht?“ fragte er. Linda zögerte. Konnte sie ihm das wirklich sagen? Ja, sie hatte das Gefühl, mit Colin über alles reden zu können. „Du bist nicht der Typ, zu dem ich mich sonst hingezogen fühle.“ „Wirklich nicht?“ Colin war keineswegs beleidigt, und Linda bewunderte sein Selbstbewußtsein. „Und wie ist dein Typ gewöhnlich?“ Etwas verlegen antwortete Linda: „Nicht, daß ich mich mit vielen Männern einlasse, aber ich stelle mir meinen Typ etwas zivilisierter als dich vor.“ Colin lachte. „Etwa angepaßt oder gezähmt?“ „Ja, gezähmt.“ „Willst du das wirklich, Linda?“ Colin griff nach ihrer Hand. „Willst du einen Mann, der Männchen macht und sich auf Kommando hinlegt?“ Mit einem Ruck zog er sie auf seinen Körper. Noch immer hielt er ihre Hand mit einem eisernen Griff fest. „Du suchst also einen Mann mit gutem Benehmen, der immer die richtigen Worte findet?“ Linda beugte ihren Kopf über ihn, so daß ihre Haare in sein Gesicht fielen, seine Nase kitzelten und ihn lachen ließen. „Aber was willst du mit einem solchen Mann anfangen, meine Liebe. Glaubst du wirklich, daß er immer artig in der Ecke sitzen wird, bis du ihn rufst, damit er auf Befehl an deiner Seite glänzen darf?“ „Nicht, wenn er Colin McCloud heißt“, gab sie zu und wand sich unter seinem unnachgiebigen Griff. „Was willst du also von mir?“ fragte Colin plötzlich sehr ernst. „Warum willst du mich in deinem Bett, in deinem Leben?“ Linda kam frei und rollte zur Seite. „Wer sagt, daß ich dich will“, entgegnete sie. „Du bist hier eingedrungen.“ „Nein, ich habe dich zu nichts gezwungen.“ Jetzt lachte ihm wieder der Schalk aus den Augen. „Denk doch einmal an unsere erste gemeinsame Nacht.“ „Wieso?“ „In den Bergen wolltest du mich verführen, erinnerst du dich?“ Colin lehnte sich mit gespielter Arroganz zurück. „Du wolltest mich. Ich mußte dich zurückhalten.“ Empört schaute Linda ihn an.
„Gnädige Frau, Sie wollten meinen Körper. Geben Sie es zu.“ Linda griff hinter sich, erwischte ein Kissen und warf es ihm an den Kopf. „Wie kannst du es wagen.“ Sie traf Colin voll ins lachende Gesicht. „Und als ich in deinem Restaurant aufkreuzte, hast du mich nicht etwa hinausgeworfen. Nein, du gabst mir den Schlüssel zu deinem Schlafzimmer, fordertest mich praktisch auf, das Bett für dich anzuwärmen.“ „Das war keineswegs meine Absicht!“ War sie nun wütend oder amüsiert. Linda wußte es selbst nicht. „Wir beide haben uns gerade wunderbar geliebt, und du weißt es. Mit Anthony hast du nie geschlafen. Das sollte dir zu denken geben.“ „Meinst du?“ Vielleicht konnte sie mit ein wenig höflicher Herablassung ihre Selbstachtung retten. „Ist das nicht widersprüchlich? Männer behaupten doch sonst immer, daß Sex mit Liebe nichts zu tun hat. Man soll es genießen und ohne Reue weiterziehen.“ „So etwas habe ich nie behauptet, obwohl ich zugebe, daß etwas Wahres daran ist. Dennoch verstehe ich nicht, daß eine Frau wie du jemals daran gedacht hat, einen Mann zu heiraten, mit dem sie nicht ins Bett gehen wollte, sobald sie ihn nur ansah, wie in meinem Fall.“ „Colin!“ Ihr Stolz war dahin. Sie hämmerte mit ihren Fäusten gegen seine Brust. „Schon gut“, rief er und wich lachend ihrem Angriff aus. „Ich gebe auf.“ Linda hörte auf, legte ihren Kopf auf seine Brust. „Was willst du, Linda?“ fragte er, streichelte ihr sanft über das Haar und hielt sie fest. „Ich will dich“, flüsterte sie, und die Aufrichtigkeit ließ ihre Stimme zittern. „Wenigstens noch ein bißchen länger.“ Colin erstarrte bei diesen Worten und schwieg. Dann küßte er sie auf die Stirn. „Du hast mich, Liebling“, sagte er heiser. „Ich werde zahm für dich sein, für eine kleine Weile.“ Linda war sich nicht sicher, was er damit meinte, aber sie wagte nicht zu fragen. Sie wollte nur den Augenblick genießen. Colin blieb die Nacht über bei ihr und hielt sie in seinen Armen. Im ersten Morgengrauen liebten sie sich und noch einmal nach einem ausgedehnten Frühstück. Dann mußte sich Linda für die Arbeit fertigmachen. Ihre Begierde bereitete ihr Gewissensbisse, doch sie gestand sich offen ein, daß sie verrückt nach seinem Körper war. Aber sie wollte mehr, und das erschreckte sie. Sie sah keine Möglichkeit, das zu bekommen, wonach sie sich sehnte. Sie rief Patrick an, um zu hören, wie es ihm ging. Das Gespräch erleichterte ihr Gewissen ein wenig, doch nicht allzusehr. Aber sie erwähnte Colin nicht. Er war zahm für sie, blieb in der Wohnung und wartete auf die Minuten, die sie sich hinaufstehlen konnte, während Gregory das Restaurant für sie übernahm. Doch am Samstag mußte Linda sich um ihre Gäste kümmern, und Colin kam herunter, um sie zu beobachten. Er ging in die Küche und freundete sich mit dem Personal an. Dann saß er in ihrem Büro und scherzte mit ihr, wenn sie vorbeiging. Sie machte sich frei, so früh sie konnte, und nahm ein besonderes Abendessen mit nach oben, um den Mann zu füttern, den sie sich wie einen gezähmten Berglöwen in der Wohnung hielt.
7. KAPITEL Warmes Sonnenlicht strahlte durch das Fenster des Restaurants auf den Platz, wo Linda die Blumen für den Mittagstisch arrangierte. Sie hob den Kopf und genoß für einige Minuten die Wärme auf dem Gesicht. Heute war Sonntag. Linda trug ein hellblaues Seidenkleid, das sich eng an ihren Körper schmiegte und ihre schlanke Figur voll zur Geltung brachte. Verträumt ordnete sie die Blumen in die schlanken Vasen und faltete die Servietten. Ihr war kaum bewußt, was sie tat, denn in Gedanken war sie bei Colin. Sie mußte einen klaren Kopf bewahren. Colin hatte zwei Nächte mit ihr verbracht und Gefühle in ihr erweckt, von denen sie zuvor nicht einmal zu träumen wagte. Sie liebte Colin, gestand sie sich schließlich ein. Der Gedanke erschreckte sie. Sie liebte einen Mann, der in den Bergen lebte und ihr Leben verachtete, einen Mann, der nichts mehr haßte, als gebunden zu sein. Doch Linda war zu glücklich, um sich von der Angst überwältigen zu lassen. Mochte ihnen beiden vielleicht nur kurze Zeit vergönnt sein, diese aber wollte sie voll auskosten, egal, was folgen würde. „Linda.“ Gregorys Stimme ließ sie zusammenzucken. „Schleichen Sie sich doch nicht so an“, rief sie, mäßigte aber sogleich den Ton, als sie das betroffene Gesicht des Oberkellners sah. „Entschuldigung, es war nicht Ihre Schuld. Ich bin heute nur nervös.“ Gregory nickte höflich. „Hat das etwas mit Ihrem Wochenendbesuch zu tun?“ „Nicht im geringsten“, antwortete Linda leichthin. „Würden Sie bitte nach der Lieferung sehen und überprüfen, ob der Spinat auch wirklich frisch ist. Wir haben heute Spinatsalat auf der Karte.“ Doch Gregory rührte sich nicht von der Stelle. Er legte die Hand auf Lindas Arm und sagte ernst: „Seien Sie vorsichtig. Sie betreten ein gefährliches Gebiet.“ „Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“ „Das wissen Sie genau“, erwiderte er, noch eine Spur arroganter als sonst. „Sie haben sich völlig verändert.“ Obgleich Gregory eine merkwürdige Art hatte, seine Besorgnis zu zeigen, so wußte Linda doch, daß er nur ihr Bestes wollte. Das hatte er schon oft bewiesen. Bis das Geschäft richtig angelaufen war, hatte er sogar ohne Bezahlung im Restaurant gearbeitet. Plötzlich lachte Linda. „Ich habe mich also verändert. Woran mag das nur liegen, Gregory?“ Sie sah ihn belustigt an. „Drehe ich nun durch oder hat mich die Liebe verhext?“ „Das kommt auf das gleiche heraus“, meinte Gregory verächtlich. „Ach, Gregory.“ Linda schüttelte traurig den Kopf. „Sie glauben nicht an die Liebe.“ „Natürlich glaube ich an die Liebe“, erklärte er. „Ich betrachte sie als einen Zustand vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit, die viele Menschen befällt. Glücklicherweise verschonte mich diese Krankheit bislang.“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Ich bitte zu beachten, daß ich den Zustand als vorübergehend bezeichnet habe. Es besteht also die Hoffnung auf Genesung.“ „Wenn der Zustand vorübergeht, dann brauchen Sie sich ja keine Sorgen zu machen“, sagte Linda kühl. Sie fand Gregory überhaupt nicht mehr komisch. „Selbst ein vorübergehender Zustand kann Schaden anrichten“, verkündete Gregory pessimistisch. „Treffen Sie keine drastischen Entscheidungen, bis Sie
wieder klar denken können.“ Beide schwiegen. Gregory nahm die Hand von Lindas Arm. „Seien Sie vorsichtig“, sagte er ruhig und ging in die Küche. Linda stellte die Blumenvasen beiseite und suchte wieder die Wärme des Sonnenlichts. Gregorys Warnungen berührten sie nicht wirklich; sie enthielten nichts, an was sie nicht selbst schon gedacht hatte. Wahrscheinlich befürchtete er, sie würde das Restaurant aufgeben und Colin folgen. Aber das würde sie nie tun. Nein, wie sehr sie Colin auch liebte, sie hatte nicht die Absicht, alles aufzugeben, um mit ihm durch die Wälder zu streifen. Linda schüttelte diese Gedanken ab. Es war viel schöner, an die letzte Nacht zu denken und an den gemütlichen Morgen. Colin hatte zum Frühstück ein Omelett zubereitet und es ihr ans Bett gebracht. Von der Zukunft wurde nicht gesprochen. Nur manchmal drohte Colin im Scherz, sie auf die Arme zu nehmen und in die Berge zu entführen. Wie würde er wohl reagieren, wenn sie sein Angebot annahm? Bei diesem Gedanken schlug ihr Herz schneller. Vielleicht sollte sie wirklich ihre Ziele und Verpflichtungen einfach beiseite schieben und das tun, wonach sie sich sehnte. Es klang verführerisch, aber es war nur ein Traum. Linda seufzte leise und verbat sich diesen romantischen Unsinn. Schon einmal hatte sie geheiratet und geglaubt, daß es die wahre Liebe sei. Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal begehen. Linda erledigte ihre Arbeiten an diesem langen Nachmittag so ordentlich wie immer, aber ihre Gedanken weilten oft woanders. Colin war in der Stadt, um sich ein wenig umzusehen, und sie spürte, wie sie seiner Rückkehr entgegenfieberte. Liebe, was für ein wundervolles, erregendes und zugleich beängstigendes Gefühl! Liebte Colin sie auch? Sie wußte, daß er von ihr berauscht war, doch würde er es Liebe nennen? Wach endlich auf und Sieh der Wahrheit ins Gesicht, befahl sich Linda. Nur auf dich selbst kannst du dich verlassen. Sie griff nach einigen Schecks, um sie in ihrem Büro in den Tresor zu schließen. Auf dem Weg dorthin begegnete sie Colin. „Ich wollte gerade nach oben gehen“, sagte er und zog sie an sich. „Nur zuvor mußte ich dich noch sehen.“ Linda spürte Gregorys tadelnden Blick im Rücken. „Colin, nicht hier. Gehen wir in mein Büro.“ Sie ging voran. Als Colin die Tür geschlossen hatte, drehte sie sich zu ihm um. „Du bist wunderschön“, sagte er und küßte ihre Hand. „Auch du siehst gut aus“, gab Linda das Kompliment zurück. Colin trug ein weißes Hemd und gutsitzende dunkle Hosen, die ihn noch größer erscheinen ließen als sonst. Sein braunes Haar war ordentlich gekämmt, die Schuhe blank geputzt. Er sah sehr zivilisiert aus. Dennoch verhüllte die äußere Erscheinung nur unvollkommen den freien Naturmenschen. Colin zog Linda an sich. Mit einer Hand fuhr er ihr durch das Haar. Aus seinem Gesicht strahlte eine Art glücklicher Triumph, der sie verunsicherte. „Was hast du?“ fragte Linda mißtrauisch. Tief griff Colin in seine Hosentaschen, holte zwei Handvoll Silberdollars heraus und warf die Münzen auf den Schreibtisch. „Hattest du Glück beim Spiel?“ „Du bist mein Glück.“ Er lachte leise und nahm sie in die Arme. „Ich spazierte durch den Park und dachte über uns nach. Dabei versuchte ich herauszufinden,
ob du wohl von allein die richtige Entscheidung treffen würdest, oder ob ich dich entführen müßte.“ Er küßte sie auf das Haar. „Das Letztere war eine starke Versuchung, denn du brauchst so verflixt lange, dich zu entscheiden.“ „So leicht entführt man mich nicht, Colin“, protestierte Linda, obgleich sie vorhin genau das von ihm erhofft hatte. „Ich weiß, aber ich bin ein ungeduldiger Mann.“ Colin seufzte. „Nun, als ich zu diesem Gebäude zurückkam, fand ich eine Vierteldollar-Münze vor dem Eingang. Als ich sie aufhob, wußte ich, daß diese Münze ein Wink des Schicksals war.“ Linda lachte wieder. „Ich wußte gar nicht, daß du abergläubisch bist.“ „Bin ich auch nicht“, antwortete Colin ernst. „Aber an dieser Münze war etwas Besonderes. Wie du weißt, lebte ich eine Zeitlang in Reno, und irgendwann einmal packte mich die Spielleidenschaft, verspielte damals eine ganze Monatsmiete. Ich steckte sie in den ersten Automaten, den ich in Anthony Banks Casino fand. Wenn ich gewinne, schwor ich dabei, würde ich zu dir gehen und dich mitnehmen, ohne Rücksicht auf deine Ausreden.“ „Und du hast gewonnen“, flüsterte Linda. Colin vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. „Ich gewann“, sagte er heiser. „Auch Banks einarmiger Bandit konnte mich nicht schlagen.“ Sie schloß die Augen, spürte seinen Kuß auf ihrer Haut. Wie einfach wäre es doch, sich von ihm in die Wildnis tragen zu lassen. „Bitte nicht“, protestierte Linda, als Colin ihr Kleid öffnen wollte. „Jetzt ist es genug.“ „Genug?“ Er nahm sie wieder in die Arme. „Das soll wohl ein Scherz sein. Du kannst doch einem hungrigen Mann nicht nur eine Vorspeise anbieten und ihm das Steak verweigern.“ „Vergleichst du mich etwa mit einem Steak?“ „Du bist ein Gericht für Götter“, flüsterte er und küßte ihren Nacken. „Ich habe mein Leben lang nach dir gehungert und es nicht einmal gewußt, bis du in diese Ranger-Station kamst.“ Linda hielt den Atem an. Meinte er das tatsächlich? Es klang so aufrichtig. Aber woher sollte sie wissen, daß es nicht wieder nur einer seiner Scherze war. Als Colin sie wenig später verließ, sah Linda ihm noch lange nach und fühlte sich plötzlich verlassen. Wie sehr würde es erst schmerzen, wenn es zum endgültigen Abschied kam. Am späten Abend – Linda wußte die Restaurantgäste bestens versorgt – saß Linda an Colin gelehnt auf der Couch. Sie lauschten der Gitarrenmusik aus der Stereoanlage und hatten schon seit etwa einer halben Stunde kein Wort mehr miteinander gesprochen. „Soll ich ein Kartenspiel holen?“ fragte Linda. „Uns scheint der Gesprächsstoff ausgegangen zu sein.“ Colin zog sie fester an sich. „Dieses Stadium haben wir noch nicht erreicht“, antwortete er. „Ich wußte gar nicht, daß du so ein unruhiger Geist bist.“ Das war sie gewöhnlich auch nicht. Linda hätte eine ganze Nacht mit ihm zusammensitzen können, ohne ein Wort zu sprechen. Doch Colin schien über etwas nachzudenken, und sie fühlte, es hatte mit ihr zu tun. Linda sah Colin ins Gesicht. Sein Blick war abwesend. „Worüber denkst du nach?“ Er antwortete nicht, aber sein Lächeln war schwermütig, als er ihr mit dem Finger über die Stirn fuhr. „Mußt du zurück?“ Linda zwang sich zu dieser Frage. „Ich weiß, deine Arbeit wartet auf dich.“
Colin nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. „Bald“, gab er zu. „Komm mit mir.“ Bei seinen Worten durchfuhr sie ein kalter Schauer. „Mitkommen?“ wiederholte sie, als hätte sie ihn nicht verstanden. Sie wußte, diesmal scherzte er nicht. Sie zitterte plötzlich. „Komm mit mir.“ Er küßte sie sanft und richtete sich auf. „Probier das Leben in den Bergen einmal aus. Versuch es doch einmal, ob du ein wenig von deiner städtischen Eleganz ablegen kannst. Genieße dafür zur Abwechslung die Wildnis.“ „Und Patrick?“ „Natürlich nehmen wir Patrick mit.“ Colin blickte sie eindringlich an. „Sag, daß du mitkommst.“ Linda glaubte, ihren eigenen wilden Herzschlag zu hören. Er wollte sie wirklich! Konnte sie mitgehen? Konnte sie einfach alles aufgeben und mit ihm davonlaufen? „Bedenke, wie heiß es bald in Reno sein wird“, sagte er und lächelte sie verführerisch an. „In den Bergen ist es dann schön kühl und viel angenehmer.“ Wußte er denn nicht, daß das unwichtig war. Seltsam, wie wenig es sie kümmerte, ob sie sich nun in der Wildnis oder im Herzen der Zivilisation befand. Sie wollte nur mit ihm zusammen sein. Und am liebsten ihr Leben lang. „Der Wind in den Pinien“, sagte Linda verträumt und kuschelte sich noch enger an Colin. „Wenn dich das in die Berge lockt, verspreche ich dir täglich einen Sturm.“ Colin lachte. Sag mir, daß du mich liebst, dachte Linda, dann komme ich mit. Laut fragte sie nur: „Beherrschst du auch das Wetter?“ „Nicht direkt“, gestand er, „aber schön wäre es.“ Seine Hände glitten ihren Hals entlang. „Dennoch wird alles perfekt für dich sein: Der See wird wie ein Saphir in der Sonne glitzern, die Vögel werden singen, und die Luft wird so klar und frisch sein, daß du sie auf deinem ganzen Körper spüren möchtest.“ Linda lachte glücklich. „Nur du und ich im Paradies.“ Sie würde mitgehen und nur das Notwendigste von ihrem jetzigen Leben mitnehmen. Natürlich mußte auch Patrick mitkommen und zusammen mit ihr und dem Mann, den sie liebte, ein neues Leben beginnen. Ihr Herz schien ihre Brust sprengen zu wollen. Sie fühlte sich leicht wie eine Feder. „Genau.“ Colin küßte sie auf die Stirn. Ja, ich werde dir folgen, dachte sie glückselig. Das Restaurant und all meine ehrgeizigen Pläne werde ich aufgeben. Und Patrick wird endlich einen Vater bekommen. „Ein Sommer dort draußen wird Patrick gut tun“, fuhr Colin fort und küßte sie wieder. „Er wird der stärkste Junge in seiner Klasse sein, wenn er im Herbst zurückkommt. Das verspreche ich dir.“ Wie eine Seifenblase zerplatzte der Traum. „Gregory kann sich um dein Restaurant kümmern.“ Colin drückte sie fest an seine breite Brust. „Das sind genau die Ferien, die du brauchst.“ Für einen Sommer, nicht länger. Linda hatte an eine Bindung fürs Leben gedacht; Colin aber machte nur Ferienpläne. Sie schloß die Augen, er sollte ihren Schmerz nicht sehen. „Wir können schwimmen und wandern.“ Er redete weiter, aber Linda hörte nicht mehr zu. Sie hatte geglaubt, daß Colin sie für immer wollte. Erst jetzt, als sie dies zu hoffen gewagt hatte, wurde Linda bewußt, wie sehr sie sich danach sehnte. Sie war eine Närrin.
Colin hatte nie etwas anderes als einen gemeinsamen Sommer angestrebt. Oft genug hatte er betont, was er von festen Bindungen hielt und wie sehr er seine Freiheit schätzte. „Was hältst du von einer Tasse Kakao?“ Linda suchte nach einem Grund, das Zimmer verlassen zu können, bevor er ihr Gesicht sah. „Ich gehe in die Küche und mache uns welchen.“ Colin gab sie frei. „Bleib bitte sitzen und ruh’ dich aus“, bat sie ihn und eilte hinaus. Da klingelte das Telefon. „Nimm bitte für mich ab“, rief Linda aus der Küche. Sie hatte jetzt keine Lust, mit irgend jemanden zu telefonieren. Linda schloß die Augen und sammelte sich. Als Colin kurz darauf in die Küche kam, hatte sie wieder genug Kraft, ihm gegenüberzutreten. „Wer war am Telefon?“ fragte sie und holte einen Topf aus dem Schrank. „Da muß sich jemand verwählt haben“, antwortete Colin. „Es wurde sofort aufgelegt.“ Er kam einen Schritt näher. „Linda, was hast du?“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Nichts. Gib mir bitte die Milch aus dem Kühlschrank.“ Noch immer sah er sie forschend an. „In deiner Berghütte kühlt man die Milch wohl im Schnee. Muß ich dich eigentlich morgens mit einer Axt hinausschicken, um sie hereinzuholen?“ Zu Lindas Erleichterung lachte Colin und ging auf ihren scherzhaften Ton ein. Es gelang ihr, den Schmerz zu verdrängen, und die Tränen zurückzuhalten bis tief in die Nacht. Aber sobald Colins gleichmäßiger Atem verriet, daß er schlief, ließ Linda ihren Tränen freien Lauf.
8. KAPITEL Am Morgen hatte Linda ihre Gelassenheit wiedererlangt. Oder wenigstens fast. Sie befürchtete jedoch, daß sie jenes angenehme Stadium völliger Vernunft so schnell nicht wieder erreichen würde, aber sie sah jetzt wenigstens alles realistischer. Gleich einem wilden Tier brauchte Colin die Freiheit. Er hatte sich für eine Weile von ihr einsperren lassen, doch er würde in der Gefangenschaft eingehen. Sie wollte ihn bald freilassen. Und wenn er ging, mußte er alleine gehen. Obwohl Linda nicht direkt zugestimmt hatte, nahm Colin an, sie werde ihn begleiten. Während ihres Frühstücks kam er immer wieder darauf zu sprechen, und Linda hatte ihm nicht widersprochen, weil sie nicht wußte, wie sie ihm ihre Weigerung erklären konnte. Aber sie mußte einen Weg finden. Linda hatte die Wohnung schon früh verlassen, um den Metzger, der das Restaurant belieferte, aufzusuchen. Colin wollte inzwischen in den Zeitungsarchiven der Stadt Nachforschungen anstellen. Die Bestelliste vor sich auf dem Schreibtisch, saß Linda jetzt in ihrem Büro und versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Doch immer wieder sah sie Colins lachende Augen vor sich. „Ach, hier sind Sie!“ „Gregory! Tragen Sie neuerdings Mokassins? Ich erschrecke jedes Mal, wenn Sie sich so anschleichen.“ Der hochmütige Gesichtsausdruck des Oberkellners sagte deutlich, was er von dieser Entschuldigung hielt. Er wußte, daß sie mit ihren Gedanken woanders war, und zeigte offen seine Mißbilligung. „Sie waren den ganzen Morgen fort“, sagte er vorwurfsvoll. „Ich war bei Mr. Mackay, unserem Metzger. Ich hatte Ihnen doch gesagt, daß ich mich über seine Steaks beschweren wollte.“ Gregory nickte nur. „Ihr Bruder versuchte mehrmals, Sie telefonisch zu erreichen. Es scheint sehr dringend zu sein. Sie möchten ihn bitte sofort zurückrufen.“ Angst befiel sie. „Brian?“ Patrick. Ihrem Sohn war etwas zugestoßen. „Was hat er gesagt? Ist Patrick in Ordnung?“ „Rufen Sie Ihren Bruder an“, schlug Gregory vor und reichte ihr den Telefonhörer. Dann verließ er ohne ein weiteres Wort das Büro. Zitternd wählte Linda Brians Nummer. Erleichtert atmete sie auf, als sie die Stimme ihres Bruders vernahm. „Gott sei Dank, daß du da bist. Ich kam gerade zurück und erhielt deine Mitteilung. Was ist los? Wie geht es Patrick? Ist etwas passiert?“ „Bist du fertig?“ fragte Brian. „Natürlich. Nun rede schon, bevor ich verrückt werde.“ „Reg dich nicht auf, dein Kind ist in Ordnung.“ Linda seufzte tief auf. „Was soll das dann alles?“ „Patrick ist wieder einmal weggelaufen.“ „Wie bitte?“ „Keine Panik, wir haben ihn wieder. Er ist in Ordnung.“ „Was ist passiert?“ fragte Linda und sank in ihren Stuhl zurück. „Patrick rückte mitten in der Nacht aus. Wir bemerkten es erst, als Marcy nach oben ging, um zu sehen, weshalb er nicht zum Frühstück kam. Da rief ich dich gleich an.“ „Wo war er?“ „Er wollte nach San Franzisko trampen. Die Autobahnpolizei brachte ihn zurück.“
„Hat Patrick einen Grund dafür angegeben?“ „Nein, er sagt kein Wort.“ Linda unterdrückte alle Vorwürfe. Schließlich war es nicht Brians Schuld. Es hatte keinen Sinn, ihn anzuschreien, nur um die eigenen Schuldgefühle loszuwerden. Sie hätte Patrick nicht allein verreisen lassen dürfen. Aus irgendeinem Grund war er wieder weggelaufen. Was wollte er ihr wohl diesmal damit sagen? Und sie war die ganze Zeit über mit Colin zusammen gewesen. „Ich komme sofort.“ „Keine Eile, Linda“, sagte Brian schnell. „Ich versichere dir, dein Sohn ist gesund und munter in unserer Obhut.“ „Ich komme sofort“, erklärte sie entschlossen. Linda brauchte nicht lange, um ihren kleinen Koffer zu packen. Dann ging sie ins Restaurant und sagte Gregory, daß sie für zwei oder drei Tage fort müsse. „Es tut mir leid. Sie ohne Vorwarnung allein zu lassen. Aber ich muß zu Patrick. Anscheinend braucht er etwas, das ich ihm nicht gebe.“ Linda wich Gregorys Blick aus. „Ein Gefühl der Sicherheit und Kontinuität vielleicht. Ich muß es herausfinden.“ „Lassen Sie sich Zeit. Wir kommen schon zurecht.“ In einer Notlage konnte sie sich immer auf Gregory verlassen. „Fährt Mr. McCloud auch mit?“ fragte er noch. Linda zwang sich, Gregory anzusehen. „Nein, ich hinterlasse für Mr. McCloud eine Mitteilung.“ Sie holte einen Umschlag aus ihrer Tasche. „Bitte geben Sie ihm den Brief, wenn er zurückkommt. Vergessen Sie es bitte nicht.“ Mit einem kurzen auf Wiedersehen verließ sie den Raum. Ungeduldig lenkte Linda den Wagen durch den Stadtverkehr und die Vororte, bis sie endlich die Autobahn erreichte. Ihr silbergrauer Sportwagen schoß wie ein Pfeil die schnurgerade Straße entlang durch die Wüste. Sie lehnte sich zurück in den weichen Ledersitz und versuchte, sich zu entspannen. Nimm das Schicksal wie es ist, sagte sie sich, und denk nicht mehr an Colin McCloud. Doch das war so gut wie unmöglich. Sein Bild verfolgte sie. Ob er den Brief schon gelesen hatte? In Gedanken las Linda den Brief noch einmal. „Patrick braucht mich“, hatte sie geschrieben. „Ich hatte ein wunderschönes Wochenende mit dir, aber jetzt ist es Zeit, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Denk an mich, wenn du wieder durch deine Wälder streifst.“ War das eine deutliche Mitteilung? Das klang eher wie eine Aufforderung, ihr zu folgen. Ganz eindeutig hätte sie ihm sagen müssen, daß zwischen ihnen alles vorbei war. Linda folgte nun der steilen Straße, die hinauf ins Gebirge zum See führte. Die Luft wurde kühler, je höher sie kam, und der Duft von Pinien drang durch das Fenster. Sie fuhr eine Zeitlang am unteren Teil des Tahoe-Sees entlang, mitten durch das Glücksspielparadies, wo hohe Kasinos die Hauptstraße säumten, bis sie endlich die Privateinfahrt zur Wohnanlage am See erreichte. Linda atmete auf. Nachdem sie sich ausgewiesen hatte, ließ der Pförtner sie passieren. Langsam fuhr sie die gewundene Straße Richtung See hinunter, wo sich das Haus, das sie für ihre Familie gekauft hatte, befand. Linda parkte das Auto. „Wie geht es ihm?“ fragte Linda sogleich ihre Stiefmutter, die sie an der Tür begrüßte. „Hat Patrick dir gesagt, warum er weglief?“ Marcy küßte Linda auf die Wange, bevor sie in ihrer ruhigen geduldigen Stimme antwortete. „Nein, er spricht kein Wort darüber. Du mußt ihn schon selbst fragen.“ Sie bemerkte den Koffer in Lindas Hand. „Ich sehe, du wirst für einige Zeit bei uns bleiben.“ Seufzend stellte Linda den Koffer ab. „Ich muß wohl, meinst du nicht auch? Ich
will herausbekommen, was Patrick beunruhigt.“ „Du weißt, du bist uns immer willkommen.“ Langsam ließ Lindas innere Spannung nach. So erging es ihr immer in Marcys Gegenwart. Diese zierliche Frau mit den grauen Augen, dem schwarzen dicken Zopf auf dem Rücken und dem Indianerschmuck an Hals und Armen strahlte große Ruhe aus. Angst und Ärger verschwanden unter Marcys friedvollem Lächeln. Ihr sah man die indianische Abstammung weniger an als ihrem Sohn Brian. Linda nahm ihre Stiefmutter noch einmal in die Arme. „Ich gehe gleich zu Patrick“, sagte sie. „Ich nehme an, er ist wieder mit einem seiner Spiele beschäftigt.“ Linda irrte sich nicht. Als sie das Zimmer ihres Sohnes betrat, saß er auf seinem Bett und gab vor, so in das Spiel vertieft zu sein, daß er seine Mutter nicht bemerkte. „Patrick.“ Sie stellte sich neben das Bett. „Liebling, warum bist du wieder weggelaufen?“ Ohne aufzublicken, ordnete er die Zettel, die überall verstreut lagen. „Ich bin sehr beschäftigt, Mutter.“ Seine Stimme klang so förmlich, daß es Linda weh tat. Traurig zog sie die Hand zurück, mit der sie ihm über den Kopf streicheln wollte. Patrick sah so jung und verletzlich aus. „Wir bestehen ein Abenteuer“, erklärte er, blickte aber Linda noch immer nicht an. „Hier sind die Ritter, die Bogenschützen, ein Zwerg und eine Elfe, und wir sind auf dem Weg zur Höhle des Chaos, um einen Kaufmann und seine Frau zu retten.“ Gern hätte Linda Patricks Abenteuergeschichte unterbrochen, die sie schon so oft gehört hatte, wenn auch meist nur mit halbem Ohr. Sie zügelte ihre Ungeduld. Vielleicht half es, wenn sie einmal richtig zuhörte. Sie setzte sich neben Patrick auf das Bett und versuchte, am Spiel teilzunehmen. „Sonst begleiten dich doch auch ein Zauberer und ein Priester?“ Patrick nickte mit ernstem Gesicht. „Der Zauberer wurde von einem Riesen getötet und der Priester geriet in die Falle der bösen Geister.“ Noch ‘immer wagte Linda nicht, ihren Sohn in die Arme zu nehmen. Sie spürte seine Zurückhaltung. „Dann brauchst du aber das Zauberschwert“, sagte sie. „Ja.“ Patrick mischte seine Zettel und würfelte. „Ich muß die beiden Riesenspinnen töten, die das Schwert bewachen.“ Linda nahm eine der Zinnfiguren auf, die Patrick so liebevoll angemalt und jetzt achtlos aufs Bett geworfen hatte. „Was dann?“ „Wir müssen die bösen Zwerge vertreiben, die unsere Burg ausspionieren, und dann werden wir den Drachen erschlagen.“ Zum ersten Mal blickte Patrick auf. Linda wagte ein schwaches Lächeln, auf das er aber nicht reagierte. „Du willst also in die Burg zurück?“ „Nein, ich werde nicht zurückgehen. Der Kastellan braucht mich nicht mehr. Er fand einen neuen Hauptmann und hat keinen Platz mehr für mich.“ „Warum glaubst du das, Liebling?“ Patrick betrachtete wieder seine Papiere und Landkarten. „So etwas merkt man. Ich muß allein weiterziehen. Vielleicht werde ich die Höhle des Chaos erforschen oder andere Abenteuer suchen.“ „Ich glaube, das wäre falsch“, sagte Linda und unterdrückte ihren Protest. „Geh lieber zum Kastellan deiner Burg zurück. Du bist doch sein höchster Offizier, und niemand kann für ihn wichtiger sein.“ Nervös stellte sie die Figuren in eine Reihe. „Wieso glaubst du eigentlich, daß er dich nicht mehr will?“ Patrick erstarrte. Plötzlich warf er alle Papiere in einen Karton. „Du hast mir gesagt, daß du mit Anthony Schluß gemacht hast“, rief er mit erstickter Stimme. „Du hast es versprochen.“
Noch wollte er nicht berührt werden, das wußte Linda. „Ich habe mit Anthony gebrochen, du weißt es, Patrick.“ „So, wirklich? “ Mit rotgeweinten Augen sah er sie anklagend an. „Wieso war er dann gestern nacht bei dir, als ich versuchte, dich anzurufen?“ „Ach Patrick.“ Jetzt nahm sie ihn in die Arme. „Das war nicht Anthony.“ Ihr fiel der Anruf ein, den Colin für sie beantwortet hatte. Patrick blieb in ihren Armen, rührte sich aber nicht. „Wer war es dann?“ „Colin McCloud, der Ranger, der dich aus der Höhle gerettet hat.“ „Colin?“ Patrick sah sie erstaunt an. „Was hat er bei uns gewollt?“ „Er kam uns besuchen.“ Linda versuchte die Gedanken ihres Sohnes zu lesen. Er schien erleichtert, daß es nicht Anthony gewesen war, aber er hätte es vorgezogen, wenn überhaupt kein Mann dagewesen wäre. „Ist er wieder weg?“ fragte Patrick hoffnungsvoll. „Ich glaube, er ist wieder in die Berge zurückgekehrt“, sagte Linda zögernd und nickte. Langsam erhellte ein Lächeln Patricks Gesicht. „Ich freue mich, daß du gekommen bist, Mutti“, erklärte er fast fröhlich. „Wie lange kannst du bleiben? Willst du mit uns segeln? Onkel Brian hat es mir für morgen versprochen.“ Er umarmte Linda, sprang vom Bett und wollte den Tag genießen. „Gehen wir nach dem Essen schwimmen?“ schlug er .vor und zog seine Mutter die Treppe hinunter. „Kannst du denn mit deinem Fuß schon wieder schwimmen?“ „Na klar. Ich nehme nur die elastische Binde ab und springe ins Wasser.“ Wahrscheinlich hatte Patrick die Krücken unter dem Bett versteckt. Seufzend gab Linda auf und folgte ihm. Sie würde den Rest des Nachmittags mit dem Jungen verbringen. Vielleicht gelang es ihr, bis zum Kern des Problems vorzudringen. Während des Nachmittags sah Linda immer wieder auf die Uhr und überlegte, was Colin wohl gerade machte. Inzwischen mußte er ihren Brief gelesen haben. Ob er seine Sachen jetzt ins Auto packte, um zurück in seine Berge zu fahren? War er ihr böse, vielleicht auch ein wenig traurig? Der Gedanke, ihn nie wiederzusehen, machte sie fast krank. Sie liebte Colin, aber sie mußte sich beherrschen. Es gab jetzt wichtigere Dinge als ihren eigenen Schmerz. Sie mußte vernünftig bleiben. Marcys Gegenwart half. Die Ruhe in diesem Haus übertrug sich auf Linda. Ihre Stiefmutter hatte das Haus mit einfachen natürlichen Holzmöbeln und peruanischen Teppichen eingerichtet. Webarbeiten, die Marcy selbst angefertigt hatte, zierten die Wände. Wie versprochen verbrachte Linda den Nachmittag mit Patrick, spielte mit ihm Schach und schwamm ein wenig. Später half sie Marcy bei der Vorbereitung des Abendessens, während der Junge vor dem Fernseher saß. „Hat er dir verraten, warum er weggelaufen ist?“ fragte Marcy. „Patrick rief mich gestern nacht an. Als ein Mann antwortete, dachte er, es sei Anthony.“ „Liebst du Anthony eigentlich noch9 Möchtest du ihn zurückhaben?“ „Nein.“ Linda sprach schärfer, als sie eigentlich beabsichtigte. „Patricks Einwendungen hatten nichts mit der Auflösung unserer Verlobung zu tun.“ Marcy nickte nur und schob ihren Auflauf in den Ofen. Dann ging sie ans Fenster und blickte zum See. Offensichtlich dachte Marcy, daß Linda Patricks Einwendungen nur vorschob, um einer Bindung auszuweichen, die sie erschreckte. Was würde sie wohl sagen, wenn Linda ihr erzählte, daß sie mit Anthony Schluß gemacht hatte, weil sie sich in Colin verliebte hatte?
Brian erschien nicht zum Essen. Linda nahm an, er sei in seiner Eisdiele beschäftigt. Nach dem Essen setzte sich Marcy an den Webstuhl, und Linda ging mit Patrick zum See hinunter. In der Dunkelheit schien Colin entfernter denn je. Nur wenn Linda die Augen schloß, konnte sie ihn sehen. Eines Tages würde auch das vorbei sein. Das Wasser des Sees war schwarz, aber die Sterne spiegelten sich in ihm. Die Lichter kleiner Boote leuchteten auf. „Brian will ein Boot kaufen“, erzählte Patrick. „So, so, hat er dir auch gesagt, womit er das bezahlen will?“ Linda lachte. Patrick schaute sie beleidigt an. „Brian hat viel Geld“, informierte er seine Mutter. „Sieh dir nur sein neues Auto an.“ Ein neues Auto? Wozu brauchte Brian ein neues Auto? „Dann wirst du auf das Boot wohl noch ein bißchen warten müssen.“ „Brian wird es bald kaufen“, beteuerte Patrick hartnäckig. Linda gab auf und blickte aufs Wasser. „Ich wünschte, wir hätten jetzt ein Boot“, sagte sie leise mehr zu sich selbst als zu ihrem Sohn. „Dann könnten wir einfach davonfahren.“ Sehnsüchtig beobachtete sie ein Boot, das langsam auf den Steg der Wohnanlage zusteuerte. Warum rufe ich es nicht einfach heran und bitte den Fahrer, mich mitzunehmen? Mitnehmen? Wohin? Vielleicht in die Berge? Entschlossen drehte sich Linda um und stieg die Treppe zur Terrasse der Wohnanlage hoch. „Sieh mal“, rief Patrick plötzlich. „Da kommt jemand.“ Linda blickte zurück und sah, daß das kleine Boot an ihrem Steg angelegt hatte. Ein großer Mann stieg aus und näherte sich ihnen. „Colin.“ Unwillkürlich flüsterte sie seinen Namen. Patrick warf ihr einen Blick zu und sah dann zu dem Mann. Wortlos drehte er sich um und lief ins Haus. Linda wollte ihm nacheilen, doch eine unwiderstehliche Kraft hielt sie auf der Terrasse zurück. Kurz vor Linda blieb Colin stehen und schaute sie an. Er trug weiße Bootskleidung, die im Mondlicht leuchtete. Die harten Linien seines Gesichts wurden von der Dunkelheit noch hervorgehoben. „Sieh mich nicht so ängstlich an.“ Seine Stimme klang hart. „Ich bin kein Wassergeist.“ Vor Verwirrung konnte Linda nichts erwidern. Unglaubliche Freude, ihn wiederzusehen, mischte sich mit Trauer, den schmerzvollen Abschied noch einmal erleben zu müssen. Vor allem aber verspürte sie entsetzliche Angst. „Patrick scheint es wieder gutzugehen“, fuhr Colin fort, da sie nichts sagte. „Was hat er diesmal angestellt?“ „Er dachte… er hatte Angst…“ Linda hatte ihre Stimme kaum unter Kontrolle. „Das war Patrick gestern abend am Telefon, nicht wahr?“ unterbrach Colin ihren vergeblichen Versuch einer Erklärung. „Er befürchtete, seine Mutter zu verlieren, und hielt es für angebracht, dich daran zu erinnern, was dich erwartet, wenn du dich mit einem Mann einläßt.“ Linda versuchte es abzuleugnen. Mit zwei Schritten war Colin bei ihr, hatte sie in die Arme genommen und hielt sie so fest, als wollte er sie nie wieder gehen lassen. „Was soll ich nur mit dir machen?“ fragte er rauh. „Du bist wie Quecksilber. Immer wenn ich glaube, dich zu halten, schlüpfst du mir wieder durch die Finger.“ Sie durfte ihn nicht ernst nehmen, nichts von ihm erwarten. Scherzhaft sagte sie deshalb: „Sei doch froh, daß ich nicht wie Pinienharz bin, sonst wärst du die
ganze Zeit damit beschäftigt, mich loszuwerden.“ „Nein.“ Aus seiner Stimme klang Ärger. „Aber manchmal glaube ich, Katzengold in der Hand zu halten, schön anzusehen, aber leider nicht echt.“ Colin streichelte zärtlich ihren Rücken. Wenn er doch nur das richtige Wort fände, könnte er alles von mir haben, dachte Linda und schmiegte sich an seine Brust. „Warum bist du noch nicht in deiner Wildnis, wo du hingehörst.“ Colin schnaubte verächtlich und drückte sie fest an sich. „Weil ich nur wild werde, wenn ich an dich denke. Soll ich es dir beweisen?“ Sein Mund begann ihren Nacken zu erforschen. Linda spürte seine Lippen, seine Zähne, seine Zunge, und zitterte vor Erregung. Seine Hände umfaßten ihr Gesäß und preßten ihren Körper an sich, damit sie sein Verlangen spürte. „Ich habe dich vermißt“, sagte Colin heiser und küßte ihren Mund. „Laß mich nie wieder so zurück.“ Liebe durchströmte Linda. Mit ihrem Körper wünschte sie ihm zu zeigen, was ihr Herz empfand. Doch dies war weder der Ort noch die Zeit dafür. „Wie hast du mich gefunden?“ „Ich setzte Gregory Daumenschrauben an.“ Entsetzt blickte Linda ihn an. Colin grinste. „Keine Angst, dein Oberkellner lebt noch. Ich nahm ihm nur den Schlüssel für den Weinkeller ab und drohte, eine Flasche nach der anderen mit den teuersten französischen Rotweinen auf den Boden fallen zu lassen. Daraufhin verriet er mir sofort, wo ich dich finde.“ „Armer Gregory. Ich wette, er bekam einen seiner Anfälle, kaum daß du fort warst.“ „Das bezweifle ich“, sagte Colin trocken. „Schließlich warst du nicht da, um ihn zu beruhigen.“ Er verzog spöttisch das Gesicht. Erstaunt sah sie zu ihm auf. „Was willst du damit sagen?“ Colin ließ die Hände über ihren Körper gleiten, ertastete jede Kurve, jede Rundung. „Nichts“, sagte er. „Vergiß es.“ Erregt flüsterte er: „Komm mit ins Boot. Wir lassen uns auf den See hinaustreiben und lieben uns im Mondlicht.“ „Wie die Wilden“, flüsterte sie zurück. „Ganz wild“, versprach Colin und zog sie von der Terrasse hinunter zum Ufer in den Sand, wo die Schatten dunkler waren. Er knöpfte hastig ihre Seidenbluse auf und schob den Büstenhalter weg. Mit den Lippen eroberte er ihre Brüste und ließ die Zunge leidenschaftlich um die Brustwarzen kreisen. Seine Haut war kühl und überraschend zart. Mit einem Hunger, der aus der Tiefe ihrer Seele zu kommen schien, tasteten sich ihre Hände immer weiter. Linda sehnte sich nach ihm mit einem fast schmerzhaften Verlangen. Wie hatte sie nur glauben können, sie wäre fähig, ihn aufzugeben. Colin gehörte zu ihr; ein Leben ohne ihn war unvorstellbar. Wild preßte Colin seine Lippen auf ihren Mund und drang mit der Zunge in ihn ein. Linda stöhnte, drückte sich an ihn, wollte ihn mit ihrem ganzen Körper halten. „Du bist die Wilde“, flüsterte er und lachte leise. „Du kannst nicht einmal warten, bis wir mit dem Boot draußen sind. Du möchtest, daß wir uns gleich hier am Strand lieben.“ Er hatte recht, und Linda schämte sich ihres Begehrens nicht. Doch Geräusche aus der Richtung des Hauses zerstörten abrupt die Hoffnung auf Erfüllung ihres Verlangens. Brian sprach mit Marcy, während er die Glastür öffnete und auf die Terrasse trat. Schnell wandte Linda sich von Colin ab und ordnete ihre Kleidung.
9. KAPITEL Brian schaltete die Terrassenbeleuchtung an und sah Linda und Colin nach oben kommen. „Ich dachte, hier draußen ist es verdächtig ruhig“, sagte er und blickte Linda amüsiert an. „Aber ich hätte wohl nicht stören sollen.“ Colin legte seinen Arm um Linda und antwortete: „Das nächste Mal machen wir mehr Geräusche.“ Zur Begrüßung reichte er Brian die Hand. „Ich bin Colin McCloud, und ich versichere Ihnen, daß Linda kein Leid geschehen ist.“ Brian ergriff die Hand und musterte Colin von oben bis unten. Linda merkte, daß ihrem Bruder gefiel, was er sah. „Planten Sie etwa, Linda zu entführen?“ fragte er. „Genau das war meine Absicht, aber das hätte ihr nicht geschadet“, versicherte Colin. „Ich wage nur nicht darauf zu wetten, wer dann wen entführt hätte.“ „Brian!“ Linda sah ihren Bruder tadelnd an. „Dieser unverschämte Bursche ist mein Bruder Brian“, stellte sie ihn Colin vor. „Brian, Colin ist der Mann, der Patrick aus der Höhle gerettet hat.“ „Du brauchst mir die Beziehung zwischen euch nicht zu erklären.“ Brian nickte und lächelte durchtrieben. Wütend blickte Linda ihn an und deutete dann auf die Terrassentür. „Gehen wir hinein, damit Colin auch Marcy kennenlernt. Ist Patrick in seinem Zimmer?“ „Ja.“ Brian hielt den Vorhang zur Seite, damit sie eintreten konnten. „Geh ruhig zu ihm. Ich stelle deinen Freund inzwischen Marcy vor.“ Dankbar nahm Linda den Vorschlag an und eilte hinauf zum Zimmer ihres Sohnes. „Patrick.“ Sie klopfte an die Tür und trat ein. Das Zimmer war dunkel. Patrick hatte sich unter der Bettdecke verkrochen. „Liebling, Colin McCloud ist unten. Er möchte dich gern sehen.“ Die kleine Gestalt in dem Bett rührte sich nicht. „Ich bin müde. Gerade war ich am Einschlafen, als du hereinkamst.“ Linda zögerte. Zuerst wollte sie darauf bestehen, daß er aufstand und hinunterging, doch dann dachte sie daran, wie unglücklich er gewesen war und auf wie vieles er schon in seinem kurzen Leben hatte verzichten müssen. Sie wünschte ihm daher eine gute Nacht und ging. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Versprich mir aber, daß du nicht wieder wegläufst“, bat sie leise. Patrick antwortete nicht. „Versprich es“, wiederholte sie lauter. „Na gut“, sagte er monoton. „Ich werde heute nacht nicht fortlaufen.“ Linda ging noch einmal zu ihrem Sohn und küßte ihn auf die Stirn. Dann lief sie nach unten. Lachen ertönte aus dem Wohnzimmer, wo Colin sich mit Marcy und Brian unterhielt. Colins Charme wirkt bereits auf die Mitglieder meiner Familie, dachte Linda und lächelte. „Nachdem ich herausgefunden hatte, daß Linda sich in einer abgesicherten Anlage verschanzt, beschloß ich, über das Wasser einzudringen und Stacheldraht und Wächter zu umgehen“, erzählte Colin, als Linda eintrat. Er schaute auf, und ihre Blicke trafen sich. Ein Schauer durchrieselte ihren Körper. „Du hättest den Wächter nur bitten müssen, uns anzurufen“, sagte Linda und setzte sich neben Colin auf die Couch. „Dann hätte er dich auf unsere Weisung hin durchgelassen.“ „Ich war mir dessen nicht so sicher.“
Das Lächeln verschwand aus Colins Augen. „Glücklicherweise“, fuhr er fort, und wandte sich wieder an die anderen, „wohnt ein guter Freund von mir auf der gegenüberliegenden Seite des Sees. Er stellte mir sein Boot für die Invasion zur Verfügung.“ „Das ist es also“, bemerkte Linda spitz, „eine Invasion. Bist du etwa als Eroberer gekommen?“ Sie liebte ihn und freute sich, daß auch ihre Familie ihn mochte. Dennoch ärgerte sie sich, daß Marcy und Brian es ihm so leicht machten. Linda fühlte sich in die Ecke getrieben. „Ganz richtig.“ Colins Augen schienen sie hypnotisieren zu wollen. „Dem Sieger gehört die Beute. Das ist seit Urzeiten so.“ Beinahe hätte Linda laut gelacht, aber nicht vor Vergnügen. „Der Sieger steht gewöhnlich erst am Ende einer Schlacht fest“, erinnerte sie ihn. „Vielleicht gewinnst du gar nicht den Preis.“ Colin betrachtete sie fröhlich. „Das wäre auch eine Möglichkeit“, meinte er. „Fast bin ich geneigt, dich siegen zu lassen, nur um herauszufinden, welchen Preis du verlangen würdest.“ Linda wurde rot und rutschte in die Ecke der Couch. Aufrecht und steif saß sie da und ärgerte sich über Colin, der sie vor ihrer Familie bloßgestellt hatte. Besonders Marcy schien Colin zu mögen. Als sie ihm ihre Webarbeiten zeigte, wußte Linda, daß er ihre Tests bestanden hatte. Auch Brian zeigte offen seine Zuneigung. Wieder fiel Linda der teure Anzug ihres Bruders auf. Sie fragte sich, wieso er in dieser Kleidung in der Eisdiele arbeitete. Doch dann legte Colin seine Hand auf ihre Schulter, und das überwältigende Gefühl seiner Nähe ließ sie alles um sich vergessen. „Es tut mir so leid, daß wir keine Gästezimmer haben und Sie nicht einladen können, über Nacht zu bleiben“, sagte Marcy. Linda wußte, daß dies eine leise Andeutung für Colin war, sich zu verabschieden. „Kein Problem“, antwortete Colin höflich und erhob sich. „Ich wohne bei meinem Freund.“ „Dann hoffe ich, Sie beim Frühstück bei uns zu sehen“, sagte Marcy herzlich und reichte Colin die Hand. „Ich werde mit dem ersten Sonnenstrahl hier sein“, versprach er. „Linda möchte Sie sicherlich hinausbegleiten“, schlug Marcy diplomatisch vor. „Brian und ich gehen schon nach oben. Wir sehen uns dann also morgen früh.“ Linda begleitete Colin hinaus in die kühle Nachtluft. „Komm mit“, flüsterte er und zog sie in die Arme. „Wir haben noch genug Mondlicht.“ „Gehört das auch zu deinem Schlachtplan?“ fragte sie und lächelte. „Glaubst du, ich verlasse so schnell meine Verteidigungslinie?“ Colin wiegte sie in seinen Armen und lachte leise. „Du weißt doch, bei diesem Kampf können wir beide gewinnen“, erinnerte er sie. „Verlieren werden wir nur, wenn wir auf das erregende Kampfgefühl verzichten.“ Der folgende Kuß steigerte ihre Empfindungen füreinander. Linda befreite sich und lachte leise. Vorsichtig rückte sie etwas von ihm ab. „Ich fühle mich bereits wie ein Schlachtfeld“, sagte sie. „Jetzt brauche ich eine Pause, um mich zu erholen.“ „Keine Liebe im Mondschein?“ Bedauernd schüttelte Linda den Kopf. „Du weißt, es geht nicht.“ Colin seufzte enttäuscht. Sanft nahm er ihr Gesicht in beide Hände und streichelte es. Langsam fuhren sie ihren Nacken entlang nach unten zu ihren Brüsten und weiter hinab über ihren Bauch, ihre Hüften.
„Colin, bitte nicht.“ Sie fühlte, wie sie unter seiner Berührung entflammte. „Ich präge mir nur jeden Zentimeter von dir ein“, sagte er. „Damit ich heute nacht davon träumen kann.“ Nach einem letzten innigen Kuß rannte Colin die Holztreppe zum Bootssteg hinunter. Linda blickte ihm nach, hörte den Motor anspringen und sah das Boot langsam auf den See gleiten. Die Lichter wurden immer kleiner, aber sie wandte sich erst ab, als das Boot hinter einer Biegung verschwand. Zu viele Worte waren ungesagt geblieben, zu viele Probleme mußten noch besprochen werden. Linda wollte wissen, weshalb er gekommen war, was er von ihr erwartete. Ein Verhältnis auf Zeit kam für sie nicht in Frage, auch das mußte sie noch klarstellen. Doch all das konnte warten. Im Augenblick war sie glücklich, daß er hier war, und am liebsten wäre sie ihm über das Wasser nachgeeilt. Colin kam nicht mit dem ersten Sonnenstrahl, wie er angedroht hatte, aber auch nicht sehr viel später. Linda hörte sein Boot anlegen und eilte ihm entgegen. Bewundernd betrachtete er sie in ihren weißen Shorts und dem dunkelblauen Hemd. „Guten Morgen, schöne Frau.“ „Hallo“, antwortete sie fast schüchtern. „Hast du gut geschlafen?“ „Wie ein Baby.“ Colin lächelte und ließ sie nicht aus den Augen. „Hast du mich nicht nach dir rufen hören?“ Linda lachte und rannte in seine offenen Arme, atmete seinen frischen männlichen Duft ein, schmiegte sich an seine harte Brust, fühlte seine zärtlichen Hände. „Träume sind nicht genug“, sagte er mit rauher Stimme und drückte sie fest an sich. „Ich brauche die Wirklichkeit. Laß mich nicht noch eine Nacht allein verbringen, Linda.“ Ein Geräusch aus der Richtung des Hauses erinnerte sie daran, daß ihr Sohn bald aufwachen würde. Nur ungern löste sie sich aus Colins Armen. „Komm mit“, sagte Linda zärtlich. „Ich habe ein opulentes Frühstück für dich vorbereitet.“ Folgsam setzte er sich an den Küchentisch. Linda servierte ihm frisch gepreßten Orangensaft und ein großes Omelett mit Käse und Schinken. Im allgemeinen interessierte sich Linda nicht besonders fürs Kochen, es sei denn, es handelte sich um die exotischen Gerichte ihres Restaurants. Doch es bereitete ihr besondere Freude, den Mann, den sie liebte, zu verwöhnen. Eine friedliche halbe Stunde verbrachten sie allein in der sonnendurchfluteten Küche. Marcy schlief morgens lange, da sie gewöhnlich bis spät in der Nacht in ihrem Studio arbeitete. Brian hatte das Haus bereits verlassen, bevor Linda aufgestanden war. „Ich hoffe, du magst dicke Männer“, stöhnte Colin, lehnte sich zurück und klopfte auf seinen Bauch. „Denn das werde ich mit Sicherheit, wenn du mich weiter so fütterst.“ Patrick erschien in der Tür. Er blickte schockiert auf Colin, zögerte noch einen Augenblick und wollte weglaufen. Doch Colin gelang es, noch rechtzeitig aufzuspringen und eine Hand auf die Schulter des Jungen zu legen. „Guten Morgen, du Höhlenforscher“, begrüßte Colin ihn freundlich. „Setz dich und iß von dem großartigen Frühstück, das deine Mutter zubereitet hat. Dann bist du fit für den ganzen Tag.“ In Patricks Gesicht spiegelte sich sein innerer Kampf wider. Linda erwartete, daß er die erste Gelegenheit zum Weglaufen ergreifen würde. Doch zu ihrer Überraschung schien ihn Colin einzuschüchtern. „Na gut“, sagte Patrick mit Leidensmiene und setzte sich neben Colin. „Ich mag
aber keine Eier.“ „Ich bin sicher, sie mögen dich auch nicht“, antwortete Colin. „Trotzdem sind sie bereit, ihr Leben für deine Ernährung zu opfern.“ Patrick sah Colin von der Seite an und lächelte zögernd. „Wir können ihnen das Opfer ersparen.“ Colin tat entsetzt. „Willst du sie etwa entkommen und in die Welt hinausziehen lassen? Das kannst du doch wirklich nicht zulassen.“ „Warum nicht?“ Patrick lachte jetzt. Traurig schüttelte Colin den Kopf. „Hast du schon einmal ein Ei hinaus in die Welt ziehen sehen? Das ist kein schöner Anblick, es zerbricht unter der Belastung.“ „Dann haben wir die Bescherung!“ platzte Patrick heraus. „Die hätten wir nicht, wenn du sie nicht mit deiner Weigerung, das Ei zu essen, heraufbeschworen hättest.“ Patrick und Colin prusteten vor Lachen. Erstaunt beobachtete Linda die Szene. Das war zu schön, um wahr zu sein. Colin schien jeden um den Finger wickeln zu können. Schließlich ließ sich Patrick von Colin überreden, wenigstens einen Happen vom Omelett zu versuchen und er gab zu, daß es gar nicht so schlecht schmeckte. Und dann schmiedeten die beiden Pläne für den Tag. „Ich habe Wasserski im Boot“, sagte Colin. „Wir könnten uns ein ruhiges Plätzchen auf dem See suchen und sie ausprobieren.“ „Spitze!“ rief Patrick begeistert. „Ich kann aber nicht Wasserskilaufen“, sagte Linda und hoffte, sie würden einen anderen Vorschlag machen. Colin sah Patrick verschwörerisch an. „Sie kann nicht Wasserski fahren“, sagte er bedeutsam. Patrick lachte. „Sie ist ein bißchen steif und braucht mindestens zehn Versuche, bis sie aus dem Wasser kommt.“ Colin nickte vergnügt. „Das wird ein Spaß, und wenn sie es nicht schafft, benutzen wir sie als Köder. In der Mitte des Sees soll es besonders große Barsche geben.“ „Einen Moment mal.“ Linda stellte ihre Kaffeetasse auf den Tisch. „Erstens bin ich nicht steif, und zweitens weigere ich mich, von euch über den See gezerrt zu werden. Ich schaue nur zu.“ Aber dann ließ sich Linda doch überreden, es zu versuchen. Die Sonne war so warm, der See so blau, und Colin und Patrick schienen so viel Spaß zu haben, daß Linda einfach kein Spielverderber sein wollte. Beim fünften Versuch endlich knickten ihre Beine nicht mehr ein. Mit rundem Rücken und gebeugten Knien schoß sie sechs Sekunden lang wie ein Pfeil über das Wasser. „Siehst du“, sagte Colin und half ihr ins Boot. „Du bist doch kein hoffnungsloser Fall.“ Das würde er ihr büßen. Er hatte ohnehin schon ein beachtliches Schuldenkonto bei ihr. Aber Patricks glückliches Gesicht entschädigte sie für einen großen Teil der Scherze, die heute auf ihre Kosten gemacht wurden. Als sie müde von Sonne und Luft nach Hause fuhren, war Linda zufrieden wie schon lange nicht mehr. Sie duschten und aßen den Mittagsimbiß, den Marcy vorbereitet hatte. Danach ließ sich Colin von Patrick zu einem Spiel überreden. „Ich bin der Kerkermeister“, schlug Patrick vor. „Und du ziehst aus, ein Abenteuer zu erleben.“ Die Augen des Jungen glänzten. „Das wird ein Spaß.“ Als Colin sich erhob und Patrick ins Haus folgte, warf Linda ihm einen dankbaren
Blick zu. Sie fühlte sich erschöpft und ging in ihr Zimmer, legte sich auf das Bett, schlief ein und wachte erst Stunden später auf. Schlaftrunken lauschte Linda dem Rauschen des Windes in den Pinien. Dann vernahm sie auch die Beatmusik aus Patricks Zimmer. War das Spiel vorbei? War Colin etwa schon fort? Sofort war sie hellwach, sprang aus dem Bett und rannte zum Fenster. Erleichtert stellte sie fest, daß das Boot noch am Steg dümpelte. Sie bürstete rasch ihr Haar und rannte nach unten, um zu sehen, was er machte. Sie fand Colin in Marcys Studio, wo er sich interessiert die Webarbeiten ansah. „Ich benutze nur Naturfarben“, erklärte Marcy. „Jede wird aus Pflanzen hergestellt, die ich selbst in Neumexiko oder Arizona sammele. Natürlich färbe ich auch alles selbst.“ Sie zeigte Colin einen Wollstrang in einem tiefen Purpurrot. „Diese Farben sind viel lebhafter als die, die man sonst sieht“, antwortete Colin und registrierte mit einem Lächeln Lindas Auftauchen. „Ihnen verdankt die fertige Arbeit zum Großteil ihre Schönheit.“ „Marcys Arbeiten sind Kunstwerke“, sagte Linda stolz und zeigte auf ihr Lieblingsstück an der Wand. Der Wandteppich stellte eine Wüstenlandschaft in den Farben Beige, Braun und Orange dar. „Du hast recht.“ Colin trat neben Linda und bewunderte den Wandteppich. „Wo stellen Sie Ihre Arbeiten aus?“ fragte er Marcy. „Es gibt ein paar Galerien in der Stadt, die sie gelegentlich zeigen. Einzelne Stücke konnte ich durch sie schon verkaufen.“ Sie lächelte ein wenig traurig. „Aber der Stil paßt nicht so recht zu dieser Gegend. Meine Wandbilder gehören in den Südwesten.“ „Mir wurde ein Platz in der Künstlerkolonie von Sedona in Arizona angeboten“, fuhr Marcy fort und warf Linda einen flüchtigen Blick zu. „Dort leben und arbeiten die verschiedenartigsten Künstler in einer Gemeinschaft. Es soll ihnen sehr gutgehen. Eine Frau aus Tucson hat ihnen von mir erzählt…“ Sie sprach nicht weiter und ging langsam zum Fenster. „Aber es ist so weit weg“, sagte sie leise. „Du solltest einen Webclub oder so etwas in dieser Gegend gründen“, schlug Linda vor. „Ich weiß, du wärst glücklicher, wenn du mit Menschen zusammen bist, die dein Interesse teilen.“ „Vielleicht“, antwortete Marcy und wechselte das Thema. „Wie wäre es mit einem Eistee auf der Terrasse? Wir könnten den Booten zusehen.“ Der späte Nachmittag ging in den Abend über, und noch immer saßen sie auf der Terrasse und plauderten. Linda genoß die friedliche Atmosphäre. Eine Bries’e vom Wasser hielt die Mücken fern, und die tiefstehende Sonne erwärmte angenehm ihr Haar. Doch sie spürte Colins innere Unruhe. Wieder einmal war er für sie zahm geworden, doch er würde seine wahre Natur nicht mehr lange zügeln können. Colin lud sie alle zum Abendessen in ein Restaurant ein, aber Marcy lehnte ab. „Nehmt Patrick mit“, sagte sie. „Ich habe noch zu arbeiten.“ „Kommt Brian nicht zum Essen?“ fragte Linda. „Ich habe ihn seit meiner Ankunft kaum gesehen. Er scheint hart zu arbeiten, das ist ganz ungewöhnlich für ihn. Vielleicht sollten wir ihn einmal in der Eisdiele besuchen.“ „Nicht heute abend“, wehrte Marcy ab. Linda wollte ihre Stiefmutter nach dem Grund fragen, aber da kam Patrick angelaufen. Begeistert nahm er Lindas Vorschlag auf, mit Colin und ihr essen zu gehen. Sie fuhren in Lindas Auto zum Restaurant. Sie trug ein grünes Seidenkleid und freute sich, daß Colin ein Jackett und ein weißes Hemd angezogen hatte. Doch jede seiner Bewegungen verriet die Raubkatze unter der zivilisierten Kleidung,
und sie wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis sie ausbrach. „Laßt uns zum ,Golden Lion’ fahren“, schlug Colin vor. „Es sei denn, ihr habt einen anderen Wunsch. Ich esse dort häufig, wenn ich in dieser Gegend bin.“ Das Restaurant befand sich im mehrstöckigen Gebäude des „Great Khan Casinos“. Es war überschwenglich eingerichtet, und wirkte etwas überladen mit all den goldenen Verzierungen und Plüschvorhängen. Während Colin sie an den Tisch führte, sah Linda sich interessiert um. „Was hältst du von diesem Lokal?“ fragte Colin, nachdem das Fischgericht serviert worden war. „Du hast also mein prüfendes Auge bemerkt“, stellte Linda fest und lächelte. „Aus diesem Restaurant ließe sich noch viel mehr machen. Die Vorspeise war ganz ordentlich, und die Weinkarte ist sehr gut. Die Einrichtung müßte renoviert und das Personal auf Trab gebracht werden.“ Colin nickte und lächelte leicht, als Linda sich für das Thema erwärmte. „Die Speisenkarte müßte total überarbeitet werden. Es gibt zu viele Steakgerichte. Es fehlen die ungewöhnlichen Gerichte, die die Phantasie reizen und an die Mongolei erinnern. Schließlich befinden wir uns hier im Gebäude des ,Großen Khan’.“ Colin lachte und ermutigte sie, weiterzureden. „Noch nicht einmal einen ,Tartar’ gibt es hier. Das enttäuscht jeden dritten Gast. Vielleicht will er ihn gar nicht bestellen, aber er möchte ihn zumindest auf der Karte sehen.“ „Hast du schon einmal daran gedacht, ein anderes Restaurant zu übernehmen? Hättest du nicht Lust, beispielsweise dieses hier nach deinem Geschmack umzuorganisieren?“ fragte Colin ernst. „Wie kommst du darauf. Ich habe doch das ,Chez Linda’.“ „Das du zu einem erstklassigen Restaurant gemacht hast.“ Er griff über den Tisch nach ihrer Hand. „Gregory könnte es jetzt aber allein weiterführen. In der Zwischenzeit könntest du etwas Neues aufbauen, wie zum Beispiel den ,Golden Lion’.“ „Aber ich wohne doch in Reno.“ Colin sah sie lange an. „Es war nur so eine Idee“, sagte er leichthin und wandte sich an Patrick. „Was hältst du von diesem Lokal?“ „Hier gibt es keine Video-Spiele.“ „Richtig, das würde die Atmosphäre beleben und junge Leute anlocken.“ Patrick nickte. „Wenn ich alt genug bin, eröffne ich meinen eigenen Videoclub. Dann kann ich unbegrenzt spielen.“ „Und was heißt für dich ,alt genug’?“ „Dreizehn würde ich sagen, alt genug, um zu wissen, was ich tue, und jung genug, um mit allem davonzukommen.“ Colin und Linda lachten. Ihre Blicke trafen sich. „Unbegrenztes Spiel“, wiederholte Colin und zwinkerte Linda zu. „Das könnte mir auch gefallen.“ Ja, aber das Leben war kein Spiel. Sie hatten zu dritt einen wunderbaren Tag erlebt, einen richtigen Ferientag. Und es gab weder Fragen noch Erklärungen. Eine Aussprache war unumgänglich, doch sie schienen sich beide davor zu fürchten. Auch die Hauptmahlzeit war recht ordentlich, und als sie ihren Kaffee tranken, begann eine Combo Melodien aus den fünfziger Jahren zu spielen. „Wollen wir tanzen?“ fragte Colin. In Colins Armen zu tanzen, mußte himmlisch sein. „Gem.“ Linda sah ihren Sohn an. „Versprich mir, daß du hier sitzen bleibst und dich nicht auf die Suche nach elektronischen Unterhaltungsmöglichkeiten machst.“
Patrick nickte gelangweilt, und Linda folgte Colin auf das Parkett. „Ah.“ Er seufzte und nahm sie in die Arme. „Danach sehne ich mich schon den ganzen Tag.“ Linda schmiegte sich an ihn, und schon bald bildete die Musik nur noch den Hintergrund für den Schlag ihrer Herzen. Mit geschlossenen Augen gab sie sich dem Rhythmus hin, ließ sich von Colin führen und fühlte sich wie ein Blatt im Fluß, das von der Strömung mitgerissen wurde. „Heute abend begnüge ich mich nicht mit einem Gute-Nacht-Kuß, meine Dame“, sagte Colin, und seine Stimme klang entschlossen. „Ich habe nicht die Absicht, wieder allein zu schlafen.“ Ihre Antwort bestand aus ein paar unverständlichen Worten. „Komm heute abend mit zu mir“, drängte Colin und drückte sie eng an sich. „Ich möchte dich mit nach Hause nehmen.“ Widerwillig öffnete Linda die Augen. Bitte nicht, Colin, bat sie schweigend. Sein Zuhause lag in den Bergen und nicht am Tahoe-See. Und dahin konnte sie ihm nicht folgen. „So wie man einen streunenden Hund mit nach Hause nimmt?“ fragte Linda und versuchte verzweifelt, der Unterhaltung wieder einen leichten Ton zu geben. „Sehe ich so erbärmlich aus?“ Ihr Lächeln erstarrte unter Colins Blick. „Ich meine es ernst, Linda. Komm mit auf meine Hütte. Ich will dich auf dem Waldboden lieben, auf einem Laken aus Moos und Piniennadeln.“ „Das hört sich aber kribbelig an“, wich Linda aus. Was sollte sie nur noch sagen? „Linda!“ Colin blieb mitten auf der Tanzfläche stehen und kümmerte sich nicht um die Paare, die ihnen ausweichen mußten. „Das ist kein Scherz.“ Er nahm ihren Kopf zwischen die Hände und blickte ihr mit unverhohlener Leidenschaft in die Augen. „Komm mit mir“, befahl er. „Noch heute nacht.“ „Patrick“, flüsterte Linda mit zitternder Stimme und versuchte, sich aus Colins Armen zu befreien. „Ich kann ihn nicht allein lassen. Bitte versteh das doch.“ Ein schmerzvoller Ausdruck überflog sein Gesicht. „Der Junge kann für ein paar Tage bei deiner Familie bleiben. Wir holen ihn am Wochenende zu uns.“ „Es geht nicht, er läuft wieder weg.“ „Du darfst dich nicht von ihm tyrannisieren lassen. Gehen wir an den Tisch zurück. Ich werde mit ihm reden.“ „Nein.“ Sie hielt ihn am Arm fest. Entschlossen sagte sie: „Nein, ich muß es ihm erklären.“ Colin betrachtete sie skeptisch. „Wirst du das können? Wirst du es auch tun?“ „Sobald wir daheim sind“, versprach Linda. Sein Blick erforschte ihr Gesicht. Dann ließ er sie los. „Du kommst mit mir?“ Dies klang mehr nach einer Feststellung, als nach einer Frage. Linda nickte. „Gut.“ Colin war damit zufrieden und führte sie an den Tisch zurück, wo Patrick ahnungslos auf sie wartete. Nur schwer gelang es Linda, ihre innere Erregung und Angst unter Kontrolle zu halten. Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Was würde noch alles geschehen? Aus der Art, wie Colin mit ihr gesprochen hatte, erkannte sie klar, daß er keine Ausflüchte mehr akzeptierte. Sie mußte sich nun endgültig zu einer Entscheidung durchringen. Wenn sie ihn nicht verlieren wollte, mußte sie ihm in seine Berghütte folgen.
10. KAPITEL Die Rückfahrt verlief schweigend. Patrick war müde, und Linda suchte noch immer nach einem Ausweg aus ihrem Dilemma. Auch Colin schien ernsten Gedanken nachzuhängen. Sie parkten den Wagen, stiegen aus und gingen langsam zum Haus. „Guten Abend“, wurden sie von Marcy begrüßt. „Wie war das Essen?“ „Gut“, antwortete Colin mit einem Lächeln. „Linda möchte etwas mit Patrick besprechen. Am besten, du gehst mit ihm auf die Terrasse. Ich erkläre es inzwischen Marcy.“ „Komm, Patrick“, sagte Linda und führte ihren Sohn hinaus in die Nacht. Der Mond schien über dem Wasser. Linda lehnte sich an die Brüstung der Terrasse und blickte auf den See. Verzweifelt suchte sie nach einem Anfang für dieses Gespräch. „Willst du ihn heiraten?“ fragte Patrick mit verzerrter Stimme, den Tränen nahe. Linda schloß ihn in die Arme. „Nein, Liebling. Es ist nur…“ Linda drückte ihr Kind fest an sich. „Du magst Colin doch.“ „Wir brauchen niemand.“ Patrick ignorierte Lindas Frage. „Es ist nicht für immer. Er will mir nur seine Hütte in den Bergen zeigen. Wir kommen zurück.“ Patrick machte sich frei. Seine Stimme klang böse. „Das ist genau wie mit Anthony. Heirate ihn doch gleich.“ „Rede nicht in diesem Ton mit deiner Mutter.“ Colin sprach freundlich, aber entschieden und trat aus dem Haus. Langsam ging er auf Patrick zu und stellte sich vor ihn. „Wir verbrachten heute eine schöne Zeit miteinander. Ich hoffe, wir drei erleben bald wieder einen Tag mit so viel Spaß.“ Colin sah zu Linda. „Meine Berghütte befindet sich südlich von hier, und ich möchte, daß du und deine Mutter den Rest der Sommerferien mit mir dort verbringt.“ Er ließ Patrick nicht aus den Augen. „Es gibt dort in der Nähe einige Kalksteinhöhlen. Wenn du kommst, werde ich dir zeigen, wie man diese Höhlen begeht und erforscht.“ Den Blick auf den Boden geheftet, zuckte Patrick nur unhöflich mit den Schultern. Colin schien das erwartet zu haben. „Aber erst einmal nehme ich nur deine Mutter mit, damit sie sich alles ansieht. Dann kann sie entscheiden, ob sie dich dort hinbringen möchte. Zum Wochenende sind wir wieder zurück.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Ich weiß, warum du schon zweimal weggelaufen bist. Aber ich bin sicher, daß du es nicht noch einmal tust, okay?“ Aus Patricks Gesicht sprach unterdrückte Auflehnung. „Abgemacht?“ Colin streckte die Hand aus, in die der Junge zögernd einschlug. Dann drehte er sich zu Linda um. „Gehen wir.“ Patrick warf seiner Mutter noch einen tragischen Blick zu und rannte ins Haus. „Colin, ich glaube, ich kann nicht mitkommen.“ Er packte sie hart am Oberarm. „Ich sagte dir schon einmal, daß ich keine Geduld habe.“ Colins Stimme klang rauh. „Ich kann nicht herumhängen und warten, bis du bereit bist. Du kommst jetzt mit mir, Linda.“ Etwas in seiner Stimme erschreckte sie. Colin ließ ihr keine Wahl, zwang sie zu einer sofortigen Entscheidung. Wenn sie ihn jetzt abwies, würde sie ihn nie wiedersehen. Daran zweifelte sie keinen Augenblick. Trotz ihrer Schuldgefühle wegen Patrick folgte sie Colin zum Steg und ließ sich ins Boot helfen.
Linda kam sich albern vor in ihren hochhackigen Schuhen und dem Seidenkleid. Aber ihn zu bitten, ihr Zeit zum Umziehen zu geben, erschien ihr sinnlos. Colin wollte sie mitnehmen, und er würde ihr keine Gelegenheit mehr geben, noch einmal ihre Meinung zu ändern. Das Wasser schlug schwarz und unheimlich an das Boot. Linda fröstelte. Erst als der Motor ansprang und sie über den See jagten, fühlte sie sich etwas freier. Sie liebte Colin. In einer Welt ohne Verantwortung und Pflichten wäre sie ihm entgegengelaufen und hätte voll Freude geschworen, ihm für immer zu gehören, oder wenigstens für so lange, wie er sie wollte. Aber sie hatte ein Kind, Familienangehörige und ein Restaurant mit Angestellten, die letztlich alle von ihr abhingen. Colin steuerte das Boot an den Steg vor einem eindrucksvollen Holzhaus mit großen Fenstern aus getöntem Glas. „Wohnt hier dein Freund?“ fragte Linda. Mit einem Nicken antwortete Colin und vertäute das Boot. Linda kletterte auf den Steg, die Schuhe in der Hand. „Geh du schon zum Auto, ich muß mich noch von Jerry verabschieden.“ Linda ging auf die Straße und fand den Wagen, mit dem er nach Reno gekommen war. Wenig später trat Colin aus dem Haus. Und schon waren sie unterwegs, überwandten den Paß und fuhren aus den Bergen hinaus in die dunkle Einsamkeit der Wüste. Je weiter sie fuhren, desto unruhiger wurde Linda. Es hatte ihr noch nie gelegen, schnelle und radikale Entscheidungen zu treffen. Was tat sie hier? So konnte es nicht weitergehen. Sie mußte endlich klare Verhältnisse schaffen. Voll Unbehagen dachte Linda daran, wie sie Patrick zurückgelassen hatte. Das war falsch gewesen, und sie machte sich Vorwürfe, weil sie sich von Colin hatte überreden lassen. „Entspann dich, Linda.“ Colins Worte rissen sie aus ihren Gedanken. „Hör endlich auf, dir Sorgen um andere zu machen.“ „Ich weiß nicht, wovon du redest.“ „O doch. Du kümmerst dich um Gregory und um Marcy, willst Brian reich und glücklich sehen. Und um jeden Preis willst du dafür sorgen, daß dein Sohn auch nicht nur eine Minute in seinem Leben betrübt ist.“ „Das hört sich an, als tue ich etwas sehr Dummes.“ Sie schluckte nervös und wußte nicht, wie sie ihm ihre Gefühle erklären konnte. „So wie du das sagst, fühle ich mich wie eine Glucke, die über ihren Küken hockt.“ Linda bemerkte, wie Colin das Steuer fester packte, als wolle er seinen Ärger am Auto auslassen. „Bist du froh, daß ich dich dazu gebracht habe, mitzukommen?“ Linda zögerte. Sie wollte nicht lügen, doch Colin würde die Wahrheit nicht gefallen. „Es war nicht richtig, Patrick so zurückzulassen.“ Mit einem Fluch lenkte Colin den Wagen an den Straßenrand und hielt an. Er wandte sich zu ihr. Seine Augen funkelten im Mondlicht. „Ich will dich ganz für mich, Linda“, sagte er betont hart. „Ich will dich halten, dich küssen und lieben, ohne daß andere Menschen zwischen uns stehen, wenigstens für eine Nacht. Das brauche ich, und du?“ Linda schloß die Augen vor seinem Blick, der bis in ihre Seele einzudringen versuchte, um ihre wahren Gefühle zu erfahren. Wild vor Verlangen ergriff Colin mit seinem Mund Besitz von ihren Lippen und küßte sie mit einer Heftigkeit wie noch nie zuvor. Noch ehe Linda ihm zeigen konnte, daß sie bereit war, ihm wenigstens körperlich zu gehören, gab er sie
wieder frei. „Mach mir nur nichts vor“, warnte er. „Dann werden wir schon miteinander auskommen.“ Völlig beherrscht startete Colin das Auto wieder, und sie fuhren weiter durch die dunkle, schweigende Wüste, das einzige Auto weit und breit, ein schwebendes Licht in der endlosen Finsternis. Linda war eingeschlafen und wachte erst auf, als Colin den Wagen anhielt. Sie blickte in die Dunkelheit und erkannte nur schwach die Umrisse eines Hauses. „Wir sind da“, sagte Colin. „Wollen wir nur hoffen, daß die Waschbären unser Haus nicht besetzt haben.“ Er stieg aus und schlug die Wagentür hinter sich zu. „Komm mit. Wir müssen einiges zwischen uns klären.“ Langsam stieg Linda aus und ging in der Dunkelheit vorsichtig über den unebenen Waldboden zum Haus. Colin eilte zu ihr und geleitete sie zum Eingang. Er schloß die Tür auf und ließ sie in den dunklen Raum treten, bevor er eine Petroleumlampe anzündete. „Morgen früh stelle ich den Generator an“, erklärte er. „Für jetzt muß das reichen.“ Die Flamme in der Lampe schlug höher und beleuchtete das rustikale Zimmer, dessen Wände rundum mit Bücherregalen verdeckt waren. Überall lagen Bücher, und in der Ecke, auf einem Schreibtisch aus Ahornholz, stand eine Schreibmaschine mit eingespanntem Bogen, gerade als wäre mitten in einem Gedanken abgebrochen worden. „Das sieht wie die Höhle eines Schriftstellers aus“, stellte Linda überrascht fest. „Ich erwartete etwas…“ „Wilderes?“ Colins Augen funkelten belustigt. „Ja“, gab sie zu und lächelte ihn an. „Geweihe an den Wänden oder so etwas.“ Mit einer ausholenden Geste zeigte Colin auf die Wände. „Keine Geweihe.“ „Nein.“ Sie sah ihn nachdenklich an. „Gibt es sonst irgendwelche Jagdtrophäen, auf die ich achten muß?“ Sie riskierte einen Blick von der Seite. „Was jagst du eigentlich, Colin?“ „Das solltest du wohl wissen“, sagte er, griff nach ihrem Arm und zog sie an sich. „Aber ich gebe dir gern noch eine Lektion Nachhilfeunterricht.“ Linda erwiderte seinen Kuß, schob ihn dann jedoch zurück. „Wir müssen etwas besprechen“, sagte sie so bestimmt wie sie konnte, und ging weiter in das Zimmer hinein bis zu einem großen Kamin aus Natursteinen, vor dem eine gemütliche Sitzgarnitur stand. Diese offene Aussprache war ihr sehr unangenehm, doch ihre Beziehung mußte endlich auf eine solide Grundlage gebracht werden. „Setz dich zu mir“, schlug Linda vor und ließ sich in die weichen Polster der Couch fallen. Colin folgte ihr. Er bewegte sich betont lässig, aber Linda erkannte deutlich die Spannung auf seinem Gesicht. „Worüber möchtest du reden?“ fragte er und blieb vor ihr stehen. „Über uns, was war und was folgen wird. Meinst du nicht auch, es wäre besser, endlich über alles offen zu sprechen?“ Sie holte tief Atem. „Auf diese Weise gibt es am Ende keine Mißverständnisse.“ Am Ende. Die Worte hingen wie eine Drohung in der Luft. Linda sah Colin nicht an, aber sie fühlte, wie er sich beherrschen mußte. „Du willst wissen, was war?“ fragte er endlich und setzte sich zu ihr auf die Couch. „Ich verrate es dir.“ Seine Finger spielten mit ihren Haaren. „Mein ganzes Leben lang bin ich schlafgewandelt. Eines Tages wurde ich von einer schönen Prinzessin wachgeküßt.“ Er beugte sich vor und küßte Linda auf den Hals. „Sie hat mich aufgeweckt und lief dann weg.“ Sein Atem brannte wie Feuer auf ihrer
Haut. Linda konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Warum bist du mir nach Lake Tahoe gefolgt?“ „Spiel nicht die Dumme, Linda.“ Sie hätte ihn schütteln mögen. „Ich spiele überhaupt nicht“, sagte sie ernst. „Ich will es mit deinen eigenen Worten hören.“ Für eine Weile rührte Colin sich nicht. Dann sprach er, und seine Stimme klang weich und tief. „Als du fort warst, glaubte ich, einen Teil meines Ichs verloren zu haben. Ich konnte nicht mehr aufrecht gehen, nicht klar denken. Also tat ich das einzige, was mir helfen konnte: Ich folgte dir.“ Lindas Herz klopfte wild. „Und jetzt, da du mich hast, was beabsichtigst du, mit mir zu tun?“ flüsterte sie. „Ich will dich bei mir haben, Linda. Ich will, daß du Patrick hier heraufbringst und wir den Sommer gemeinsam verbringen. Das ist alles, worum ich dich bitte.“ Linda bewegte sich unruhig. „Warum gerade mich? Es gibt doch so viele Frauen in deinem Leben. Warum ausgerechnet mich?“ „Es gibt keine wie dich, hat es nie gegeben.“ Er griff nach ihrer Hand und küßte jeden einzelnen Finger. „Ich bin in meinem ganzen Leben noch keiner Frau so nachgelaufen wie dir“, gab er zu und lachte leise. „Du hattest es wohl nie nötig“, lautete Lindas Kommentar. Colin lachte. „Da magst du recht haben.“ „Ich sollte dich sofort verlassen.“ „Bitte, nicht“, flüsterte er und zog Linda näher zu sich. Er nahm ihren Kopf zwischen die Hände und zwang sie, ihn anzusehen. „Bleib bei mir, Linda, laß dich von mir überzeugen. Ich brauche Zeit, um dir die Feinheiten meiner Argumente zu verdeutlichen. Hab Geduld mit meinen Erklärungen“, bat Colin. Seine Lippen waren verführerisch und lockten Linda, ihre Verteidigung aufzugeben. Seine Zunge drang in ihren Mund, und sie fühlte, wie die Glut vom vergangenen Abend wieder entfacht wurde. „Das ist alles, was ich habe“, flüsterte er. „Mein letzter Trumpf, der Gewinner erhält alles.“ Colin wollte sie, und sie wollte ihn, so einfach war das. Dennoch, wenn sie jetzt nachgab, war sie ihm noch mehr verpflichtet. Linda befreite sich aus der Umarmung, versuchte seiner Zärtlichkeit zu entgehen. „Ich dachte, wir wollten uns aussprechen“, erinnerte sie ihn noch einmal. „Einige meiner besten Argumente haben keine Worte.“ Colin nahm Linda wieder in die Arme. Seine Hand glitt unter die dünnen Träger ihres Kleides und schob sie herunter. Ein einladendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Hör mir zu.“ „Colin…“ Seine Hände fuhren sanft über ihre nackten Schultern, streichelten sie zärtlich. Lindas Protest erstarb. „So ist es richtig“, flüsterte er. „Ich muß dir meinen Fall doch wenigstens darlegen können.“ „Das hast du bereits getan“, sagte sie träumerisch. „So oft in den letzten Tagen.“ „Betrachte es als Wiederholung“, antwortete Colin. „Als eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte.“ Linda konnte ein Lachen nicht verhindern. Dennoch, so einfach durfte sie es ihm nicht machen. Sie entwich ihm und rutschte ans äußerste Ende der Couch. „Es ist zwecklos, sich meiner Logik zu entziehen“, scherzte Colin, streifte ihr die Schuhe ab und rückte ihr nach. „Die Vernunft siegt am Ende immer.“ Linda war in den weichen Polstern der Couch gefangen. Unnachgiebig drückte Colin sie in die Kissen und bedeckte ihren Mund mit Küssen. Seine Hand stahl
sich auf ihren Rücken und versuchte, den Reißverschluß ihres Kleides zu öffnen. „Habe ich wenigstens Zeit für ein Gegenargument?“ fragte sie atemlos und wollte sich gegen seinen starken Körper auflehnen. Doch sie schaffte es nicht. Colins Stärke, seine Ausstrahlung und seine Entschlossenheit überwältigten sie. „Die brauchst du nicht“, behauptete Colin triumphierend. Mit einem kleinen Ruck öffnete er den Reißverschluß und zog ihr das Kleid vom Körper. „Meine Argumente sind so überzeugend, daß du sie ohne zu überlegen akzeptieren kannst.“ Linda lachte leise und wand sich unter seinen Händen, die den trägerlosen Büstenhalter zu entfernen versuchten. „Woher wußtest du eigentlich, daß du in Lake Tahoe willkommen sein würdest?“ fragte Linda. Er strich über ihren Bauch. „Ich wußte es nicht, aber ich hatte keine andere Wahl.“ „Und was hättest du getan, wenn ich dich abgewiesen hätte?“ „Ich hätte dich trotzdem mitgenommen.“ Er beugte sich herab und küßte sie auf den Mund. Unentwegt streichelte er dabei ihren Körper. Wahrscheinlich wäre ich ihm sogar gefolgt, dachte Linda und erwiderte seinen Kuß. Mit diesem Mann verband sie etwas so Wunderbares, daß sie alle unglücklichen Gedanken an die Zukunft verdrängte. Wieder machte sich Colin an ihrem Büstenhalter zu schaffen, und sie kicherte, als er eine besonders empfindliche Stelle berührte. Da fiel Linda etwas ein, und sie setzte sich schnell auf. „Einen Moment“, rief sie. „Bist du nicht der Mann, der. mich vor kurzem mit Katzengold verglichen hat? Hübsch anzusehen, hast du gesagt, aber nicht echt.“ Colin seufzte glücklich. Endlich hatte er die Haken des Büstenhalters geöffnet. Er drückte Linda sanft zurück in die Kissen und betrachtete die entblößten Brüste. „Du bist echt“, flüsterte er und begann ihre Brustwarzen zu streicheln, die unter seiner Berührung hart wurden und sich aufrichteten. Linda schloß die Augen und stöhnte leise. „Warum hast du es dann gesagt?“ fragte sie heiser. Sie öffnete die Augen und sah ihn an. „Und woran erkennst du, ob das, was du erhältst, auch wirklich echt ist?“ „Ich weiß es ganz einfach.“ Er rückte zur Seite und streifte ihr die Strumpfhose ab. „Was ich bekomme, ist rein, unverdorben und zu hundert Prozent echt.“ Er beugte sich herab und küßte ihren Nabel. „Und ich tue alles, um es nicht zu verlieren.“ Colin streichelte ihre Hüften und hinterließ ein Kribbeln, wo immer er sie berührte. „Sei immer echt für mich, Linda“, flüsterte er. „Versprich es.“ Wie konnte sie das versprechen. Würde Colin ihr versichern, immer für sie da zu sein, wenn sie ihn brauchte? Wahrscheinlich nicht. Doch Linda war bereit, ihm jetzt soviel zu geben, wie sie konnte. „Ich bin echt für dich“, flüsterte sie zurück. „Echter als ich es je zuvor gewesen bin.“ Linda las in Colins Augen, daß er mehr von ihr erwartete, aber er drängte sie nicht, noch nicht. Er reichte hinunter, um ihre letzte Hülle abzustreifen, und ersetzte sie durch eine Berührung, die sie auflodern ließ. Ein Schrei des Begehrens kam aus der tiefsten Tiefe. „Colin!“ rief sie immer wieder, bis sie seinen Namen nur noch flüsterte. Sie brauchte mehr von ihm, schnell. Mit zitternden Fingern öffnete sie sein weißes Hemd und entblößte seine behaarte muskulöse Brust.
Als Colin sich aufrichtete, zog sie ihm das Hemd aus. Ihre Finger strichen liebevoll über seine nackte Haut und wanderten langsam hinunter, um seinen Gürtel zu öffnen. Dann waren sie beide nackt, bereit füreinander, empfindsam und wehrlos. Colins Lippen waren federleicht und hinterließen dennoch Feuerspuren auf Lindas Haut. Sie spürte ein Singen im Blut, ein wildes Verlangen, das sie fast verrückt machte. „Colin, ich brauche dich!“ „Noch nicht“, antwortete er zärtlich, und seine Hände entfachten immer neue Feuer. „Das ist alles, was ich dir bieten kann, also muß es besonders gut sein.“ Linda stöhnte vor Ungeduld, krümmte sich unter seinen Zärtlichkeiten. Doch Colin hielt sich noch immer zurück, bis sich ihre Leidenschaft ins Unerträgliche steigerte. „Jetzt“, rief sie wild, schlang die Beine um ihn und grub ihre Fingernägel in seinen Rücken. „Jetzt.“ Sein Wort war ein Stöhnen in ihrem offenen Mund. Er drang in sie ein, ließ sich von ihr nehmen und von ihrem Körper wiegen. Sie steigerten sich in einen bislang unbekannten Rausch der Sinne, ließen Angst und Zweifel hinter sich und erreichten gemeinsam den Gipfel der Gefühle. Nur langsam ebbte die Heftigkeit ab, kehrten sie in die Wirklichkeit zurück. Aber Linda würde dieses Gefühl des Einsseins nie mehr vergessen. Sie wußte, sie liebte Colin mit einer wilden Leidenschaft, von der sie nie wieder loskommen würde. Regungslos lagen sie Seite an Seite, Arme und Beine noch verschlungen und spürten die wilden Schläge ihrer Herzen. Ich liebe dich, dachte Linda. Colin, ich liebe dich. Mit den Fingern fuhr sie ihm durch das Haar. Teilte er ihre Gefühle? Sie war sich seiner Liebe sicher, als sie eins wurden, aber galt diese Liebe auch für den übrigen Teil seines Lebens? Sie überlegte, wie sie ihm diese Frage stellen konnte. Colin hob den Kopf und sah sie an. „Ich glaube, jetzt hast du meine Argumente verstanden. Uns verbindet etwas Besonderes. Du kannst es nicht aufgeben, und du weißt es. Du mußt den Sommer mit mir verbringen.“ Ungläubig starrte Linda ihn an. Zählte für ihn nur die körperliche Anziehungskraft? Fühlte er ihre Liebe nicht, oder war sie ihm gar gleichgültig? Linda rührte sich nicht, blieb auf der Couch liegen und beobachtete, wie Colin aufstand und sich anzog. Durch das große Fenster drangen schon die ersten Sonnenstrahlen. Morgenrot färbte den Himmel im Osten. Die Nacht war vorbei. „Wohin willst du?“ fragte sie. Er grinste. „Wir sind in der Wildnis, schöne Dame. Ich muß uns einen Bären für das Frühstück schießen.“ Linda lächelte über seinen unverwüstlichen Humor. „Reicht es nicht, wenn wir uns Kaffee über dem offenen Feuer brühen“, schlug sie vor. Colin tat schockiert. „Wie unsportlich. Aus dir wäre keine gute Pioniersfrau geworden. Benötigst du kein Bärenschmalz für deine Hafergrütze?“ „Pfui! Komm schon, wo willst du hin?“ „Keine Angst, ich verlasse dich nicht.“ Er beugte sich herab und küßte sie auf die Stirn. „Aber ich muß Holz für den Kamin holen und dann noch meine Sachen aus dem Auto.“ „Du hast wenigstens Kleider im Auto“, gab sie zurück. „Ich hatte keine Chance, etwas mitzunehmen. In meinem Seidenkleid und den Pumps werde ich mir hier reichlich albern vorkommen.“ „Deswegen hole ich ja das Feuerholz.“ Colin lächelte verschmitzt. „Ich werde hier
so einheizen, daß du überhaupt nichts anziehen mußt.“ „Das könnte dir so gefallen.“ Linda lachte. „Ich werde mir deine Badehose und eins von deinen T-Shirts anziehen.“ „Schade.“ Er sah enttäuscht aus. „Das hört sich nicht so verlockend an.“ Er wandte sich zur Tür. „Geh schon ins Bett. Wir brauchen etwas Schlaf, bevor wir diesen Tag genießen.“ Linda wollte auf ihn warten, aber als sie ihr Gähnen nicht mehr unterdrücken konnte, gab sie auf und suchte das Schlafzimmer. Die Suche war nicht schwer. Es gab nicht viele Räume in der Hütte. Linda fand das holzverkleidete, aber spärlich eingerichtete Zimmer, ließ sich auf das Bett fallen und kroch unter die dicke Decke. Sie schlief ein, noch bevor Colin zurückkehrte. Doch sie schlief unruhig, verfiel manchmal in eine Art Halbschlaf. Einmal öffnete sie die Augen und sah Colin neben sich. Er lehnte auf seinem Ellbogen und betrachtete sie. Sein Gesicht drückte tiefe Zärtlichkeit aus. Linda glaubte später, dies nur geträumt zu haben. Am späten Vormittag erwachte Linda. Colin schlief noch. Sie beobachtete ihn, lauschte seinem gleichmäßigen Atem. Am liebsten hätte sie ihn berührt, aber sie widerstand der Versuchung. Sie verließ das Bett und begann, das Haus zu erforschen. Zuerst suchte sich Linda etwas zum Anziehen und fand ein dunkelblaues T-Shirt. Sie zog es über. Es paßte ihr wie ein kurzes Kleid, und sie fühlte sich wohl darin. Colins Berghütte war aus groben Holzbalken gebaut, wirkte rustikal, klar und sauber, genau wie er. Am meisten aber interessierte sich Linda für den Bogen in seiner Schreibmaschine. Beim Lesen stellte sie erstaunt fest, daß er an einem Roman arbeitete. „Was ist das?“ fragte sie ihn, als er aus dem Schlafzimmer kam, mit einem Handtuch um die Hüften gewickelt. „Was? Ach das.“ Colin fuhr sich mit der Hand durch das wirre Haar. „Mein nächster Bestseller, hoffe ich.“ „Bestseller? Du schreibst Bestseller?“ Linda wußte nicht, ob er sie wieder einmal aufzog. Colin lachte leise. „Die Mehrzahl ist nicht ganz richtig. Bisher hatte ich erst ein Buch auf der Bestsellerliste.“ Erstaunt sah Linda ihn an. „Und ich dachte, du befaßt dich mit Naturbeschreibungen.“ „Ich weiß, obwohl ich das nie sagte. Aber irgendwie hat sich diese Vorstellung bei dir festgesetzt.“ Colin legte eine kurze Pause ein. „Meine beiden ersten Bücher verkauften sich nicht ganz so gut. Das waren Western, die in dieser Gegend von Nevada spielen. Erfolg brachte mir der kürzlich erschienene Roman über den Donner-Paß. Und zur Zeit arbeite ich an einer Familien-Saga, die in Virginia City spielt und von der Comstock-Mine handelt.“ „Naturbeschreibungen!“ Linda lachte. „Ich weiß auch nicht, wie ich darauf kam. Aber arbeitest du nicht als Ranger?“ Colin ging in die kleine Küche und suchte nach Kaffee. „Nein.“ „Warum warst du dann an jenem Tag in der Ranger-Station und hast mir bei der Suche nach Patrick geholfen?“ „Die Ranger sind meine Freunde. Ich führte einige Untersuchungen für das Innenministerium durch und betrieb Nachforschungen in dieser Gegend. So habe ich sehr oft Rangerarbeit übernommen, wenn auch nie offiziell.“
„Warum hast du mir nie davon erzählt?“ Linda setzte sich in den Schreibtischsessel. Colin stellte die Kaffeemaschine an und kam zu ihr. „Du hattest soviel Spaß. Ich wollte ihn dir nicht verderben.“ „Weißt du, was das bedeutet?“ fragte Linda und lachte. „Du bist noch ungezügelter, als ich dachte, denn du bist nicht einmal bereit, für jemand anderen zu arbeiten.“ Colin zog sich einen Holzstuhl heran und setzte sich Linda gegenüber an den Schreibtisch. „Reden wir von dir“, sagte er abrupt. „Wann holst du Patrick hierher?“ Patrick. Schon bei der Erwähnung seines Namens fühlte sich Linda schuldig. „Ich hätte ihn nicht auf diese Weise zurücklassen dürfen.“ „Bleibst du hier bei mir?“ Sollte sie bleiben? Jede Faser ihres Herzens sehnte sich danach, aber ihr Verstand riet ihr davon ab. „Ich weiß nicht“, antwortete Linda langsam. „Ich bin mir nicht sicher.“ Colins Faust schlug mit einer solchen Wucht auf den Tisch, daß Linda aufsprang. „Verflixt, Linda“, rief er. „Patrick würde sich hier wohl fühlen, und du weißt es. Für ein Kind gibt es keinen herrlicheren Platz, um die Sommerferien zu verbringen.“ „Ich kann die Entscheidung nicht für ihn treffen.“ Er lachte verächtlich. „Warum nicht. Du triffst doch sonst alle Entscheidungen für deine Familie, warum nicht für Patrick?“ „Was willst du damit sagen?“ Der Zorn ließ Colin Dinge sagen, die er bislang zurückgehalten hatte. „Deine Stiefmutter ist unglücklich am Tahoe. Siehst du das nicht? Wie gern würde sie in ihren geliebten Südwesten zurückkehren, wo sie die Pflanzen für ihre Farben findet und wo Menschen leben, die sie verstehen. Und dein Bruder? Glaubst du wirklich, daß du aus ihm einen Eisverkäufer machen kannst?“ „Er macht es sehr gut“, protestierte Linda. „Tatsächlich?“ Colin lachte kalt. „Da du mir von der Eisdiele erzählt hattest, war dies der erste Ort. an dem ich mich nach dir erkundigte. Brian war nicht da, und der Junge, der dort für ihn arbeitet, bekommt ihn nur selten zu sehen.“ Erschrocken blickte Linda ihn an. „Aber was treibt er dann?“ „Das mußt du ihn selbst fragen. Verstehst du das denn nicht, Linda, du kannst Menschen nicht zu ihrem Glück zwingen.“ Er beugte sich über den Tisch. „Ich weiß, warum du es tust, Linda. In deiner unglücklichen Kindheit hast du dir vorgenommen, daß es jedem, den du liebst, gutgehen soll. Du hast diese Absicht mit Erfolg in die Tat umgesetzt. Soweit, so gut. Doch jeder Mensch hat seine eigenen Vorstellungen vom Glück, und du kannst es nicht für andere definieren.“ Linda war völlig verwirrt. Konnte all das wahr sein? Kannte sie ihre engsten Verwandten so wenig? „Auch Patrick wird nicht glücklich, wenn du immer seinem Willen nachgibst“, fuhr Colin fort. „So geht das nicht. Du hast das Recht auf ein eigenes Leben. Denk einmal darüber nach.“ Aber sie konnte jetzt nicht darüber nachdenken. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie wußte nur, daß sie die Probleme am liebsten in Colins Armen vergessen hätte, und das durfte nicht sein. Colin blickte sie ausdruckslos an und wartete darauf, daß sie ihren Standpunkt erklärte, bevor er mehr von sich preisgab. „Ich muß zu Patrick“, sagte Linda hölzern. „Bitte, fahr mich zurück.“
Im Zimmer herrschte tödliche Stille. „Jetzt?“ fragte er rauh. „Ja, sofort.“ Er erhob sich, wiegte einen Augenblick lang seinen Oberkörper vor und zurück wie ein Boxer, der in den Ring steigt. Sein Gesicht war bleich. „Colin“, begann sie leise und streckte die Hand nach ihm aus. Doch er fing ihre Hand ab, umfaßte hart ihr Handgelenk. Sie standen sich gegenüber und sahen sich an. „Wenn du gehst, gehst du allein“, sagte Colin tonlos. „Diesmal folge ich dir nicht.“ Lindas Hals war wie zugeschnürt, sie konnte kaum atmen. „Ich muß gehen“, sagte sie zu ihm. „Kannst du das nicht verstehen?“ „Nein.“ Er blickte sie kalt an. „Ich verstehe es nicht.“ Colin gab ihre Hand frei und griff nach den Schlüsseln auf dem Tisch. „Nimm sie, und laß das Auto bei Jerry. Ich hole es mir, wenn ich das nächste Mal in Lake Tahoe bin.“ „Brauchst du das Auto nicht?“ fragte sie und nahm die Schlüssel. „Ich habe noch einen Jeep hier.“ Colin drehte sich um und ging zum Schlafzimmer. „Beeil dich“, rief er ihr über die Schulter zu. „Geh, solange ich dich noch lasse.“ Zögernd blickte Linda auf ihre bloßen Füße und das dunkelblaue T-Shirt, das ihr als Kleid diente. „Verschwinde!“ brüllte Colin aus dem Schlafzimmer. Linda rannte aus dem Haus, stieg hastig in den roten Wagen und raste davon.
11. KAPITEL Die ganze Fahrt über zurück nach Lake Tahoe betete Linda, daß nichts sie zum Anhalten zwingen möge. Das Benzin wurde knapp, aber in ihrer Aufmachung konnte sie unmöglich an einer Tankstelle halten. Mit den letzten Litern schaffte sie es gerade noch bis nach Hause. Glücklicherweise war nur Marcy daheim. „Niedlich“, bemerkte ihre Stiefmutter nur. „Geh nach oben und nimm ein Bad, während ich uns Tee mache.“ So zerschlagen und unglücklich sich Linda auch fühlte, sie wollte sofort Colins Andeutungen auf den Grund gehen. „Marcy, ich will, daß du mir vollkommen ehrlich antwortest.“ Linda sah ihrer Stiefmutter in die Augen. „Möchtest du weg von hier und lieber zu der Künstlerkolonie in Sedona ziehen?“ Da Marcy nicht sofort antwortete, fuhr Linda erregt fort: „Ist Brian mit der Eisdiele unzufrieden? Was treibt er eigentlich? Woher hat er das Geld für teure Anzüge und ein neues Auto?“ „Linda, ich bin dir so dankbar für alles, was du für uns getan hast“, begann Marcy und ergriff Lindas Hand. „Ich wollte nicht, daß du…“ „Daß ich erfahre, wie unglücklich ihr seid? Ich zwang euch in ein Leben, das ihr haßt, nicht wahr?“ Energisch schüttelte Marcy den Kopf. „Nein, das stimmt nicht. Als du uns damals nach Tahoe brachtest, erschien uns das Leben hier wie ein Traum. Doch inzwischen haben wir andere Interessen entwickelt und wußten nicht, wie wir es dir beibringen konnten.“ Linda konnte verstehen, daß Marcy nach Sedona wollte, aber Brian? War er bereit, die Existenz, die sie ihm geschaffen hatte, einfach wegzuwerfen? „Was macht Brian eigentlich?“ fragte sie. „Er soll es dir selbst sagen.“ Das tat Brian später am Abend. „Ich spiele.“ Unsicherheit und Stolz zeichneten sich auf seinem Gesicht ab. „Das darf nicht wahr sein“, stöhnte Linda. „Du bist wie Vater, ständig auf der Suche nach dem Glück, das du nie finden wirst.“ „Nein, Linda, ich bin nicht wie er.“ Brian erklärte ihr, daß er Berufsspieler sei. „Ich nehme an Wettkämpfen teil, gewinne Preise. Ich bin ziemlich gut“, sagte er stolz. „Sei nicht traurig, Linda. Das ist ein respektabler Beruf, wirklich. Und es macht mir Spaß.“ Es hatte wenig Sinn, dagegen zu argumentieren. Sie würde sich zwar erst daran gewöhnen müssen, aber es war schließlich sein Leben. Colin hatte also recht gehabt, soweit es Marcy und Brian betraf. Und in Patricks Fall? Während ihrer Abwesenheit war Patrick nicht weggelaufen. Er benahm sich so, als sei nichts geschehen, und sie begann sich zu fragen, warum sie seinetwegen ein so schlechtes Gewissen gehabt hatte. Noch zwei Tage blieb Linda am Tahoe-See. Dann wurde ihr klar, daß sie eigentlich nur auf Colin wartete, und so packte sie ihre Sachen ins Auto und fuhr mit Patrick zurück nach Reno. Die folgenden Tage verbrachte Linda wie in Trance. Automatisch erledigte sie ihre Arbeiten im Restaurant, lächelte, erteilte Anweisungen und hatte schon fünf Minuten später vergessen, was sie gerade getan oder gesagt hatte. Doch dieser Zustand hielt sie aufrecht und machte sie unempfindlich gegen ihren Schmerz und die Verzweiflung. Die Erinnerung an Colin versuchte Linda zu verdrängen. Tauchte er dennoch in
ihren Gedanken auf, so redete sie sich ein, die einzig richtige Entscheidung getroffen zu haben. Eine klare Trennung hielt sie immer noch für besser als eine langsame Desillusionierung. „Haben Sie heute Mrs. Stedweillers Artikel in der Zeitung gelesen?“ fragte Gregory sie eines Mittags. „War es wieder ein Rundumschlag?“ Linda stellte das Tablett mit den Desserts, das sie hinaustragen wollte, wieder ab. „Wie schlimm ist es diesmal?“ „Lesen Sie selbst.“ Gregory reichte ihr die Zeitung, nahm das Tablett und verließ die Küche. Linda setzte sich auf einen Küchenstuhl und schlug den Unterhaltungsteil der Zeitung auf. Der Artikel nahm eine ganze Spalte ein und bezeichnete das „Chez Linda“ als ein Restaurant mit erstklassiger französischer Küche und angenehmer Atmosphäre, in der sich der Gast in die Vergangenheit Nevadas zurückversetzt fühle. Nevadas Vergangenheit? In welchem Restaurant war die Frau nur gewesen, doch nicht im „Chez Linda“, das im Stil der Provence eingerichtet war. Colin! Er hatte Mrs. Stedweiller unterhalten und ihr das Flair von Nevada vermittelt. Glaubte diese Frau etwa, Colin gehöre mit zum Service? Mit dem leeren Tablett kam Gregory in die Küche zurück. Linda blickte ihn fragend an. „Haben Sie eine Ahnung, wovon Mrs. Stedweiller spricht?“ „Interessant, nicht? Aber was geht das uns an. Was zählt, ist die gute Kritik.“ „Die Leute werden kommen und etwas erwarten, was wir gar nicht bieten können. Ich kann Colin doch nicht einstellen, damit er meine Gäste mit Bergbauabenteuern unterhält. Was soll ich nur machen?“ „Freuen Sie sich über das Lob, und fahren Sie fort wie bisher.“ Unbeeindruckt zuckte Gregory mit den Schultern. Linda hatte Bedenken. In ihrem Artikel pries Mrs. Stedweiller das ausgezeichnete Mahl, das ihr serviert worden war, und Linda dachte wieder an die Liste, die sie hatte anfertigen lassen, damit diese Frau überhaupt wußte, was sie gegessen hatte. Aber wie Gregory gesagt hatte, eine gute Kritik bleibt eine gute Kritik. Man mußte nehmen, was man bekam. Erleichtert verabschiedete Linda ihren letzten Mittagsgast und wollte sich in die Stille ihres Büros zurückziehen. Doch bevor sie die Tür hinter sich schließen konnte, wurde sie von Gregory aufgehalten. „Wird Mr. McCloud uns bald wieder mit seinem Besuch beehren?“ „Warum fragen Sie?“ wich Linda aus. „Sie haben mich vor ihm gewarnt, soweit ich mich erinnere.“ „Ich?“ Gregory tat so empört, daß Linda lächeln mußte. „Selbstverständlich nicht. Im Gegenteil, am Tag Ihrer Abreise nach Lake Tahoe hatten Mr. McCloud und ich sogar eine recht interessante Unterredung.“ „So?“ „Ja.“ Jetzt wurde Gregory doch etwas verlegen. „Mr. McCloud erkundigte sich bei mir nach Ihren Erfahrungen im Restaurantgeschäft, und ich sagte natürlich, daß sie ausgezeichnet seien. Daraufhin deutete er an, daß Sie eventuell ein Restaurant am Tahoe-See übernähmen, das ein Freund von ihm verkaufen möchte. Er fragte mich, ob ich bereit wäre, das ,Chez Linda’ für Sie weiterzuführen, wenn es dazu käme.“ Gregory wartete auf eine Reaktion von Linda, doch diese war viel zu verblüfft. „Ich sagte Mr. McCloud, daß damit ein Traum für mich in Erfüllung ginge“, fuhr Gregory fort. „Es wäre interessant zu erfahren, was aus diesem Plan geworden ist. Haben Sie sich das Projekt angesehen?“
„Es tut mir leid, Gregory“, sagte Linda. „Davon weiß ich ja gar nichts.“ „Ich bedaure, es erwähnt zu haben. Bitte entschuldigen Sie mich.“ Es war ihm sichtlich peinlich. „Eigentlich wollte ich mit Ihnen nur über die neue Speisenkarte sprechen.“ „Die neue Speisenkarte?“ wiederholte Linda verständnislos. „Die habe ich ja ganz vergessen.“ „Macht nichts, die besprochenen Änderungen wurden bereits von mir veranlaßt.“ Gregory zeigte ihr die Druckvorlage der neuen Speisenkarte, und Linda betrachtete sie verwirrt. Was war nur los mit ihr? Entglitt ihr bereits alles, so daß Gregory sich ermutigt fand, die Verantwortung zu übernehmen? Glaubte er wirklich, er könne sie so leicht ersetzen? Mühsam bezwang sie ihre Verärgerung. „Sieht gut aus“, sagte sie kurz. „Linda“, Gregory wirkte einen Augenblick lang unsicher, „ich mußte es tun, denn Sie hatten andere Dinge im Kopf.“ In seiner gewohnt arroganten Art fuhr er dann fort: „Wenn Ihnen diese Druckvorlage gefällt, dann bringe ich sie noch heute nachmittag zur Druckerei.“ „Ja, tun Sie das“, antwortete Linda resigniert. Nachdem Gregory das Büro verlassen hatte, setzte sich Linda in ihren Schreibtischsessel und schloß die Augen, um ihre Gedanken zu ordnen. Sie erinnerte sich an Colins Andeutung im „Golden Lion“, daß es sie doch reizen müsse, dieses Restaurant zu übernehmen. Welchen Plan verfolgte er eigentlich damit? Mit einem Mal war Colin wieder in ihrem Bewußtsein, und es gelang ihr nicht mehr, ihn zu verdrängen. Die Erinnerung kehrte zurück. Sie spürte seine Herzlichkeit, seine Liebe, seine Zärtlichkeit. Sie liebte ihn von ganzem Herzen und wußte nicht, wie das Leben ohne ihn weitergehen sollte. Da öffnete sich die Tür einen Spaltbreit. „Mutti, bist du hier?“ Linda öffnete die Augen. „Komm herein, Patrick. Ich muß mit dir reden.“ Vorsichtig kam ihr Sohn herein, verunsichert, weil er seine Mutter in so seltsamer Stimmung fand. Sie beobachtete, wie er ihr gegenüber Platz nahm. „Patrick“, Linda schluckte, „ich liebe Colin McCloud.“ Er schob sich das Haar aus der Stirn. „Ich weiß“, sagte er ruhig. Für eine Weile sahen sich Mutter und Sohn schweigend an. „Ich möchte zu ihm in die Berge“, flüsterte Linda. Patricks Mund wurde schmal. „Und ich?“ fragte er. „Du kommst natürlich mit“, sagte sie. „Er hat uns beide eingeladen.“ „Niemals!“ rief Patrick wütend. Seine Augen funkelten. „Ich hasse ihn. Ich bleibe nicht. Ich laufe weg.“ Diesmal gab Linda nicht nach. „Das wirst du nicht tun“, erklärte sie und hoffte, überzeugend zu klingen. „Du bist zu alt für diese Dummheiten. Ich liebe dich, du bist mein Sohn. Aber das ist nicht das gleiche, wie einen Mann zu lieben. Ich brauche euch beide.“ „Wir brauchen niemand anders“, jammerte Patrick. „Patrick, man braucht immer andere Menschen, und ich brauche Colin, mehr als alles andere.“ Sie lächelte ihren Sohn an. „Dich ausgenommen.“ Linda beobachtete Patrick und sah, wie er sich langsam beruhigte. „Ich könnte es versuchen.“ Um sein Nachgeben herunterzuspielen, fügte er noch schnell hinzu: „Gibt es in diesem Raum nichts zu essen?“ Tränen stiegen Linda in die Augen. „Geh in die Küche. Gregory wird dir etwas zurecht machen. Ich gehe inzwischen nach oben und packe.“ „Fahren wir noch heute los?“ fragte Patrick ungläubig.
„Ja“, erklärte Linda. „Und ich hoffe, es ist noch nicht zu spät“, sagte sie mehr zu sich selbst, als sie bereits zum Fahrstuhl lief. Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich auf ihrem Stockwerk und Linda trat in die Halle. Ein Schatten löste sich von der Wand und kam auf sie zu. Linda erstarrte, ihr Herz schlug wild. „Linda.“ Seine Stimme war weich und tief. Er blieb vor ihr stehen, berührte sie aber nicht. „Hallo.“ Ihre Stimme klang hohl und unnatürlich. Was für eine alberne Begrüßung für den Mann, den sie liebte. Langsam ging sie auf ihn zu. „Ich wartete eine Woche lang, daß du kommen und dein Kleid abholen würdest“, sagte Colin ruhig. „Dann beschloß ich, es dir zu bringen.“ „Aber du sagtest doch, du würdest mir nicht noch einmal folgen. Warum bist du gekommen?“ Sie versuchte ein Lächeln. „Du hast mir meinen großen Auftritt verdorben. Ich war im Begriff, zu dir zurückzukommen.“ Colin trat auf sie zu und packte sie hart bei den Schultern. „Ist das wahr? Spiel nicht mit mir, Linda. Ich will dich, aber wenn du kommst, dann ist es für immer. Ich laß dich nicht wieder gehen.“ Seine Stimme klang heiser. „Colin.“ Linda berührte zärtlich mit ihren Fingerspitzen sein Gesicht. „Ich meine es ernst, Linda. Ich habe zu lange auf die richtige Frau gewartet, um mich jetzt, da ich sie gefunden habe, mit halbherzigen Zugeständnissen vertrösten zu lassen.“ „Colin McCloud“, sagte sie ernst. „Ich liebe dich. Ist das genug für den Anfang?“ „Nein“, entgegnete er rauh. „Liebe ist schön, aber Heirat ist der Beweis dafür. Bist du bereit, soweit zu gehen?“ „Ja“, antwortete Linda glücklich. „Egal, was Patrick dazu sagt und welches Risiko du für mich eingehst?“ „Und du bist ganz sicher, daß du meinetwegen auf dein wildes Leben verzichten kannst?“ Colin zog sie an sich, sein Lachen war voll und tief. „Ja, Linda, für dich werde ich zahm.“ Er lächelte sie an. „Sag mir noch einmal, daß du mich liebst.“ Das war jetzt leicht. „Ich liebe dich, Colin McCloud.“ Sie schlang die Arme um seinen Hals. „Jetzt sag du es.“ „Ich liebe dich, Colin McCloud“, wiederholte Colin mit hoher Stimme, und Linda lachte. „Kannst du nicht für einen Augenblick ernst sein?“ protestierte sie. „Ich liebe dich, Linda Angeli. Ich liebe dich, seit du so beherrscht und furchtlos in die Ranger-Station gekommen bist. Bevor der Mond über den Bergen aufging, wußte ich, daß du die Frau warst, die ich suchte, und die ich kaum noch zu finden geglaubt hatte.“ Colin lächelte zärtlich. „Zuerst hat mich das erschreckt, aber nachdem ich es akzeptiert hatte, wußte ich, daß ich dich brauche und dich zurückholen muß.“ Linda ließ seinen Blick nicht los. Plötzlich verschwamm alles vor ihren Augen. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten, aber es gelang ihr nicht. Colin streichelte ihre Wange. „Das sind die Tränen, die du in all den Jahren zurückgehalten hast. Alle Empfindungen, die du so lange verdrängt hast, stauten sich auf. Jetzt, da du bereit bist zu lieben, brechen auch sie hervor.“ Linda lächelte. „Ich wußte gar nicht, daß ich mich in einen Amateurpsychologen verliebt habe.“ „Stets zu Diensten“, scherzte Colin. Doch dann wurden seine Augen ernst. „Wie sehen deine Pläne aus, jetzt, da du mit mir kommen willst.“ Linda machte sich frei. Welche Pläne hatte sie eigentlich? Irgendwie hatte sie angenommen, daß sie nur in Colins Arme eilen brauchte, und schon regelte sich
alles von allein. „Steht der ,Golden Lion’ noch zum Verkauf?“ fragte sie schließlich. „Lake Tahoe liegt näher an den Bergen.“ „Gregory hat also seinen Mund nicht halten können.“ Er sah sie scharf an. „Was hältst du davon? Wäre das nicht schön? Am See in Tahoe könnte ich es aushalten, und du wärest in der Nähe deiner Familie.“ „Das Problem ist nur, daß meine Familie wegzieht“, sagte Linda etwas traurig. „Wie bitte?“ Colin war überrascht. „Du hattest recht. Marcy will nach Sedona, und Brian möchte die Eisdiele verkaufen und als Glücksritter durch die Welt ziehen.“ Sie sah ihn von der Seite an. „Ein Haus hätten wir also schon. Was hältst du davon?“ Colin lachte. „Dann werde ich Jerry gleich wegen des Restaurants anrufen.“ „Warum hast du nicht offen mit mir über das Projekt gesprochen?“ fragte sie leise. „Ich wollte dich nicht drängen.“ Colin fuhr ihr über das Haar. „Du machst zwar immer Pläne für andere, aber ich bezweifle, daß du welche für dich machen läßt.“ „Da irrst du dich.“ Linda öffnete die Tür zu ihrem Apartment und ließ ihn eintreten. „Von nun an möchte ich, daß du für uns planst.“ „So spricht eine Frau, die vorübergehend den Kopf verloren hat“, sagte er weise. „Ich werde dich einmal daran erinnern, wenn du dich weigerst, meinem Willen zu folgen.“ Linda wußte, er hatte recht. Sie würde nicht zulassen, daß jemand anders die Entscheidungen für sie traf. Aber im Augenblick wollte sie ihm ihre Liebe auf jede nur erdenkliche Weise zeigen. Nur gut, daß er ihre Motive klar erkannte. „Wo ist denn mein Kleid, das du zurückbringen wolltest.“ „Ich habe es vergessen“, gestand Colin verlegen. „Nachdem ich beschlossen hatte zu kommen, konnte ich an nichts anderes mehr denken.“ Linda lachte und schmiegte sich an ihn. „Seit wann weißt du, daß du mich für immer und nicht nur für einen Sommer willst?“ „Ich wollte dich von Anfang an für immer“, sagte er und drückte sie an sich. „Aber ich wollte dich nicht drängen und habe deswegen nur von einem Sommer gesprochen. Aber was wird Patrick dazu sagen? Wird er mich akzeptieren?“ „Ich glaube schon. Du hast eine glückliche Hand mit ihm, und er zeigt bereits erste Anzeichen von Vernunft.“ „Großartig. Wo ist er eigentlich?“ „In der Küche beim Essen.“ „Gut, dann haben wir etwas Zeit für eine wortlose Verständigung.“ Colin legte seinen Arm um Linda und führte sie ins Schlafzimmer. Sein Mund war weich und warm und weckte ihr Verlangen. Nichts hielt sie mehr zurück. Linda liebte ihn mit einer Hemmungslosigkeit, die sie fast erschreckte. Jetzt konnte sie Colin vorbehaltlos vertrauen. Er gehörte ihr, wie sie ihm gehörte. Sie waren eins, ein Paar, das die Liebe verband. Als sie sich trennten, standen wieder Tränen in ihren Augen, diesmal jedoch Tränen des Glücks. Sie war eine ehrgeizige Frau, würde es immer sein. Aber erst jetzt hatte ihr Ehrgeiz ein wirklich erstrebenswertes Ziel gefunden, hatte ihr Leben einen Sinn erhalten. „Ich glaube, du hast mich gezähmt, Linda“, flüsterte Colin. „Leider nur vorübergehend, befürchte ich.“ Linda lächelte und fuhr ihm mit den Fingern durch das dichte lockige Haar. „Du bist und bleibst wild. Ich hoffe nur, daß ich immer mithalten kann.“ Colin hob den Kopf und sah ihr in die Augen. „Du und ich, Linda“, sagte er zärtlich. „Für immer.“
- ENDE -