Das schönste Fest meines Lebens Rebecca Winters Julia Weihnachten 1/4 1998
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Das schönste Fest meines Lebens Rebecca Winters Julia Weihnachten 1/4 1998
gescannt von suzi_kay korrigiert von Dodoree
1. KAPITEL
Das Wasserflugzeug schaukelte zu dem einsamen Steg und legte an. Kip drehte sich in seinem Sitz um. "Jilly, wo ist Daddy denn?" Das hätte Jill Barton auch gern gewusst. "Ich kann ihn auch nirgends entdecken. Aber keine Angst, wir finden ihn bestimmt", versicherte sie ihrem kleinen Reisebegleiter, während sie angestrengt aus dem kleinen Fenster des Flugzeugs starrte. Sie kannte Kips Vater nicht und war auch noch nie in Kaslit Bay gewesen. Das Holzarbeitercamp, nicht mehr als eine kleine Ansammlung von Gebäuden und Wohnwagen entlang der Küste, wirkte verlassen und menschenleer. In der Nacht hatte es geschneit, und jetzt lag eine dünne weiße Schneeschicht über dem Ort. Es sah aus, als wäre das ganze
Land bis zum Frühling in einen Winterschlaf versunken. Man musste die Augen anstrengen, um den Lastwagen auf dem Hohlweg auszumachen. Er kam in ihre Richtung. Am Pier stand ein Mann in einer rotkarierten Wolljacke und schwarzer Baseballkappe und schwenkte grüßend die Arme über dem Kopf. Das war vermutlich der Besitzer des kleinen Supermarkts, den Kips Mutter Marianne erwähnt hatte. Der Lastwagen war in einiger Entfernung stehen geblieben. Ein Mann stieg aus, und Jills Herz fing an zu hämmern. Mit ein bisschen Glück war das Kips Vater. Erleichtert öffnete Jill ihren Gurt und half dann Kip. Sie knöpfte seinen Parka bis oben zu, zog ihm die Kapuze über und wickelte ihn in den breiten Schal, so dass Wangen und Nase vor dem eisigen Wind geschützt waren. Während der Pilot anfing, das Flugzeug zu entladen, half der Mann in der rotkarierten Jacke Jill und Kip beim Aussteigen. "R. J. ROSS", stellte er sich vor. "Mir gehört der Laden da drüben. Ich will Sie ja nicht abschrecken, aber ehrlich gesagt, ich kann mir um alles in der Welt nicht vorstellen, was Sie
bei uns suchen. Die meisten Leute verbringen den Winter an einem freundlicheren Ort und kommen erst im Frühjahr wieder zurück." Jill lebte in Ketchikan und war an die nasse Kälte der Winter in Alaska gewöhnt. Aber hier war es besonders ungemütlich. Starker Wind war aufgekommen und ließ sie frösteln. Sie zog die Kapuze über die kurzen weißblonden Haare, schlüpfte in ihre warmen Handschuhe und nahm Kip an die Hand. "Ich habe nur den jungen Mann her begleitet. Er soll die Weihnachtsferien bei seinem Vater verbringen, einem gewissen Zane Doyle", erzählte sie und spähte an J. R. ROSS vorbei nach dem hoch gewachsenen Mann, der jetzt in ihre Richtung kam. Er schien Ende dreißig zu sein, war dunkelblond und hatte markante, sehr männliche Züge. Er trug nichts auf dem Kopf. In ihm erkannte sie auf Anhieb den Mann, der der kleine Junge an ihrer Hand noch zu werden versprach. Unter dem dick gefütterten Parka war seine kräftige Statur zu ahnen. Vielleicht war er Holzfäller. Seine Augen waren von einem ungewöhnlich tiefen Meerblau, und er hatte eine unerwartet sinnliche Ausstrahlung.
Als Jill ihrer Klasse vor einiger Zeit die Geschichte von Paul Bunyan erzählt hatte, hatte Kip behauptet, dass sein Vater ganz genauso aussähe wie der legendäre amerikanische Volksheld. Und dieser Fremde war, bis auf die Haarfarbe, Paul Bunyans exaktes Ebenbild. Jetzt ließ er einen schnellen, routinierten Blick über Jill gleiten, und ein ganz neues, unbekanntes Gefühl, das sie nicht benennen konnte, regte sich in ihr. Dann streifte er Kip mit einem flüchtigen Blick, nickte R. J. zu und ging weiter zu dem Piloten. Jill sah ihm verwirrt nach. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, dass Vater und Sohn sich nicht erkannt hatten. Sie hatte erwartet, dass Kip zu seinem Vater laufen und sich in seine Arme werfen würde. Statt dessen verhielten sich beide, als hätten sie sich noch nie gesehen. Inzwischen hatte Kips Vater mit J. R. ROSS angefangen, den Lastwagen abzuladen. Jill wusste nicht, was sie davon halten sollte. Hatte Kip seinen Vater so lange nicht gesehen, dass er wirklich glaubte, er habe schwarze Haare? Und hatte er sich nur täuschen lassen, weil ihn die Haarfarbe irritierte? Aber das war
auch nicht logisch, denn es erklärte nicht, warum Zane Doyle seinen eigenen Sohn nicht erkannt hatte. An dem dicken Parka konnte es doch wohl nicht liegen. Jill nahm Kip beiseite und ging vor ihm in die Hocke. "Hör mal, mein Kleiner, ich muss dich etwas fragen, und es ist sehr wichtig, dass du mir die Wahrheit sagst. Hast du deinen Daddy überhaupt schon einmal gesehen?" Ein Schatten legte sich über Kips Augen, und er schüttelte nur stumm den Kopf. Jill konnte es kaum glauben. Kip kannte seinen Vater nicht! Und sie hatte den starken Verdacht, dass auch Zane Doyle seinen Sohn noch nie gesehen hatte. War es möglich, dass er nicht einmal etwas von seiner Existenz ahnte? Sie wusste, dass Marianne Mongrief viel zuzutrauen war, aber das? Eisige Kälte breitete sich in ihr aus. Irgendwie musste sie Kip hier wieder wegbringen, bevor etwas geschah, das nicht wieder gutzumachen war. Aber es war schon zu spät. In geradezu panikartiger Furcht sah sie den fremden Mann, in dem sie Kips Vater vermutete, auf sich zukommen. Sein Blick war kalt. Nichts mehr
war von seiner sinnlichen Ausstrahlung übrig geblieben, die sie so fasziniert hatte. "Ich bin Zane Doyle", sagte er. "Ich habe gehört, dass Sie auf der Suche nach dem Vater dieses Jungen sind, der angeblich genauso heißt." Seine Stimme war tief und aufregend. "Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Meine Frau starb vor zehn Jahren bei einem Flugzeugabsturz, Kinder hatten wir keine. Es tut mir leid, dass Sie den weiten Weg von Ketchikan umsonst gemacht haben. Ich bin nicht der Mann, den Sie suchen. Und von einem Namensvetter ist mir nichts bekannt." Jill glaubte ihm. Sie kannte ihn nicht, aber sie spürte instinktiv, dass er die Wahrheit sagte. Aber sie wusste auch, dass er trotzdem der richtige Zane Doyle war. Denn sein kleines Abbild stand ein paar Meter von ihr entfernt und schaute zu, wie die beiden anderen Männer das Flugzeug entluden. Marianne hatte etwas mit diesem Mann gehabt, vielleicht hatte er in seiner Einsamkeit bei ihr Trost und Wärme gesucht. Mit einem Mal gingen Jill die Augen auf, und ihr wurde klar, was Marianne ihr nie erzählt, nie erklärt hatte. Und sie verstand auch, warum Kip sich
ausgerechnet Paul Bunyan zum Helden erkoren hatte. Er war der Ersatz für den Vater, von dem er immer geträumt hatte. Jill stöhnte auf, ohne dass es ihr bewusst geworden wäre, und der Mann vor ihr umfasste ihre Oberarme und hielt sie fest, als befürchtete er, sie könnte sich nicht auf den Beinen halten. Mit ihrer Größe von einem Meter zweiundsechzig kam sie sich ihm gegenüber winzig und hilflos vor und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. "Sie sind ganz blass. Geht es Ihnen nicht gut?" fragte er besorgt. "Doch, doch", versicherte sie ihm hastig. Dann sah sie ihn fast flehentlich aus ihren braunen Augen an. "Mir tut nur Kip so leid. Er hat sich so auf seinen Vater gefreut, und jetzt muss ich ihm beibringen, dass es ihn gar nicht gibt. Vielleicht sind wir aus Versehen in der falschen Bucht gelandet." Sie feuchtete nervös die Lippen an. "Diese Orte haben alle so ähnliche Namen." Aber sie wusste selbst, wie unsinnig ihre Vermutung war. Er sah sie forschend an. "Sind Sie eine Verwandte des Kleinen?"
"Nein." Sie schüttelte den Kopf und wünschte sich weit weg. "Ich bin Kips Vorschullehrerin. Jill Barton." Er hielt sie immer noch fest, und sie spürte seine Hände durch ihre dicke Jacke hindurch. "Aber warum haben Sie ihn ausgerechnet hierher gebracht? Wo ist seine Mutter?" Jill wandte den Blick ab. "Das ist so auf die Schnelle etwas schwierig zu erklären. Es ist im Moment auch nicht so wichtig." "Jilly? Mir ist kalt", jammerte Kip. "Wann kommt Daddy denn endlich?" "Wart noch einen Moment, Kip", sagte Jill und wandte sich dann wieder Zane Doyle zu. "Der Pilot wartet. Es ist wohl am besten, wenn wir gleich wieder mit ihm zurückfliegen." "Nicht so hastig", widersprach Zane, und Autorität klang aus seiner Stimme. "Der Wind frischt auf, und der Flug nach Ketchikan wird sehr unruhig werden. Ich würde Ihnen sehr davon abraten." "Aber ich habe keine andere Wahl. Hier können wir nicht bleiben." "Darf ich Sie einladen, mit dem Jungen mein Gast zu sein, bis das Wetter wieder besser ist?"
Jill schüttelte den Kopf. Das Letzte, was sie sich wünschte, war, sich mit Kips Vater - der ja gar nicht wusste, dass er überhaupt einen Sohn hatte - in einer solchen Situation wieder zu finden. "Der Flug wird bestimmt kein Problem." Aber noch als sie das sagte, sah sie, dass die weißen Schaumkronen in der Bucht zahlreicher geworden waren. "Das hat meine Frau auch gesagt, bevor sie damals in das Flugzeug stieg." Das hatte bitter geklungen. Jill sah zu ihm auf. Seine Augen waren nachtblau geworden, und ihr Herz zog sich zusammen. "Alaska ist ein gastfreundliches Land, aber das wissen Sie ja, wenn Sie in Ketchikan leben. Dem Reisenden steht jede Tür offen, vor allem bei schlechtem Wetter. Sie wollen doch sicher nicht das Leben eines Kindes riskieren, nur weil Sie sich fürchten, meine Einladung anzunehmen?" Zu ihrer eigenen Überraschung traten Jill Tränen in die Augen. "Niemals würde ich meine eigenen Gefühle wichtiger nehmen als Kips Sicherheit!"
Es war ihr unerträglich, dass er sie so aufgelöst erlebte, und sie wischte sich hastig mit dem Handschuh die Tränen ab. "Was ist dann das Problem?" wollte er wissen. Marianne Mongrief, dachte sie. Das Herz tat ihr weh. Zane Doyle war Kips Vater, daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel. Aber das sollte er von Marianne selbst erfahren, nicht von ihr. "Ma'am? Wenn Sie mit mir zurück wollen, müssen Sie es sich bald überlegen", rief der Pilot in diesem Augenblick und rettete Jill vor einer Antwort. Sie erwachte aus ihrer Erstarrung und entzog sich Zane Doyles Griff, um zu Kip zu gehen. "Dein Daddy ist offenbar nicht gekommen", erklärte sie und legte ihm den Arm um die Schultern. "Wir dürfen bei Mr. Doyle bleiben, bis das Wetter besser wird. Möchtest du das?" "Ich weiß nicht." Die Enttäuschung war dem Fünfjährigen deutlich anzumerken, und Jill hätte Marianne dafür umbringen können. Woher nahm sie die Frechheit, sie alle in diese unwürdige Situation zu bringen? Jill drehte sich zu dem Piloten um. "Ich glaube, wir warten den Sturm lieber hier ab."
"Das ist sicher vernünftig. Bis dann, Partner." Der Pilot lächelte Kip an und schlug ihm zum Abschied liebevoll auf die Schulter. Dann kletterte er in sein Cockpit. Kurz darauf hob sich die Maschine in die Lüfte. R. J. ROSS sah Jill an. "Wenn Sie etwas brauchen, kommen Sie einfach vorbei. Die Frau gibt Ihnen alles. Sei schön brav, Kleiner." Mit einem kurzen Nicken machte er sich auf den Weg zu seinem Laden. "Kip?" Zane übernahm das Kommando. "Du bist bestimmt schon groß und stark genug, um diesen Karton zu meinem Wagen zu tragen. Je früher wir hier fertig sind, um so schneller kommen wir weg, und deine Lehrerin muss nicht mehr frieren." "Ich kann noch viel mehr tragen!" behauptete Kip stolz. Jill betrachtete ihn verblüfft. Normalerweise war er Erwachsenen gegenüber ziemlich schüchtern. Aber Zane Doyle fasste ihn offenbar richtig an. War das Zufall oder Instinkt? Es war jedenfalls eine interessante Beobachtung. Sie nahm das Gepäck und folgte Vater und Sohn. Jetzt wusste sie auch, woher Kip seinen
energischen Gang hatte. Dieser Gleichklang der Bewegungen war wirklich unglaublich. Als die Kisten aus dem Flugzeug auf der offenen Ladefläche des kleinen Lastwagens verstaut waren, war das Wasserflugzeug längst aus der Sicht verschwunden, und das Dröhnen der Motoren war im Tosen des Windes untergegangen. Wieder überkam Jill der Zorn auf Marianne und ihren Verrat. Ohne jede Rücksicht auf die Gefühle anderer, vor allem auf die ihres Sohnes, hatte sie drei Menschen in eine mehr als peinliche und belastende Lage gebracht. Auf einmal fiel ihr auf, dass Zane Doyle sie forschend und mit einem Anflug von Belustigung betrachtete. "Entspannen Sie sich, Miss Barton. Sie müssen sich nicht auf eine Nacht im Iglu einrichten. Sie werden mein Haus ganz bequem finden." Zum Glück hatte er ihre Miene falsch interpretiert. "Ich kann mir Schlimmeres vorstellen, als in einem Iglu Schutz vor schlechtem Wetter zu suchen", gab sie etwas kühl zurück. Er lächelte unerwartet, und unter anderen Umständen hätte dieses Lächeln sie verzaubert.
Jetzt öffnete er die Beifahrertür. "Kip, du setzt dich am besten neben mich. Dann kannst du unterwegs nach Rentieren und Hühnerhabichten Ausschau halten." "Jilly sagt, dass es davon nur noch ganz wenige gibt." Kip kletterte ins Führerhaus und rutschte in die Mitte, um Platz für Jill zu machen. Seine Wangen glühten vor Aufregung. Wenn Zane den Kleinen doch nur einmal richtig anschauen würde! Dann muss ihm die verblüffende Ähnlichkeit doch auffallen, dachte Jill. Jetzt drückte er die Tür zu und lachte. Und dieses Lachen traf sie mitten ins Herz. "Deine Jilly hat recht. Und deshalb hat meine Firma über hundert Quadratkilometer Wald zur Verfügung gestellt, wo sie ungestört nisten können." Jill musste an sich halten, um ihn nicht anzustarren, als er um den Wagen herum zu seiner Seite ging und sich hinter das Lenkrad setzte. "Gehört der Wald dir ganz allein? Und die Firma auch?" Kips Augen wurden groß. Wieder fragte Jill sich, wo seine Schüchternheit geblieben war. Sie wusste, dass das erst der Anfang einer Reihe endloser Fragen war, die
Zane Doyle ab jetzt zu beantworten hatte. Aber das tat ihm vielleicht gut. Er wirkte auf sie, als führte er mehr oder weniger ein Einsiedlerdasein. Aber was machte sie sich überhaupt Gedanken über diesen Mann? "Ja. Der gehört mir ganz allein. Und die Firma auch." Er startete den Motor. "Sie heißt Bellingham-Wales Bau- und Nutzholz." "Jilly, hast du schon mal so einen komischen Namen gehört?" Jill wandte den Kopf um und sah mitten in Zane Doyles Augen. "Sie sind das geheimnisvolle Orakel, Miss Barton. Ich warte mit Spannung auf Ihre Antwort." "Was ist ein Orkel?" Zane lachte, und Jill ließ sich trotz ihrer Anspannung davon anstecken. Sein Blick ging ihr durch und durch, und sie zog Kip auf ihren Schoß, um sich abzulenken. "Das heißt, dass deine Lehrerin unfehlbar ist", erwiderte Zane mit leiser Ironie. Kip sah zu Jill auf. "Was ist unfällbar?" wollte er wissen. Sie hatte Mühe, ernst zu bleiben.
"Na los", forderte Zane sie auf. "Ich bin sehr neugierig auf Ihre Erklärung." Jill spürte, dass ihr das Blut in die Wangen stieg. "Das bedeutet, dass ich angeblich immer recht habe. Aber Mr. Doyle macht nur Spaß. Natürlich weiß ich nicht alles, nur weil ich deine Lehrerin bin." "Doch", widersprach Kip mit Nachdruck. "Robbie hat gesagt, dass du viel gescheiter bist als sein Dad." "Das ist offenbar höchstes Lob", meinte ihr Gastgeber beeindruckt. "Und was meint Mr. Barton dazu?" fragte er nach einer fast unmerklichen Pause. "Du bist aber dumm!" warf Kip ihm kichernd vor. "Jilly ist doch gar nicht verheiratet! Mommy sagt immer, dass sie viele Männer haben kann. Aber sie wartet auf einen Prinzen." "Kip ...!" murmelte Jill unglücklich. "Ich fürchte, in Alaska gibt es nicht besonders viele Märchenprinzen", meinte Zane genüsslich. "Was ist ein Märchenprinz?" "Das ist eine gute Frage, mein Junge. Wenn wir Männer die Antwort darauf wüssten, wäre deine Jilly längst verheiratet." "Bist du verheiratet?"
"Ich war es früher einmal." "Und jetzt nicht mehr?" "Meine Frau ist gestorben." "Das ist aber traurig. Wo sind denn deine Kinder?" "Ich habe keine Kinder." "Warum nicht?" Eine kleine Pause entstand. "Wir haben es nicht rechtzeitig geschafft." "Ich bin froh, dass mein Dad es geschafft hat. Kennst du ihn?" "Ich weiß nicht. Wie heißt er denn?" "Mongrief."
2. KAPITEL
Zane Doyle schwieg lange. "Nein", sagte er schließlich. "Ich glaube nicht, dass ich deinen Dad kenne." Jill hielt unwillkürlich den Atem an. Sie merkte Zane an der Stimme an, dass er den Namen Mongrief nicht zum ersten Mal gehört hatte. Und sie spürte es auch. Jetzt war das Thema, das sie am liebsten gemieden hätte, auf dem Tisch. Marianne war nach dem Tod des Vaters mit ihrer Mutter aus Schottland zu Verwandten nach Nord-Idaho ausgewandert. Als sie in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren, war Marianne nach Alaska gegangen, um sich dort Arbeit zu suchen. Damals musste sie Zane Doyle kennen gelernt haben. Jill vermutete, dass Marianne im Staat Alaska der einzige Mensch war, der Mongrief hieß.
"Schau mal!" Sie drehte Kip zum Fenster. "Dahinten zwischen den Bäumen bewegt sich etwas. Kannst du erkennen, was das ist?" "Wo?" "Da drüben." Jill wies mit dem Finger auf ein Pinienwäldchen. Die Baumwipfel schwankten im Wind. Tiere ästen am Waldrand. "Rentiere! Kannst du sie auch sehen, Mr. Doyle?" Zane hatte alle Hände damit zu tun, den Wagen auf der glatten Straße zu halten. "Du kannst Zane zu mir sagen. Wie viele sind es?" "Drei." "Du hast aber gute Augen." "Aber Jilly hat sie zuerst gesehen." Kip wollte keine falschen Lorbeeren einheimsen. "Robbies Dad sagt immer, dass sie sogar hinten am Kopf Augen hat." "Stimmt das, Miss Barton?" "Keine Ahnung. Ich kann nicht um die Ecke schauen." Kip kicherte und rutschte näher zu Zane. "Wohnst du in einem Wohnwagen?" "Nein, in einem richtigen Haus. Aber wir sind bald da, dann kannst du es selbst sehen."
Jill gestand sich nur ungern ein, dass sie genauso neugierig auf Zanes Haus war wie Kip. Sie sah aus dem Fenster, ob sie irgendwo in diesen verschneiten Wäldern ein Anzeichen von Zivilisation entdecken konnte. Kurz darauf machte die Straße eine Biegung, und sie kamen zu einer weiten Lichtung auf einem Hügel. "Wow!" Kip und Jill staunten, als sie vor einem modernen zweistöckigen Haus anhielten. Es war ganz aus Holz und Glas gebaut worden und stand mitten in einer Wiese. Im Sommer war sie wahrscheinlich bunt vor Blumen. Man hatte einen herrlichen Blick von hier über die Bucht mit ihren vielen bewaldeten Inselchen, die sie schon vom Flugzeug aus so bewundert hatten. Im Sommer musste es hier herrlich sein. Schnee wehte um den Wagen, als der Wind böig auffrischte und die Flocken aufwirbelte. In der Ferne schimmerten weiße Gletscher. "Ist das schön!" sagte Jill ehrfürchtig. "Genau dasselbe habe ich auch gesagt, als ich das erste Mal hier war." "Wann war das?" Sie wollte alles von ihm wissen.
"Vor zwanzig Jahren. Damals war dieser Teil der Prince of Wales Island noch völlig unberührt." "Wohnst du ganz allein hier?" fragte Kip neugierig. "Nein. Mein Freund Beastlie leistet mir Gesellschaft", antwortete Zane. Kip warf Jill einen etwas ängstlichen Blick zu. "Ist er ein richtiges Biest, weil er so heißt?" "Das glaube ich nicht. Aber das musst du am besten Mr. Doyle selbst fragen." "Beastlie ist ein Hundemischling." "Was ist ein Mischling?" "Wenn ein Hund von verschiedenen Rassen abstammt." "So wie der Hund von Mr. Ling. Er heißt Mutt." "Genau." Zane sah Jill an und machte eine etwas unverständliche Bemerkung, die darauf hinauslief, dass Robbies Vater offenbar doch recht habe. Dann fuhren sie wieder an, bis sie schließlich hinter dem Haus anhielten. Mit Planen bedecktes Baumaterial lagerte hier. Zane bemerkte Jills Blick. "Das Haus selbst ist schon seit zwei Jahren fertig", erklärte er. "Jetzt bin ich mit dem Innenausbau beschäftigt." Es
war verblüffend, wie leicht er ihre Gedanken zu lesen schien. "Gehen Sie doch schon hinein und machen Sie sich mit meinem ..." Er zögerte einen Moment. "... mit meinem Mutt bekannt. Kip und ich laden inzwischen den Wagen aus." Sein Blick verursachte ihr eine Gänsehaut, und ihr Herz schlug schneller. "Es ist nur recht und billig, dass ich Ihnen helfe. Immerhin habe ich Sie mehr oder weniger überfallen. Ihrem Hund können Sie mich und Kip später auch noch vorstellen." Zanes Mundwinkel zuckten, dann sah er Kip an. "Ich bin heilfroh, dass sie nicht meine Lehrerin war. Sie ist so gescheit, dass ich richtig Angst bekomme." "Ich habe es dir ja gesagt", erwiderte Kip sehr zufrieden mit sich. Zane warf Jill erneut einen schnellen Blick zu. Ein Ausdruck stand in seinen Augen, den sie nicht enträtseln konnte. Nach einer Weile sagte er: "Ich werde auf der Hut sein müssen." Ein Unterton in seiner Stimme sagte ihr, dass unter dieser liebenswürdigen, freundlichen Fassade, die er um Kips willen trug, mehr steckte. Und sie wusste, dass er unter normalen Umständen nie auf die Idee gekommen wäre,
sie einfach einzuladen Dazu war er viel zu zurückhaltend. Wenn der Pilot es für sicher genug gehalten hatte, nach Ketchikan zurückzufliegen, dann hätte doch wohl auch keine Gefahr für sie und Kip bestanden? Zu spät erst machte sie sich klar, dass in dieser Einladung keine Logik steckte. Zane Doyle stand nicht zufällig einem großen Unternehmen vor. Lange bevor der Name Mongrief gefallen war, hatte er schon ein Geheimnis gewittert. Und entschlossen, diesem Geheimnis auf den Grund zu gehen, hatte er ihr und Kip erlaubt, in seine private Festung einzudringen. Vielleicht nahm er an, dass sie eine Rolle in Mariannes üblem Plan spielte. Sie konnte kaum glauben, dass Marianne so grausam und rücksichtslos war, ihrem früheren Liebhaber seinen Sohn auf diese Art und Weise zu präsentieren. Warum sie das tat, wusste Jill nicht, aber es spielte eigentlich auch keine Rolle. Wichtig war nur, dass Kip keinen Schaden litt, und dafür würde sie mit allen ihren Kräften sorgen. "Was ist das denn?"
Das fragte Jill sich auch. Sie waren gerade ausgestiegen, als sie ein mächtiges Heulen hörte, das sie sofort an einen Wolf denken ließ. Sie legte unwillkürlich den Arm um Kips Schultern. Zane hatte bereits mit dem Ausladen begonnen. "Das ist Beastlie", informierte er seine beiden Gäste. "Er will uns begrüßen. " "Wo ist er?" Kip hüpfte aufgeregt auf und ab. "Hinter dir." Jill und Kip fuhren herum und sahen einen grauweißen Hund auf sich zulaufen. Er hatte große Ähnlichkeit mit einem Huskie, schien aber auch etwas von einem Wolf in sich zu haben. "Ist der aber groß!" Kip war sichtlich beeindruckt. Beastlie lief zu seinem Herrn und rieb seinen mächtigen Kopf an dessen Knie. Er stellte gegenüber den Phantasiehunden von Kips Phantasievater eindeutig eine Verbesserung dar. "Zieh die Handschuhe aus und lass ihn an deinen Händen schnuppern", ermunterte Zane den kleinen Jungen. Kip zögerte keinen Augenblick. Schon nach dieser kurzen Bekanntschaft hatte er grenzenloses Vertrauen zu Zane. Das war die
Wirkung, die Zane Doyle auf andere Menschen hatte. "Sehr gut machst du das. So, und jetzt musst du ihn am Kopf kraulen, genau hier. Dann hast du einen Freund fürs Leben." Kip versuchte, Zanes Anweisungen zu befolgen. Das war gar nicht einfach, denn der Hund war größer als er. Aber Beastlie schien das Problem zu erkennen und senkte mit einem leisen Brummlaut den Kopf. Kip fing vor Begeisterung und Aufregung an zu kichern, als der Hund sich an ihn drückte. Ein fast zärtlicher Ausdruck zog über Zanes Gesicht, als er Kind und Hund beobachtete, eine Gefühlsregung, die vermutlich nur wenige Menschen an ihm zu sehen bekamen. Jill war ganz gerührt. Im Augenblick erschien Zane Doyle entspannt und unbeschwert. Der Wind zerzauste sein kurz geschnittenes Haar und presste den Parka und die Jeans eng an seinen Körper. Jill war davon überzeugt, dass sie noch nie einen so gutaussehenden Mann gesehen hatte. Marianne war offenbar derselben Meinung gewesen. Dieser Gedanke versetzte Jill unerwartet einen Stich, und sie bewegte sich ein
wenig von Zane fort. Aber sie fing noch einen Blick aus seinen blauen Augen auf. Er hatte sie dabei ertappt, dass sie ihn angestarrt hatte, und das war ihr mehr als unangenehm. Dass sie sich auf so unerklärliche Weise zu ihm hingezogen fühlte, machte die ohnehin schon komplizierte Situation noch komplizierter. "Wo wollen Sie hin, Miss Barton? Sie müssen auch noch Freundschaft mit Beastlie schließen." "Er tut dir bestimmt nichts, Jilly." Kip befreite sie von ihrem dicken Handschuh und zog ihre Hand an Beastlies Nase, damit er daran schnüffeln konnte. "Und jetzt musst du ihn kraulen. Schau mal, so." Gehorsam fuhr Jill dem Hund in das dichte Fell. "Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Mr. Beastlie", sagte sie feierlich. Kip lachte entzückt. "Du bist aber dumm, Jilly. Er heißt doch nicht Mister Beastlie!" "Ich dachte, es könnte nicht schaden, wenn ich besonders höflich bin, damit er mich mag." "Sehr weise", befand Beastlies Herrchen. Jill konnte nicht entscheiden, ob er das im Scherz gesagt hatte oder als Warnung verstanden haben wollte. Er stand so dicht neben ihr, dass sie diese Nähe kaum ertrug.
Wie um sich dagegen zu wehren, fuhr sie jetzt mit beiden Händen in Beastlies dicken Pelz. "Trotz deines Namens bist du wunderschön", erklärte sie, und der Hund gab ein Geräusch von sich, das fast wie das Schnurren einer Katze klang. "Wenn Sie so weitermachen, wird er mit fliegenden Fahnen zu Ihnen überlaufen", warf Zane ihr nicht ganz ernst gemeint vor. "Gehen wir also lieber ins Haus, bevor das passiert. Kip, du gehst voraus. Siehst du die Tür? Das ist der Hintereingang." "Darf Beastlie mitkommen?" erkundigte Kip sich, als sie in eine Art verglaste Veranda traten, in der es im Vergleich zu den arktischen Temperaturen draußen geradezu himmlisch warm war. Jill zog ihren Parka aus, während Zane Kip half, die Bänder an seiner Kapuze zu lösen. "Er ist gern im Freien, die Kälte macht ihm nichts aus. Aber heute nacht darf er neben deinem Bett schlafen, wenn du willst." Kip strahlte ihn an. "Ehrlich?" Jill schloss einen Moment lang die Augen. Es war wirklich unglaublich, wie ähnlich die beiden sich waren. Weitere Beweise für Zanes
Vaterschaft waren gar nicht notwendig: Die Form der Augenbrauen und Ohren, der kleine Wirbel am Scheitel, das feste Kinn, das breite Lächeln, die Körperform - der eine war ein Spiegelbild des anderen.
3. KAPITEL
Das war ein sehr privater Augenblick, und Jill hätte viel dafür gegeben, wenn sie nicht Zeugin dieser Szene geworden wäre. Das erste Zusammentreffen zwischen Vater und Sohn hätte anders verlaufen sollen, nicht so profan. Das war einfach nicht fair. Am liebsten hätte sie alle beide in die Arme genommen und sich entschuldigt. Sie hätte Mariannes Plan durchschauen und verhindern müssen. "Dann wollen wir mal in die Küche gehen und uns etwas zu essen machen", schlug Zane vor. "Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich bin halb verhungert." Er tat so, als wäre nichts geschehen, aber Jill ließ sich nicht täuschen. Seine Stimme klang belegt und etwas rau. Er musste inzwischen
erkannt haben, dass Kip sein Sohn war, und das hatte ihn tief berührt. Sie folgten ihm durch die Diele, und Kip imitierte dabei den Schritt seines Vaters bis zur Perfektion, ohne dass es ihm bewusst war. "Gibt es Thunfisch?" "Nein. Hamburger. Ich kann Thunfisch nicht leiden." "Ich auch nicht. Aber Jilly sagt, dass er gesund ist. Fürs Gehirn oder so." "Meine Mutter hat das auch immer behauptet. Weißt du, was ich gemacht habe? Ich habe einfach mein Schulbrot mit meinem Freund getauscht. Er hat nämlich Erdnussbutter gehasst." "Wenn ich in die erste Klasse komme, mache ich das auch!" verkündete Kip. "Gute Idee. Das Bad ist links, die Küche rechts. Kannst du das schon auseinander halten?" "Klar! Das hat Jill mir gelernt." "Dann hat sie dir sicher auch beigebracht, dass man sich vor dem Essen die Hände wäscht." "Ja. Und danach muss man sich die Zähne putzen, damit den Zickzäckchen nichts passiert." "Zickzäckchen?" Zane lachte.
"Mhm. Sie erfindet immer so lustige Namen für alles." "Was denn noch?" "Sie sagt Knubbel zu meinen Zehen und Mop zu den Haaren, solche Sachen. Alle Kinder müssen immer schrecklich über sie lachen." "Ich habe trotzdem ein bisschen Angst vor ihr." "Das brauchst du aber gar nicht!" Kip stemmte die Hände in die Hüften. "Ich hab' sie am allermeisten auf der Welt lieb." "Kip ..." Jill freute sich über diese Liebeserklärung, wenn sie auch ein wenig rot wurde. "Das ist ja höchste Anerkennung", meinte Zane. "Kann sie denn auch kochen?" "Sie macht die besten Plätzchen und das beste Chili und die allerbesten MickymausPfannkuchen auf der ganzen Welt." "Tatsächlich?" Zane war beeindruckt. "Dann ernenne ich sie hiermit zu unserer Köchin. Wir zwei Männer sägen dafür das Holz für den Kamin." "Mit einer echten Säge?" "Mit etwas anderem kann man nicht sägen." "Gehen wir gleich nach dem Essen?" "Es ist aber ziemlich windig."
"Das ist mir egal." "Na, gut. Abgemacht." "Geh nicht weg", sagte Kip ein wenig besorgt. "Ich muss schnell ins Bad." "Ich bleibe bei Jill in der Küche " "Ehrenwort?" "Großes Ehrenwort." Kip hüpfte beruhigt davon, und Jill empfand die Spannung in der Küche als ziemlich unerträglich. Sie versteifte sich unwillkürlich, als Zane sich zu ihr umdrehte und sie aus schmalen, kalten Augen ansah. Verschwunden war der Charme, den er vor wenigen Augenblicken noch so großzügig versprüht hatte. Er schien auf einmal ein ganz anderer Mensch zu sein. Eine Vielzahl von Gefühlen, von Schmerz bis hin zu Wut, drückte sich in seinem Gesicht aus. Sie fühlte sich völlig hilflos. "Sagen Sie mir nur eines." Seine Stimme klang eisig. "Wo ist Marianne?" Jill schluckte. "Ich ... ich weiß es nicht. Ehrlich." "Was soll das heißen: Sie wissen es nicht? Sie tauchen aus heiterem Himmel hier auf, konfrontieren mich mit einem Sohn, von dem
ich bisher nichts ahnte, und haben die Frechheit zu behaupten, Sie wüssten nicht, wo seine Mutter sich herumtreibt?" Seine Halsschlagadern waren hervorgetreten, so wütend war er. Sein Mund war zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Jill fürchtete sich ein wenig vor ihm. "Sie wollte heiraten. Mehr weiß ich nicht." Er umfasste ihr Kinn, so dass sie sich nicht von ihm abwenden konnte. "Sie erwarten doch wohl nicht, dass ich das akzeptiere?" Er war außer sich vor Ärger, und sie konnte es ihm nicht verdenken. "Nein. Es tut mir so furchtbar leid", flüsterte sie und sah ihn flehend an. Wenn er ihr doch nur glauben würde! "Hier." Sie zog den Brief, den Marianne neben dem Spülbecken in der Küche für sie hinterlassen hatte, aus der Tasche. "Lesen Sie ihn, dann wissen Sie genauso viel wie ich." Sein Blick wurde nicht freundlicher, und Jill tat das Herz für ihn weh, als sie sah, wie seine Brust sich hob und senkte. Wie hatte Marianne ihm das nur antun können? "Jilly? Küsst ihr euch gerade?" erkundigte sich da Kip von der Tür.
"So kann man das nicht nennen, Sportsfreund." Jill bekam kein Wort heraus, und Zane hatte an ihrer Stelle geantwortet. Fast widerstrebend ließ er die Hand sinken und nahm den Brief an sich. Immer würde sie sich daran erinnern, wie seine Hand sich auf ihrer Haut angefühlt hatte. Wenn Kip nicht in diesem Moment zurückgekommen wäre, hätte sie Zanes Wut vielleicht noch deutlicher zu spüren bekommen. Er warf sie mit Marianne in einen Topf, und daran würde vermutlich auch der Brief nichts ändern. Für ihn war sie so schuldig wie Marianne, und sie fürchtete sich ein wenig vor seiner Vergeltung. Was für eine Ironie des Schicksals. In dieser kurzen Zeit war ihr Zane Doyle schon wichtiger geworden als Harris Walker - wichtiger als jeder andere Mann bisher in ihrem Leben. Dabei kannte sie ihn noch nicht einmal zwei Stunden ... "Ich glaube, deine Lehrerin möchte sich auch gern ein bisschen frisch machen, bevor wir essen." Kip ahnte zum Glück nicht, was zwischen den beiden Erwachsenen vor sich ging. Aber Jill hatte Zane sehr wohl verstanden. Er schickte sie fort, weil er ihren Anblick nicht mehr ertragen
konnte. Und er wollte mit seinem Sohn allein sein, um seine neue Situation zu begreifen lernen. Sie blieb im Bad, bis Kip kam, um sie zum Essen zu holen.
4. KAPITEL
"Willst du Jill nicht beim Abwasch helfen, während ich mich umziehe? Danach gehen wir beide Holz sägen, wenn du Lust dazu hast." "O ja. Bitte!" Zane hatte grünen Salat, Hamburger und Eis aufgetischt, und Kip hatte mit großem Appetit gegessen. Er war wie verwandelt. Eigentlich mochte er Salat nicht, aber jetzt wollte er offenbar seinem neuen Idol Zane in allem nacheifern. Zum Glück hatten Kip und Zane vorwiegend die Unterhaltung bestritten, denn Jill hätte kein Wort herausgebracht. Seit sie in die Küche zurückgekommen war, hatte sie Zanes Blick gemieden. Der Brief steckte noch ungeöffnet in seiner hinteren Hosentasche. Ein paar Minuten in seinem Zimmer würden ihm Zeit geben, ihn
zu lesen und vielleicht zu verstehen, was Marianne zu ihrem Verhalten bewogen hatte. Seit er heute morgen zum Dock gefahren war, war sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden. Von einem Augenblick auf den anderen war er Vater geworden - Vater eines hinreißenden, sensiblen fünfjährigen Jungen, der sich in dieser kurzen Zeit bereits in sein Herz geschlichen hatte. Ihr selbst war es ja ähnlich gegangen, als er damals zu ihr in die Vorschule gekommen war. Sie wusste instinktiv, dass Zane ein Mann war, der zu seiner Verantwortung stand, ganz gleich, wie schwierig es für ihn wurde. Auch wenn man vielleicht über ihn klatschte, Kip würde für ihn immer an erster Stelle stehen. Daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel, und damit war die größte Sorge von ihr genommen. Menschen, die Zane nahe standen, würden ohnehin verständnisvoll reagieren, und gegen alle anderen würde er sich zu wehren wissen. Allein wie nett und natürlich er mit Kip umgegangen war, hatte ihr gezeigt, was er für ein wundervoller Mann war. Warum, um alles in der Welt, hatte Marianne ihn gehen lassen? Warum hatte sie nicht alles in ihrer Macht
Stehende getan, um einen solchen Mann festzuhalten - wenn nicht für sich, so doch für Kip? Jill verstand es einfach nicht. Am besten fing sie endlich mit dem Abwasch an, damit sie sich nicht dauernd über etwas den Kopf zerbrach, das sie doch nicht beeinflussen konnte. Normalerweise hätte es ihr Spaß gemacht, in einer so großen, modernen Küche zu arbeiten. Sie war hell und luftig wie das ganze Haus. Die langen dunklen Wintermonate in Alaska konnten sehr deprimierend sein, und deshalb war ein schönes Heim besonders wichtig. Das ganze Haus schien so gebaut zu sein, dass es die Illusion von Licht schuf. Das war in den übrigen Räumen sicher auch so. Zane hatte Kip beim Essen erzählt, dass er noch eine Wohnung in Bellingham, Washington, hatte, wo auch der Hauptsitz seines Unternehmens war. Der zweite Firmensitz war Thorne Bay, fünfzig Kilometer südlich von Kaslit Bay, wo sie heute morgen mit dem Wasserflugzeug gelandet waren. Dank Kips Neugier hatte sie auch erfahren, dass Zane vorhatte, hier zu leben, sobald die letzten Arbeiten am Haus abgeschlossen waren. Das
würde bald nach Weihnachten sein, wenn die Arbeiter aus ihrem kurzen Urlaub zurückkamen. Zur Arbeit wollte er mit dem Flugzeug zwischen Thorne Bay und Bellingham pendeln. Jill hatte keine Ahnung, ob er Weihnachten hier oder in seiner Wohnung in Bellingham verbringen wollte, wenn ihm das Wetter keinen Strich durch die Rechnung machte. Bis dahin waren es noch zwei Tage. Er hatte seine Mutter erwähnt, aber nicht, ob sie und sein Vater noch lebten und ob er Geschwister, vielleicht Nichten oder Neffen hatte. Sie hatte noch so viele Fragen, aber sie wollte nicht zu neugierig erscheinen. "Jilly, wir gehen jetzt raus", verkündete Kip von der Tür. Jill hatte gerade Gläser in den Schrank räumen wollen und ließ sie vor Schreck fast fallen, als sie sich umdrehte und ihren Gastgeber hinter Kip in die Küche kommen sah. Er war viel zu attraktiv für ihr Seelenheil. Zane betrachtete sie ausgiebig: das hellblonde Haar, die vollen Rundungen unter dem dicken Pullover, die schlanken, jeansverhüllten Beine. Aber seine Miene war vollkommen ausdruckslos und machte es ihr unmöglich zu
erraten, wie er Mariannes Brief aufgenommen hatte. Ob er sie immer noch für mitschuldig hielt? Ihr Herz sank. "Komm her, mein Schatz", sagte sie zu Kip. "Ich will sehen, ob du auch gut eingepackt bist." Mit zitternden Händen band sie die Kordel an seiner Kapuze fest. "Was machst du, wenn wir weg sind?" Sie küsste ihn auf die Nasenspitze und lächelte. "Das ist ein Geheimnis." Ihr Lächeln schwand, als sie zu Zane hinüber sah. "Das heißt, wenn Sie nichts dagegen haben, dass ich allein im Haus bleibe." Zane legte Kip die Hand auf die Schulter, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Mit jeder Geste gab er dem Kind das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Was für ein Jammer, dass den beiden das Zusammensein fünf Jahre verwehrt worden ist, dachte Jill. Sie waren ein so wundervolles Paar. Sie fühlte, wie gefährlich nahe ihr die Tränen waren. Aber ihre Augen blieben trocken. "Ich habe Ihnen ja gesagt, dass Sie in der Küche nach Lust und Laune schalten und walten können, solange Sie hier sind", sagte Zane im Hinausgehen.
Solange Sie hier sind ... Das hatte einen unheilverkündenden Klang. Ihre Gedanken hatten sich so ausschließlich um Kip und seinen Vater gedreht, dass sie gar nicht weitergedacht hatte. Jetzt wurde ihr auf einmal klar, dass sie vielleicht ohne Kip wieder nach Hause zurückkehren würde. Wenn Marianne ihren Willen bekam und Zane ihn in Zukunft bei sich haben wollte, würde sie ihn vielleicht nie mehr wieder sehen. Seit September teilte sie mit Marianne die Wohnung, und in diesen vier Monaten hatte sie an Kip Mutterstelle vertreten, da Marianne jede Verantwortung für ihren Sohn auf sie abgeladen hatte. Die Vorstellung, ihn in Zukunft nicht mehr um sich zu haben, war viel zu schmerzlich, und so schob sie den Gedanken daran schnell beiseite. Als sie ihre Eltern am Thanksgiving besucht hatte, hatten sie ihr Vorwürfe gemacht. "Harris wird nicht ewig auf deine Antwort warten. Du könntest längst verheiratet sein und ein eigenes Kind haben, wenn du wolltest, und brauchtest dich nicht so an Kip zu hängen." Aber in ihrer Beziehung zu Harris fehlte etwas Entscheidendes. Er sah gut aus, war intelligent
und liebte sie, aber sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sie mit ihm verheiratet war und seine Kinder bekam. Diesen Wunsch hatte noch kein Mann in ihr geweckt. Bis heute. Was war los mit ihr? Dieser Mann hatte eine Affäre mit Marianne gehabt, und aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er eine Freundin. Ein attraktiver Mann wie er ... Beim Essen hatte Kip von Zane wissen wollen, ob er wieder verheiratet war. Das war offenbar nicht der Fall, aber das bedeutete schließlich nicht, dass er keine Beziehung pflegte. Einem so anziehenden und aufregenden Mann wie Zane Doyle konnte es nie an weiblicher Gesellschaft fehlen. Jill konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es Frauen gab, die ihm widerstehen konnten. Sie selbst am wenigsten ... Sie war nervös und musste sich bewegen. Und so entschloss sie sich zu einer kleinen Erkundungstour durch das untere Stockwerk. Stufen führten in ein geräumiges Wohnzimmer, dessen riesige Fenster über die Bucht schauten. Daran schloss sich ein Studierzimmer mit hohen, bis zur Decke reichenden Bücherregalen. Beide Räume waren durch einen gemeinsamen Kamin verbunden. Von einem kleinen Erker
konnte man gleichzeitig den Blick auf die Bucht und den Wald genießen. Die Einrichtung war auf die nötigsten Möbel beschränkt: ein Sofa, ein paar Sessel und Stühle, ein Schreibtisch. Teppiche fehlten ganz, aber der helle Holzboden verlieh den Räumen viel Wärme und verlangte nicht danach. Sie wanderte weiter zum Bad, fand eine Speisekammer und einen Wirtschaftsraum mit Tiefkühltruhe, Waschmaschine und Trockner. Zane hatte sich ein Traumhaus mitten im Paradies geschaffen. Jill war ein Einzelkind und früher viel mit ihren Eltern gereist - nach Europa, Südamerika, in den Orient. Aber erst ihr Besuch in Alaska vor ein paar Jahren hatte ihr die Augen für die Schönheit und das Wunder unberührter Natur geöffnet. Sie hatte einfach keine Worte gefunden, um diese atemberaubende Landschaft zu beschreiben - den leuchtend blauen Himmel, die hohen Berggipfel und glitzernden Gletscher, die rauschenden Wasserfälle, die saftiggrünen Wälder und die plätschernden Bäche und vielen Flüsse, in denen sich zahlreiche Fische tummelten. Alaska war seither für sie der schönste Teil der Erde.
Auf dieser Reise mit ihren Eltern damals hatte sie beschlossen, eines Tages nach Alaska zurückzukehren und zumindest für eine Weile hier zu leben. Und dann hatte sich plötzlich die Chance dazu ergeben, als eine Vorschullehrerin eine Pause einlegte und ihre Stelle für ein Jahr frei geworden war. Aber jetzt wünschte sie sich, sie hätte diese Gelegenheit nicht wahrgenommen und Kip nie kennen gelernt. Natürlich war sie nicht dagegen, dass er und sein Vater endlich zusammenkamen. Das hätte schon vor langer Zeit geschehen sollen. Aber jetzt wurde ihr schmerzlich klar, dass sie alles, was sie je vom Leben hatte haben wollen, hier fand: einen Mann, der das Land verkörperte, das ihre Heimat geworden war, und den kleinen Jungen, den sie so liebte, als wäre er ihr eigener Sohn. Sie konnte nur hoffen, dass das Wetter morgen aufklarte und sie nach Hause zu ihrer Familie fliehen konnte, um zu versuchen, ihr Gleichgewicht wieder zu finden. Aber wahrscheinlich war es dazu ohnehin schon zu spät. Allein der Gedanke, diesen paradiesischen Ort wieder verlassen zu müssen, tat so weh, dass sie
sich gar nicht vorstellen konnte, wie sie die Weihnachtsferien überstehen sollte. Die Stärke ihrer Gefühle machte ihr angst, und sie lief in die Küche zurück, um sich an die Vorbereitung des Abendessens zu machen. Während sie sich die einzelnen Zutaten für Kips Lieblingsplätzchen zusammensuchte, hörte sie von draußen über dem Rauschen des Windes das Kreischen der Säge. Kip fühlte sich wahrscheinlich wie im siebten Himmel. Vor ein paar Wochen hatte sie ihm eine Spielzeugsäge und eine kleine Axt aus Holz gekauft, aber das heute war natürlich etwas ganz anderes, das war etwas für Männer! Jill hätte sich am liebsten zu den beiden gesellt, aber sie wagte es nicht. Statt dessen stürzte sie sich mit mehr als der üblichen Energie in ihre Backarbeit und begnügte sich damit, Vater und Sohn durchs Fenster zu beobachten. Es schneite nur leicht, aber sie hatte den Eindruck, dass der Wind auffrischte. Auf einmal läutete das Telefon, und sie fuhr zusammen. Eine Weile hatte sie sich jenseits der Zivilisation gefühlt. Ob sie abheben sollte? Das Klingeln hörte nicht auf. Der Anrufer war hartnäckig. Vielleicht war es ja Marianne.
Möglicherweise hatte sie im letzten Moment doch noch ein schlechtes Gewissen bekommen und wollte wissen, ob ihr Sohn heil angekommen war und es ihm gut ging. Das wäre zwar das erste Mal, aber Jill war willens, ausnahmsweise einmal das Beste anzunehmen. Da sie selbst Kip so liebte, konnte sie sich gar nicht vorstellen, dass seine Mutter ihn so leichten Herzens weggeben konnte. Ohne weitere Überlegung lief sie in Zanes Studierzimmer und hob den Telefonhörer ab. Eine weibliche Stimme mit schottischem Akzent antwortete ihr. "Bin ich da richtig bei Mr. Zane Doyle?" Jill umfasste den Hörer nachdrücklicher. "Ja ..." Eine kleine Pause entstand. "Und wer sind Sie?" wollte die Frau am anderen Ende dann wissen. Jill wollte keinen falschen Eindruck vermitteln. "Ich bin mehr oder weniger wegen des schlechten Wetters hier gestrandet. Mr. Doyle ist draußen und macht Feuerholz. Soll ich ihn holen?" "Nein." Die Frau schien enttäuscht zu sein. "Sie brauchen ihn nicht zu stören. Aber er hatte eigentlich gestern schon nach Bellingham
kommen wollen. Sagen Sie ihm doch bitte, er möchte mich zurückrufen - Brenda." "Ja, natürlich." Jill legte wieder auf. Einen Moment war sie versucht gewesen, diese Brenda zu fragen, ob Zane ihre Telefonnummer hatte. Aber daran bestand ja wohl kein Zweifel. Wenn sie ihn bei sich erwartet hatte, konnte das nur heißen, dass die beiden eine engere Beziehung zueinander hatten. Der Gedanke versetzte ihr einen schmerzhaften Stich. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und machte ihre erste Erfahrung mit der Eifersucht. Das Telefon klingelte noch zweimal, bevor sie das Studierzimmer wieder verließ. Beide Male waren es geschäftliche Anrufe. Sie machte eine kurze Notiz und legte sie Zane auf den Schreibtisch. Dann lief sie in die Küche zurück, um sich wieder um die Plätzchen zu kümmern. Im selben Moment kamen Vater und Sohn ins Haus zurück. Sie hörte, wie sie den Schnee von den Schuhen stampften und Kip aufgeregt auf Zane einredete. Sie zog gerade das Backblech aus dem Herd, als die beiden in die Küche kamen. Ihre Gesichter waren gerötet, und Zanes Augen wirkten ganz unglaublich blau. Kip hatte knallrote Wangen.
"Oh! Schokoladenplätzchen!" Er drehte sich begeistert zu seinem Vater um. "Die schmecken ganz toll!" Jill versuchte, seinen Enthusiasmus etwas zu dämpfen. "Warten wir ab, bis Zane sie probiert hat. Vielleicht mag er sie ja gar nicht." "Warum denn nicht?" Zanes tiefe Stimme ging ihr durch und durch. Sie rieb sich nervös den Nacken, eine Geste, die ihn zu faszinieren schien. "Sie waren ein bisschen zu lang im Rohr." Sie räusperte sich. "Sie haben in der Zwischenzeit übrigens drei Anrufe bekommen." Zane sah auf Kip hinunter. "Wollen wir einen Versuch mit den Wunderplätzchen riskieren, Sportsfreund?" Kip nickte eifrig, und innerhalb weniger Minuten hatten sie zu zweit fast ein ganzes Blech vertilgt. Zane holte Milch aus dem Kühlschrank und schenkte zwei Gläser ein. Dann rückte er ein wenig näher zu Jill. "Sie hätten das Klingeln ignorieren sollen." Das klang nicht so, als wäre er immer noch böse auf sie, und auch sein Blick war nicht mehr zornig oder vorwurfsvoll. "Ich habe seit Montag Urlaub, und für das Telefon ist
der Anrufbeantworter zuständig. Ich hebe grundsätzlich nicht ab." Jill hielt unwillkürlich den Atem an. "Auch nicht, wenn Brenda anruft?" fragte sie dann ein wenig herausfordernd.
5. KAPITEL Ein merkwürdiger Glanz trat in Zanes Augen, als er sein leeres Glas in die Spüle stellte. "Meine wohlmeinende Schwester will an Weihnachten immer die Familie um sich scharen. Aber ich fürchte, gewisse Vorkommnisse haben das unmöglich gemacht." Aus einem Wust von Gründen, den Jill im Augenblick nicht entwirren mochte, war sie über die Antwort so erleichtert, dass es aus ihr herausplatzte: "Ich ... ich dachte, es wäre vielleicht Marianne, die wissen wollte, wie es Kip geht." Seine Miene verdüsterte sich. "Sie glauben ja wohl nicht im Ernst, dass sie sich darum schert, wie es irgend jemandem außer ihr geht? Sonst wären Sie schließlich nicht hier. Machen wir uns nichts vor." Er schien tief verärgert zu sein. Vermutlich steckte etwas dahinter, wovon sie nichts wusste.
Und wenn sie ehrlich war, wollte sie es auch nicht wissen. "Kriege ich noch ein Plätzchen, Jilly?" Jill drehte sich um. "Lieber nicht. Wir essen bald." "Wie wäre es, wenn du Beastlie rufst und ins Haus holst?" schlug Zane vor. Ein Glück, dass ihm das eingefallen war. "Jippü" "Wir müssen uns ausführlich unterhalten", verkündete er, nachdem sein Sohn verschwunden war. "Sobald Kip im Bett ist. Und das bringt mich gleich zum nächsten Thema: Er wird sicher mit Ihnen im selben Zimmer schlafen wollen. Oben geht das nicht. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, im Wohnzimmer auf der Schlafcouch zu übernachten." "Nein, nein, natürlich nicht", erwiderte Jill schnell. "Kip wird begeistert sein." "Davon bin ich überzeugt. Ich fahre schnell zu ROSS, um Bettzeug zu holen." Ganz offensichtlich hatte noch niemand hier übernachtet. Es war verrückt, wie glücklich und froh es sie machte, dass sie die Nacht mit ihm und Kip im
selben Haus verbringen durfte, und ihr Herz klopfte wie rasend. "Darf Kip baden, während Sie weg sind?" "Ja, natürlich. Das erinnert mich gleich daran, dass wir auch ein paar Handtücher brauchen. Soll ich sonst noch etwas mitbringen?" Jill schüttelte den Kopf. "Nein. Für Kip habe ich alles reichlich dabei. Vorsichtshalber, falls ..." Sie kam ins Stammeln und suchte nach den richtigen Worten. "Sparen Sie sich die Erklärung", unterbrach er sie schroff. "Sie konnten schließlich nicht wissen, ob sein Vater nicht vielleicht genauso verantwortungslos ist wie seine Mutter." Der Brief hatte Marianne also offenbar nicht ins beste Licht gesetzt. Er holte tief Atem. "Ich wollte auch eher wissen, ob Sie etwas brauchen, nicht Kip." Jill sah ihn nicht an. Alles, was sie brauchte und wollte, fand sie bei ihm, unter diesem Dach. Dann zögerte sie. "Ein kleines Problem habe ich doch. Ich wollte eigentlich gestern die Weihnachtsgeschenke für Kip kaufen. Aber dann kam Mariannes Brief dazwischen ..." "Was wollten Sie ihm denn schenken?"
"Holzfällerstiefel und einen Schutzhelm, möglichst in Orange." Sie sah zu ihm auf. Sein Blick war beunruhigend intensiv. "Er möchte doch so gern so sein wie Sie." Er war gerührt. "Ich fürchte, es wird ein gelber Helm sein müssen. Die Stiefel muss R. J. bestellen, nehme ich an, aber sie werden sicher noch rechtzeitig geliefert." "Bei dem Wetter?" gab sie ungläubig zurück. "Ich dachte, der Sturm kann noch Tage andauern." "Das stimmt. Aber Sonderbestellungen werden auf dem Landweg geliefert. Von hier nach Thorne Bay führt eine kleine Straße." Jill kam sich ziemlich dumm vor. "Darauf hätte ich auch selbst kommen können." "Wie denn, nachdem Sie bis gestern noch nicht einmal wussten, dass Kaslit Bay überhaupt existiert?" gab er zurück. "Aber Sie haben meine erste Frage immer noch nicht beantwortet. Soll ich Ihnen etwas mitbringen?" "Nein, ich brauche nichts, danke." Er runzelte die Stirn. "Welche Frau hätte keine eigenen Wünsche und opferte ihr Leben für das Kind einer anderen?"
Wahrscheinlich hatte er von Anfang an gespürt, dass ihr Verhältnis zu Kip weit über das einer Lehrerin zu ihrem Schüler hinausging, und wollte sie jetzt davor warnen, zu besitzergreifend zu werden. Zweifellos sah er eine Art alte Jungfer in ihr. Jill geriet in Panik, als sie daran dachte, dass er möglicherweise mitbekommen hatte, wie sie sich zu ihm hingezogen fühlte. In welch peinliche Lage hatte sie sich nur gebracht! Sie kämpfte gegen ihre Gefühle an. "Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Mr. Doyle", erwiderte sie ein wenig zu scharf. "Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe auch noch ein anderes Leben. Nachdem ich jetzt weiß, dass Kip bei seinem Vater gut aufgehoben ist, werde ich das erste Flugzeug von hier nach Hause nehmen." "Das kann noch eine Weile dauern." Seine Stimme hatte ein wenig spöttisch geklungen, und Jill ergriff die Flucht ins Wohnzimmer. Bevor sie noch dort ankam, konnte sie schon Kip hören, der offenbar versuchte, Beastlie irgendwelche Kunststücke beizubringen.
Bis sie ihn dazu überredet hatte, sich wenigstens für die Dauer eines Bades von dem Hund zu trennen, hatte Zane das Haus verlassen, und ihr Atem ging wieder etwas ruhiger. Während sie den Hackbraten und die Kartoffeln in den Herd schob, amüsierte Kip sich königlich in der Badewanne. Offenbar machte ihm das Baden hier viel mehr Spaß als zu Hause, wahrscheinlich weil alles so neu für ihn war und weil es Zanes Haus war. Jill hätte auf den weinroten Bademantel an der Tür und den Rasierapparat als Erinnerung an den Mann, der sie weit mehr beschäftigte, als es für ihr Seelenheil gut war, verzichten können - an den Mann, der mehr als deutlich gemacht hatte, dass das einzige Gefühl, das er ihr entgegenbrachte, Mitleid war. Sie badete nach Kip, schlüpfte danach in ihr altes hoch geknöpftes Großmutternachthemd mit dem geflickten Kragen und zog ihren abgewetzten blauen Bademantel darüber. Da sie darin ohnehin schon aussah wie eine Jungfer, machte sie sich gar nicht erst die Mühe, sich zu schminken. Als Zane schließlich von seiner Einkaufsfahrt zurückkam, tobten Jill und Kip in ihren
Plüschhasenpantoffeln, deren Ohren bei jedem Schritt fröhlich wippten, mit Beastlie durchs Wohnzimmer. "Zane!" teilte Kip ihm aufgeregt mit. "Beastlie will meine Pantoffeln fressen!" "Das kann ich ihm nicht verdenken. Wenn ich Beastlie wäre, würde ich da auch reinbeißen wollen." Er stand da und sah mit eindeutig väterlichem Stolz auf Kip hinunter. Und Jill glaubte sogar, ein Lächeln um seine Mundwinkel zu entdecken. "Meinst du, ihr drei könntet euer Spiel für kurze Zeit unterbrechen und einem halbverhungerten Mann etwas zu essen geben? Ich bin kurz vor dem Zusammenbrechen." Kip rannte zu ihm. "Jilly hat das Essen schon fertig", teilte er ihm stolz mit. "Und ich habe den Tisch gedeckt! Ganz allein!" Zane registrierte Jills Morgenrock und die Pantoffeln, aber er schien von ihrer Erscheinung nicht sehr angetan, denn nach einem flüchtigen Blick wandte er sich wieder Kip zu, der sich glücklich in seine Arme schmiegte. "Dann werde ich nachher wohl abwaschen müssen", meinte er und zog eine Grimasse, über
die Kip entzückt lachte. Dann ging er mit seinem Sohn auf den Armen in die Küche. "Ich helfe dir!" Er war so ein liebes Kind, und Jill beneidete Zane - und Kip, weil er ihm so nahe sein durfte. Wie schön wäre es, wenn sie auch dazugehören dürfte ... Aber dann gab sie sich einen Ruck. Sie musste völlig verrückt sein, so etwas auch nur zu denken! Während sie das Essen auf den Tisch stellte, dachte sie daran, wie anders jetzt alles wäre, wenn sie nicht Vorschullehrerin geworden wäre oder an einer anderen Schule arbeiten würde. Dann wäre sie nie in diese Situation geraten. Aber es war müßig, sich mit solchen Gedankenspielchen zu beschäftigen. Beim Essen musste Jill immer wieder den Impuls unterdrücken, ihren Gastgeber anzustarren. Den größten Teil der Zeit schwieg sie und überließ die Unterhaltung Vater und Sohn. Als die beiden beim Nachtisch angelangt waren, stand sie auf. "Ich mache mich schon mal im Wohnzimmer nützlich." "Das Bettzeug finden Sie im Wäscheschrank im Wirtschaftsraum", teilte Zane ihr liebenswürdig mit.
In der nächsten halben Stunde schienen die beiden Männer sich beim Abwasch königlich zu amüsieren, während Jill unter Beastlies Anteilnahme die Betten für sich und Kip vorbereitete. Der Wind heulte ums Haus, aber sie fühlte sich warm und geborgen. Zane schloss die Türen und Fensterläden und löschte die Lichter. In der Zwischenzeit putzten Jill und Kip sich die Zähne, dann durfte Kip sich aussuchen, auf welchem Sofa er schlafen wollte. Er entschied sich für das größere, weil darauf auch für Beastlie Platz war. Der dachte gar nicht daran, am Fußende zu bleiben, sondern arbeitete sich Zentimeter um Zentimeter vor, bis sein Kopf endlich auf Kips Brust lag. Die beiden gaben ein so rührendes Bild ab, dass Jill nicht das Herz hatte, den Hund fortzuscheuchen. Zane ging es nicht anders. "Gute Nacht, Zane." "Gute Nacht, Kip." "Zane? Glaubst du, dass das Flugzeug bald kommt?" fragte Kip dann mit dünner Stimme. "Ich weiß es nicht. Aber darum wollen wir uns heute keine Gedanken mehr machen."
"Es soll nie kommen. Dann müssen wir immer hier bleiben!" "Würdest du das denn gern?" "Ja." Jills Augen wurden feucht. "Hm ..." "Was machen wir morgen?" wollte Kip wissen. "Wir könnten uns nach einem Weihnachtsbaum umschauen. Was hältst du davon?" "Jilly muss aber auch mitkommen." "Ich ... ich weiß nicht ..." "Ja, natürlich. Wir ziehen alle drei zusammen los." Zane ließ keinen Widerspruch gelten. "Bleibst du bei mir, bis ich eingeschlafen bin?" "Was denkst du denn? Natürlich." "Erzählst du mir noch eine Geschichte?" "Vielleicht die von Kabloona?" "Was ist das?" "Kabloona ist ein starker, tapferer kleiner Junge, genau wie du. Er ist Eskimo und hat seine Familie verloren. Auf einer Eisscholle wird er bis weit in den Norden getrieben, und da lernt er einen Polarbären kennen und freundet sich mit ihm an." "Ist das ein großer Bär?"
Sein Vater lachte, und dieses Lachen traf Jill mitten ins Herz. "Er ist so groß, dass Kabloona ihn zuerst für einen Eisberg hielt." "Jilly hat schon einmal einen ganz echten Eisberg gesehen", teilte Kip ihm wichtig mit. "Was ist dann passiert?" Selbst Jill ließ sich von Zanes Geschichte einspinnen. Es ging ihr wie Kip: Am liebsten wäre sie für immer hier geblieben. Zanes Stimme hatte eine fast hypnotische Wirkung, und Kip schlief bald ein. Aber Jill war hellwach. Sie musste sich beherrschen, um Zane nicht um eine zweite Geschichte zu bitten. Aber der Bann war bald gebrochen. "Ich glaube, das war genug für heute. Wollen wir uns in die Küche begeben, Miss Barton?"
6. KAPITEL Es gab keinen Aufschub mehr. Jill klopfte das Herz bis zum Halse, als sie aufstand, in ihre Pantoffeln schlüpfte und Zane folgte. Mariannes Brief lag auf dem Küchentisch. Liebe Jill, es fällt mir nicht leicht, diesen Brief zu schreiben. Aber gestern Abend hat Lyle mir einen Heiratsantrag gemacht, und ich habe ja gesagt. Ich weiß, dass das ziemlich überraschend kommt, aber er ist der Mann, auf den ich immer gewartet habe. Leider gibt es da ein Problem: Lyle weiß zwar von Kip, glaubt aber, dass er bei seinem Vater lebt. Ich konnte ihm die Wahrheit nicht sagen, weil Lyle noch keine Kinder haben will. Nach den Ferien, wenn wir von unserer Hochzeitsreise zurückkommen und uns eingerichtet haben, werde ich ihn bearbeiten, dass Kip uns auf der Ranch
besuchen darf. Es wird schon klappen. Ich habe Dir nie von Kips Vater erzählt. Er wünscht sich so sehr, dass Kip endlich einmal zu ihm kommt. Aber ich war immer der Ansicht, dass ein Holzfällercamp nicht der richtige Ort für ein Kind ist. Deshalb musste er immer nach Ketchikan fliegen, wenn er seinen Sohn sehen wollte. Zum Glück fällt die Hochzeit genau in die Weihnachtsferien, und Kip ist jetzt alt genug, um auch einmal allein wegzufahren. Leider hat Zane mich noch nicht zurückgerufen, so dass ich nicht genau sagen kann, wann er ihn abholt, aber es wird vermutlich gegen sechs Uhr sein. Wenn er bis dahin nicht gekommen ist, hat ihn das schlechte Wetter aufgehalten. Sollte er heute gar nicht mehr kommen, findest Du in der obersten Kommodenschublade einen Umschlag mit zwei Flugtickets für Dich und Kip nach Kaslit Bay. Sag Kip, dass der Weihnachtsmann ihm seinen Wunsch erfüllt hätte und er Weihnachten bei seinem Vater sein darf. Du kannst ihn am Dock von Kaslit Bay absetzen, Zane holt ihn dort ab. Wenn Du ihn nicht gleich findest, sag in dem kleinen Supermarkt Bescheid, dass man Zane
Doyle anrufen soll. Du brauchst Dich selbst nicht in Kaslit Bay aufzuhalten, sondern kannst gleich wieder nach Hause zurückfliegen. Kips Koffer sind fertig gepackt, seine Weihnachtsgeschenke habe ich dazugelegt. Ich werde Kip am Weihnachtsmorgen anrufen und ihm erzählen, dass ich geheiratet habe. Er wird die Neuigkeit leichter verdauen, wenn er bei seinem Vater ist. Mach Dir keine Gedanken über meinen Mietanteil. Lyle hat die nächsten drei Monate bezahlt, damit Du Zeit hast, eine neue Mitbewohnerin zu finden. Ende Januar rufe ich Dich an. Vielleicht können wir uns dann einmal treffen. Zum Schluss möchte ich mich bei Dir bedanken. Du hast mir immer sehr geholfen, und Du kannst so gut mit Kindern umgehen, dass Kip mich vermutlich gar nicht vermissen wird. Ich wünsche Dir schöne Weihnachten, und, wer weiß, vielleicht stellst Du ja doch noch fest, dass Harris Dein ersehnter Märchenprinz ist. Liebe Grüße, Marianne Jill hatte den Brief immer wieder gelesen, aber das machte ihn nicht besser. Im Gegenteil. Sie sah Zane unglücklich an.
"Es tut mir so leid, dass Sie es auf diese Weise erfahren mussten. Ich hätte alles getan, um Ihnen das zu ersparen." "Ich weiß. Es war nicht fair von Marianne, Sie in diese Lage zu bringen. Ich kann mir vorstellen, wie unangenehm Ihnen Ihre Rolle war, und dass Sie mir und Kip diese Situation lieber erspart hätten. Aber Sie verstehen hoffentlich, dass ich Sie und Kip nicht wieder abfliegen lassen konnte, bis ich wusste, was das alles zu bedeuten hatte." Jill schüttelte den Kopf. "Es muss ein Riesenschock für Sie gewesen sein, dass Sie auf einmal einen Sohn haben." "Das kann man wohl sagen." Seine Stimme klang belegt. "Aber, so komisch das auch klingen mag, ich bin froh, dass es so gekommen ist." "Warum?" "So konnte ich Kip unauffällig kennen lernen. Ich ... wenn ich mir einen kleinen Jungen hätte aussuchen dürfen ..." Er musste nicht mehr sagen. Sein Blick verriet alles. "Was auch immer man Marianne vorwerfen mag, sie hat mir einen hinreißenden Sohn geschenkt." "Ja", sagte Jill nur.
"Er macht einen sehr aufgeweckten Eindruck und fragt einem ein Loch in den Bauch." Jill lächelte. "Das kann man wohl sagen." "Aber was soll ich davon halten, wenn ein Fünfjähriger seine Mutter nur ein einziges Mal, und das nur nebenbei, erwähnt? Er hat nicht einmal ein bisschen Heimweh nach ihr!" Zanes Stimme klang ungläubig. "Ich habe zwei Nichten, und die beiden würden jetzt am Telefon hängen, wenn ihre Mutter nicht bei ihnen wäre. Aber offenbar ist das bei meinem Sohn nicht so. Er wirft sich jedem Mann an den Hals, der ihn öfter als einmal anschaut." Seine Miene war hart. Jill räusperte sich. "Das ist nicht wahr. Er ist sehr schüchtern Erwachsenen gegenüber, vor allem gegenüber Männern. Als er zu mir in die Vorschule kam, hatte er keine Freunde und wusste auch gar nicht, wie er mit den anderen Kindern umgehen sollte. Ich habe dann mit Mr. Ling gesprochen, dem Hausmeister. Er brachte seinen kleinen Hund Mutt mit in die Schule, und ich übertrug es Kip, ihn jeden Morgen zu füttern. Und es hat funktioniert!" Jill war die Freude darüber noch immer anzuhören. "Kip war schrecklich stolz auf
seinen ,Job', und die anderen Kinder wollten ihm natürlich alle dabei helfen. Und so freundete er sich mit Robbie an. Er kam nach der Schule häufig zu uns in die Wohnung, und bald lebte Kip richtig auf. Anfangs weigerte er sich noch, mit Robbie etwas zu unternehmen, und wollte unbedingt bei mir bleiben. Aber vor ein paar Wochen fuhr er dann doch mit Robbie und seinem Vater in ein indianisches Dorf, um Totempfähle anzuschauen. Von unterwegs rief er mich zweimal an, ob ich auch noch da bin." Zanes Züge wurden hart. "Und wo war Marianne in all dieser Zeit?" "Sie hat gearbeitet." Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, und das Herz tat ihr für ihn weh. "Zane, Sie müssen eines wissen: In all der Zeit hatte ich nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass Kip geschlagen oder unfreundlich behandelt wurde. Marianne hat nur einfach kein Gefühl dafür, wie man mit einem Kind umgehen muss und was ein Kind braucht. Und so überließ sie ihn immer anderen. Aber sie hat es nie böse gemeint." Zanes Augen waren dunkel vor unterdrücktem Zorn. "Ein Glück, dass Kip Sie hatte."
Jill mied seinen Blick, damit er nicht sah, wie sehr ihr das alles zu Herzen ging. Aber ihre Stimme klang etwas brüchig, als sie jetzt sagte: "Und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich darüber war, als ich Sie am Dock auftauchen sah." "Was hätten Sie getan, wenn ich nicht zufällig gekommen wäre?" wollte er wissen. "Ich hätte Kip wieder mit zurück nach Ketchikan genommen und ihn bei mir behalten." Er schüttelte den Kopf. "Eigentlich hatte ich vor, gestern nach Bellingham zu fliegen." "Ja, das hat Ihre Schwester gesagt." "Ich habe mich erst im letzten Moment entschlossen, den Flug zu verschieben, um noch ein paar dringende Arbeiten zu erledigen." "Es sollte wohl so sein", meinte Jill. "Kip hat sich immer einen Vater wie Sie gewünscht. Sie hätten sehen sollen, wie aufgeregt er war, als er hörte, dass er Weihnachten bei Ihnen verbringen darf. Und dann waren Sie da, als gerade die große Enttäuschung einsetzen wollte." Jill lächelte. "Es war wie ein Wunder. Kip hat Sie ganz instinktiv ausgewählt, und es spielte überhaupt keine Rolle, dass Sie ein fremder Mann waren. Er hat sofort eine Art Urvertrauen
zu Ihnen gefasst. Ich habe so etwas noch nie gesehen." "Ja, es war verblüffend", gab Zane zu. "Mir ging es ganz genauso. Ich werde Marianne nie verzeihen, dass sie ihn mir all diese Jahre vorenthalten hat." Jill sah zu ihm auf. "Sie haben ihn ja jetzt für den Rest Ihres Lebens." Zane war im Zimmer auf und ab gegangen und blieb jetzt stehen, um sich zu ihr umzudrehen. "Sie haben recht. Aber ein Problem gibt es noch. Wenn Kip bei mir bleibt, wird er in Bellingham wohnen und in die Schule gehen müssen. Das bedeutet, dass ich ihn von Ihnen trennen muss. Ich weiß nicht, ob ich ihm das antun kann. Wenn er Sie nicht gehabt hätte, wäre sein Verhältnis zu mir vielleicht ganz anders." "Was Zwischen Ihnen und ihm passiert ist, hat überhaupt nichts mit mir zu tun", wehrte Jill ab. "Da bin ich mir nicht so sicher. Sie haben seine kleine Welt zusammengehalten, und er liebt Sie abgöttisch." "Aber Sie sind sein Vater", erinnerte Jill ihn fest. "Zum ersten Mal in seinem Leben lernt er Sicherheit kennen. Ich bin nur seine Lehrerin."
Das klang, als müsse sie sich selbst davon überzeugen. "Sie wissen genau, dass das nicht stimmt. Sie sind viel mehr als das", gab er zurück. "Wer es nicht weiß, würde Sie für Kips Mutter halten." "Aber das bin ich nicht." Sie fühlte sich innen ganz leer. "Haben Sie sich schon entschieden, wie Sie reagieren wollen, wenn Marianne anruft?" "Falls sie anruft! Sollte sie mit Kip sprechen wollen, gut. Aber ich habe nicht vor, mir irgendwelche Rechtfertigungen oder abstrusen Geschichten anzuhören. Mein Anwalt wird sich mit ihr in Verbindung setzen und ihr mitteilen, dass ich das alleinige Sorgerecht für Kip beantragen werde. Natürlich kann sie ihn besuchen, wenn sie will, aber die Wahrscheinlichkeit ist vermutlich nicht sehr hoch." Ein Zittern durchlief Jill. Sie konnte sich nur wünschen, niemals Zielscheibe seines Zorns zu sein. "Ich glaube, Sie haben das Recht, endlich zu erfahren, was zwischen mir und Marianne damals wirklich vorgefallen ist."
Jill schüttelte den Kopf. "Sie schulden mir keine Erklärung. " Er kreuzte die Arme über der Brust und lehnte sich an die Küchentheke. "Ich möchte es Ihnen aber erzählen. Ich würde meine Beziehung zu Marianne nicht einmal als Affäre bezeichnen. Wir lernten uns kennen, als ich mit Freunden zwei Wochen beim Lachsfang war. Sie war bei uns als Köchin angestellt, und abends saßen wir oft zusammen. Nach dem Tod meiner Frau war sie die erste Frau, die mich überhaupt wieder interessierte. Vielleicht hing es mit ihrem schottischen Akzent zusammen." Das konnte Jill verstehen. Sie selbst fand Mariannes Akzent sehr reizvoll. "Aber auf einem Boot mit anderen Leuten kann sich nicht mehr als eine oberflächliche Bekanntschaft entwickeln. Gegen mein besseres Wissen schlief ich einmal mit ihr. Wir haben zwar aufgepasst, aber Kip ist der lebende Beweis, dass es nicht geklappt hat." Er schüttelte den Kopf. "Damals lebte Marianne in Craig, und ich wollte sie gleich am nächsten Wochenende nach den Ferien besuchen, um meinen Gefühlen auf den Grund zu gehen und einmal mit ihr allein zu sein. Auf dem Boot war
ja ständig etwas los, dauernd wurde gefeiert, und es war unmöglich, sich näher kennen zu lernen." Jill wusste nur allzu gut, dass Marianne auf jedem Fest anzutreffen war. "Jedenfalls flog ich zu ihr und stellte fest, dass sie aus ihrer Wohnung ausgezogen war und keine Nachsendeadresse hinterlassen hatte. Ich habe noch ein paar Erkundigungen angestellt, genau wie meine Freunde, aber sie war spurlos verschwunden." "Genau wie gestern", meinte Jill. "Hatten Sie damals Ihre Firma schon?" wollte sie dann wissen. "Nein, ich stand noch ganz am Anfang. Jetzt ist mir klar, dass Marianne einen Mann mit Geld suchte, bei dem sie vergessen konnte, woher sie kam. Dieser Mann war ich nicht. Noch nicht." Marianne Mongrief, wie dumm du doch warst, einen Mann wie Zane Doyle ziehen zu lassen, dachte Jill. "Sollte ich überhaupt etwas für sie empfunden haben, dann war es durch ihr Verschwinden vorbei. Ich gratulierte mir dazu, dass ich vielleicht gerade noch einmal davongekommen war."
Er hatte Marianne also nicht geliebt. Jill war unendlich erleichtert. Und so fand sie den Mut zu ihrer nächsten Frage. "Wann werden Sie Kip sagen, dass Sie sein richtiger Vater sind?" Aber Zane kam gar nicht mehr dazu, ihr eine Antwort zu geben. Jill hörte ein Geräusch hinter sich, und als sie sich umdrehte, entdeckte sie Kip und Beastlie unter der Tür. Kip kam zu ihr und sah sie aus großen Augen an. "Ist Zane wirklich mein Daddy?"
7. KAPITEL Jill sah hilfesuchend zu Zane hinüber. Er nickte fast unmerklich und überließ es damit ihr, seinem Sohn die Wahrheit zu sagen. Sie wusste am besten, wie sie mit ihm umgehen musste. Jill war ganz gerührt von dem Vertrauen, das Vater und Sohn ihr entgegenbrachten. Sie ging vor Kip in die Knie und nahm ihn in die Arme. "Wie lange bist du denn schon wach?" "Ich weiß nicht. Der Wind hat mich aufgeweckt. Ist Zane mein Daddy?" "Ja." Jills Stimme klang ein wenig unsicher. "Wie gefällt dir das?" Er schwieg eine Weile. Der Wind heulte ums Haus und verlieh der Situation etwas Unheimliches. Zanes Züge waren angespannt, und er war unnatürlich blass. "Jilly, ich glaube, er will mich gar nicht haben", flüsterte Kip ihr dann ins Ohr, aber Zane hatte ihn gehört.
Sie strich ihm die Haare aus der Stirn. "Und wie kommst du darauf, Schätzchen?" "Weil er gestern gesagt hat, dass er keine Kinder hat." "Dann weißt du aber bestimmt, was er noch gesagt hat: dass seine Frau gestorben ist, bevor sie ein Kind bekommen konnten?" "Ja." "Lange danach hat er deine Mommy kennen gelernt." Sie hoffte nur, dass sie jetzt die richtigen Worte fand. "Erinnerst du dich noch an die Geschichte von Kabloona? Wie er auf der Eisscholle weggetrieben wurde, bevor seine Familie es merkte?" Kip nickte. "Und genau das ist dir auch passiert. Deine Eltern haben sich nicht lange gekannt, bevor deine Mommy wegzog. Sie wusste erst viel später, dass du schon in ihrem Bauch warst. Dein Daddy hat sie gesucht, aber er hat sie nicht gefunden. Genau wie es bei Kabloona und seinem Daddy war. Deine Mom war fast sechs Jahre weg, und dein Daddy hat nie herausgefunden, wo sie ist, auch nicht, als sie mit dir nach Ketchikan kam. Er wusste nicht einmal, dass es dich gibt. Aber dann hat deine
Mom ihn gesucht, damit sie dich an Weihnachten zu ihm schicken kann." Diese kleine Unwahrheit würde ihr sicher verziehen werden. "Aber dein Daddy hat heute erst erfahren, dass du sein Sohn bist! Er hat es gar nicht gewusst. Und er hatte ein bisschen Angst, es dir zu sagen, weil er sich davor gefürchtet hat, dass du ihn vielleicht nicht lieb hast und gar nicht als Daddy haben willst." "Aber ich habe ihn schrecklich lieb!" rief Kip. "Dann komm, mein Sohn, und zeig es mir." Zane breitete die Arme aus, und Kip warf sich hinein und klammerte sich an ihn. "Ich habe mir immer so einen wunderbaren kleinen Jungen wie dich gewünscht, und ich habe dich sehr, sehr lieb. Ich werde dich nie wieder hergeben", versprach er rau. Jill stand auf und verließ die Küche. Beastlie nahm sie mit sich. Diese Minuten gehörten Vater und Sohn, da störte sie nur. Über ihren eigenen Schmerz wollte sie jetzt nicht nachdenken. Nichts sollte das Glück dieses Abends trüben. Sie legte sich auf ihr Sofa in dem Bewusstsein, dass ein kleines Wunder passiert war. Vater und Sohn, die sich bis heute nicht gekannt hatten,
waren endlich vereint, und sie brauchte sich um Kips Zukunft keine Sorgen mehr zu machen. Was immer Marianne sich noch einfallen ließ, ab jetzt war Zane da, sicher und zuverlässig, und würde sich um seinen Sohn kümmern. Er würde auf ihn aufpassen und ihm die Führung geben, die er brauchte. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, welche Pläne die beiden im Augenblick schmiedeten. Der Hund lief noch eine Weile vor der Tür auf und ab und wartete auf seinen kleinen Herrn. Aber dann kam er wohl zu dem Ergebnis, dass das nicht viel Sinn hatte, und legte sich vor Kips Bett. Langsam wurden Jill die Augenlider schwer, und sie drehte sich mit einem Seufzer auf den Bauch. Hoffentlich wusste Marianne, was sie getan hatte, denn jetzt gab es kein Zurück mehr. Wenn sie eines Tages beschloss, dass sie nicht bei ihrem Mann bleiben wollte, dann war der Weg nach Ketchikan zu ihrem Sohn versperrt. Kip war nicht mehr der kleine Junge, den sie einfach bei seiner Lehrerin unterbringen und über den sie nach Belieben verfügen konnte, sondern er war bei seinem Vater in Sicherheit.
Und dieser Vater würde ihn nie wieder hergeben ... "Jilly? Jilly, bist du schon wach?" "Guten Morgen, mein Herz", murmelte sie verschlafen und spähte auf ihre Uhr. Halb acht. Der Wind heulte noch genauso heftig wie gestern ums Haus. Aber Kip war einfach nur glücklich und hatte für nichts anderes Augen und Ohren. Offenbar hatte Zane ihn gestern ins Bett gebracht, denn das Bettzeug auf der zweiten Couch war zerwühlt. Hoffentlich hatte sie nicht geschnarcht oder im Schlaf gesprochen oder sonst etwas Peinliches getan! "Wo ist Beastlie?" Jill setzte sich auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht. "Daddy hat gesagt, wir sind jetzt eine Familie, und deshalb muss ich für Beastlie sorgen. Ich habe ihn schon hinausgelassen, damit er draußen spielen kann. Daddy hat gesagt, das ist wichtig, damit er gesund und stark bleibt." Daddy hat gesagt ... Wie leicht ihm das über die Lippen kam. Und was für ein wunderbares Gefühl es für den Kleinen gewesen sein musste, hier im Haus seines Vaters aufzuwachen und zu
wissen, dass er hierher gehörte und nie wieder wegzugehen brauchte. Jetzt erst wurde Jill so richtig bewusst, wie selbstverständlich sie es als Kind immer genommen hatte, dass ihr Vater da war. Kip wusste noch gar nicht, wie seine Welt sich mit einem Vater wie Zane, den er lieben und dem er nacheifern konnte, verändern würde. Eines Tages, wenn er älter war, würde ihm klar werden, dass das Schicksal ihm einen Vater geschenkt hatte, wie es ihn nur ganz selten gab. Zane war ein wunderbarer Mann, und wenn alle Kinder auf der Welt Väter wie ihn hätten ... Kip brach in Jills Gedanken ein. "Machst du uns Frühstück, Jilly? Daddy sagt, dass er auch am liebsten Pfannkuchen isst." Damit ist die Rollenverteilung endgültig klar, dachte Jill trocken. Fünf Minuten später war Jill gewaschen und schlüpfte in Jeans und einen grünen Pullover und suchte warme Sachen für Kip heraus. Dann gingen sie zusammen in die Küche. Sie fing an, das Frühstück vorzubereiten, während Kip schon einmal voller Eifer den Tisch deckte und Orangensaft in drei Gläser
schenkte. Danach machte er sich auf den Weg, um seinen "Daddy" zu holen. Zane war offenbar schon auf gewesen, denn es dauerte nicht lange, bis er angezogen und frisch rasiert, seinen Sohn auf den Armen, in der Küche erschien. Jill konnte gar nicht anders, als ihn anzustarren: die markanten Züge, diese so intensiven, unglaublich blauen Augen, die über dem hellen Pullover noch mehr leuchteten. Die dunkelblauen Cordhosen konnten seine muskulösen Beine nicht verbergen. Jill war so in seinen Anblick versunken, dass ihr erst nach einer Weile fast schockartig auffiel, dass er sie ebenso interessiert von Kopf bis Fuß musterte. Besonders schienen es ihm ihre weiblichen Rundungen angetan zu haben. Ihr wurde heiß, und ihr Gesicht fing an zu glühen. Die Zeit schien stillzustehen, als er den Blick über ihr gerötetes Gesicht, das helle Haar, das sie längst wieder hätte schneiden lassen sollen, die ausdrucksvollen warmen braunen Augen schweifen ließ. "Ich habe solchen Hunger, dass ich ein ganzes Dutzend Pfannkuchen essen könnte!"
verkündete er dann. "Wie sieht es mit dir aus, Sportsfreund?" Jill hörte nicht, was Kip darauf antwortete. Denn Zane hatte zwar mit seinem Sohn gesprochen, aber dabei hatte sein Blick sie nie verlassen. Für sie gab es nur noch ihn. Aber schließlich war sie es, die die Augen niederschlug und sich abwandte. Sie holte den gegrillten Schinken und die Pfannkuchen aus dem Rohr, und Vater und Sohn setzten sich. "Die Pfannkuchen schmecken wunderbar", bemerkte Zane nach einer Weile, "aber sie sehen irgendwie komisch aus, finde ich." Kip kicherte. "Finde ich auch." Jill lächelte. "Eigentlich sollten sie Beastlie darstellen. Aber ich fürchte, ich brauche noch viel Übung, bis man ihn erkennt." "Da sind wir aber froh, nicht wahr, mein Sohn?" meinte Zane, und Kip nickte eifrig. "Und warum, wenn ich fragen darf?" erkundigte Jill sich. "Sag du es ihr", forderte Zane sein kleines Ebenbild auf. Jill hörte auf zu essen und sah auf. "Was soll er mir sagen?"
"Daddy und ich wollen, dass du bei uns bleibst", lautete die Antwort. "Ich bin ja hier." "Wir wollen, dass du immer und immer und immer hier bleibst." Es war zu erwarten, dass Kip so etwas sagte. Damit hatte Jill gerechnet, nur noch nicht so früh und nicht vor seinem Vater. Zane sollte ihn wirklich nicht zu etwas ermutigen, was doch nie sein konnte. Aber als sie ihm in Erwartung eines Protestes einen schnellen Blick zuwarf, reagierte er gar nicht. Seine Miene war undurchdringlich, sein Blick nicht zu entschlüsseln. Jill legte ihre Gabel ab. "Das wäre wunderschön, Kip, aber es geht leider nicht." "Doch! Daddy will dich nämlich heiraten, sobald er eine Litz ..." Er sah hilfesuchend zu Zane hinüber "Eine Lizenz." "Sobald er eine Lizenz hat. Sag es ihr doch, Daddy". drängelte Kip. Heiraten ... Das Blut wich aus ihrem Gesicht, und sie umfasste unwillkürlich die Tischkante, als könnte sie dort Halt finden.
Zane lehnte sich zurück und legte Kip den Arm um die Schultern. Das Blau seiner Augen war so tief wie nie zuvor. "Wir haben uns das gestern Abend ausgedacht. Wir beide brauchen eine Frau, die sich um uns kümmert. Ich weiß natürlich, dass ich nicht gerade der gesuchte Märchenprinz bin, aber ich werde mir die größte Mühe geben, mich zu bessern." "Daddy will bei uns in Ketchikan wohnen, bis das Schuljahr aus ist", berichtete Kip aufgeregt. "Dann musst du nicht mehr arbeiten, und wir können alle wieder hierher kommen." "Es sei denn, Sie möchten weiter unterrichten", warf Zane jetzt ein. "Dann werde ich mich erkundigen, ob es nicht in Thorne eine Möglichkeit gibt." "Daddy hat gesagt, dass ich mit auf die Hochzeitsreise fahren darf. Da gibt es Eisberge und Walrösser und Eisbären, und im März schauen wir uns die Schlittenhundrennen an. Aber ich habe vergessen, wo das ist. Wo ist das, Daddy?" "In Wasilla." "In Wasilla." "Sie sehen also, Miss Barton ..." Zane schob eine Augenbraue in die Höhe. "Wir haben alles
schon genau geplant. Sie brauchen nur noch ja zu sagen."
8. KAPITEL Jills Herz klopfte so heftig, dass sie fast um ihre Gesundheit fürchtete. Kein Mann, der halbwegs bei Verstand war, machte einer Frau, die er noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden kannte, einen Heiratsantrag. Da Zane allerdings bisher sehr vernünftig auf sie gewirkt und eher den Eindruck gemacht hatte, als stünde er mit beiden Beinen auf der Erde, konnte das nur eines heißen: Er liebte seinen Sohn so bedingungslos, dass er bereit war, sein Glück über alles andere zu stellen. Er hatte seine Frau sehr geliebt und erwartete offenbar nicht, dass das Leben ihm noch einmal ein solches Glück schenkte. Und deshalb war er bereit, eine Vernunftehe einzugehen. Das hatte er sich fein ausgedacht: Er gab ihr seinen Namen und einen Ring und kam dadurch nicht nur an eine billige Haushälterin, sondern
verbesserte seine Chancen vor Gericht, wenn er das alleinige Sorgerecht für Kip beantragte. Zane wusste, wie sehr sie Kip liebte, und vermutlich war sie in seinen Augen ohnehin ein Mauerblümchen, das froh war, wenn ein Mann es nur anschaute. Er war sicher davon überzeugt, dass er ihr mit seinem Antrag einen Gefallen tat. Er irrte sich. Denn dieser Heiratsantrag war vermutlich das Unfreundlichste, was man ihr in ihrem ganzen Leben angetan hatte -und vermutlich auch das Unfreundlichste, das er jemals jemandem angetan hatte. So sehr sie Kip liebte, sie hatte keine andere Wahl, als abzulehnen. Das musste sie Kip sofort sagen, bevor er sich zu große Hoffnungen machte. "Schätzchen, ich wollte wirklich, es ginge. Aber ich kann deinen Daddy nicht heiraten. Ich liebe nämlich einen anderen Mann." Kip verzog den Mund. "Ist das der Zahnarztmann?" "Ja. Er wartet in Salem auf mich." "Aber du hast immer gesagt, dass er dein Freund ist."
"Das ist er auch." Und auf meine Art liebe ich ihn auch, dachte sie. Es war nur nicht die richtige Art von Liebe. Aber das ging nur sie etwas an, niemanden sonst. Seit sie Zane Doyle begegnet war, wusste sie, dass sie nie einen Mann heiraten konnte, den sie nicht liebte. Was für eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet der Mann, der ihr Herz schneller schlagen ließ wie kein Mann zuvor, der einzige war, den sie niemals heiraten konnte. "Wir beide werden immer Freunde bleiben", versprach sie Kip jetzt. "Und ich bin ja noch bis Juni in Ketchikan. Du kannst mich also immer anrufen und mir erzählen, wo du mit deinem Daddy wohnen wirst und wo du später in die Schule gehst. Und du kannst mich natürlich immer besuchen, wenn du willst und wenn dein Daddy es dir erlaubt." "Aber wir wollen haben, dass du bei uns wohnst", protestierte Kip. "Oder nicht, Daddy?" "Doch", bekräftigte Zane. "Wenn Jill länger mit uns zusammen ist, dann liebt sie uns irgendwann vielleicht einmal mehr als den Zahnarztmann. Zahnärzte sind nämlich ziemlich langweilig."
"Warum?" "Sie sitzen den ganzen Tag nur herum und schauen anderen Leuten in den Mund. Und dazu hören sie irgendwelche Dudelmusik." Das hatte Jill selbst schon mehrmals gedacht, aber nichts auf der Welt brachte sie dazu, das ausgerechnet jetzt zuzugeben. "Und außerdem habe ich Angst vor ihnen." "Zahnärzte sind sehr wichtig", sagte Jill jetzt, die sich verpflichtet fühlte, Harris zu helfen, nachdem er sich nicht selbst verteidigen konnte. "Das mag sein", gestand Zane ihr zu. "Aber dafür wissen sie nicht, wie aufregend es ist, jeden Tag im Jahr hinaus in die Natur zu gehen. Hinaus zu den Gletschern und Eisflüssen, wo der Wind heult und Bären und Elche und Eulen im Wald leben. Das ist nämlich nicht langweilig." Jill schloss die Augen. Mit zwei Sätzen hatte Zane es geschafft, seinem Sohn einen wichtigen Lebensgrundsatz mitzugeben. Und gleichzeitig hatte er auch wieder die Erinnerung an ihre erste Alaskareise heraufbeschworen, an die Reise, die sie später wieder hierher zurückgebracht hatte. Die beiden Männer hatten verschwörerisch die Köpfe zusammengesteckt, und Zane flüsterte
Kip ins Ohr: "Hast du gewusst, dass Frauen ihre Meinung öfter ändern als Männer?" "Dann sag Jilly doch, dass sie das auch tun soll." "Genau das habe ich vor." Das klang wie eine Drohung, und Jill spürte, wie ihr innerlich kalt wurde. Sie war doch sehr viel empfänglicher für den Charme der Doyles, als ihr bewusst gewesen war. Auf einmal wurde es ihr zuviel. Unfähig, Zanes Blick noch länger standzuhalten, fing sie an, den Tisch abzuräumen. "Warum geht ihr beide nicht los und sucht einen schönen Weihnachtsbaum, während ich hier saubermache?" schlug sie vor. "Das machen wir alle drei zusammen", beschied ihr Gastgeber in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. "Und deshalb waschen wir vorher auch zusammen ab." Innerhalb kürzester Zeit war die Küche makellos aufgeräumt und glänzte wieder, und sie schlüpften in ihre warmen Jacken und Stiefel. Jill hatte gar keine andere Wahl, als sich Vater und Sohn anzuschließen. Sie stiegen alle in den Lastwagen, und mit einem gewaltigen Satz sprang Beastlie auf die Ladefläche und
vervollständigte die Familie. Dann fuhren sie los. Schnee und Wind machten die Sicht schlecht, aber Jill hatte keine Angst, denn Zane fuhr sicher und kannte den Weg genau. Kip zappelte aufgeregt zwischen ihnen herum und sah durch das hintere Fenster immer wieder zu seinem Hund hinaus. Dazu gab er Kommentare zu allem ab, was ihm gerade so einfiel. Sie waren etwa zehn Minuten im Wald unterwegs, als Zane den Wagen anhielt und nach rechts wies. "Da hinten steht unser Baum. Wer will ihn sehen?" "Ich!" rief Kip. "Wo ist er, Daddy?" "Er ist ein bisschen versteckt, aber er wartet auf uns. Komm." Kips Augen wurden groß. "Er wartet wirklich auf uns?" "Ja", lautete die Antwort. "Jeder Baum hat eine Aufgabe. Und dieser Baum soll ein Weihnachtsbaum werden. Das wusste ich schon, als ich ihn vor ein paar Jahren zum ersten Mal sah. Damals war er noch ganz winzig, wie ein Babybaum." Kip lachte. "Aber seitdem ist er jedes Jahr größer und schöner und blauer geworden."
"Blauer? Aber Weihnachtsbäume sind doch grün!" Jetzt lachte Zane, und Jill stimmte mit ein. Kip war einfach hinreißend. "Nicht die echten", behauptete Zane. "Die sind blau." Kip war verwirrt. Natürlich würde er nie an seinem Idol zweifeln, aber auf der anderen Seite hatte er noch nie einen blauen Weihnachtsbaum gesehen. "Jilly, hast du gewusst, dass es blaue Weihnachtsbäume gibt?" Über seinem Kopf trafen sich Jills und Zanes Blicke. Lachpünktchen tanzten in Zanes Augen, und sie fühlte sich warm und geborgen. Ich liebe ihn, dachte sie. Ich liebe ihn. Aber konnte das wirklich sein? Konnte man sich so schnell und ohne Vorwarnung verlieben? Sie räusperte sich. "Ja, natürlich", antwortete sie dann. "Dein Vater hat völlig recht. Die echten Weihnachtsbäume sind immer blau. Aber sie sind so schwer zu finden, dass die meisten Leute einen grünen Baum nehmen müssen. Das war bei uns zu Hause auch so." "Mommy und ich haben noch nie einen Weihnachtsbaum gehabt, weil sie so teuer sind",
berichtete Kip. "Aber Jilly hat uns letztes Mal einen kleinen mitgebracht. Weißt du noch, Jilly?" Diesmal suchte Zane ihren Blick. Das Lachen war aus seinen Augen verschwunden und hatte einem Anflug von Traurigkeit Platz gemacht. Jill zwang sich zu einem fröhlichen Gesicht. "Da siehst du, was du für ein Glück mit deinem Daddy hast. Er weiß ganz genau, wo die echten Weihnachtsbäume wachsen. Das ganze Haus wird danach duften." "Darf ich Robbie anrufen und ihm alles erzählen?" wollte Kip aufgeregt wissen. Was da unter der Oberfläche zwischen seinem Vater und Jill geschah, bekam er nicht mit. "Ja, natürlich, sobald wir wieder zu Hause sind." Der kritische Augenblick war vorüber, und auf Zanes Gesicht erschien wieder ein Lächeln. Er öffnete die Fahrertür. "Du hilfst Jilly, und ich hole inzwischen die Säge von hinten." Als sie ihre Spuren in den frisch gefallenen Schnee setzten, war Jill, als hätte sie eine Märchenwelt betreten, in der die Wirklichkeit keinen Platz hatte. Zwischen den dicht stehenden hohen Tannen waren sie vor dem eisigen Wind geschützt, und die hochstrebenden
Stämme und die Stille ließen unwillkürlich an eine Kathedrale denken. Selbst Beastlie verhielt sich ruhig, fast feierlich. Und dann waren sie an ihrem Ziel angekommen. Eine vollkommen gewachsene, über drei Meter hohe Blautanne, dicht mit Tannenzapfen behangen, stand vor ihnen. Jill hatte das Gefühl, dass sie sich mitten in einem Zeichentrickfilm befand, und erwartete halb, jeden Augenblick Bambi zwischen den Bäumen auftauchen zu sehen. "Aber der Baum ist ja gar nicht blau!" Zane hatte diesen Einwand erwartet und ging jetzt neben seinem Sohn in die Hocke. "Schau nur genau hin", sagte er. "Vergleich ihn mit den anderen Bäumen. Siehst du den Unterschied?" Kip kniff angestrengt die Augen zusammen, und nach einer Weile nickte er überzeugt und schlang den Arm um Zanes Hals. "Es ist der allerschönste Baum im ganzen Wald, Daddy." "Ja, das finde ich auch", erwiderte Zane ein wenig heiser und räusperte sich. "Muss er sterben, wenn wir ihn absägen?" "Ja, ich fürchte schon." "Jilly?" Kip sah unglücklich zu ihr auf. "Ich will aber nicht, dass er stirbt."
Sie holte tief Luft. "Das musst du entscheiden, glaube ich." "Wenn wir ihn absägen, dann ist er nächstes Jahr gar nicht mehr da." Kips Stimme wurde etwas unsicher. Sein Vater schwieg eine Weile und schüttelte dann den Kopf. "Nein, dann ist er nicht mehr da." "Wird er jedes Jahr immer noch viel größer?" wollte Kip wissen. "Ja, er wächst immer weiter, genau wie du." "Müssen wir ihn absägen?" Zane räusperte sich. "Nein, das müssen wir nicht." Kip war sichtlich erleichtert. "Er soll immer noch da sein, wenn ich so groß bin wie du." "Eines Tages kannst du ihn dann deinen eigenen Kindern zeigen." "Und dann wird er ganz, ganz groß sein, wie ein Riese." Jill sah Zane an. Er ist dein Sohn, sagte sie ihm mit den Augen, durch und durch dein Sohn. Sie wusste, dass er sie verstand, so wie sie ihn verstehen konnte. Es war, als bestünde ein geheimes Band zwischen ihnen. Noch nie hatte sie sich mit einem Mann so verbunden gefühlt,
und diese Erkenntnis erschütterte sie bis ins Innerste. "Ich habe unterwegs eine umgestürzte Tanne gesehen", sagte Zane jetzt. Jill nickte. Sie hatte auch gerade daran gedacht. Es schien, als gingen ihre Gedanken dieselben Wege. "Wir könnten die Spitze absägen und zu Hause aufstellen. Dann haben wir auch einen Weihnachtsbaum." Kip und Beastlie rannten voraus, und Jill folgte langsamer mit Zane. Seine Gegenwart schien sie ganz zu erfüllen. Es war ja nicht nur diese körperliche Nähe, es war viel mehr. Sie wusste ohne jeden Zweifel, dass er der Mann war, den sie an ihrer Seite haben, der Mann, den sie heiraten und mit dem sie Kinder haben wollte ... Das Herz wurde ihr schwer. Hätte sie ihn doch nur unter anderen Umständen kennen gelernt! So würde er sie immer in Verbindung mit Kip sehen, nie einfach nur als Frau. Gut, vielleicht fühlte er sich zu ihr hingezogen. Es gab Anzeichen, die sie nicht leugnen konnte. Aber sie würde nie sicher sein können, ob diese Zuwendung wirklich ihr allein galt oder er sie nur brauchte, um Kip ein heiles Familienleben zu bieten.
Marianne wusste gar nicht, wie glücklich sie sich schätzen konnte, weil sie Zane so kennen gelernt hatte, wie andere Frauen und Männer sich auch kennen lernten und ineinander verliebten. Wenn sie selbst an Mariannes Stelle gewesen wäre, hätte er sie dann nach diesem Urlaub auch zu Hause aufgesucht? Wäre er gekommen, weil er nicht anders gekonnt hätte? Weil er sich ein Leben ohne sie nicht hätte vorstellen können? Sie konnte es kaum ertragen, dass sie nie das Glück erfahren würde, nur um ihretwillen und aus keinem anderen Grund umworben zu werden ... Es war ein Schmerz, wie sie ihn nie empfunden hatte, und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Aber sie versuchte, sich so zu geben wie immer und sich nichts anmerken zu lassen. Schließlich hatte Kip seinen Vater gerade erst kennen gelernt. Für ihn war das alles noch so neu und aufregend, und sie wollte nicht zulassen, dass sein Glück nur im geringsten getrübt wurde, vor allem nicht ausgerechnet an Weihnachten. Bis mittags hatte Zane die gut zweieinhalb Meter hohe Baumspitze in einem eigens dafür gezimmerten Fuß im Wohnzimmer aufgestellt,
und bei Suppe und belegten Broten überlegten sie zu dritt, wie sie den Baum schmücken wollten. Da Zane Weihnachten ursprünglich nicht in Kaslit Bay hatte verbringen wollen, hatte er weder Baumschmuck noch Kerzen im Haus. Deshalb schlug Jill einen Ausflug in den Camp-Laden vor. Sie drängte darauf, mit Kip allein zu fahren, damit Zane weiter am Haus arbeiten konnte. Schließlich hatte ihn ihre unerwartete Ankunft daran gehindert. Zane begleitete sie zum Wagen hinaus. Der Wind hatte immer noch nicht nachgelassen, und Jill hatte Mühe, ihn zu verstehen, als er ihr erklärte, wo der kleine Supermarkt zu finden war. Sie wollten gerade abfahren, als er noch einmal ans Fenster klopfte, zwei ZwanzigDollar-Scheine in der Hand. Jill kurbelte das Fenster hinunter. "Sie werden Geld brauchen", sagte er. Jill hörte ihn, aber sein Mund war ihr so nahe, dass sie sich nicht darauf konzentrieren konnte, was er sagte. Sehnsüchtig dachte sie daran, wie es wohl war, von ihm geküsst zu werden. "Nein", hörte sie sich sagen. "Der Baumschmuck ist mein Beitrag zu
Weihnachten." Ihre Worte klangen ein wenig atemlos, denn sein Blick war an ihrem Mund hängen geblieben. Und zum ersten Mal fragte sie sich, ob es ihm vielleicht ganz ähnlich ging wie ihr ... Kip suchte sich genau diesen Augenblick aus, um sich zwischen sie und das Lenkrad zu quetschen. "Wir machen ganz schnell, Daddy", versprach er, und die Spannung löste sich. "Wartest du auf uns?" Zane warf Jill einen schnellen Blick zu. Kips Angst davor, verlassen zu werden, von ihm verlassen zu werden, saß tief, und es würde vielleicht Jahre dauern, bis er sie überwunden hatte. Er umrundete den Lastwagen und stieg kurz entschlossen ein. "Weißt du was, mein Sohn? Ich habe gerade beschlossen, dass die Wände warten können. Ich begleite euch." Kip kletterte entzückt auf seinen Schoß. "Warum?" Jill hatte ihm dieselbe Frage stellen wollen, hatte es aber nicht gewagt. "Weil mir das Haus ohne euch viel zu leer und einsam ist."
Seine Stimme klang tief, voll von Gefühlen, und Jill suchte seinen Blick. Und was sie darin sah, ließ ein Zittern durch ihren Körper laufen.
9. KAPITEL Jill nickte mit einem Lächeln, und Kip rannte aus dem Wohnzimmer und die Treppe hinauf. "Daddy!" hörte sie ihn rufen. "Du darfst kommen!" Sie verteilte schnell all die Weihnachtsgeschenke, die sie mitgebracht hatte, unter dem Baum. Von Zane würden noch einige dazukommen, denn sie hatte beim Einkaufen beobachtet, dass er heimlich ein paar Päckchen in einer Tüte verstaut hatte, als Kip anderweitig abgelenkt war. Den ganzen Nachmittag hatten sie damit verbracht, die Weihnachtsdekoration zu basteln und an den Baum zu hängen. Kip hatte endlose Ketten aus Weihnachtspapier geflochten, das Mrs. ROSS allem Anschein schon seit Jahren in ihrem Laden hortete. Die Auswahl war nicht sehr groß gewesen, und so hatten sie eben nehmen müssen, was da war. Aus kleinen
Mandarinen und Nelken waren lustige Köpfe entstanden, und mit Hilfe einer Sprühdose hatten sie die gesammelten Tannenzapfen versilbert, die jetzt im Schein der Wohnzimmerlampe festlich schimmerten. Den rohen Holzständer hatten sie mit Alufolie umwickelt und mit Motiven verziert, die sie aus Geschenkpapier ausgeschnitten hatten. Aber die Krönung war ein Stern aus metallisch glänzendem Sandpapier, der ganz allein Kips Werk war. Jill war mehr als zufrieden mit dem Ergebnis ihrer vereinten Anstrengungen. Beastlie war von Kip mit einer Halskette aus buntem Papier geschmückt worden, aber die nelkenbesteckten Mandarinen hatten es ihm viel mehr angetan, denn er schnüffelte immer wieder daran. Jill trat ein paar Schritte zurück, um das Meisterwerk zu bewundern. Als Lehrerin war sie darin geübt zu improvisieren, sich immer wieder etwas Neues einfallen zu lassen, und machte sich im Normalfall kaum Gedanken darüber. Aber dieser Baum war ganz besonders schön geworden, fand sie. Unwillkürlich hielt sie den Atem an, als Zane mit Kip auf dem Arm hereinkam.
Sie hatte sich vorgenommen, ihn nicht zu beachten und nicht zuzulassen, dass er ihre Gedanken und Träume beherrschte. Aber als er sie jetzt mit seinen leuchtendblauen Augen ansah, lösten alle guten Vorsätze sich in ein Nichts auf. "Haben wir das nicht schön gemacht, Daddy?" erkundigte Kip sich stolz. Es dauerte eine Weile, bis Zane antwortete. "Ja", sagte er endlich. "Wunderschön. Es verschlägt mir richtig die Sprache." Jills Herz machte einen kleinen Sprung, denn er sah immer noch nur sie an. "Was heißt das, Daddy?" Als Zane nicht antwortete, sprang Jill für ihn ein. "Es heißt, dass er gar nicht sagen kann, wie hübsch deine Ketten geworden sind, mein Herz. Und dieser tolle Stern." "Jilly hat die Gesichter auf die Mandarinen gemacht." "Das habe ich mir schon gedacht." Zane machte sich, von Kip gespannt beobachtet, daran, den Weihnachtsbaum in allen Einzelheiten zu begutachten. "Kein Wunder, dass die Kinder Jilly alle so gern haben." "Aber ich habe sie am allerallerliebsten."
"Hat sie dir schon gesagt, ob sie bei uns wohnen will?" Diese Frage hatte Jill ganz bestimmt nicht erwartet. Und sie war auch nicht fair. Ihr Puls raste. Warum konnte er sie nicht in Frieden lassen? Merkte er denn nicht, was er ihr damit antat? Sie musste weg hier. Sofort. "Wo gehst du hin, Jilly?" wollte Kip wissen. Er mochte erst fünf Jahre alt sein, aber er spürte, dass etwas nicht stimmte. "Ich wollte noch ein paar Minuten mit dem Hund an die frische Luft, bevor wir ins Bett gehen", antwortete Jill, ohne sich um Zanes forschenden Blick zu kümmern. Sie öffnete die Tür, und Beastlie folgte ihr, als hätte er genau verstanden, worum es ging. Sie zog schnell ihren warmen Parka über und öffnete die Hintertür. Der Wind hatte so aufgefrischt, dass sie mit aller Kraft gegen die Tür drücken musste. Das Wetter passte zu ihrer Gemütsverfassung. Alle ihre Gedanken und Gefühle waren in Aufruhr, und sie lief einfach los. ohne sich darum zu kümmern, wohin sie ging. Beastlie sprang
fröhlich hinter ihr her. Er schien sich in diesem Sturm wohl zu fühlen. Zu ihrem Entsetzen stellte Jill fest, dass sie ernsthaft erwog, Zanes unkonventionellen Heiratsantrag anzunehmen. Aber sie musste sich der Wahrheit stellen: Sie wollte ihn. Und sie wollte ihn in jeder Hinsicht, so wie eine Frau einen Mann haben wollte. Sie hatte noch nie einen Mann wirklich geliebt, und deshalb hatte sie immer angenommen, dass sie einfach nicht sinnlich oder leidenschaftlich veranlagt war. Aber sie hatte sich selbst nicht gekannt. Wenn sie nur an Zane dachte, wurde ihr ganz heiß vor Verlangen. Das versetzte sie in Panik. Der innere Aufruhr, der in ihr tobte, war so stark, dass sie wie unter einem Zwang ihre Schritte beschleunigte. Plötzlich packte jemand sie von hinten an den Oberarmen, und sie stieß einen kleinen Schrei aus. Zane murmelte irgend etwas Unverständliches und drehte sie dann mit einem Ruck so heftig um, dass sie gegen ihn fiel. "Warum haben Sie auf meine Rufe nicht geantwortet?" wollte er barsch wissen. Im Dunkeln war sein Gesicht nicht zu erkennen.
"Ich ... ich habe Sie nicht gehört", stammelte sie. "Wovor sind Sie weggelaufen?" Sein Griff wurde fester, und ihre Körper berührten sich. Sie hielt die Nähe zu ihm kaum noch aus. "Ich brauchte etwas Zeit für mich." "Und warum sind Sie dann nicht einfach nach oben gegangen, statt hier draußen herumzurennen, wo alles mögliche passieren kann?" Sie spürte die Angst hinter seiner Verärgerung, und ihr Herz schlug schneller. "Beastlie ist ja bei mir." Ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren schwach. "Wenn Sie von einem Rudel Wölfe angegriffen werden, kann Ihnen auch Beastlie nicht helfen." Ein Zittern schüttelte Jill und sie wollte sich aus seinem Griff befreien. Aber er hielt sie ohne Erbarmen fest. "Haben Sie sich auch nur einen Augenblick überlegt, wie Kip auf Ihr Verschwinden reagieren könnte?" "Zane, ich ... Es tut mir leid. Ich wollte nicht ..." Aber er gab ihr gar keine Möglichkeit mehr zu irgendwelchen Erklärungen, denn im selben Moment schlossen sich seine Lippen über ihrem
Mund und löschten jeden anderen Gedanken aus. Dieser Kuss kam so überraschend, dass sie völlig wehrlos war und mit ungezügelter Leidenschaft reagierte. Wie hatte sie diesen Kuss herbeigesehnt, seit sie ihre Gefühle für Zane entdeckt hatte! Vom ersten Augenblick an, als er am Pier auf sie zugekommen war, hatte sie nur diesen einen Wunsch gehabt, auch wenn sie ihn sich jetzt erst eingestand. Die Gewalt der Elemente war nichts im Vergleich zu dem Aufruhr, der in ihrem Inneren tobte. Sie sollte versuchen, Zane zu bremsen, sollte ihn zurückweisen, aber es ging nicht mehr darum, was richtig oder falsch war - nicht wenn dieser Kuss eine solche Lust und Leidenschaft in ihr entfachte und nährte. Sie konnten gar nicht genug voneinander bekommen. Erst als Zane sie noch enger an sich zog und mit einem Aufstöhnen mit der Zunge immer tiefer in ihren Mund vordrang, wurde Jill auf einmal bewusst, was sie da tat. Wie hatte sie ihn nur gewähren lassen können? Scham erfasste sie, und endlich brachte sie die Kraft auf, die Lippen von seinen zu lösen. Er gab einen protestierenden Laut von sich, als sie
sich aus seinen Armen befreite und zur Straße rannte. Natürlich hätte Zane die Situation gern noch ausgekostet. Welcher normale, gesunde Mann würde das nicht wollen, wenn sich die Gelegenheit so großzügig bot? Und Zane war ein normaler, gesunder Mann. Hochrot im Gesicht und wütend über sich, weil sie so die Beherrschung über sich verloren hatte, rannte Jill zum Haus und hoffte nur, dass sie es vor Zane erreichte. Sie hielt sich nicht lange mit dem Ausziehen ihrer Schuhe oder ihres Parkas auf, sondern lief gleich ins Bad und schloss hinter sich ab. "Jilly?" Das war Kip. "Bist du krank?" wollte er besorgt wissen. "Nein, nein", antwortete sie schnell. "Mir geht es wunderbar." Sie war so außer Atem, dass sie kaum sprechen konnte. "Ich komme gleich zu dir." "Daddy? Ist Jilly krank?" Offenbar war Zane inzwischen eingetroffen. "Nein, nein. Aber draußen ist es sehr kalt, und deshalb friert sie und braucht eine heiße Dusche, um sich aufzuwärmen. Komm, ich
erzähle dir inzwischen eine Geschichte, bis sie fertig ist." Jill lehnte sich erschöpft an die Tür. Sie brauchte keine heiße, sondern eher eine kalte Dusche, so warm war ihr! Wie würde sie Zane nur je wieder unter die Augen treten können? Er musste sie ja für eine liebestolle alte Jungfer halten! Es dauerte weit über eine halbe Stunde, bis sie geduscht und Nachthemd und Bademantel angezogen hatte und sich wieder aus dem Bad wagte. Aber wenn sie nicht bald auftauchte, würde Zane vermutlich Nachforschungen anstellen. Eine verschlossene Tür wäre ihm da bestimmt kein großes Hindernis, und von Demütigungen hatte sie für heute genug. Zu ihrer unendlichen Erleichterung war alles ruhig, als sie ins Wohnzimmer trat. Kip war mit Beastlies Kopf auf der Brust eingeschlafen, und Zane war nirgends zu sehen. Vermutlich war er oben mit seinen Wänden beschäftigt und dachte gar nicht mehr an diesen Kuss. Jill machte das Licht aus und schlüpfte unter die Decke. Frauen sind einfach anders als Männer, dachte sie. Sie ärgerte sich dabei über sich selbst. Wütend schlug sie mit der Faust aufs
Kopfkissen. Wie hatte sie sich nur so unverzeihlich benehmen können? "Jill?" Sie hielt unwillkürlich den Atem an, als Zane sie im Dunkeln leise ansprach. "Keine Angst, ich habe nicht vor, Sie zu überfallen", flüsterte er, um seinen Sohn nicht zu wecken. "Ich möchte nur noch ein paar Sachen unter den Baum legen." "Ich habe keine Angst." "Schwindeln Sie nicht." "Hören Sie, Zane, ich ..." "Ich werde mich nicht für diesen Kuss entschuldigen", unterbrach er sie schroff. "Wir haben ihn beide gewollt. Aber eines wollte ich Ihnen noch sagen: Wenn Sie diesen Harris wirklich liebten, wären Sie nicht aus Salem fort gegangen. Nach unserem kleinen Erlebnis da draußen kann ich Ihnen prophezeien, dass Sie nicht im Traum daran denken, ihn jemals zu heiraten. Das war nur ein Vorwand." Eines musste man Zane zugestehen: Er war schonungslos ehrlich. Das war ja auch ein Grund dafür, warum sie sich in ihn verliebt hatte. Deshalb kam auch jetzt nur die Wahrheit in Frage.
Sie wählte ihre Worte sorgfältig. "Sie haben recht. Ich liebe Harris nicht genug, um ihn zu heiraten. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich deswegen einen Mann heirate, den ich erst seit zwei Tagen kenne, selbst wenn ich ihn noch so anziehend finde - auch nicht, damit Kip eine richtige Mutter bekommt." "Anziehung ist eine seltsame Sache", meinte Zane jetzt nachdenklich. "Man wagt nicht, ihr zu trauen, aber ohne diese Anziehung kämen Männer und Frauen oft gar nicht erst zusammen. Sie können dagegen ankämpfen, wie Sie wollen, Miss Barton. Aber ignorieren können wir beide nicht, dass da etwas zwischen uns ist, Kip hin oder her. Gute Nacht." Das hatte wie eine Warnung geklungen, und sie machte Jill angst. Lange nachdem Zanes Schritte verklungen waren, lag sie noch wach und trauerte um all das, was sie nie kennen lernen würde. Die Nacht schien endlos, und sie lauschte dem Wind und den gelegentlichen Geräuschen, die Kip und Beastlie im Schlaf von sich gaben. Langsam rollten ihr Tränen übers Gesicht, bis das Kopfkissen feucht war. Das hätte ihr Leben
sein können: der Junge und der Hund. Und der Mann ...
10. KAPITEL "Fröhliche Weihnachten, Daddy!" Es war ein glücklicher kleiner Junge, der da mit einem Helm von Jill auf dem Kopf, den neuen Stiefeln von seinem Daddy und einer Spieluhr von Marianne zu Zane lief, um ihm sein Päckchen zu überreichen. Jill entging der feuchte Glanz in Zanes Augen nicht, als er den Gipsabdruck von Kips rechter Hand entgegennahm. Er war vor ein paar Wochen in der Vorschule entstanden, als die Kinder unter ihrer Anleitung Weihnachtsgeschenke für ihre Eltern gebastelt hatten. "Ich habe eine für dich und eine für Jilly gemacht." Zane schluckte, dann nahm er seinen Sohn in die Arme und drückte ihn an sich. "Du hättest mir keine größere Freude machen können",
sagte er rau und suchte dann Jills Blick. Er wusste, wie viel er ihr zu verdanken hatte. Sie lächelte ihm zu und stand dann auf. Er hatte ihr einen wunderschönen blauweißen Norwegerpullover geschenkt, den sie natürlich sofort angezogen hatte. Jetzt holte sie ein Päckchen unter dem Baum hervor und ging zu ihm. "Das ist von mir." Er war so verblüfft, dass er gar keine Anstalten machte, sein Geschenk zu öffnen. "Soll ich es für dich aufmachen?" bot Kip sich bereitwillig an. "Wenn du willst, mein Sohn." Zanes Stimme klang noch immer ein wenig belegt. Kip zog die rote Schleife auf und zerriss in seiner Ungeduld das bunte Geschenkpapier. Ein flacher Karton kam zum Vorschein, und er öffnete den Deckel. "Das bin ich auf dem Bild", erklärte er stolz. "Mommy hat die andere Seite von meinem Gesicht." Wortlos nahm Zane den Silberrahmen heraus. Er enthielt einen Scherenschnitt von Kips Profil. In einer kleinen Mappe darunter hatte Jill Bilder gesammelt, die Kip in den letzten Wochen und Monaten gemalt hatte.
Kip breitete die Blätter voller Eifer auf dem Boden aus, damit sein Daddy sie auch gut sehen konnte. Zane sah zu Jill auf. Seine Augen waren fast schwarz vor Rührung. "Meine Mutter hat auch alle meine Werke aufbewahrt", erzählte sie ihm, als wäre eine Erklärung nötig. "Ich wollte Ihnen nur zeigen, wie künstlerisch begabt Ihr Sohn ist." Zane nahm ihre Hand und drückte sie so fest, dass es fast weh tat. Aber anders konnte er seine Gefühle nicht ausdrücken. Jill spürte seine Dankbarkeit in diesem Händedruck, auch wenn er nichts sagte. "Daddy?" Kip zupfte an seiner Hose. "Schau, das bist alles du!" Jetzt musste Jill vor Rührung mit den Tränen kämpfen, und sie sah schnell zur Seite. Wenigstens ein Dutzend Mal hatte Kip seinen Helden Paul Bunyan bei jeder erdenklichen Beschäftigung verewigt: beim Schleppen von Holzstämmen, beim Holzhacken, hinter dem Steuer eines Lastwagens ... "Schau mal, die Hunde, das sind Prince und King. Nur Beastlie fehlt noch. Jilly, kann ich Malstifte haben?"
Er war so hinreißend in seinem Eifer, dass Jill Schwierigkeiten hatte, ihre Stimme zu finden. Sie wusste, dass es Zane nicht anders erging. "Ich fürchte nein, mein Herz." Zane räusperte sich. "Ich habe einen gelben Markierstift. Geht der auch zur Not?" "Ja." "Er liegt auf dem Schreibtisch. Ich hole ihn dir." "Lassen Sie mich gehen", bat Jill. Sie musste einen Augenblick allein sein, um sich wieder zu fassen. Bevor Zane noch etwas erwidern konnte, hatte sie das Wohnzimmer schon verlassen. "Jill ..." Zane war ihr ins Studierzimmer gefolgt. Sie fuhr herum. Im nächsten Augenblick hatte er sie schon in die Arme genommen und so heftig an sich gepresst, dass ihr fast der Atem wegblieb. "Liebe, liebe Jill, wie kann ich Ihnen nur danken?" stammelte er und verstärkte seine Umarmung. "Sie haben mir schon dadurch gedankt, dass Sie Kip als Ihren Sohn anerkannt haben. Er hat sehr großes Glück, dass er einen Vater wie Sie bekommen hat." Zane ließ die Hände an ihren Armen hinauf gleiten und legte sie um ihr Gesicht. Seine
Augen brannten. "Jill ..." Aber bevor er noch sagen konnte, was ihm auf der Zunge lag, klingelte das Telefon und zerstörte den Zauber dieses Augenblicks. Zane verzog das Gesicht. Er hatte nicht vergessen, dass Marianne anrufen wollte. Vielleicht hielt sie ihr Versprechen gegen jede Erwartung. Jill war nicht böse über diese Unterbrechung, denn sie bewahrte sie vielleicht vor einer Dummheit. Ihre Pflicht war getan. Vater und Sohn waren vereint, und je früher sie Kaslit Bay verließ, um so eher konnte sie einen neuen Anfang machen. Aber Zane gab sie noch nicht frei. Er hielt sie mit einem Arm fest an sich gedrückt, während er den Telefonhörer abhob und sich meldete. Das Blut pochte in ihren Schläfen. "Ich wünsche dir auch schöne Weihnachten, Marianne", sagte er mit unverkennbarem Sarkasmus in den Hörer. "Und herzlichen Dank für dein taktvolles Geschenk." Jill ertrug es einfach nicht mehr und löste sich mit einem Ruck von ihm. Er hatte keine andere Wahl, als sie loszulassen. Sie mied seinen Blick,
als sie sein Arbeitszimmer verließ und leise die Tür hinter sich schloss. Kip sah zu ihr auf, als sie zu ihm zurückkam. "Ist das Mommy am Telefon?" "Ja." Jill legte sich neben ihn auf den Teppich und gab ihm den Stift. "Aber zuerst möchte dein Daddy mit ihr sprechen. Er ruft dich dann. So, und jetzt zeig mir, wie du Beastlie malen kannst." "Er fährt mit Prince hinten auf dem Lastwagen mit", erklärte Kip ihr und machte sich ans Werk. Es mochte etwa eine Viertelstunde verstrichen sein, bis Zane unter der Tür auftauchte und Kip zum Telefon rief. Jill nutzte die Zeit, um in der Küche die Zimtsterne fertig zu machen. Sie waren von Mr. und Mrs. ROSS, deren Kinder und Enkel dieses Jahr nicht kommen konnten, zum Weihnachtsessen eingeladen worden, und sie wollte nicht mit leeren Händen erscheinen. Die beiden hatten von Zane erfahren, dass Kip sein Sohn war, und wollten es sich nicht nehmen lassen, diesen Anlass gebührend zu feiern. Zane hatte sich sehr über diese Einladung gefreut, zeigte sie doch, dass man seine neue Situation akzeptierte.
Jill freute sich für Zane und Kip. Und sie würde ein bisschen Gesellschaft von ihren eigenen Problemen ablenken und die Spannung zwischen ihr und Zane lockern. Je länger sie mit ihm und Kip allein war, um so schwerer würde es ihr fallen, sie zu verlassen. Und aus diesem Grund wollte sie bei dieser Gelegenheit gleich eine Fahrgelegenheit für den nächsten Morgen nach Thorne arrangieren. Selbst wenn das Wetter noch immer schlecht war, würde sie von dort einen Flug nach Ketchikan bekommen. Dann konnte sie morgen Nachmittag schon in Salem sein - weit weg von Zane. Und das brauchte sie jetzt bitter nötig. Sie hatte gerade den letzten Zimtstern auf das Blech gelegt, als sie auf einmal das Gefühl hatte, dass sie beobachtet wurde. Sie sah über die Schulter und entdeckte Zane. Er stand unter der Tür und betrachtete sie mit düsterer Miene. Irgend etwas war nicht in Ordnung, und ihr Herz sank. "Marianne will mir das Sorgerecht nicht streitig machen", begann er. "Und Kip hat es sich offenbar nicht weiter zu Herzen genommen, dass sie geheiratet hat. Er findet es einfach nur
aufregend, dass er sie jetzt auf ihrer neuen Ranch besuchen kann." Jill lehnte sich an die Küchentheke und sah ihn ein wenig verwirrt an. "Das sind doch gute Nachrichten. Warum schauen Sie dann so skeptisch drein? Was ist los?" "Ich versuche nur, in den Kopf zu bekommen, wie zwei Wesen desselben Geschlechts so gegensätzlich sein können. Marianne ist Kips leibliche Mutter, aber offenbar fehlt ihr jeder mütterliche Instinkt." Er schüttelte den Kopf. "Und dann Sie ..." Jill wehrte ab. "Stellen Sie mich nicht gleich auf ein Podest, Zane. Millionen von Frauen sind wunderbare Mütter, ganz gleich, ob sie ein Kind selbst geboren haben. Die anderen haben in ihrer Jugend offenbar nicht das richtige Vorbild gehabt. Freuen Sie sich lieber darüber, dass Marianne endlich etwas Richtiges getan und Kip zu Ihnen geschickt hat. Sie muss davon überzeugt gewesen sein, dass Sie ihm ein guter Vater sein werden." Trotzdem würde sie nie verstehen, wie Marianne ihn hatte gehen lassen können. "Leben Ihre Eltern noch? Ich meine, hat Kip Großeltern?"
Zane nickte. "Sie werden sicher überglücklich über ihren neuen Enkel sein." "Wie schön für Kip. Ich würde sie auch gern kennen lernen." Das war ihr herausgerutscht, bevor sie es verhindern konnte. Am liebsten hätte sie sich die Zunge abgebissen. Er lächelte, und sie meinte, mehr als nur eine Andeutung von Selbstzufriedenheit in diesem Lächeln zu erkennen. "Unbedingt." Er straffte die Schultern. "Dauert das mit den Plätzchen noch lange? Wir wollten doch noch etwas zusammen spielen." "Ich komme gleich." Zane hatte kaum die Küche verlassen, als Jill ein Blatt Papier und einen Stift aus ihrer Handtasche holte. Sie konnte den Brief, den sie Zane und Kip am Morgen hinterlassen wollte, genauso gut gleich schreiben. In acht Tagen fing die Schule wieder an, und Kip würde damit zurechtkommen, dass er bis dahin auf sie verzichten musste. Zane würde schon dafür sorgen, dass er beschäftigt war und von seinem Kummer abgelenkt wurde. Sie konnte nur hoffen, dass sie selbst in dieser Woche wieder so weit zu sich fand, dass sie Kip
und Zane danach genauso behandeln konnte wie alle anderen Kinder und Eltern auch. An die Möglichkeit, dass Kip vielleicht nie mehr in ihre Klasse und damit zu ihr zurückkam, wollte sie gar nicht erst denken.
11. KAPITEL "Was ist mit dir los, Jill? Du bist seit deinem letzten Besuch gar nicht mehr wieder zu erkennen." "Es tut mir leid, wenn ich dir Silvester verdorben habe, Harris", gab Jill gepresst zurück. "Aber ich hatte dich ja vorgewarnt. Ich bin einfach nicht in der Stimmung zu feiern." "Wer ist der Mann?" "Ich möchte lieber nicht darüber sprechen." Harris schlug mit den Fäusten aufs Lenkrad. "Wirst du ihn heiraten?" Hätte er sie das unmittelbar nach Weihnachten gefragt, sie hätte ganz bestimmt nein gesagt. Aber seit sie aus Kaslit Bay weggegangen war, hatte sie die schlimmste, die schmerzhafteste Woche ihres Lebens verbracht. Sie hatte den Verdacht, dass sie Zane überallhin folgen würde, wenn sie ihn je wieder sah. Sie würde alles tun, was er von ihr verlangte, denn das
Leben ohne ihn und Kip erschien ihr unerträglich. Aber bis jetzt hatte sie weder von Zane noch von seinem Sohn auch nur ein Wort gehört. Und sie hatte eine innere Ahnung, dass Kip nicht mehr nach Ketchikan zurückkommen würde. Ihr ganzes Leben war zu einem Alptraum geworden. Jetzt wollte sie, sie hätte R. J. ROSS nie dazu überredet, sie am Weihnachtsmorgen nach Thorne zu fahren. Er hatte nicht versucht, sie davon abzubringen, aber sie hatte ihm angesehen, dass er gegen diese Nacht-undNebel-Aktion gewesen war. Wie eine Diebin hatte sie sich noch vor Tagesanbruch aus dem Haus geschlichen. Wie oft war sie seitdem schon zum Telefon gegangen, um Zane anzurufen, um Kips Stimme zu hören. Aber immer hatte sie im letzten Moment der Mut verlassen. Zane richtete sich mit seinem Sohn ein neues Leben ein, und sie hatte nicht das Recht, ihn dabei zu stören. Kinder brauchten Beständigkeit, und allein die Tatsache, dass Kip sich noch nicht gemeldet hatte, bewies doch, dass er mit seinem neu
gefundenen Vater glücklich war und ihm nichts fehlte. "Ich habe dich etwas gefragt und möchte eine Antwort!" Jill schloss einen Moment lang die Augen. In dieser Verfassung hatte sie Harris noch nie erlebt, und sie hatte auch ein gebührend schlechtes Gewissen. Denn sie wusste, dass sie allein die Schuld an der verfahrenen Situation trug. "Ich kann dir keine Antwort geben. Es tut mir leid. Wir werden uns nicht wieder sehen. Verzeih mir." Sie öffnete die Autotür und stieg aus. "Leb wohl, Harris." "Jill ..." "Harris, bitte! Ich kann es nicht ändern." Sie wusste, dass sie ihm weh tat, aber ihr selbst ging es ja nicht besser. Und ein schnelles Ende war besser, als sich und ihn noch weiter zu quälen. Sie warf die Tür zu und lief zum Haus. Es war aus. Der Abschied von Harris bedeutete zugleich das Ende ihres bisherigen Lebens. Was wollte sie noch in Ketchikan? Am besten ging sie weg von hier, und wenn sie ihre Stelle vorzeitig aufgeben musste. Das war zwar nicht
gut für ihre weitere Berufslaufbahn, aber vielleicht war es trotzdem am besten so. "Da bist du ja endlich!" Sie blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich dann mit einem Ruck um. Vor ihr, mitten in Salem, stand der Mann, der ihre Tage und Nächte heimsuchte, dem jeder ihrer Gedanken, jeder Traum galt. Er trug einen dunklen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. "Zane!" "Immerhin erinnerst du dich noch an meinen Namen. Das ist nicht schlecht für den Anfang." Sie hörte an seiner Stimme, dass er seinen Ärger nur mühsam unterdrückte, und lehnte sich an die Tür, aus Angst, ihre Beine würden sie nicht länger tragen. "Was tust du hier? Und wo ist Kip?" "Bei seinen Großeltern in Bellingham. Natürlich wäre er lieber mitgefahren, aber er hat eingesehen, dass ich ihn ausnahmsweise nicht brauchen kann." Jill schlug das Herz bis zum Halse, und sie brachte keinen Ton heraus. "Aber er lässt dich grüßen. Jedes zweite Wort aus seinem Mund ist ,Jilly' - Jilly dies, Jilly das. Er spricht kaum von etwas anderem. Und mir
geht es nicht anders", gestand er rau. "Komm mit mir zurück, Jill. Ich brauche dich. Warum hast du mich verlassen?" Sie wagte nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. "Kip war so glücklich mit dir, deshalb habe ich mir keine Sorgen um ihn gemacht. Ich ... ich dachte, es wäre am besten so. Es gibt genügend gute Haushälterinnen und Kindermädchen." "Ich spreche nicht von Kip. Ich spreche von mir. Ich brauche dich." Er kam näher und raubte ihr jede Möglichkeit zur Flucht. Im nächsten Augenblick spürte sie seinen harten männlichen Körper, seine drängenden Lippen. Sie war zu schwach, sich gegen seine Küsse zu wehren, sie brauchte sie so notwendig wie die Luft zum Atmen. Eine Woche war sie von ihm getrennt gewesen, und ihr Hunger nach ihm schien unstillbar. Jill vergaß die Welt um sich herum und tauchte ganz in ihre Liebe zu Zane ein. Sie erwiderte Kuss um Kuss, bis sie vor Lust und Sehnsucht nach ihm zitterte. "Ich liebe dich, Zane", stieß sie an seinem Mund hervor. "Ich weiß, es ist verrückt nach dieser kurzen Zeit, aber ich liebe dich."
"Manchmal gibt es sie, die Liebe auf den ersten Blick, ohne dass man sich dagegen wehren kann. Wir beide haben einfach Glück gehabt. Ich liebe dich auch, Jilly. Lass uns nicht noch mehr Zeit vergeuden." Sie war den Tränen nahe. "Ich möchte deine Frau sein, Zane. In dieser letzten Woche habe ich gemerkt, dass mein Leben ohne dich keinen Sinn hat. Ich wusste es schon, bevor ich weggefahren bin." "Mir ging es doch genauso." Er fing wieder an, sie mit Küssen zu überschütten, und sie gab sich ganz seinen Liebkosungen hin. Und sie begann zu ahnen, dass er zu ihr gekommen war, weil er nicht anders konnte, weil er sie liebte ... Das hatte nichts damit zu tun, dass er für Kip eine Mutter suchte. Dieses Wissen machte sie unbeschreiblich glücklich. "Deine Eltern waren ganz begeistert davon, dass sie so unerwartet Großeltern werden sollen, und möchten möglichst bald meine Eltern kennen lernen." Zane verteilte kleine Küsse auf ihrem Gesicht. Jill sah ihn ungläubig an. "Du warst schon bei Mom und Dad?"
"Ja, natürlich." Er lachte. "Sie waren sehr froh darüber, dass ich bei ihnen aufgetaucht bin. Sie meinten nämlich, ich könnte dir vielleicht gut tun." Jill war so überwältigt, dass sie kein Wort herausbrachte. "Lass uns so bald wie möglich heiraten. Kip weiß auch schon eine Ersatzlehrerin für dich, während wir beide auf Hochzeitsreise sind." Sie lachte. "Ihr habt ja offenbar an alles gedacht. Er meint vermutlich Mrs. Taft." Sie konnte gar nicht genug von seinem Mund bekommen. "Natürlich gibt es niemanden, der mit dir auch nur entfernt vergleichbar wäre", meinte Zane, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. "Aber das muss mir nicht erst mein Sohn sagen, das weiß ich selbst." Seine Stimme klang etwas unsicher, als er jetzt ihr Kinn anhob, damit er ihr in die Augen sehen konnte. "Das wusste ich schon, als ich dich zum ersten Mal auf dem Pier gesehen habe. Wie ein Weihnachtsengel hast du da gestanden mit deinem goldenen Haar, so schön und so voller Leben. Und ich kam mir vor wie ein erbärmlicher Wicht, voller Fehler und ganz unzulänglich. Und ich schwor, wenn ich den
Schlüssel zu deinem Herzen finden würde, würde ich mir nie wieder etwas anderes wünschen." Jill konnte sich nicht vorstellen, dass jemals eine Frau so glücklich gewesen war wie sie. "Ich liebte ja deinen Sohn schon von ganzem Herzen und musste nur noch den Mann treffen, der ein so wunderbares Kind gezeugt hatte. Und als du uns mit in dein Haus nahmst, weil du den Verdacht hattest, Kip könnte dein Sohn sein, da wusste ich, dass ich einem ganz besonderen Menschen begegnet war, einem Menschen, wie man ihn nur einmal im Leben trifft." Ein Zittern durchlief sie, und ihre Stimme wurde leise. "Wie sehr ich die Frau beneidete, die einmal deine Liebe gewinnen würde. Ich kann immer noch nicht glauben, dass es nicht nur ein Traum ist." "Es ist alles wirklich, mein Liebling", murmelte er. "Ganz, ganz wirklich, wie unser Sohn sagen würde." "Genau das würde er sagen." Jill lächelte unter Tränen. Und dann küsste sie wieder den Mann, der sie für den Rest ihres Lebens glücklich machen würde.
- ENDE -