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Seewölfe 225 1
Roy Palmer 1.
Narayan beobachtete, wie das feinmaschige Netz im Wasser versank, als löse es sich im Nichts auf. Er kontrollierte die Position der kleinen Korkschwimmer, die in der Dunkelheit gerade noch zu erkennen waren, und dann gab er seinem Sohn Chakra durch einen Wink zu verstehen, er solle anrudern, damit sich die Leinen etwas strafften. Als er sich davon überzeugt hatte, daß sich Netz und Leinen nicht miteinander vertörnen konnten, schaute er in den Himmel. Der Nachthimmel spannte sich pechschwarz über der See, der Koromandelküste und den Ghats des Dekkans im Landesinneren. Weder die Sichel des Mondes noch ein einziger Stern waren zu sehen. In den gigantischen Wolken, die sich schon am Tag zusammengeballt hatten, schien sich eine Drohung zu verbergen. Narayan kauerte im Heck seines geräumigen Fischerbootes. Er drehte sich jetzt langsam um und wandte sein hartes, etwas zerknittertes Gesicht, das ihn älter erscheinen ließ, als er in Wirklichkeit war, seinem Sohn Chakra zu. Chakra saß auf der mittleren der drei Duchten und bewegte mit spielerisch leichtem Schlag die wuchtigen Riemen. Er war ein kräftiger junger Mann mit gut ausgebildeten Muskeln und breiten Schultern, arbeitsam und hilfsbereit, jedoch manchmal etwas zu forsch und draufgängerisch. „Wir haben noch genug Zeit, bis der Regen einsetzt“, sagte Narayan. „Die Luft ist schwül und gewittergeladen. Die Fische drängen zur Oberfläche des Wassers. Es wird ein guter Fang werden.“ „Wir müssen nur Geduld haben“, meinte Chakra. „Geduld und Ausdauer“, sagte sein Vater. „Daran soll es uns nicht mangeln.“ „Aber die Wellen werden bald heftiger gehen.“ Narayan lächelte. „Bald, aber nicht sofort. Bis es soweit ist und wir uns in die Bucht
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des Dorfes zurückziehen müssen, haben wir unsere Fische im Netz, verlaß dich darauf.“ „Vater“, sagte der junge Mann. „Die anderen Männer hätten gut daran getan, sich uns anzuschließen. Warum sind sie unserem Beispiel nicht gefolgt? Sie hören doch sonst auf dich, da du zum Rat der Ältesten zählst.“ „Sie haben Angst. Die Nacht ist voller Gefahren.“ „Aber der Brahmane - was hat er ihnen gesagt, bevor wir ablegten und die Bucht verließen?“ fragte Chakra. „Der Brahmane sagt, man solle Shiva nicht reizen. Shivas Launen seien unberechenbar in einer Nacht wie dieser.“ Chakra hob die Augenbrauen. „Und diese Ermahnungen schlägst du in den Wind?“ Wieder lächelte Narayan. „Keine Sorge, mein Sohn. Der Brahmane ist klug und weitsichtig, aber nicht allwissend. Vergiß nicht, daß ich ein Panda, ein Schriftgelehrter, bin und die Götter mir ebenso nah sind wie ihm. Ich versichere dir, Vishnu, der Erhaltende, wird Shiva jederzeit zurückhalten, solange wir auf See sind, und auch Rudra, der Gott des Sturmes, wird keine Macht über uns haben.“ Chakra bediente wieder die Riemen, dann sagte er: „Ich habe keine Angst und vertraue dir. Aber ich glaube, die Männer des Dorfes werden uns unseren Fang neiden.“ „Wir werden ihnen davon abgeben.“ „Aber - das haben sie nicht verdient!“ stieß der junge Mann empört aus. „Sie werden uns die Geste danken, und Vishnu wird dabei auf uns niederblicken“, sagte Narayan. „Vishnu wird uns auch weiterhin wohlgesonnen sein, und das ist gut für unser Karma.“ Chakras Miene wurde starr und trotzig. „Wir mühen uns hier ab, und dann sollen wir einen Teil unseres Fanges verschenken, statt ihn zu verkaufen. Das sehe ich nicht ein und ...“ „Schweig!” unterbrach sein Vater ihn scharf. „Du bist zu jung und zu unerfahren, um dir ein solches Urteil erlauben zu
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können! Du mußt noch sehr viel lernen in diesem irdischen Dasein, damit du eines Tages einen Platz im Nirwana, im Paradies der unendlichen Glückseligkeit erlangst!“ „Verzeih mir“, sagte Chakra und senkte den Kopf. „Ich wollte dich nicht verärgern.“ Narayans Züge nahmen einen etwas milderen Ausdruck an. Er wollte die Gelegenheit jetzt nutzen, um seinem Sohn einen Vortrag über die Bedeutung und Wirkung des richtigen menschlichen Tuns zu halten, aber plötzlich versteifte sich seine Gestalt, und sein Blick glitt von Chakras Gesicht ab und richtete sich auf die See. Das Fischerboot lag beigedreht mit seiner Steuerbordseite zu dem aus Nordosten einfallenden Wind gewandt, sein Bug richtete sich also zur im Westen befindlichen Küste, während das Heck auf das offene Meer zeigte. Narayan vermochte die Erscheinung, die sich zwischen ihrem Boot und der Küste dahinbewegte, deutlich genug zu erkennen, um eine Täuschung auszuschließen. Der Schatten war groß und bizarr und ganz plötzlich aus der Schwärze der Nacht hervorgewachsen wie Mulayaka, der böse Dämon, vor dem sich alle Hindus fürchteten. Chakra wartete vergeblich auf die nächsten Worte seines Vaters. Da er jedoch fest damit gerechnet hatte, eine halbe Predigt über die rechte Sittlichkeit und Moral der Menschheit zu hören, hob er den Kopf wieder ein wenig und sah seinen Vater verwundert an. An dem Blick Narayans, der direkt an seiner rechten Schulter vorbeiging, erkannte Chakra sofort, daß etwas nicht stimmte. Er drehte sich um und spähte selbst in die Nacht hinaus - und jetzt konnte auch er das düstere Schiff sehen, vor dessen zwei Masten sich dreieckige Segel blähten. Mit südlichem Kurs glitt es dicht unter Land dahin, aber im nächsten Augenblick hatte die Dunkelheit seine Konturen wieder verschluckt.
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Chakra fuhr auf der Ducht zu seinem Vater herum und wollte etwas sagen, doch Narayan preßte den Zeigefinger auf die Lippen. Er blickte unausgesetzt zur Küste hinüber und bedeutete seinem Sohn durch eine Gebärde, noch einmal den Kopf zu wenden. Chakra befolgte die stumme Aufforderung - und fuhr unwillkürlich zusammen. Das fremde Schiff war wieder da! Wie ein Spuk war es zurückgekehrt, segelte nun wieder von rechts nach links, von Norden nach Süden also, und tauchte kurz darauf in den schweren schwarzen Schleiern der Nacht unter. „Vishnu“, flüsterte der junge Mann entsetzt. „Steh uns bei, bitte, steh uns bei.“ „Schweig!“ zischte Narayan. Chakra bemerkte einen dritten Schatten in der Dunkelheit. Dieser schien weiter entfernt zu sein, denn er war nur als eine Art Schemen zu erkennen. für wenige Augenblicke, dann war er wieder fort, als hätte es ihn nie gegeben. „Jetzt begreife ich“, murmelte Chakra. „Das sind drei Schiffe.“ „Sehr gut“, raunte sein Vater, und seine Stimme war nicht ohne Ironie. „Drei - mehr scheinen es wirklich nicht zu sein. Aber drei sind schon genug, um unserem Dorf Unheil zu bringen.“ „Unheil?“ wiederholte Chakra verblüfft. Er sah sich wieder nach seinem Vater um und registrierte erstaunt, daß dieser mit flinken Händen das Netz einholte. „Hilf mir!“ wisperte Narayan. „Schnell!“ Chakra barg die Riemen, kletterte über die Duchten und packte mit zu. Während sie in aller Hast das Netz über die Bordwand zerrten, sagte Narayan: „Wir müssen den Mast richten, das Segel setzen und so schnell wie möglich zurück zum Dorf segeln, denn jene, die an Bord der Schiffe mit den zwei Masten sind, werden die kleinen Feuer bemerken, die unsere Leute vor den Hütten angezündet haben, um uns die Orientierung zu erleichtern.“ „Du meinst - diese Fremden wollen uns überfallen?“ „Ja, denn ich glaube erkannt zu haben, wem diese drei Schiffe gehören, und ich
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kann nur hoffen, daß er uns nicht entdeckt hat. Vielleicht hält sein Ausguck den Blick zur Küste gerichtet. Dann haben wir noch eine Chance, unser Dorf zu warnen, denn ehe der Verband Kurs auf unsere Bucht genommen hat, sind wir an ihm vorbei“, sagte Narayan. „Die Fremden sind - Piraten?“ „Ja. Und ihr Anführer ist Raghubir.“ „Raghubir, der schon seit langer Zeit in den nördlicheren Küstengewässern räubert?“ „Ja.“ „Vishnu stehe uns bei“, sagte Chakra, und seine Miene wurde so hart wie Stein. „Damit wir diesen Teufel töten können.“ * Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Chakra hatte den Mast, den sie unter den Duchten des Bootes verstaut hatten, aufgerichtet und in die Öffnung der vorderen Ducht gerammt. Er hatte das grob gewebte, dunkel gelohte Segel gesetzt, und jetzt lag das Boot vor dem Nordostwind und rauschte geradewegs auf die beiden glimmenden Punkte zu, die verschwindend klein in der Ferne standen und ein wenig zu vibrieren schienen. Das Netz lag zu Narayans Füßen wie ein unförmiger Klumpen. Narayan hielt die Ruderpinne und steuerte auf die Feuer zu. Kein einziger Fisch befand sich im Netz, aber weder Narayan noch sein Sohn dachten jetzt noch an den glücklichen Fang, auf den sie gehofft hatten. Ihre Gedanken bewegten sich nur noch in der einen Richtung. Ihre Sorge um die Bewohner des Dorfes stieg ins Unerträgliche. Nur wenige Männer hielten im Dorf Wache, wie Narayan wußte. Falls Raghubir und seine Bande einen Überraschungsangriff auf die Hütten unternahmen, waren diese Posten schnell überrumpelt und getötet, denn die Seeräuber hatten Feuerrohre, die Eisenkugeln ausspuckten, wie Narayan aus Berichten über die Bande vernommen hatte.
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Wenn das Unglück das Dorf heimsuchte, dann war es seine, Narayans Schuld, denn seinetwegen waren ja die Feuer angezündet worden. Er schimpfte sich jetzt einen elenden Narren, aber jede Erkenntnis erfolgte zu spät. Shiva schien Vishnu einen grausamen Streich zu spielen und ihn zu übertrumpfen. Die Klauen der Dämonen streckten sich nach den ahnungslosen Fischern und deren Familien aus. Chakra stand hochaufgerichtet in der Plicht des Bootes, es konnte ihm nicht schnell genug gehen. Am liebsten wäre er ins Wasser gesprungen, um an Land zu schwimmen, aber selbstverständlich wußte er, daß ihm das auch nichts eingebracht hätte. Er dachte an Kankar, seine Mutter, und an Shandra und Ginesh, seine Schwestern, die jetzt friedlich schlafend in ihrer Hütte lagen. Wenn sie sich in ihren Träumen um etwas sorgten, so mochte dies allenfalls mit der Fangfahrt ihrer beiden Männer zu tun zu haben. Sie würden sich wünschen, daß Narayan und Chakra mit Bergen von Fisch und strahlenden Gesichtern heimkehrten, aber um die eigene Sicherheit bereiteten sie sich keine Sorgen. Denn dieser Streifen der Koromandelküste, der sich südlich von Kakinada und Bandar, südlich der Godavari- und KrishnaMündungen an die stufenförmig ansteigenden Hänge des Dekkan schmiegte, war bislang friedlich gewesen. Keine Piraten und Strandräuber hatten ihn heimgesucht, und die Fischer hatten sich gegen plündernde Horden aus dem Binnenland sehr wohl zu verteidigen gewußt. Wenn Narayan sich nicht getäuscht hatte und es sich bei dem Dreier-Verband tatsächlich um die Schiffe Raghubirs handelte, war es mit dem Frieden und der Beschaulichkeit in den Fischerdörfern vorbei Dann würden die wilden Kerle rauben und brandschatzen, töten und vergewaltigen, und keiner konnte ihnen Einhalt gebieten, denn sie hatten ja die furchterregenden Waffen, die knallten und
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Feuer spuckten. Sie hatten sie weißen Seefahrern abgenommen, die sie überfallen hatten. Je mehr Feuerrohre sie in ihren Besitz gebracht hatten, desto gewagter waren ihre Beutezüge geworden. Dies alles hatten Narayan, Chakra und die anderen Männer des Dorfes von Fischern aus einem der nördlichen Nachbardörfer vernommen, die ihrerseits vor nicht allzu langer Zeit Besuch von Händlern aus Kakinada gehabt hatten. So eilte die Kunde über ihre Grausamkeit den Piraten voraus, und jeder, der diese Berichte vernahm, erschauerte insgeheim, selbst wenn er noch so mutig war. Schneller, dachte Chakra, fliege, Boot, trag uns nach Hause, damit wir unsere Familie und unsere Freunde retten können! Er blickte nach links, weil er glaubte, eine schwache Bewegung bemerkt zu haben. Er hatte sich nicht getäuscht. An Backbord des Bootes schälte sich wieder dieser unheimliche Schatten aus der Nacht — einem Gespenst gleich, das aus finsteren Schleiern zu einer greifbaren Wesenheit wurde. Dieses Mal war das Schiff mit den zwei Masten dem Fischerboot sehr viel näher als bei der ersten Begegnung. Auf Rufweite schob es sich heran und lief mit Parallelkurs auf gleicher Höhe von Narayan und Chakra. Chakra drehte sich zu seinem Vater um, seine Miene war verzerrt. Er wollte ein Zeichen geben, doch Narayan hatte das Schiff ebenfalls entdeckt und drückte die Ruderpinne herum, um sein Boot aus der unmittelbaren Nähe des Zweimasters zu bringen. Um welches der drei Piratenschiffe es sich handelte - diese Frage stellten Vater und Sohn sich nicht, denn sie waren sicher, daß es das erste Schiff im Verband war, Raghubirs Schiff. Chakra braßte das Segel ein wenig an, das Boot krängte etwas und lief auf dem Backbordbug mit unveränderter Geschwindigkeit weiter. Narayan und Chakra vermochten mit dem Schiff der Piraten das Rennen zu halten, denn das Boot war so schlank und schnittig
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gebaut, daß es trotz seiner geringen Segelfläche bei günstigem Wind sehr schnell fuhr. Die Brise aus Nordosten trug beide Parteien ihrem Ziel entgegen. Was Narayan befürchtet hatte, war eingetreten: Der Feind hatte die Feuer erspäht und nahm nun Kurs darauf, weil die kleinen Lichter in der Nacht auf die Anwesenheit von Menschen schließen ließen. Wo wiederum Menschen waren, konnte auch Beute sein: Brokat oder Perlen, die einzigen wertvollen Besitztümer der Bewohner der Küstengegend, oder zumindest ein paar Waffen. Ein Ruf wehte von Bord des Schiffes zu dem Boot hinüber. „Jetzt haben sie uns gesichtet“, sagte Narayan. „Sie werden auf uns schießen“, stieß sein Sohn entsetzt hervor. „Nein, das werden sie nicht wagen, denn dadurch warnen sie unsere Leute, die sich verstecken und ihnen eine Falle zu stellen versuchen würden, sobald sie an Land gehen.“ Chakra entgegnete darauf nichts, aber er duckte sich doch vorsorglich, um den eisernen Kugeln der Freibeuter zu entgehen, gegen die er sich nicht hätte wehren können. Instinktiv spürte er, daß sein Vater sich in diesem einen Punkt doch irrte - daß nämlich die Piraten zumindest in Betracht zogen, das für sie so unvermittelt aufgetauchte Fischerboot außer Gefecht zu setzen, ehe es ihnen in die Quere geraten konnte. Kadiri - so hieß das Dorf der Fischer hatte nur zwei- oder dreimal in weiter Ferne die großen Segler der weißen, dunkelbärtigen Männer vorbeiziehen sehen, eine Invasion spanischer oder portugiesischer Seefahrer hatte es nie erlebt. Die Besatzungsunternehmen der größten europäischen Macht waren spurlos an diesem nur spärlich besiedelten Gebiet vorbeigegangen. Deshalb kannte man die Wunderwaffen der Fremden auch nur vom Hörensagen. Über die verschiedenen Größen und Kaliber der „Feuerrohre“ wußten die
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indischen Fischer nichts, ihnen waren weder die Bezeichnungen „Muskete“, „Arkebuse“ und „Tromblon“ noch „Culverine“, „Demi-Culverine“ oder „Drehbasse“ geläufig. Daß man mit einem einzigen Kanonenschuß das Boot von Narayan und Chakra hätte versenken können, ahnten Vater und Sohn in diesem Moment nicht. * Raghubir, der Anführer der Piraten, war nach der Meldung seines Ausgucks auf die Kuhl seines Schiffes hinuntergestiegen, um das Fischerboot vom Schanzkleid der Steuerbordseite aus zu betrachten. Er verzog seinen Mund zu einem boshaften Grinsen, aber er legte dem Kanonier, der soeben die Lunte einer Demi-Culverine in die Holzkohlenglut halten wollte, um sie zu entfachen, die Hand auf die Schulter. „Nicht doch“, sagte er mit seiner tiefen, heiseren Stimme. „Ein Schuß nur, und das Gesindel in der Siedlung, deren Feuer wir entdeckt haben, würde seine sämtlichen Habseligkeiten zusammenraffen und im Busch verschwinden. Und das wollen wir doch nicht, oder?“ „Nein, Herr“, erwiderte der Mann und ließ die Zündschnur wieder sinken. „Wir würden sie im Dschungel nicht finden“, sagte Raghubir. „Folglich wäre all unsere Mühe umsonst.“ „Aber die Kerle im Boot segeln bestimmt direkt auf das Dorf zu, um die Leute zu warnen“, gab Baudh, der Bengale, zu bedenken. Er stand schräg links hinter seinem Anführer, nicht weit vom Großmast entfernt. Raghubir warf ihm einen Blick über die Schulter zu. „Daran werden wir sie eben hindern. Baudh, du Lump, laß höher an den Wind gehen! Wir drängen sie nach Norden hin ab, verstanden?“ „Ja“, erwiderte Baudh, der als bester Vertrauter und als rechte Hand von Raghubir galt. Rasch drehte er sich um und gab die Order in gedämpftem Tonfall an die bunt und wild gekleideten, abenteuerlich und furchterregend zugleich
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wirkenden Gestalten weiter. Raghubir verschränkte die Arme vor der Brust und hielt wieder nach Steuerbord Ausschau, um die Reaktion der Männer in dem Boot auf sein Manöver verfolgen zu können. Er war ein Riese von Mann — geboren in Madras und aufgewachsen in Elend und Schmutz, ein Paria, ein Ausgestoßener, ein Klassenloser, in dem der Haß sich schon im frühen Kindesalter entwickelt hatte — ein Riese mit schulterlangem dunklem Haar und schwarzen Augen in einem großflächigen Gesicht, der ohne jedes Erbarmen tötete, wenn er dadurch nur in den Besitz von ein paar Rupien, Perlen, Seiden- oder Brokatgewändern gelangte. Der Angriff auf das Fischerdorf Kadiri mußte völlig überraschend erfolgen, nichts durfte die Bande in ihrem Vorhaben stören. Wir werden dieses verdammte Boot rammen und versenken, dachte Raghubir. 2. „Es wird gewittern und stürmen, und Sturzbäche von Regen werden sich auf die Decks der ‚Isabella’ ergießen“, prophezeite Old Donegal Daniel O’Flynn mit düsterer Miene. „Entsetzlich viel Wasser, mehr, als wir verkraften können. Das ist die drohende Sintflut, sage ich, die Sintflut.“ „Donegal“, sagte Ben Brighton, der Bootsmann und erste Offizier der „Isabella VIII.“ „Wen willst du mit deinem Gerede eigentlich beeindrucken? Uns? Beim Donner, man braucht kein Hellseher zu sein, um sich die Entwicklung des Wetters ausmalen zu können.“ Er wies mit der Hand nach Nordosten, in die Richtung, aus der der Wind blies. Dort erhellte jetzt ein erstes Wetterleuchten den Nachthimmel, und für einen Augenblick war ein Teil der aufgetürmten Wolkenmassen zu erkennen. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, lachte. „Außerdem ist dies die Zeit des Sommermonsuns, der Indien den ,großen Regen’ bringt, und da müssen wir also ständig mit einem rauschenden Wolkenbruch rechnen.“ .
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„Nicht nur mit einem“, murmelte der Alte und gab sich Mühe, seine Miene so unheilverkündend wie möglich aussehen zu lassen. „Es wird tagelang gießen. Und wir ersaufen wie die Ratten.“ „Lieber Wasser als Krankheiten“, sagte nun Big Old Shane mit unerschütterlicher Logik. „Außerdem tut so manchem Kerl an Bord unserer alten Lady ein ausgiebiges Bad gut. Sir, wenn ich mal etwas vorschlagen darf, dann empfehle ich, die ganze Crew bei den ersten Regentropfen vollzählig auf der Kuhl zu versammeln und jedem ein Stück Seife in die Hand zu drücken. Damit sollten sie so lange an sich herumschrubben, bis der ganze Dreck ‘runter ist.“ Die Männer lachten. Sogar Old O’Flynn konnte sich ein amüsiertes Kichern nicht verkneifen. Sie standen auf dem Achterdeck der „Isabella“, die mit Kurs Südwesten vor dem Wind segelte und - aus Richtung Kalkuttas und des Ganges-Deltas kommend - auf Madras zusteuerte. Madras war für den Seewolf die Orientierungsmarke auf dem neuen Kurs. Von dort aus wollte er durch die PalkStraße und den Golf von Manaar zu den Malediven hinübersegeln, indem er die Insel Ceylon also an ihrem westlichen Ufer passierte. Die weitere Route führte die „Isabella“ und ihre Besatzung dann ganz um die südliche Spitze Afrikas herum am Kap der Guten Hoffnung vorbei und schließlich in den Atlantik, der schon als „heimatliches Gefilde“ galt. „Shane“, sagte der alte O’Flynn. „Ich an deiner Stelle würde an der Großreinigung teilnehmen, um mir die Läuse aus dem Bart und die Flöhe vom Fell zu schaffen.“ „Ja“, sagte der graubärtige Riese gedehnt. „Eine gute Idee, mein Freund. Aber ich hoffe, du wirst dann neben mir stehen, denn du darfst nicht vergessen, daß nicht nur in deinem Holzbein die Termiten und die Bohrwürmer nisten, sondern daß du auch Kakerlaken und Wanzen beherbergst.“
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„Wo denn?“ wollte Ben wissen, der ein neues Lachen kaum noch unterdrücken konnte. „Wo? Nun, das ist doch sonnenklar“, entgegnete Shane. „Die anfälligste Stelle eines alten Kahnes ist sein Achtersteven, wenn ich das mal so ausdrücken darf.“ „Paß mal auf, was du gleich alles ausdrückst, du stinkendes altes Walroß!“ rief Old O’Flynn und hob in unmißverständlicher Geste seine Krücke. Er wollte schon auf den ehemaligen Schmied und Waffenmeister von Arwenack -Castle zurücken, da ertönte hoch über ihren Köpfen die Stimme von Gary Andrews. „Deck!“ schrie Gary. „Lichter Steuerbord voraus! Nur mit dem Kieker zu erkennen! Es sind zwei, und ich wette meine Pistole gegen einen alten Hut, daß es sich um niedrigbrennende Lagerfeuer handelt!“ „Danke, Gary!“ rief der Seewolf zurück. Er spähte zu Gary hinauf und konnte schwach dessen Gestalt hinter der Segeltuchumrandung des Großmarses erkennen. Gary hatte Bill, den Moses, laut Dienstplan für die Dauer der ersten Nachtwache als Ausguck abgelöst, und er versah seine Aufgabe mit der üblichen Sorgfalt. Hasard sah zu Ben, Shane und Old O’Flynn und sagte: „Gut, wir sind jetzt also nicht mehr weit von der Küste entfernt. Wir gehen auf rund zehn Meilen Distanz an sie heran und folgen ihrem Verlauf nach Süden. Sollte es einen schweren Sturm geben, suchen wir uns eine Bucht, in der wir Schutz finden.“ „Wie ist denn unsere derzeitige Position?“ erkundigte sich der alte O’Flynn. „Wir befinden uns nach meinen Berechnungen ungefähr auf halber Strecke zwischen Kakinada und Madras, also bereits südlich von Bandar an der Koromandelküste.“ „Ob das wohl ein schöner Küstenstrich ist?“ fragte Dan O’Flynn, der eben gerade zu ihnen getreten war. „Das Wort Koromandel hört sich so romantisch an.“ „Hört euch diesen verträumten Spinner an!“ rief sein Vater aufgebracht.
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„Romantisch - daß ich nicht lache! Was ist denn hier schon romantisch? Hast du Hering nach unseren letzten Erlebnissen von Indien immer noch nicht die Nase voll?“ Dan grinste. Er hatte sich ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten absichtlich so verklärt ausgedrückt, um seinen Erzeuger ein wenig zu reizen. „Dad“, sagte er. „Himmel, du bist aber wieder mal leicht auf die Palme zu bringen.“ „Kein Wunder, wenn ich ständig geärgert werde!“ „Es muß am Wetter liegen“, sagte Big Old Shane. „Die Wärme und die Feuchtigkeit sind das reine Gift für dein Bein.“ „Das ist es nicht“, zischte der Alte. „Ich bin doch kein Tattergreis, den immer irgendwelche Gebrechen plagen.“ „Wer hat denn das behauptet?“ fragte Shane so freundlich wie möglich. „Wer, Donegal? Oder redest du dir schon selbst was ein? Könnte ja sein - bei deinen ewigen Prophezeiungen.“ „Aufhören“, sagte der Seewolf. „Ich muß jetzt für Donegal Partei ergreifen, denn er hat völlig recht: Wir sollten Indien so schnell wie möglich den Rücken kehren. Ganz gegen meine ursprünglichen Absichten sind wir von Andamanen aus nicht in den Indischen Ozean gesegelt, sondern haben einen Umweg durch den Golf von Bengalen unternommen. Aber jetzt lege ich keine Station mehr ein, das versichere ich euch. Wir haben schon zuviel Zeit verloren.“ „Man kriegt schon so was wie Sehnsucht nach dem guten alten Atlantik“, sagte Ben. „Und nach Old England“, meinte Dan O’Flynn. „Ehe wir wieder Plymouth oder Falmouth anlaufen, wird aber wohl noch viel Zeit vergehen“, sagte Old O’Flynn. „Stimmt’s, Sir?“ „Ja.“ „Ist doch egal“, sagte Dan und grinste schon wieder, wobei er seinen Vater aus den Augenwinkeln musterte. „Man wird doch wohl noch träumen dürfen, oder?“
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Old Donegal warf ihm einen giftigen Blick zu. Shane hatte ein Spektiv auseinanderzogen und hob es vor sein Auge. Er spähte nach Steuerbord voraus und sagte: „Ich kann die beiden Feuer an Land jetzt auch sehen. Wißt ihr, was ich mich die ganze Zeit über frage?“ „Was sie zu bedeuten haben“, erwiderte der Seewolf. „Natürlich wird es bei dieser Schwüle keinem Menschen einfallen, sich an einem Lagerfeuer wärmen zu wollen. Aber vielleicht handelt es sich um ein Zeichen.“ „Für wen?“ fragte Ben. „Für jemanden, der sich auf See befindet?“ „Wahrscheinlich.“ „Für uns ganz bestimmt nicht“, brummte Old O’Flynn. „Und deshalb werden wir uns auch nicht weiter darum kümmern“, sagte der Seewolf. * Narayan drückte die Ruderpinne immer weiter herum, und sein Sohn braßte das Segel im Anluven des Bootes so weit an, daß die Vortriebskraft des Windes nicht verringert wurde. Ein kräftiger Drücker aus Nordosten verlieh dem Boot so viel Schub, daß es ein wenig Vorsprung gewann und vor dem von Backbord drohend herangleitenden Piratensegler davonlief. Narayans und Chakras Gesichter und Körper waren schweißbedeckt. Sie kauerten in dem schlanken, langen Boot, blickten mal voraus zu den an Land zuckenden Feuern, mal nach achtern zu dem Zweimaster mit den dreieckigen Segeln, dessen Bug dem Heck des Bootes nun bedenklich nah war. Sie hatten längst begriffen, was die Kerle an Bord des Zweimasters mit ihnen vorhatten, und ihre anfängliche Wut auf Raghubir schlug in Panik und Verzweiflung um. Chakra fühlte sein Herz heftig hämmern, es schlug ihm bis zum Hals hinauf. Er gab sich keinen Illusionen hin. Wenn es Raghubir gelang, sie mit seinem Schiff zu rammen, dann war nicht nur das Boot
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verloren, sondern es war auch um ihrer beider Leben geschehen. Entweder wurden sie mit dem kenternden, zerbrechenden Boot in die Tiefe gedrückt, oder aber der Rumpf des Piratenschiffes begrub sie unter sich. Für kurze Zeit hatten Narayan und Chakra geglaubt, die Piraten wollten sie nur in nördliche Richtung abdrängen und verhindern, daß sie nach Kadiri gelangten. Jetzt aber war es klar, welche Absichten die Meute von Schnapphähnen und Galgenstricken hegte. Mord, dachte Chakra, kaltblütiger Mord. Sein Haß auf Raghubir und dessen Spießgesellen verdrängte die Verzweiflung, mit einem Ruck drehte er sich wieder zu dem Schiff um, dessen Bug nun fast über dem Heck des Bootes war. Den geringen Vorsprung, den sie zuvor erreicht hatten, drohten Narayan und Chakra nun wieder einzubüßen. Gern hätte Chakra einen Pfeil zu dem Deck des Schiffes hinaufgejagt, an dessen Schanzkleid er jetzt die düsteren Konturen von männlichen Gestalten sehen konnte. Aber er trug als Waffen nur ein Messer und ein kurzes Schwert bei sich. Narayan hatte auch weder einen Speer noch Pfeil und Bogen, und so waren sie beide machtlos gegen die nahenden Feinde. Narayan gab seinem Sohn jetzt jedoch ein Zeichen - und Chakra reagierte sofort darauf. Er schrickte die Schot des Segels weg und holte die Gaffelrute herum, während sein Vater die Ruderpinne zur anderen Seite hinüberbewegte und das Boot auf den anderen Bug legte. Sie fuhren eine Halse und entwischten dem Schiffsbug auf knappe Distanz in südliche Richtung. Ganz so schnell vermochten die Freibeuter nicht zu manövrieren, sie brauchten dazu etwas länger Zeit. Wetterleuchten goß weißes Licht in die Dunkelheit, und so konnte Chakra, der sich flink wieder nach den Gegnern umwandte, nicht nur das Schiff von Raghubir sehen, sondern auch die beiden anderen Zweimaster, die nicht sehr weit entfernt im
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Kielwasser ihres Führungsschiffes segelten. Die Helligkeit erlosch. Chakra war wie geblendet, er konnte das Schiff von Raghubir jetzt kaum noch erkennen. „Wir haben ihnen ein Schnippchen geschlagen“, sagte Narayan. „Wir sind schneller und gewandter als sie, mein Sohn, und das ist unser Trumpf. Vishnu ist doch mit uns. Wir können es schaffen, gleich verlieren die Hunde uns aus den Augen.“ Chakra fühlte sich durch diese Worte seines Vaters angespornt. Er holte die Schot noch etwas weiter dicht und hielt sie mit beiden Händen fest. Dann, als sein Vater ihm zuwinkte, schrickte er sie wieder ein Stück weg, und gleich darauf lag das Boot wieder auf Südwestkurs und steuerte auf die Feuer zu, die vor den Augen der beiden Männer rasch größer wurden. Chakra wollte schon frohlocken, denn er war jetzt sicher, daß sie den Feind durch geschicktes Manövrieren und eine Reihe von Tricks abhängen konnten. Dann aber fuhr er zusammen und duckte sich tief, denn etwas zischte von achtern heran. Narayan stieß noch eine Warnung aus, dann war der Pfeil heran und blieb mit einem dumpfen Laut in der mittleren Ducht stecken. Chakra ging vor der vorderen Ducht in Deckung und glitt dabei um ein Haar aus. Er kauerte sich hin, blickte wieder nach achtern und sah, wie sich auch sein Vater in Sicherheit brachte, dabei aber nach wie vor die Ruderpinne festhielt. Eine Hoffnung hatte sich zerschlagen. Die Piraten hatten die beiden Fischer doch nicht aus den Augen verloren. Sie konnten sie noch gut genug sehen, um mit ihren Pfeilen ein Zielschießen auf sie zu veranstalten. Der zweite Pfeil strich flach über das Boot weg. Gleich darauf durchbohrte ein dritter das Segel, und ein vierter blieb in der Bordwand des Hecks stecken. Narayan stieß einen zischenden Laut aus. Chakra wertete ihn richtig und veränderte wieder die Segelstellung. Narayan riß die Ruderpinne herum.
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Narayan hatte beschlossen, einen Zickzackkurs zu fahren, um die Piraten zu irritieren, und diese Taktik schien sich auch als erfolgreich zu erweisen, denn die nächsten Pfeile gingen fehl. Vater und Sohn konnten deutlich hören, wie sie wirkungslos ins Wasser schlugen. Immer mehr schrumpfte die Entfernung zur Küste zusammen. Narayan gab sich alle erdenkliche Mühe, das Boot bei allem Hin- und Herwenden doch zielgenau in die Bucht zu steuern. Plötzlich aber stieß Narayan einen Schmerzenslaut aus. Chakra fuhr zu ihm herum und sah, daß sein Vater getroffen worden war. Der Pfeil steckte in Narayans linker Schulter. Chakra stöhnte vor Entsetzen auf. Er wollte zu seinem Vater kriechen, doch dieser bedeutete ihm, es nicht zu tun. „Nicht!“ sagte er gepreßt. „Bleib, wo du bist. Es ist keine tiefe Wunde, ich spüre es. Gleich ziehe ich den Pfeil heraus. Bleib auf deinem Posten, sonst sind wir verloren.“ Chakra gehorchte, aber er glaubte nicht daran. Narayan kauerte derart verkrümmt vor der achteren Ducht, daß es aussah, als müsse er jeden Augenblick ganz zusammenbrechen und ohnmächtig werden. Doch wie durch ein Wunder blieb er bei Bewußtsein und hielt sich mit zusammengepreßten Lippen aufrecht. Ein ganzer Hagel von Pfeilen folgte dem Boot, aber sie spickten nur den Rumpf, den Mast und die Duchten und brachten Narayan und Chakra keine weiteren Wunden bei. Vishnus schützende Hand schien sich noch einmal auf das Boot gesenkt zu haben, und obwohl Narayan verletzt war, schien die göttliche Vorsehung Gnade mit den beiden Flüchtenden zu zeigen. Noch zweimal, änderte Narayan den Kurs, dann glitt das Boot auf den jetzt höhersteigenden Wellen in die kleine Bucht, die dem Dorf Kadiri vorgelagert war. Narayan steuerte auf den einzigen hölzernen Anleger zu und lavierte zwischen eine Reihe von Booten, die an
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dieser Seite vertäut auf den Wellen dümpelten. Chakra sprang auf, drehte sich zu seinem Vater um und wollte zu ihm, doch der deutete nur auf den Anleger und rief: „Lauf und schlage Alarm! Halte dich nicht mit mir auf!“ Wieder gehorchte der junge Mann. Er kletterte auf die Pflicht, sprang katzengewandt zum Steg hinüber, setzte sicher auf und stürmte los. Seine Schritte tönten dumpf auf den Brettern, und durch diese Laute wurden die vier Männer aufgeschreckt, die in der Nähe der Feuer gehockt hatten, um Wache zu halten. Narayan richtete sich mühsam auf und ließ die Ruderpinne los. Er griff mit beiden Händen nach dem Pfeil, der in seiner Schulter steckte, biß die Zähne zusammen und versuchte, ihn durch heftiges Rucken herauszureißen. Doch die Spitze des Pfeiles saß wegen ihrer Widerhaken fest im Fleisch. Nur der Schaft bewegte sich hin und her, und unter Narayans energischen Bemühungen brach er schließlich ab. Narayan sank auf die Knie. Eine Woge des Schmerzes durchflutete seine Schulter und den Oberkörper. Ihm wurde übel, vor seinen Augen drehten sich feuerrote und schmutziggelbe Räder. Er drohte jetzt doch das Bewußtsein zu verlieren. Ein Blitz zertrennte als leuchtendes bizarres Geäst die Nacht, kürze Zeit später rollte ein langgezogener Donner über die See auf die Küste zu. Narayan verfolgte wie in einem von Fieber und Schmerz gezeichneten Traum das Einlaufen der Piratenschiffe in die Bucht. Sie wagten sich bis an das äußere Ende des Anlegers heran, wahrscheinlich weil sie keinen sehr großen Tiefgang hatten und ihre Führer die Wassertiefe als ausreichend einschätzten. Unter verzweifelten Anstrengungen rappelte Narayan sich wieder auf und wankte durch sein Boot. Er strauchelte beinah über die mittlere Ducht, verlor fast das Gleichgewicht und drohte ins Wasser zu stürzen. Der Schmerz wollte ihn übermannen.
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Er stöhnte und biß sich auf die Unterlippe, rief in seinen Gedanken Vishnu, Shiva, Brahma und alle anderen Götter der Hindus an und torkelte über die Ducht mühsam am Mast vorbei. Es stieg auf die Plicht und versuchte, den Anleger zu erklettern. Der Wind und die Strömung drückten das Boot zum Glück gegen den Anleger, so daß der Abstand vom Bug zum Steg nur gering war. Schwerfällig und unsicher wie ein vom Haschisch berauschter Mann schwang Narayan sich auf den Anleger – genau in dem Moment, in dem die ersten Piraten das Schiff Raghubirs verließen und über die grob zusammen gezimmerten Bretter auf das Dorf zuliefen. 3. „Weckt die anderen auf!“ stieß Chakra aufgeregt und atemlos hervor. Er blieb vor den vier Männern seines Stammes stehen, die ihn fragend anblickten. „Die Männer sollen sich bewaffnen, die Frauen und die Kinder sollen in den Dschungel fliehen, ehe es zu spät ist! Versteht ihr denn nicht? Raghubirs Meute will Kadiri überfallen!“ Er drehte sich um und wies zum Anleger. Die vier Männer stießen erschrockene Rufe aus. Erst jetzt begriffen sie, denn sie hatten vorher im Halbschlaf vor sich hindösend ihren Wachdienst versehen, mehr als verdrossen über die Aufgabe, die Feuer zu schüren und auf Narayans und Chakras Rückkehr zu warten. Verdattert hatten sie sich erhoben und die Ankunft des jungen Mannes abgewartet, aber jetzt waren sie hellwach. Ein neuer Blitz zuckte vom Himmel. Die Männer schrien auf. Gestalten stürmten über den Anleger auf das Dorf zu, und hinter ihnen erhoben sich geisterhaft die Silhouetten der drei Piratenschiffe. Narayan wankte in dem aussichtlosen Versuch, sich vor den Angreifern in Sicherheit zu bringen, vor der Schar her. Er hatte sein kurzes Schwert gezückt, schien es aber kaum halten zu können. Jeden Augenblick drohte er zu stürzen.
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„Vater!“ schrie Chakra. Dann hetzte er geduckt los, zurück zum Anleger, bereit, lieber selbst zu sterben als seinen Vater von den Freibeutern überwältigt zu sehen. Zwei Männer des Dorfes folgten dem Sohn Narayans. Die beiden anderen fuhren herum und stürzten zu den Hütten, flachen Gebäuden aus Holz und Lehm mit weit überhängenden Schilfmattendächern. Chakra war neben seinem Vater und zog ihn zu sich heran. Er deckte ihn mit seinem Leib und hob sein Schwert gegen die Meute der Anrückenden. Ein riesengroßer Kerl mit langem schwarzem Haar stürmte dem Trupp voran, blieb dicht vor Chakra stehen und hieb mit seinem Säbel auf den jungen Mann ein. Chakra parierte, wehrte den Schlag ab, der seinen Kopf treffen sollte, und ließ dann die kurze Klinge auf die rechte Schulter des Gegners niedersausen. „Allmächtiger Vishnu“, stöhnte Narayan. „Das kann nur er sein, der Teufel aller Teufel – Raghubir!“ Der Große wich geschickt aus, und Chakras Streich ging ohne Wirkung an seiner muskulösen Schulter vorbei. Chakra riß das kurze Schwert wieder zu sich heran, holte zu einem neuen Hieb aus und schrie: „Raghubir, das ist dein Ende! Stirb, du Hundesohn!“ Der Pirat packte seinen Säbel mit beiden Fäusten, zog ihn quer durch die Luft und lachte rauh auf, als die Klinge gegen das Kurzschwert prallte. Chakra fühlte seine Waffe zur Seite gerissen. In der Bewegung lag so viel Schwung, daß er selbst beinah die Balance verlor. Er taumelte und erschrak zutiefst, als er den feindlichen Säbel vor seinem Gesicht empor zucken sah. „Raghubir wird dir zeigen, was es heißt, ihn töten zu wollen!“ brüllte der Piratenführer, unternahm einen wilden Ausfall und drosch mit der Waffe so kräftig auf Chakra ein, daß dieser das Kurzschwert aus der Hand verlor. Es polterte auf den Anleger und blieb dort liegen, unerreichbar für den jungen Mann und dessen nachdrängende Stammesbrüder.
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Raghubirs Begleiter stürmten vorbei. Die zwei Männer des Dorfes warfen sich ihnen mutig entgegen, doch sie wurden niedergestochen, bevor sie zu Narayan und Chakra gelangen und ihnen Beistand leisten konnten. Narayan glaubte, den Anleger unter sich zerbrechen zu sehen. Er sank zusammen. Sein Arm entglitt den Fingern seines Sohnes, er stürzte hinunter in eine gähnende Schlucht totaler Finsternis und endlosen Schweigens. Chakra sah den Säbel des Freibeuters auf sich zurasen. Er unternahm noch einen verzweifelten Versuch, sich aus der Reichweite der Klinge zu bringen, doch noch während er es tat, begriff er, daß es völlig aussichtslos war. Das Leben zerfiel dröhnend und klirrend und ging in einem tosenden Inferno auf, und Nirwana, das süße Paradies, schien noch viel weiter entfernt zu sein als der Mond und die Sterne, die in dieser grauenvollen Nacht nicht zu sehen waren. Raghubir lief an der fallenden, schlaff werdenden Gestalt des jungen Mannes vorbei, sprang über die Körper der beiden anderen Fischer und rannte seinen Kerlen nach, die die Feuer vor den Hütten des Dorfes erreicht hatten. Halbnackte Männer stürmten aus den Hütten, gut zwei Dutzend und dann noch mehr, und sie alle hatten Schwerter und Speere in den Fäusten. Mit wütendem Geheul versperrten sie den Piraten den Weg zu den Hütten und schleuderten ihre Speere. Raghubir gab den Befehl, das Musketenund Arkebusenfeuer auf die Fischer zu eröffnen. * Hasard hatte das Achterdeck der „Isabella“ nicht verlassen, denn er wollte hier noch mindestens die Zeit bis zum nächsten Wachwechsel verbringen und die Entwicklung des Wetters abwarten. Shane und die beiden O’Flynns hingegen hatte er in ihre Kojen geschickt. Wenn es wirklich einen Sturm gab, brauchte er
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ausgeruhte Männer. Das galt gleichfalls sowohl für die Achterdecksleute als auch für diejenigen Männer der Crew, die jetzt Freiwache hatten und im Mannschaftslogis verschwunden waren. Ben Brighton hatte sich zu Pete Ballie ins Ruderhaus begeben und warf im Schein eines Talglichtes einen Blick auf die Karte, die an der Innenseite der Rückwand festgeheftet war. Die „Isabella“ lief mit unverändertem Kurs vor dem Nordostwind her, immer noch lag Kurs Südwesten an. Gegen Mitternacht jedoch wollte der Seewolf das Ruder vier Strich weiter Backbord legen lassen, um nicht zu sehr in die Nähe der Küste zu geraten. Im Fall eines Sturmes bestand immerhin die Gefahr, durch die Böen auf Legerwall gedrückt zu werden. Blitze spannten ihr weißes Flechtwerk durch das Nachtdunkel. Donner, der wie das ferne Grollen eines Seegefechtes anmutete, wälzte sich über das Wasser, entfernte sich zur Koromandelküste und in die Hänge des Dekkans. Plötzlich hob Hasard den Kopf und lauschte angestrengt. Da schienen mit einemmal noch andere Geräusche zu sein, die sich unter das Rollen des heraufziehenden Gewitters mischten, dann aussetzten, und schließlich wieder allein zu hören waren, ohne von dem unterschwelligen Donner begleitet zu werden. Das klang fast so, als würden kleine Fleischbrocken in einen Kübel voll siedenden Öls geworfen. Hasard blickte zu Gary Andrews auf und konnte jetzt auch schon die Gestalt erkennen, die sich in luftiger Höhe über die Umrandung des Großmarses schob. „Sir!“ rief Gary. „Hast du gehört, was ich gehört habe?“ „Ja!“ rief der Seewolf zurück. „Musketenschüsse.“ „Ziemlich leise, nicht wahr?“ „Sie wurden an der Küste abgegeben, und der Wind trägt sie landeinwärts.“ „Richtig!“ rief Gary Andrews. „Ich habe sogar die Mündungsfeuer sehen können, genau da, wo die kleinen Lagerfeuer sind!“
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Hasard legte die Hände als Schalltrichter an die Mundwinkel. „Wer kämpft da gegen wen, Gary?“ „Das kann ich nicht feststellen!“ „Schon gut, danke.“ Der Seewolf ging zum Ruderhaus, blieb in der Türöffnung stehen und blickte zu Ben und Pete. Das Talglicht warf einen dämmrig-rötlichen Schein und gespenstische Schattenmuster auf ihre Gesichter. „Wer immer da auch schießt, es geht uns nichts an, nicht wahr?“ sagte er. „Wir sollten uns tunlichst nicht darum kümmern, findet ihr nicht auch?“ Ben nickte. „Ganz meine Meinung. Aber wie ich dich kenne, Sir, denkst“ du bereits darüber nach, was wohl dahinterstecken könnte.“ „Kennst du mich so genau, Ben?“ „Niemand soll dir vorwerfen können, du hättest ihm deine Hilfe verwehrt.“ „Aber ich bin kein barmherziger Samariter und auch kein Selbstmörder, Ben Brighton“, sagte der Seewolf. „Und keiner soll mir jemals vorwerfen, ich habe meine Leute leichtfertig in eine Gefahr geführt.“ Ben zeigte ein ziemlich grimmiges Lächeln. „Aber du bist der Kapitän, und wenn du befiehlst, wir sollen nachsehen, was da vorgeht, dann tun wir das, ohne zu murren.“ Wieder peitschten Musketenschüsse auf, die Geräusche schienen aus großer Ferne zu kommen. Und doch, die Koromandelküste war jetzt nicht mehr fern. „Ich habe gesagt, daß ich in Indien keine weitere Station einlegen will“, erklärte der Seewolf noch einmal. „Aber, um ehrlich zu sein: Wenn weiterhin geschossen wird, kann mich keiner davon abhalten, nach dem Rechten zu sehen.“ Er wandte sich ab und stieg auf das Quarterdeck, um von dort aus mit dem Spektiv Ausschau nach den Feuern und den Mündungsblitzen der Waffen zu halten. „So ist das mit der Fairneß, der Ritterlichkeit und dem Sinn für Gerechtigkeit“, sagte Ben zu Pete. „Was meinst du?“ fragte Pete Ballie. „Ob da ein Überfall der Dons auf die Inder
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stattfindet? Ob da wohl Unschuldige massakriert werden?“ „Herrgott, frag mich doch nicht“, entgegnete Ben Brighton ziemlich unwirsch. „Bin ich vielleicht ein Hellseher?“ * Kankar, Narayans Frau, fuhr von ihrem Lager hoch. Sie hatte nur einen leichten Schlaf gehabt und war schon beim Rufen der Männer im Dorf hochgeschreckt. Jetzt aber, als die Schüsse krachten, sprang sie auf und lief zu ihren Töchtern Shandra und Ginesh, die sich ebenfalls von ihren Matten erhoben. Shandra, die ältere, war am schnellsten auf den Beinen und blickte sich verstört in dem dunklen Raum der Hütte um. Ginesh murmelte Unverständliches. Sie setzte sich zwar auf, schien aber noch nicht ganz wach zu sein, sondern sich in einem Zustand des traumdurchwebten Dahindämmerns zu befinden. Kankar legte Shandra die Hand auf die Schulter. „Bleib du hier bei Ginesh“, raunte sie. „Ich sehe nach, was draußen los ist.“ „Mutter, laß mich mit dir gehen.“ „Nein. Rühr dich nicht von hier fort.“ „Ich habe Chakras Stimme gehörter hat geschrien.“ Kankar glaubte eine eiskalte Hand zu fühlen, die ihr über den Rücken strich. Sie versuchte, so ruhig wie möglich zu sprechen, konnte aber doch nicht verhindern, daß ihre Stimme zu beben begann. „Keinen Schritt, hörst du? Ich befehle dir, in der Hütte zu bleiben.“ „Das ist ein Überfall.“ „Es ist das Gewitter. Gleich wird der große Regen einsetzen. Narayan und Chakra haben Schwierigkeiten gehabt, aber sie scheinen doch den Weg zurück in die Bucht gefunden zu haben“, sagte Kankar. „Aber dieses furchtbare Krachen“, stammelte Shandra. „Das ist kein Donnern aus dem Himmel. Das ist -der Zorn der Dämonen!“
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Kankar erwiderte nichts darauf. Sie wickelte sich einen seidenen Umhang um die Schultern und trat hinaus in die Nacht. Sie war eine schlanke, etwas grobknochige Frau mit entschlossenen Zügen, eine verblühte Schönheit, die durch die bitteren Erfahrungen des Lebens hart und widerstandsfähig geworden war. Das, was sich auf dem Platz zwischen den Hütten und der Bucht abspielte, schockierte aber selbst sie so sehr, daß sie einen Schrei nicht unterdrücken konnte. Die Männer von Kadiri kämpften an den zwei Feuern gegen eine Übermacht von Angreifern, gegen wilde, zum Teil mit Hose und Turban und zum Teil nur mit einem Tuch um die Lenden bekleidete Kerle, die lange Rohre auf die Fischer richteten und dabei Flüche ausstießen. Vor den Öffnungen der Rohre zuckte Feuer auf, und die Männer von Kadiri gaben eigentümliche Laute von sich, griffen sich mit den Händen an die Brust oder an den Bauch, brachen zusammen und blieben reglos liegen. Kankar begriff. Sie hatte die Erzählungen über die Männer mit den feuerspuckenden Rohren aus Narayans Mund vernommen, und sie wußte auch, daß diese Rohre eiserne Kugeln ausspien, die den sofortigen Tod brachten. Wie gelähmt stand sie da und konnte nicht einmal die Fäuste heben, um sie sich gegen den Mund zu pressen. Ein Blitz stieß vom Himmel auf die See hinunter, und jetzt vermochte sie, auch die Gestalten zu sehen, die eigenartig verkrümmt auf dem Bootsanleger ruhten. Vier Männer – und deutlich genug hoben sich die Farben von Narayans und Chakras Kleidung ab. Kankar stöhnte und wimmerte. Ihre Knie wurden schwach, und sie glaubte, schon jetzt vor seelischem Schmerz sterben zu müssen, obwohl der Weg bis zum Tod noch lang und von Grauen gezeichnet war. Aus den Nachbarhütten stolperten die Gestalten von Frauen. Frauen, die ihre Männer und Söhne im Kampf gegen die Piratenhorde fallen sahen – Frauen. die in
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ihrem fassungslosen Entsetzen über das Geschehen genau wie Kankar erstarrten und zu nichts anderem imstande waren, als Wehlaute auszustoßen. In Narayans Hütte kniete Shandra neben Ginesh und redete beschwichtigend auf die kleine Schwester ein. Ginesh war zwölf Jahre alt und ihrem Gemüt nach noch ein Kind, obwohl ihr Körper bereits zu dem einer Frau heranzureifen schien. Shandra war sieben Jahre früher zur Welt gekommen. Sie war ein hochgewachsenes Mädchen mit langen, geraden Beinen, sanft geschwungenen Hüften und hohen, festen Brüsten. Ihr Körper hatte die Farbe gegossener Bronze, ihr Gesicht war eine Insel der Schönheit im Fluß des langen schwarzen Haares. Ihre vollen Lippen waren fast trotzig aufgeworfen, aber ihre Nase war fein und geradlinig, und ihre großen dunklen Augen hatten den Ausdruck von Sinnlichkeit und Intelligenz, der ihre Fraulichkeit vollkommen werden ließ. Ginesh begann bei dem Geschrei und den Schüssen draußen auf dem Dorfplatz zu weinen. Das Trappeln von Schritten, das Fluchen fremder Männer, das Klirren von Metall und das ständig wiederkehrende peitschende Geräusch, dem stets das Röcheln eines Mannes folgte, schienen überall zu sein, rund um die Hütte herum. Die Blitze zuckten jetzt öfter über der See. Das grelle Licht drang durch die Ritzen der Hüttentür und zeichnete die Konturen der beiden kauernden Mädchenkörper nach. Als die Frauen vor den Hütten zu wimmern und zu schreien begannen, schluchzte Ginesh noch heftiger und klammerte sich an Shandra fest. „Hör auf“, sagte Shandra. „Es ist gleich vorbei. Bete zu Shiva und zu Vishnu, daß sie sich vertragen, bete zu Krishna und zu Indra, damit sie Brahma, den Schöpfer, friedfertig stimmen.“ „Ja“; flüsterte Ginesh, aber dann weinte sie wieder haltlos. Plötzlich öffnete sich die Tür, und Kankar schob ihren Kopf durch den Spalt. „Shandra“, sagte sie mit seltsam ausdrucksloser Stimme. „Flieh mit Ginesh
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in den Wald. Benutzt den hinteren Ausgang der Hütte. Lauft, so schnell ihr könnt, versteckt euch und kehrt erst zurück, wenn ihr nichts mehr hört — wenn Ruhe eingetreten ist.“ „Mutter — was ist geschehen?“ „Stell jetzt keine Fragen.“ „Was ist mit Vater und mit Chakra, meinem Bruder?“ „Tu, was ich dir sage, Shandra!“ „Und du — warum kommst du nicht mit uns?“ stieß Shandra hervor. „Sollen sie auch dich töten ? Glaubst du, noch etwas ausrichten zu können — gegen diese Bestien, die uns alle niedermetzeln wollen?“ „Wie sprichst du mit mir?“ zischte Kankar. „Untersteh dich, so einen Ton anzuschlagen, Shandra. Geh, rette Ginesh, geh, ehe ich dich schlage und dazu zwinge!“ Shandra stand auf und zog ihre Schwester mit sich fort, quer durch den großen Hüttenraum zum rückwärtigen Auslaß, der wie eine Geheimtür getarnt war und von Uneingeweihten nicht entdeckt werden konnte. Ginesh weinte und strampelte mit den Beinen, so daß Shandra fast die Geduld verlor. Dann aber beschloß Shandra, mit aller Macht, die sie über sich selbst hatte, die Ruhe zu erzwingen, und sie redete so zärtlich und besänftigend auf ihre Schwester ein, daß diese tatsächlich aufhörte, um sich zu treten und sich zur Wehr zu setzen. Vorsichtig öffnete Shandra die niedrige Hintertür der Hütte. Sie streckte zuerst ihren Kopf ins Freie und hielt nach allen Seiten Umschau. Als sie niemanden in ihrer Nähe bemerkte, schlüpfte sie mit Ginesh ins Freie. Auf dem Platz vor den Hütten tobte der Kampf weiter hin und her. Gräßliche Schreie drangen an die Ohren der Mädchen. Selbst Shandra, die sehr viel mehr Mut hatte als mancher Junge in ihrem Alter, schauderte bei diesen Lauten unwillkürlich zusammen.
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Sie zerrte Ginesh an der Hand hinter sich her. Gemeinsam drangen sie in den Dschungel ein, der keine zwanzig Schritte hinter der Rückwand der Hütte begann. Weit gelangten sie jedoch nicht. 4. Shandra wurde durch die Laute hinter ihrem Rücken gewarnt, als es schon zu spät war. Zuerst hatte sie angenommen, diese knackenden und prasselnden Geräusche im Unterholz wären durch ihre Schwester verursacht worden, die immer wieder strauchelte und mit Wurzeln, Zweigen und Blättern ins Gehege geilet. Doch sie hatte sich getäuscht, und das war ihr Fehler. Sie wandte den Kopf, blickte über ihre rechte Schulter zurück und erschrak zutiefst, denn das, womit sie nicht gerechnet hatte, war eingetreten: Zwei große Gestalten waren hinter ihr und Ginesh, zwei Männer, die sie bei den Hütten heimlich beobachtet haben mußten und ihnen dann gefolgt waren. Der eine hielt Ginesh fest. Gineshs Finger entglitten Shandras Hand. Sie kreischte unter dem brutalen Griff des Mannes auf und versuchte, ihn zu beißen, doch es nutzte ihr nichts. Der Kerl lachte nur. Ohne besonders große Mühe aufzuwenden, hatte er sie in seiner Gewalt. Shandra duckte sich und wirbelte herum, um ihrer Schwester zu Hilfe zu eilen. Sie wollte den zweiten Kerl irgendwie unterlaufen, aber er erkannte ihre Absicht und verstellte ihr den Weg. Er duckte sich und erwartete wohl, daß sie ihm geradewegs in die Arme lief, aber sie wich nach links und dann nach rechts aus und versuchte, sich durch einen Sprung an ihm vorbeizubringen. Er lachte. „Täubchen, gib dir keine Mühe!“ rief er. „Ich kriege dich ja doch!“ Er trug eine grobe Leinenhose und einen breiten Hüftgurt aus dunklem Stoff, in dem ein Krummsäbel und eine Pistole steckten. Sein Oberkörper war nackt. Er glänzte vor Schweiß. Sein Gesicht war eine einzige
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Narbenwüste, sein Haar hing in dichten Strähnen vom Kopf. Shandra ekelte sich vor ihm. Sie wäre am liebsten vor ihm weggelaufen und im Dschungel untergetaucht, den sie besser kannte als er und sein Kumpan, doch sie konnte Ginesh nicht im Stich lassen. Keine Macht der Welt hätte sie davon abbringen können, ihrer kleinen Schwester zu helfen. So sprang sie wieder nach links ins Dickicht, schnellte dann vor und trachtete, an dem halbnackten Freibeuter vorbei auf den anderen Kerl zuzuhechten, um ihn mit sich zu Boden zu reißen und ihn von Ginesh abzulenken. Ginesh sollte weglaufen. Shandra war bereit, sich für sie zu opfern. Ihre Wut und ihr Haß verliehen ihr unbändige Kraft. Doch es kam anders. Der Pirat mit den Narben im Gesicht reagierte gedankenschnell und packte sie, als sie sich mitten im Sprung befand. Er riß sie zu sich heran. Seine groben Fäuste drückten ihren zarten, schlanken Körper gegen seine Brust. Sein kehliges, rauhes Lachen war dicht neben ihrer Wange, und sie konnte auch seinen Atem spüren. Sie biß ihm in den Arm, trat nach seinen Beinen und wand sich unter seinem Griff. Sie versuchte, ihre Hände zu befreien, um ihn kratzen zu können, aber es gelang ihr nicht. Er grölte vor Begeisterung. Während er sie mit seinen Händen etwas von sich fort bewegte, hakte er ein Bein hinter ihre Waden und brachte sie so zum Straucheln. Shandra fiel auf den Rücken, aber der Kerl ließ sie nicht los. Er war plötzlich über ihr, sein Leib preßte sich auf den ihren, und seine Finger nestelten an ihrem dünnen Gewand herum. „Nun zier dich doch nicht so“, sagte er. „Wenn du ein bißchen nett zu mir bist, kriegst du eine Belohnung. Stell dich nicht so an, es tut ja nicht weh.“ Shandra stöhnte vor Zorn und Schande auf. Lieber starb sie, als diese Pein und Erniedrigung zu ertragen.
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Aber das schlimmste für sie war, Ginesh schreien hören zu müssen und nichts für sie tun zu können. * „Sir!“ rief Gary Andrews. „Da scheint eine regelrechte Schlacht im Gange zu sein. Das ist ein Massaker, und wenn mich nicht alles täuscht, dann hat nur die eine der kämpfenden Parteien Schußwaffen!“ „Soviel konnte ich bislang noch nicht erkennen – trotz der Blitze!“ schrie der Seewolf zum Großmars hoch. Der Seegang hatte zugenommen, und das Rauschen des Wassers erschwerte die Verständigung zwischen ihm und Gary. Blitze und Wetterleuchten erhellten in immer geringeren Abständen die Nacht. Ihr Licht ließ es immerhin zu, die Umrisse der Koromandelküste zu erspähen, obwohl es immer nur für wenige Augenblicke aufzuckte. Gary Andrews hatte von seinem erhöhten Posten aus die bessere Blickposition, er konnte mehr Einzelheiten sehen als der Seewolf, der vom Quarterdeck aus ebenfalls unablässig durch das Spektiv beobachtete. „Dort, wo das Gefecht stattfindet, scheint es eine kleine Bucht zu geben!“ rief Hasard. „Ja, Sir! Und es gibt einen Anleger mit Schiffen und Booten!“ „Was kannst du sonst noch sehen?“ „Die Hütten natürlich! Mehr als ein Dutzend scheinen es zu sein. Gleich dahinter beginnt der Urwald!“ Wieder züngelte ein weitverzweigter Blitz vom Himmel, und Gary versuchte, in dem weißlichen Licht noch mehr von dem zu erkennen, was an Land vorging. „Die Schiffe!“ rief er. „Das sind bestimmt keine spanischen oder portugiesischen Schiffe! Sie sind anders gebaut als die Galeonen, Karavellen und Karacken der Dons!“ „Sind es Küstensegler?“ „Nein, eher größere, hochseetüchtige Zweimaster!“
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Hasard drehte sich zu Ben Brighton um, der das Ruderhaus verlassen hatte und in diesem Moment das Quarterdeck betrat. „Ben. Jetzt reimt sich alles zusammen. Die Schiffe gehören bestimmt nicht den Fischern, die in dem Dorf wohnen.“ „Sondern einer Bande von Piraten?“ „Das nehme ich an.“ „Piraten, die Musketen, Arkebusen und Pistolen haben und damit die indischen Fischer der Reihe nach abknallen“, stellte Ben fest. „Wir retten, was noch zu retten ist“, sagte der Seewolf entschlossen. „Weck die Männer auf, ich will die komplette Freiwache an Deck versammelt sehen. Wir luven an und gehen auf Westkurs. Laß die Kanonen ausrennen und die ‚Isabella’ gefechtsklar machen!“ „Aye, Sir“, sagte Ben. Dann wandte er sich um und eilte los. Sollte er die Entscheidung seines Kapitäns etwa kritisieren? Nein, das stand ihm erstens nicht zu, und zweitens hätte er in einer Lage wie dieser genauso gehandelt wie der Seewolf. Aller Wahrscheinlichkeit nach fand ein Überfall von Seeräubern auf ein kleines Dorf statt, und vermutlich wurden nicht nur Männer, sondern auch unschuldige Frauen, Kinder und Greise umgebracht. Das durfte man nicht zulassen, da durfte man nicht unbeteiligt zuschauen. „Also gut, dann wollen wir diesen Lumpenhunden von Piraten mal ein anständiges Feuer unterm Hintern entfachen“, lauteten denn auch die ersten Worte, die Profos Edwin Carberry ausstieß, als er Hasards Order durch Ben entgegennahm. Dann baute er sich breitbeinig auf der Kuhl auf und begann zu brüllen. Er ließ seine übliche Litanei vom Stapel, ein buntes Gemisch aus barschen Anweisungen und wüsten Flüchen, und die Männer, die in den Kojen und Hängematten des Logis’ und der Achterdecksräume lagen, fuhren hoch, als wären sie in einen Schwarm Nesselquallen geraten. Carberry purrte die Männer an die Brassen und Schoten und auf die Gefechtsstationen.
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Plötzlich herrschte hastige Betriebsamkeit. Die Planken vibrierten unter dem Trappeln der Schritte. Knarrend öffneten sich die Stückpforten, gleich darauf rollten rumpelnd die schweren Siebzehnpfünder aus. Philip junior und Hasard junior, die Söhne des Seewolfs, verließen die Back, wo sie sich zur Ruhe gelegt hatten, eilten auf die Kuhl hinunter und begannen, Sand auf den Planken auszustreuen. Bill, der Moses, half ihnen dabei. Das Kombüsenschott flog mit einem Knall auf, und heraus stolperte der Kutscher, der neben seinen Kupferkesseln und den erloschenen Holzkohlefeuern geschlafen hatte. Er hatte schon einen Holzkübel und eine Segeltuchpütz in den Händen, brachte sie flink außenbords und fierte sie an den Tauen ab, mit denen sie verbunden waren. Er schöpfte Seewasser, hievte die Behälter wieder hoch, goß die Kübel neben den ersten beiden Culverinen zu seiner Linken voll und fuhr dann fort, die vielen Gallonen Wasser heraufzuholen, die in einem möglichen Gefecht zum Befeuchten der Wischer und anderen Ladegeräts gebraucht wurden. Die komplette Crew war jetzt an Oberdeck versammelt. „Anbrassen und höher an den Wind, ihr Satansbraten!“ schrie der Profos. „Muß ich euch erst mit einem Belegnagel aufwecken, oder was ist los? Ich hab das schon tausendmal schneller gesehen, ihr faulen Rübenschweine! Mister Bowie, du blinder Aal, ich spitz dir gleich die Füße an, wenn du nicht schneller läufst! He, beeilt euch, ihr Kanalratten, oder ich hole mir die Neunschwänzige und ziehe sie euch über, daß euch die Haut in Streifen von euren Affenärschen fällt, so wahr ich hier stehe und Carberry heiße!“ Natürlich hätte er das niemals getan, denn es gab keinen Grund, sich über mangelnde Schnelligkeit und Geschicklichkeit der Crew zu beklagen. Aber der Profos mußte nun einmal brüllen und fluchen, das gehörte bei ihm dazu. Arwenack, der Schimpanse, hatte bislang noch ganz friedlich auf der Kuhlgräting
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gehockt. Jetzt aber zog er es vor, die Luvhauptwanten zu erklimmen und zu Gary Andrews in den Großmars auf zuentern. Da war er wenigstens sicher vor dem ruppigen Narbenmann. Gary tat ihm bestimmt nichts zuleide. „Ho, Kamerad“, sagte Gary denn auch grinsend, als der Affe über die Segeltuchverkleidung kletterte und sich mit kummervoller Miene neben ihn hockte. „Die Gewitterluft da unten ist wirklich nicht mehr auszuhalten, wie? Fein, dann hau dich ruhig hier hin und leiste dem alten Gary ein wenig Gesellschaft.“ Sir John, der karmesinrote Aracanga, ließ sich von dem Wettern des Profos indes nicht im geringsten beeindrucken. Er flatterte munter um Carberry herum und wiederholte die schlimmsten Flüche. Einmal flog er seinem besten Freund, der ihn seinerzeit am Amazonas aufgegriffen hatte, beinah ins Gesicht und entging nur mit knapper Not der Profos-Pranke, die nach ihm hieb. „Hau ab, du verdammte Nebelkrähe!“ rief der Profos. „Wenn du nicht endlich lernst, was sich gehört, setze ich dich auf der nächsten Insel aus!“ Old O’Flynn, der gerade hinter seinem Sohn und Big Old Shane aus dem Achterkastell getreten war, blieb stehen und grinste spöttisch. „Ed, das hast du ihm schon hundertmal angedroht.“ „Wenn er nicht disziplinierter wird, dann kann er wirklich was erleben, dieser alte Schrumpfhahn!“ schimpfte Carberry. „Na ja“, sagte der alte O’Flynn. „Diese Aracangas oder Araraunas sind bestimmt nicht die klügsten Viecher, das muß auch ich zugeben. Besser währe wohl ein Graupapagei gewesen, Ed. Der spricht erstens schöner und fließender, und zweitens ist er so klein, daß man ihn überall verstauen kann, wirklich überall.“ „So?“ Carberry hob wie witternd den mächtigen Kopf. „Und mit meinem Sir John kann man das nicht tun, sagst du? Warte mal, Donegal, du alter Schlauberger.“ Er griff mit der Hand in die Luft und hatte den Papagei plötzlich in seiner Hand. Das
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sah so bedrohlich aus, daß man um Sir John Angst kriegen mußte. Aber Carberry konnte trotz seiner wilden Reden auch recht zärtlich sein. Er drückte nur gerade so fest zu, daß der Vogel ihm nicht entschlüpfen konnte. Dann steckte er ihn sich in den Ausschnitt seines Lederwamses und ließ ihn darin verschwinden. „So, da hast du’s“, sagte der, Profos grimmig. „So wenig Platz nimmt mein Papagei weg. Und nun sag mal was Ordentliches, Sir John, du Mistfink.“ Sir John beschränkte sich auf ein beleidigtes Brabbeln, das dumpf aus dem Profoswams hervorquoll. Es paßte ihm gar nicht, daß er jetzt, wo so schön viel Leben an Bord der „Isabella“ herrschte, hier in dem zwar warmen, aber engen Nest an der breiten Brust des Narbenmannes hocken sollte. Viel lieber wäre er weiter herumgeflattert und, hätte zugesehen, was die Männer taten. Old O’Flynn grinste fröhlich. „Macht nichts. Ed“, sagte er. „Laß nur. Vielleicht klappt’s ja beim nächstenmal besser. Aber ich glaube dir auch so, daß Sir John ein feiner Kerl und dir sehr ans Herz gewachsen ist.“ Carberry hätte am liebsten einen Koffeynagel genommen und ihn nach dem Alten geschleudert, der jetzt den Backbordniedergang zum Achterdeck hinaufstieg. Aber er konnte sich beherrschen. Schließlich war er der Zuchtmeister auf diesem Schiff und hatte als Inbegriff der Disziplin dazustehen. „Backbrassen!“ krächzte Sir John aufgebracht. „Wir laufen auf Grund! Affenärsche! Schweinebande!“ „Halt doch den Schnabel”, sagte Carberry. „Manchmal gehst du mir gewaltig auf die Nerven, weißt du das?“ Er drehte sich um und brüllte: „He, Mister Grey! Hast du dein Geschütz immer noch nicht geladen? Soll ich dir ein paar Unzen Zündkraut in den Achtersteven schieben, damit es schneller geht?“ „Nein, danke, nicht nötig, Mister Carberry“, sagte Bob Grey und grinste. Die „Isabella“ lag jetzt mit Steuerbordhalsen und Nordostwind über
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Backbordbug und segelte mit westlichem Kurs haargenau auf das Dorf der Fischer zu. Die Entfernung betrug weniger als zehn Meilen, aber es würde noch einige Zeit in Anspruch nehmen, diese Distanz zu überbrücken. Der Bug der Galeone teilte die schwarzen Wellen wie große, fettige Erdschollen in einer ausgedehnten Marschebene, er war eine Pflugschar, die das Wasser weit auseinander warf und als kräuselnde, matt schimmernde Spur hinter dem Heck zurückließ. Die Koromandelküste rückte näher. Indien wollte den Seewolf und seine Crew noch nicht davonsegeln lassen, wie es den Anschein hatte. An Land krachten wieder Schüsse. * Kankar war es gelungen, einen Bogen um die Kämpfenden auf dem Dorfplatz zu schlagen und zu dem Anleger zu laufen. Aufschluchzend ließ sie sich neben Narayan und Chakra auf die Knie sinken. Sie beugte sich über sie und flehte die Götter an, sie mögen ein Wunder geschehen lassen. Die Frau sah den Pfeilstumpf, der aus Narayans Schulter aufragte, und erkannte auch die Wunde, die sich quer über die Brust ihres Sohnes zog. Chakras Oberkörper war unbekleidet. Das Blut, das aus der Blessur hervortrat, lief ihm über die Brust. auf den Bauch und tropfte auf die Bretter des Anlegers. Kankar ballte die Hände zu Fäusten und stöhnte in grenzenlosem Schmerz und Entsetzen auf. Das Schicksal ihres Mannes und ihres Sohnes schien besiegelt zu sein. Es gab keine Rettung mehr. Sie waren tot wie die beiden anderen Männer des Dorfes, die nicht weit entfernt lagen. Plötzlich jedoch registrierte Kankar eine Bewegung unter sich. Sie senkte ihren Kopf. Schleier trübten ihren Blick, aber dennoch konnte sie erkennen, daß es Chakra war, der sich geregt hatte.
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„Chakra!“ stammelte sie fassungslos. Unschlüssig, ob sie lachen oder weinen sollte, beugte sie sich noch etwas tiefer über ihn. „Mein Sohn! Chakra — kannst du mich hören?“ Er schlug die Augen auf und sah sie an. „Ich höre dich, Mutter.“ „Hast du — große Schmerzen?“ „Shiva hat über Vishnu gesiegt, nicht wahr?“ „Vishnu wird dich retten.“ „Es ist unsere Schuld, daß Raghubir Kadiri überfallen hat. Die Feuer...“ „Sprich nicht so, ich flehe dich an flüsterte Kankar. „Wo sind Shandra und Ginesh?“ „Im Dschungel. In Sicherheit. Ich habe sie fortgeschickt, gerade noch rechtzeitig genug.“ „Gut. Mutter, auch Vater lebt noch. Ich höre sein Herz schlagen. Er ist nur ohnmächtig.“ Chakra hatte sein Ohr an die Brust seines Vaters gepreßt, jetzt blickte er wieder seine. Mutter an, hob den Kopf und versuchte, sich aufzurichten. Er stöhnte vor Schmerz, sein Gesicht verzerrte sich. Kankar griff nach seinen Schultern und half ihm, so daß er wenigstens den Oberkörper aufrichten konnte. Entsetzt blickte Chakra zum Dorf. An den Feuern, die fast ganz niedergebrannt waren, wurde immer noch gekämpft, jetzt mit Schwertern, Säbeln und Messern. Erbittert verteidigten. sich die letzten Männer vor Kadiri gegen die Piraten. Ein greller Blitz warf sein Licht auf die Szene und ließ alles noch gespenstischer und grausamer erscheinen. „Wir müssen — helfen“, sagte Chakra. „Wir können nichts mehr tun“, sagte seine Mutter. „Es wäre auch unser Tod. Wir können uns nicht schlagen, mein Junge. Unsere letzte Chance ist, ein Boot zu nehmen.“ „Du willst — fliehen und die anderen im Stich lassen?“ „Was sollen wir sonst tun?“ stieß sie verzweifelt hervor.
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„Kämpfen“, sagte der junge Mann leise. „Bis zum letzten Blutstropfen. Raghubir — ich will ihn fallen sehen.“ Narayan war jetzt bei Besinnung und griff mit fester Hand nach dem Arm seines Sohnes. „Nein, Chakra!“ raunte er. „Das wäre kein Heldenmut. Es wäre Wahnsinn. Denke an deine Schwestern. Was soll aus ihnen werden, wenn sie den Dschungel wieder verlassen können?“ „Laß mich allein gehen, Vater.“ „Niemals.“ „Du verbietest es mir?“ „Ja.“ „Und vielleicht hätten die Piraten Kadiri auch dann angegriffen, wenn wir keine Feuer angezündet hätten“, flüsterte Kankar. Doch sie las aus der Miene ihres Sohnes, daß Chakra diesen Gedanken weit von sich schob und nicht akzeptieren wollte. Chakra senkte den Kopf. „Ich gehorche dir, Vater.“ „Laß uns aufstehen“, sagte Narayan und traf Anstalten, sich zu erheben. Sie schafften es, sich gegenseitig auf die Beine zu helfen. Kankar war neben Chakra und stützte ihn. Gemeinsam wankten sie über den Anleger zu den Booten. 5. Der Pirat mit den vielen Narben im Gesicht hatte Shandras Arme losgelassen und war ganz darauf konzentriert, ihr dünnes Gewand zu öffnen. Halb hatte er sie schon entkleidet. Der Anblick ihres Körpers versetzte ihn in äußerste Erregung. Shandra entsann sich in ihrer Not eines Tricks, den Chakra ihr einmal beigebracht hatte. Damals hatte sie das Ganze eher als einen Spaß angesehen und seinen ernsten Versicherungen, sie würde ihr Wissen eines Tages vielleicht dringend gebrauchen, kaum Gehör geschenkt. Jetzt aber war sie ihm unendlich dankbar für das, was er sie gelehrt hatte. Sie schlug mit beiden Händen zu, und zwar so, daß die Kanten den Hals des Piraten von zwei Seiten trafen. Der Haß
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verdoppelte ihre Kräfte. Sie traf und konnte sehen, wie der Kerl zusammenzuckte und sich seine Züge zu einer Fratze ungläubigen Entsetzens veränderten. Er stöhnte auf und ließ von ihr ab. Sie riß ihr Knie mit aller Energie, die sie in diese Bewegung zu legen vermochte, hoch und traf ihn wieder — diesmal noch empfindlicher als vorher. Er rollte seitlich von ihr weg und wälzte sich jammernd auf dem weichen, morastigen Untergrund. Shandra sprang auf und eilte zu ihrer Schwester hinüber. Der zweite Pirat hatte das zwölfjährige Mädchen in ein Gebüsch gezerrt. Er schien das, was sich zwischen Shandra und seinem Kumpan abgespielt hatte, nicht verfolgt zu haben, denn er fuhr fort, zu lachen und zu glucksen und verwendete seine ganze Aufmerksamkeit darauf, Ginesh zu Boden zu werfen, nachdem sie zweimal versucht hatte, ihm zu entschlüpfen. Shandra sah einen Säbel auf dem Boden liegen. Es war die Waffe des Kerls, der Ginesh festhielt und bedrohte, er mußte sie verloren haben, als er sie von hinten gepackt hatte. Shandra zögerte keinen Augenblick. Sie hob den Säbel auf, drang ins Gebüsch ein, riß die scharfe, matt blinkende Waffe hoch und stach zu, als sie den breiten Rücken des Freibeuters dicht vor sich sah. Sie schloß nur ganz kurz die Augen, als er mit einem würgenden Laut zu Boden sank. Dann war sie bei Ginesh, griff nach ihrer Hand und zerrte sie hoch. „Los“, zischte sie ihr zu. „Weine nicht mehr, es ist vorbei. Wir müssen hier schnell weg, sonst kriegen uns diese Bestien doch noch.“ Zitternd stand Ginesh auf und klammerte sich schluchzend an ihrer Schwester fest. Shandra drängte sie tiefer ins Dickicht, aber Ginesh schien nicht zu begreifen, wie wichtig es war, jetzt unverzüglich den Schauplatz des Geschehens zu verlassen. Sie behinderte Shandra, bebte am ganzen Leib und schien nicht mehr fähig zu sein,
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aus eigener Kraft auch nur einen Schritt zu tun. Hinter ihr war plötzlich ein verdächtiges Knacken und Rascheln. Diesmal fuhr Shandra rechtzeitig genug herum, um das Nahen des Gegners zu bemerken, ehe es zu spät zum Handeln war. Der narbengesichtige Pirat — er mußte sich halbwegs erholt haben, denn er rückte jetzt mit gezücktem Säbel an, in gebückter Haltung und mit haßerfülltem Gesicht. Er stieß pausenlos Verwünschungen aus. Sie waren das Unflätigste und Gemeinste, das Shandra je zuvor vernommen hatte. Sie ließ Ginesh los und lief zu dem zweiten Piraten zurück. Dieser lag völlig reglos auf dem Bauch, der Säbel ragte wie ein Pfahl aus seinem Rücken auf. Shandra erreichte ihn, als der Narbengesichtige entsetzt über den Tod seines Kumpans wie angewurzelt stehenblieb. Erst jetzt hatte er den Leichnam in der Dunkelheit entdeckt — und Shandra nutzte seine Betroffenheit aus. Sie zog den Säbel aus dem Rücken des Toten und richtete die Klinge auf den Narbigen. „Lauf, Ginesh!“ rief sie ihrer Schwester zu. „Lauf, so schnell du kannst! Fort, fort von hier!“ Der Narbige richtete seinen Blick verdutzt auf das Mädchen mit dem Säbel und beobachtete nahezu verständnislos, wie sie an der Leiche vorbeiglitt und auf ihn zurückte. „Shandra!“ schrie Ginesh. „Fort!“ rief Shandra. „Hau ab! Verstehst du denn nie etwas?“ „Ich bleibe bei dir, Shandra“, stammelte Ginesh mit schwacher Stimme. Erst jetzt schien der Narbige zu begreifen, was geschah. Er tat einen wankenden Schritt auf Shandra zu und ließ noch einen lästerlichen Fluch vernehmen, dann sagte er: „Sie bleibt bei dir, dreckige kleine Hure, und ich werde euch beide töten. Ich werde euch zweimal sterben lassen, langsam und qualvoll, denn ihr sollt teuer bezahlen für das, was ihr getan habt.“
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Er riß seinen Säbel hoch, stieß einen Kampfschrei aus und stürzte sich auf Shandra. Sie wehrte seine ersten Streiche ab, indem sie die erbeutete Waffe mit beiden Händen führte. Aber sie mußte dabei zurückweichen, und daran, daß sie dem Kerl durch einen geschickten Säbelhieb etwa eine Wunde beibringen konnte, war schon gar nicht zu denken. Er war schnell, und es kostete sie all ihre Kraft und Behändigkeit, die Attacken überhaupt abzuwehren. Chakra hatte ihr auch das Kämpfen mit Schwert und Messer zeigen wollen, doch Narayan hatte es verboten, weil es sich nach seinen Worten nicht geziemte, daß ein Mädchen oder eine Frau wie ein Mann die Waffe schwang. Ihr Platz hatte bei ihrer Mutter und bei den anderen Frauen zu sein, in den Hütten, wo Seidenkleider genäht und das Essen zubereitet wurde, oder aber am Waschplatz, wo schmutzige Kleidung gereinigt wurde. Der Narbige hieb mit voller Wucht zu. Shandra parierte auch diesen Säbelhieb, aber sie konnte ihre Waffe nicht mehr festhalten und verlor sie aus den Händen. Ihre Finger brannten wie Feuer. Der Säbel fiel zu Boden. Shandra wollte darauf zuspringen und sich nach ihm bücken, aber der Pirat verstellte ihr den Weg. Er war über ihr wie ein Henker, hob seinen Säbel und schickte sich an, ihn auf Shandra niedersausen zu lassen. „Ich töte dich“, brüllte er. „Du wirst sterben, und ich werde lachen und ...“ „Halt!“ ertönte in diesem Augenblick eine schneidende Stimme aus der Finsternis. „Laß sie in Ruhe, Koppal! Rühr sie nicht an!“ Verwirrt hielt der Pirat inne. Er ließ den Säbel nicht sinken, wandte aber den Kopf und blickte in die Richtung, aus der die Stimme erklungen war. „Raghubir?“ fragte er. Shandra bückte sich nach dem Säbel, der auf dem Untergrund lag. Sie brauchte ihre Hand nur auszustrecken, dann hatte sie ihn und konnte damit auf den Narbigen, diesen Teufel in Menschengestalt, einstechen.
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„Ja, ich bin es“, sagte der Anführer der Seeräuber. Er trat aus dem Dickicht und zerrte die wie erstickt schluchzende Ginesh hinter sich her. Shandra erstarrte. „Mädchen!“ rief Raghubir, während er mit Ginesh auf den Leichnam des anderen Piraten zutrat. „Wage nicht, den Säbel aufzuheben. Ich weiß, daß er vor dir liegt, aber du wirst ihn nicht berühren, denn sonst geht es deiner kleinen Freundin schlecht.“ Er muß Augen wie eine Raubkatze haben, dachte Shandra. Sie richtete sich langsam auf und betrachtete den großen, breitschultrigen Mann mit den langen schwarzen Haaren. Das also war Raghubir, der gefürchtete Schlagetot, vor dem alle Bewohner der Küste Angst hatten und über den so viele grausige Geschichten erzählt wurden. Shandra spürte von Anfang an die gleichsam hypnotische Ausstrahlung, die von diesem Mann ausging. Ihre Blicke begegneten sich in der Nacht. Shandra hielt für kurze Zeit stand, dann wich sie ihm aus und sah zu Boden. „Sie ist doch deine Freundin, nicht wahr?“ fragte Raghubir. „Sie ist meine Schwester“, sagte Shandra. „Raghubir, warum darf ich nicht zuschlagen?“ fragte der Narbige. „Sie hat Jammur getötet und wollte auch mich umbringen.“ „Steck den Säbel weg, Koppal“, befahl der Schwarzhaarige. Koppal befolgte die Aufforderung, aber er sah Shandra dabei mit einem so haßlodernden Blick an, als wolle er sich jeden Moment auf sie stürzen, um sie zu würgen. „Jammur war ein Narr“, sagte Raghubir und wies auf den Toten. „Ich habe es schon immer gewußt. Ein Narr, der sich von einem Mädchen rücklings hat niederstechen lassen. Es ist seine eigene Schuld, wenn er krepiert ist. Ich kann ihn nicht bedauern. Und du, Koppal, solltest aufpassen, daß du eines Tages nicht auf genauso schimpfliche Weise dein Leben verlierst.“
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Er blickte immer noch Shandra an und fuhr fort: „Ich habe die Schreie gehört, die aus dem Dschungel ertönten. Ich bin ihnen gefolgt, um selbst nachzusehen, was hier vorgeht.“ „Sie wollten fliehen“, sagte Koppal, und es klang wie eine Rechtfertigung. „Jammur und ich haben sie gerade noch in die Büsche schlüpfen sehen. Da sind wir ihnen nachgerannt und haben sie gepackt.“ „Und dann?“ Shandra sagte: „Dann wollten sie uns Gewalt antun.“ Raghubir lächelte plötzlich. Er trat an Koppal vorbei mit Ginesh an der Hand auf sie zu und ließ seinen Blick über ihre halbnackte Gestalt wandern. Schließlich blickte er ihr wieder tief in die Augen. „Keiner dieser Hunde wird dich jemals anrühren, Mädchen. Du bist schön wie ein Paradiesvogel.“ Shandra schluckte heftig. Konnte das sein? Wollte er wirklich gnädig mit ihr verfahren — sie am Ende sogar freilassen? War das wirklich der furchterregende Satan, dessen bloßer Name bei den Fischern Angst und Schrecken verbreitete? Sie wollte sich schon bedanken, da sagte er: „Du bist zu schade für meine Leute, Täubchen. Ich nehme dich mit zu mir in meinen Schlupfwinkel. Von jetzt an gehörst du mir. Du wirst meine persönliche Sklavin sein.“ Er blickte auf Ginesh hinunter und fügte hinzu: „Und das Schwesterchen begleitet uns natürlich. Zu irgendetwas taugt auch sie, vielleicht wächst sie sich ja noch zurecht und wird so schön und begehrenswert wie du.“ Shandra schlug die Hände vors Gesicht und gab einen langgezogenen, klagenden Laut von sich. „Wie heißt du?“ fragte er sie. Sie antwortete nicht. Er packte sie plötzlich, riß sie dicht zu sich heran und schrie sie an: „Sag mir deinen Namen!“ „Shandra“, stammelte sie. Seine Züge glätteten sich wieder, er lächelte sogar. „Shandra“, wiederholte er. „Shandra, meine Leibeigene, Shandra, meine
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Geliebte. Das klingt sehr gut. Das gefällt mir. Wir werden sehr viel Spaß miteinander haben.“ * Narayan, Kankar und Chakra hatten die ersten Fischerboote noch nicht ganz erreicht, da zerriß ein heftiger Donner die Stille, die sich jetzt über die Stätte des Kampfes gelegt hatte. Vor der Bordwand von Raghubirs Schiff stand ein glühendes Mal, und ein rotgelber Schlitz stach in die Nacht. Pulverqualm stieg als weißliche Wolke in die Höhe, und etwas heulte mitten zwischen die Boote. Narayan, seine Frau und sein Sohn erschraken so sehr, daß sie ihr Gleichgewicht verloren und auf den Anleger stürzten. Narayan und Chakra schrien bei dem Aufprall vor Schmerz auf. Kankar warf sich mit ihrem Leib über die Beine ihres Sohnes und wimmerte vor Angst. Die Boote zersplitterten. Trümmer wirbelten durch die Luft. Der Anleger knackte und schwankte, als müsse er jeden Augenblick zusammenstürzen. „Keinen Schritt weiter!“ schrie von den Schiffen der Piraten her eine helle Stimme. „Die nächste Kugel trifft euch, ihr Bastarde!“ Narayan hatte wieder das Bewußtsein verloren. Chakra aber war voll bei Sinnen, hob etwas den Kopf und spähte über den Körper seines Vaters hinweg zu den Zweimastern. „Mutter“, flüsterte er. „Wie dumm sind wir doch gewesen. Haben wir denn wirklich geglaubt, wir könnten fliehen? Sie - sie haben ...“ „Sprich nicht weiter“, sagte Kankar schwer atmend. „Du schwächst dich nur noch mehr, mein Sohn.“ „Sie haben Wachen auf den Schiffen zurückgelassen“, fuhr Chakra trotzdem fort. „Und die haben uns bemerkt und mit einem Feuerrohr auf uns geschossen. Ich wußte nicht, daß sie so große Feuerrohre haben.“
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„Mulayaka und die anderen Dämonen sind ihre Verbündeten“, sagte Kankar. „Gegen sie sind wir machtlos.“ Vom Dorf her erklangen jetzt spitze Schreie und das Gelächter rauher Männerstimmen. Kankar und Chakra drehten sich um und öffneten in fassungslosem Entsetzen die Münder. Die Piraten hatten die Frauen und die Mädchen gefunden, die versucht hatten, sich im Urwald zu verstecken. Sie trieben sie vor sich her oder zerrten sie hinter sich her und versammelten sie nicht weit von dem Platz entfernt, an dem neben den nun erloschenen Feuern die Gestalten der toten Fischer und einiger gefallener Seeräuber lagen. „Vishnu“, stöhnte Kankar. „Vishnu, unser Beschützer, wo bist du? Warum hilfst du uns nicht?“ „Brahma läßt es nicht zu“, murmelte Chakra. „Dies ist die Strafe dafür, daß wir heute nacht den Sturmgott Rudra herausgefordert haben. Wir hätten nicht .auslaufen sollen. Der Brahmane hatte uns gewarnt.“ Kankar musterte ihren Sohn mit ungewohnter Härte. „Schweig, Chakra. Du weißt nicht, was du sagst. Schweig.“ „Da kommt Raghubir!“ rief einer der Piraten bei den Hütten. Er deutete auf das Dickicht unter den Baumriesen des Dschungels, und im Aufleuchten eines neuen Blitzes war die Gestalt des großen Mannes zu erkennen, der auf den freien Platz trat und zwei Mädchen hinter sich herzog. Hinter ihnen schritt mit gesenktem Kopf Koppal, der narbige Pirat. Kankar erhob sich von dem Anleger und lief auf die Hütten zu. „Meine Töchter!“ schrie sie. „Shandra, Ginesh! Du Mörder, du Bestie, laß meine Töchter frei!“ Chakra wollte sie zurückhalten, aber er gelangte nicht schnell genug auf die Beine. Beim ersten Versuch fiel er wieder auf die Bretter zurück. Beim zweitenmal gelang es ihm, sich hochzustemmen, obwohl die Schmerzen in seinem Leib und das Dröhnen, das in seinem Kopf war, ihm das Bewußtsein zu rauben drohten. Torkelnd folgte er seiner Mutter.
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Raghubir blieb stehen und rief seinen Männern zu: „Haltet das Weib und den jungen Burschen auf!“ Zwei Piraten stürmten auf Kankar zu und packten sie an den Armen. Es nutzte ihr nichts, daß sie schrie und mit den Füßen um sich trat. Sie hatten sie fest im Griff und zwangen sie in die Knie. Ein dritter Freibeuter näherte sich Chakra seitlich von hinten. „Paß auf, Chakra!“ schrie Shandra noch. Aber der Pirat, ein Kerl mit Turban und Lendenschurz, war bereits bei Chakra angelangt und hieb mit dem Kolben seiner Muskete nach dessen Rücken. Es bedurfte nur des einen Schlages. Chakra fiel und blieb bewegungslos im Sand liegen. Raghubirs Hand schloß sich so fest um Shandras Arm, daß sie vor Schmerz aufstöhnte. „Wenn du so was noch mal tust, überlege ich es mir anders und überlasse dich Koppal“, zischte er in ihr Ohr. Shandra schluchzte trocken. „Das ist mein Bruder“, sagte sie. „So?“ Raghubir warf einen Blick auf Chakra, als der nächste Blitz aufzuckte, und legte seine Stirn in nachdenkliche Falten. „Weißt du was, Shandra, Täubchen? Ich glaube, diesen Burschen wiederzuerkennen. Er war doch auf dem Boot, dem wir draußen auf See begegnet sind, ehe wir in eurem elenden Dorf gelandet sind. Er — und der andere, der drüben auf dem Anleger liegt und sich nicht mehr rührt.“ „Das ist Narayan, mein Vater!“ stieß Shandra verzweifelt hervor. „Ihr habt ihn umgebracht!“ „Nein!“ schrie Kankar. „Er lebt!“ „Sieh an“, sagte Raghubir. „Sie haben also Glück gehabt, die beiden Kerle, die uns in die Quere gerieten und fast den Überraschungsangriff auf das Dorf vereitelten. Die ganze Familie ist am Leben geblieben. Ist das nicht wunderbar, Shandra?“ „Ich flehe dich an, hab Erbarmen mit uns“, sagte sie und blickte ihn an. „Ich bitte dich darum.“
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Er nickte. „Diesen Gefallen will ich dir gern tun.“ „Raghubir“, sagte einer der Piraten, die sich neben ihnen versammelt hatten. „Du willst diese Hunde doch wohl nicht verschonen, oder? Wir haben die Männer dieses Nestes, die sich nicht in den Dschungel retten konnten, getötet. Laß uns auch die beiden dort umbringen. Sie wollten sich mit dem Weib zusammen ein Boot nehmen und damit verschwinden.“ „Ein Boot?“ Raghubir lächelte sein dünnes, grausames Lächeln. „Auf einem Boot trafen wir sie an, und mit einem Boot wollten sie fliehen. Alles Glück der Welt scheint für sie von einem armseligen Boot abzuhängen.“ Seine Züge verhärteten sich. „Wir geben es ihnen.“ Er deutete auf Kankar. „Und sie fährt auch mit, damit sie bei ihren Männern bleiben kann. Wir können sie nicht gebrauchen. Wir nehmen nur die jungen und hübschen Weiber mit.“ Kankar blickte den Piratenführer in ungläubigem Staunen an. Was hatten seine Worte zu bedeuten? Raghubir zerrte Shandra und Ginesh mit sich zu Chakra. Er blickte auf den jungen Mann hinunter, schien eine Weile zu überlegen und holte dann mit dem Fuß aus. „Nein!“ schrie Shandra. Raghubirs Fuß traf Chakras Seite so hart, daß sich der junge Mann auf dem Sand umdrehte und auf dem Rücken liegenblieb. Auf seiner Brust klaffte die Wunde, die Raghubir ihm mit seinem Säbel zugefügt hatte. „Töten wollte er mich!“ schrie Raghubir. „Mich, den Schrecken der Küsten! Dafür will ich ihm ein Boot verschaffen, mit dem er geradewegs ins Jenseits hinübersegelt!“ Er drehte sich zu seinen Männern um und rief: „Holt Reisig! Ich zeige euch, was ihr zu tun habt! Und steckt die verdammten Hütten an, sobald ihr sie durchsucht habt!“ Wieder flammte das gleißende Licht eines Blitzes auf. Raghubirs Gesicht hatte sich in eine Fratze der Mordgier und des Hasses verwandelt. Wild blickte er sich um. „Ein Schiff nähert sich von Osten!“ meldete plötzlich einer der Ausguckposten,
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die er an Bord der Schiffe zurückgelassen hatte. „Wer, zum Teufel, mag das sein?“ fragte Baudh, der Bengale, hinter Raghubir. Raghubir fuhr zu ihm herum. „Das kann uns doch egal sein! Wer immer auch an Bord dieses Schiffes ist, und was immer er will, wir sind weg, bevor er hier ist.“ „Und wenn nicht, schießen wir ihn zusammen und versenken seinen Kahn“, sagte Baudh grinsend. Raghubir erwiderte das Grinsen nicht. „Er wird sich wünschen, dieses Dorf niemals angesteuert zu haben. Er wird den Tag verfluchen, an dem er geboren wurde.“ „Raghubir!“ schrie der Ausguck im Großmars des Zweimasters, der am äußersten Ende des Anlegers festgemacht hatte. „Es ist eine Galeone! Mit drei Masten!“ Raghubir übergab Shandra und Ginesh dem Bengalen, legte die Hände an den Mund und rief gegen den Wind an: „Ein Spanier? Ein Portugiese?“ „Ich weiß es nicht!“ rief der Ausguck zurück. „Ich kann es noch nicht erkennen!“ Raghubir lief zu den Männern, die eben dabei waren, die Hütten zu plündern und Schilfmatten und Reisig zusammenzutragen, die sie sich von den Dächern der einfachen Behausungen geholt hatten. „Beeilt euch!“ rief er ihnen zu. „Ich will so schnell wie möglich zurück an Bord meines Schiffes. Wir legen ab und laufen aus, um der Galeone einen heißen Empfang zu bereiten. Ich denke nicht daran, vor einer einzigen Galeone die Flucht zu ergreifen.“ „Was hast du vor, Raghubir?“ fragte Koppal, der eilfertig hinter seinem Anführer hergerannt war. „Ich will den Kahn kapern“, erwiderte der Schwarzhaarige barsch. „Die Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen.“ 6. Mit gut sieben Knoten Geschwindigkeit lief die „Isabella“ auf das Dorf der Fischer zu. Je näher sie der Küste gelangte, desto
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höher stiegen die Wellen, wie es immer der Fall war, wenn der Wind auflandig war. Hasard war mit dem Spektiv auf die Back geentert, weil er von hier aus besser beobachten konnte, was an Land geschah. Unablässig blickte der durch die Optik und verfolgte, wie am Ufer der kleinen Bucht, der sie jetzt nicht mehr fern waren, Gestalten hin und her liefen. Dann stiegen Flammen aus den Hütten der Fischer auf. Der Wind blies in die Feuer und ließ sie rasch hoch auflodern. „Wir kommen zu spät“, sagte der Seewolf zu Smoky, Al Conroy und Big Old Shane, die neben ihm standen. „Mein Gott, ich fürchte, wir können nichts mehr ausrichten. Die Schüsse sind verstummt, die Schreie ebenfalls, der Kampf scheint beendet .zu sein.“ „Sollen wir deshalb vielleicht unsern Kurs ändern?“ fragte Shane. „Nein.“ Hasard ließ das Rohr sinken. „Es ist unsere verdammte Pflicht, nach Überlebenden zu suchen.“ „Sir!“ schrie Batuti, der auf Hasards Befehl hin mit Pfeil und Bogen in den Vormars aufgeentert war. „Die Piraten zünden auch Boote an! Es geht alles in Flammen auf!“ Der Seewolf hob das Spektiv wieder vors Auge und konnte verfolgen, wie sich jetzt auch in der Bucht das Feuer ausbreitete. Eine Reihe von Fackeln schien die Lage der einfachen Pier zu kennzeichnen, aber es waren die Boote, auf denen der schnell entfachte Brand reichlich Nahrung fand. „Die Piraten gehen an Bord ihrer Schiffe!“ rief Gary Andrews, der sich nach wie vor im Großmars befand. „Es sind drei Zweimaster!“ meldete Batuti. Hasard schätzte die Distanz, die ihn jetzt noch von dem Dorf der indischen Fischer trennte, auf weniger als eine Meile. Er sah, wie nun auch der Anleger in Flammen stand, aber dann richtete sich seine ganze Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Eins der brennenden Boote hatte sich offenbar von seinen Leinen gelöst. Es trieb ab und schaukelte auf den Wellen. Der Wind drückte es nach Südwesten, und es schien eine Strömung zu geben, die es noch etwas weiter nach Süden zog, so daß
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es nicht am Ufer der Bucht stranden würde, sondern auf die See hinausgleiten mußte. Hasard glaubte, seinen Augen nicht zu trauen: Auf diesem Boot befanden sich Menschen! „Shane!“ rief er. „Smoky, Al! He, Batuti und Gary, seht ihr das? In dem Boot, das da drüben abtreibt, scheint Stroh oder Schilf aufgeschichtet worden zu sein!“ „Ja, Sir!“ schrie der schwarze Herkules aus Gambia. „Und auf Stroh liegen Menschen, verdammich noch mal! Sie scheinen gefesselt zu sein!“ „Ich werd verrückt“, sagte Big Old Shane, der jetzt ebenfalls ein Spektiv zur Hand genommen hatte und hindurchsah. „So was habe ich noch nicht erlebt. Das ist ja ...“ „Ein schwimmender Scheiterhaufen“, vollendete Hasard den Satz, als der graubärtige Riese zögerte. „Aber ich bezweifle, daß es sich um eine richtige Bestattung handelt.“ Immer noch hielt er sein Fernrohr auf das in den Wellen stampfende und schlingernde Boot gerichtet. „Ich kann drei Menschen erkennen, Sir!“ brüllte Gary Andrews in dem grollenden Donner des heraufziehenden Gewitters. Ein Blitz zuckte, und der Seewolf stieß unwillkürlich einen deftigen Fluch aus. „Hölle und Teufel“, sagte er. „Eine der Gestalten hat sich bewegt, ich bin ganz sicher. Das ist der Gipfel der Grausamkeit!“ „Sie verbrennen lebendige Menschen“, sagte Smoky, der Decksälteste. „Ja, beim Henker, was für eine Sorte von Kanaillen muß denn das sein, die so was fertigbringt?“ „Denk mal an die chinesischen Piraten!“ rief Al Conroy. „Die werfen ihre Gefangenen in Kessel mit kochendem Öl oder Wasser!“ Hasard drehte sich um und schrie: „Abfallen, Männer, wir segeln mit Kurs Südwest dem Boot nach! Ich will wenigstens die drei armen Teufel dort vor dem Tod bewahren!“ „Abfallen!“ wiederholte der Profos, und die Crew eilte an die Brassen und Schoten.
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Pete Ballie legte das Ruder nach Backbord, und die „Isabella“ ging platt vor den Wind, um mit prall gebauschtem Vollzeug auf das brennende Boot zuzuhalten. Der Abstand zum Ufer schrumpfte zusammen. Die Galeone lief in die Bucht von Kadiri ein und verkürzte sehr schnell die Distanz zu dem Boot, das langsamer werdend in der kabbeligen See tanzte. Die Flammen hatten jetzt das einzige Segel angegriffen, das sich am Mast blähte, und bald war es nur noch die Strömung, die es in südliche Richtung bewegte. „Achtung!“ schrie Gary Andrews. „Die Schiffe der Piraten legen ab und nehmen Kurs auf uns!“ „Auf Gefechtsstation!“ rief der Seewolf, während er sich das Hemd vom Leib riß. „Wenn sie angreifen, antwortet ihr sofort mit der Steuerbordbreitseite!“ „Aye, aye, Sir!“ entgegneten Ben Brighton und Carberry gleichzeitig. „Ferris!“ schrie Hasard. „Halte dich mit deinen Höllenflaschen bereit!“ Der rothaarige Schiffszimmermann kniete auf dem Quarterdeck neben seiner Flaschenabschußvorrichtung und gab seinem Kapitän durch eine Gebärde zu verstehen, daß er nur darauf wartete, die Freibeuter gebührend zu begrüßen. „Shane und Smoky!“ rief der Seewolf. „Ihr begleitet mich. Wir springen, sobald wir nah genug an dem Boot sind. Wir haben keine Zeit, beizudrehen und eine Jolle abzufieren.“ „Bis wir damit fertig wären, wäre es um die drei längst geschehen“, sagte Shane. Er begann, sich zu entkleiden. Smoky folgte seinem Beispiel. Hasard entledigte sich seiner Stiefel und seiner Hose und stieg - nur noch mit einer kurzen Hose und .einem Gurt bekleidet auf die Galionsplattform hinunter. Er mußte sich festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Immer stärker wurden die Rollbewegungen der „Isabella“, der Gischt sprühte vom Bug her so hoch, daß er seine Gestalt einhüllte und näßte. Shane und Smoky kletterten hinter Hasard auf die schmale Plattform, stellten sich
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neben den Seewolf und warteten mit gespannten Mienen ab. „Keine halbe Kabellänge mehr!“ schrie Batuti aus dem Vormars. „Wir haben sie gleich!“ „Pete!“ brüllte Ben Brighton. „Ruder zwei Strich Backbord! Wir luven leicht an und gehen an Backbord des Fischerbootes vorbei, so daß wir es leewärts liegen haben!“ Er übernahm jetzt das Kommando. Es bedurfte keiner Absprache mit dem Seewolf, um dies festzulegen. Das beruhte auf einer alten Regel der Männer der „Isabella“, daß der Erste das Schiff zu führen hat, sobald der Kapitän von Bord ging. Hasard warf einen Blick nach Steuerbord achteraus und sah im Schein eines nächsten Blitzes, wie der Dreierverband der Piratenschiffe sich näherte. Aber noch tat sich nichts, noch gaben die fremden Kerle an Bord der Zweimaster durch keine Handlung zu verstehen, ob sie kämpfen wollten oder nicht. Erst wenn sie einen Schuß abgaben, würde Ben Brighton darauf antworten lassen. Hasard ließ seinen Halt los und beugte sich leicht vornüber. Für ein paar Augenblicke balancierte er auf der flachen Umrandung an der Steuerbordseite der Galionsplattform. Der Abstand zu dem brennenden Boot verringerte sich zusehends und betrug nach seinen Berechnungen jetzt höchstens noch zwanzig Yards. Als der Bugspriet der „Isabella“ fast auf einer Höhe mit dem Boot war, rief Hasard: „Jetzt!“ Er stieß sich mit den Füßen ab, beugte seinen Oberkörper nach unten und tauchte mit vorgestreckten Händen kopfunter in die Fluten. Shane und Smoky folgten ihm und verschwanden links und rechts neben ihm in dem aufgewühlten Wasser der Bucht. * Kankar hatte sich verzweifelt bewegt, um der glühenden Hitze zu entgehen, die sie
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umgab. Sie war ohnmächtig gewesen und hatte nicht mehr gewußt, was mit ihr geschehen war, nachdem sie hatte zusehen müssen, wie Raghubir ihren Sohn getreten hatte. Jetzt aber erlangte sie das Bewußtsein wieder und stellte entsetzt fest, daß sie sich nicht von der Stelle rühren konnte. Sie lag auf einem schwankenden Berg aus Schilfmatten und Reisig, und ihre Arme und Beine waren mit Tauen gefesselt. Rotes und gelbes Licht zuckte vor ihren Augen, und das Fauchen des Feuers ließ sie aufschreien. In panischer Angst blickte sie sich um und sah, daß die Flammen sie von allen Seiten gefangen setzten. Sie drehte ihren Kopf nach links und nach rechts und erblickte den Mast und das Segel von Narayans Boot. Wie gierige Zungen leckten die Flammen daran hoch und verschlangen das trockene Holz und das gelohte Tuch. Wieder schrie sie auf, denn jetzt erkannte sie die beiden Gestalten, die rechts neben ihr festgebunden Waren. Narayan und Chakra! „Brahma!“ stieß sie verzweifelt hervor. „Nimm mich als dein Opfer, ich bin bereit zu sterben! Aber verschone Narayan und Chakra! Sie müssen leben! Sie müssen Shandra und Ginesh aus der Hand des Mörders befreien! Brahma, Vishnu, Krishna, Shiva und Indra, ich bitte euch, ich flehe euch an, laßt uns nicht alle drei verbrennen!“ Das Feuer arbeitete sich vom Bug und vom Heck heran und griff schon nach dem Schilf und Reisig. Es lief auf dem Dollbord zu beiden Seiten des Bootes entlang und zuckte auf und ab, Irrwischen gleich, denen der böige Wind ein jaulendes Lied pfiff. Kankar schrie und stöhnte, wand sich und trachtete mit aller Kraft, sich zu befreien, doch es war sinnlos. Sie hoffte, das Feuer würde ihre Fesseln zerfressen, die irgendwo an den Duchten festgeknotet sein mußten. Aber es geschah nicht. Die Piraten mußten alles so berechnet haben, daß die Taue erst dann zu Glut und Asche zerfielen, wenn die Flammen die Körper
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ihrer Opfer längst erreicht und angegriffen hatten. Narayan und Chakra waren nach wie vor besinnungslos. Kankar hoffte, daß sie nicht wieder aufwachen würden, sondern übergangslos in den Tod hinüberwechselten, ohne Qual und ohne zu begreifen, wie ihnen geschah. Aber sie wußte, daß auch dies eine Illusion war. Wenn die Hitze weiter stieg, würden auch sie aufschrecken und die letzte Phase des Dramas erdulden müssen. Ihr Götter, rief Kankar in ihren Gedanken, laßt den großen Regen kommen, der alle Feuer auslöscht! Warum öffnet der Himmel nicht endlich seine Schleusen? Wasser, dachte sie, das Boot schwimmt im Meer, und man braucht es nur umzukippen, um alle Glut zu ersticken. Sie verlieh ihrem Körper wieder Bewegung, so daß das Boot zu schlingern begann. Die Kerle hatten sie so gefesselt, daß sie quer zur Längsrichtung des Fahrzeugs lag, und sie glaubte, sich genügend Schwung geben zu können, um es zum Kentern zu bringen. Doch die Flammen stiegen höher und höher und griffen jetzt tückisch nach ihren nackten Fußsohlen. Sie schrie vor Schmerz und versuchte, die Beine etwas näher an ihren Leib heranzuziehen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Sie blickte nach rechts und glaubte, ihren Mann, der dem Mast am nächsten lag, schon brennen zu sehen. Ihr gellender Schrei übertönte das Summen und Knistern der Flammen. Dann, urplötzlich, holte das Boot weit nach Backbord über, und etwas mischte sich zischend unter das Feuer. Die Flammenwand zu ihren Füßen fiel in sich zusammen, und fetter schwarzer Rauch breitete sich aus. Kankar konnte die drei Männer nicht sehen, die sich dem Boot genähert hatten und mit ihren Händen Wasser in die Flammen schöpften, so gut sie konnten. Sie schloß die Augen und stöhnte. Sie ergab sich in ihr Schicksal und preßte die Lippen fest zusammen, um die Pein ertragen zu können.
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So sah sie auch den schwarzhaarigen Mann nicht, der jetzt über das Dollbord kletterte. Das Boot schwankte gewaltig und schien kentern zu wollen, aber es war ein gutes, solide gebautes und mit Vernunft konstruiertes Boot, das so leicht nicht umkippte. Hasard kniete sich zwischen die Frau und den jungen Mann, zog sein Messer aus dem Gurt und begann, ihre Fesseln durchzutrennen. Big Old Shane und Smoky klammerten sich an der Bordwand fest und hörten nicht auf, Wasser in die Flammen zu schaufeln. Sie hatten keine Hilfsmittel. nur ihre Hände, doch es waren große Hände, die an schnelles Zupacken und Handeln gewöhnt waren. Sie schafften es, das Feuer so weit einzudämmen, daß es nicht mehr an dem Scheiterhaufen emporzüngelte. Sie hangelten am Dollbord entlang, Shane nach vorn und Smoky nach achtern, und arbeiteten wie die Besessenen. Shane kämpfte sich ganz um den Bug herum und hörte dabei nicht auf, Wasser zu schöpfen und in den Innenraum des Bootes zu befördern. Als er die Steuerbordseite erreicht hatte, stemmte er sich hoch, enterte und ließ sich zwischen der Plicht und der vordersten Ducht auf seinen nackten Füßen nieder. Der Bootsboden war heiß, und Shane konnte es nicht verhindern, sich hier und da tüchtig zu versengen. Er fluchte, beugte sich über das Dollbord und holte mit beiden Händen schwallweise das Wasser herein, so lange, bis er mit seinen Füßen darin herumpatschte. Dann zückte er den kurzen Schiffshauer, den er mitgenommen hatte, und ging daran, den durch das Feuer morsch und brüchig gewordenen Mast samt den letzten lodernden Resten des Segels zu kappen. Smoky war am Heck und setzte seine Tätigkeit emsig fort. Er schlug manchmal versehentlich mit den Händen in die Flammen, aber er kümmerte sich nicht darum, sondern setzte alles daran, das Feuer soweit einzuengen, daß er ebenfalls aufentern konnte.
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Schließlich gelang es ihm, und er landete mit einem Satz im Heck des Bootes. Er riß ein paar brennende Reisigbündel und Schilfmatten von dem aufgetürmten Berg los und schleuderte sie ins Wasser. Dabei stieß er auf einen hölzernen Kübel. Er grinste grimmig, nahm ihn in die Hand und benutzte ihn als Schöpfkelle, bis der Scheiterhaufen nur noch ein schwelender, heißer Hügel war. Hasard hatte Kankar, Chakra und Narayan von ihren Fesseln befreit. Kankar öffnete die Augen und blickte ihren Retter verstört an. Als er sich ihr zuwandte und sie anlächelte, beugte sie sich vor, um seine Hände zu ergreifen und sie zu küssen. „Vishnu“, stammelte sie. „Vishnu ist zur Erde niedergestiegen, um uns zu erlösen. Vishnu, sei bedankt und bestimme über uns, wir sind deine gehorsamen Diener.“ Hasard verstand kein Wort von dem, was sie hastig hervorstieß. In der Bucht fiel der erste Kanonenschuß, aber Kankar dachte in ihrem Freudentaumel, es sei der Gewitterdonner, der jetzt endlich den großen Regen einleite. 7. Ben hatte die Piraten mit Schüssen der Steuerbordgeschütze empfangen wollen, wie Hasard es ihm und der Crew aufgetragen hatte, doch der Beginn des Gefechtes hatte sich hinausgezögert, weil die drei Zweimaster einige Zeit brauchten, um sich auf Schußweite der „Isabella“ zu nähern. Daher hatte Ben die Taktik geändert. Er mußte sehen, daß er die Luvposition hatte, wenn es zum Kampf kam. Außerdem wollte er Hasard, Shane, Smoky und die drei Inder auf dem Boot nicht dadurch gefährden, daß er sie in das Zentrum der Auseinandersetzung brachte. Deshalb ließ er immer weiter anluven und auf östlichen Kurs gehen. Raghubir wertete dieses Manöver falsch. Er dachte, die Männer der Galeone hätten es mit der Angst zu tun gekriegt und wollten vor seinem Verband flüchten.
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Folglich ließ auch er anluven und hoch an den Wind gehen. Er trachtete, mit seinen wendigen, schnellen Schiffen dicht an den Unbekannten heranzusegeln, ihm den Fluchtweg abzuschneiden und ihn zu entern. Kaum war er mit seinem Schiff auf gleicher Höhe mit der „Isabella“, gab er seinen Kanonieren das Zeichen, eine der Demi-Culverinen der Steuerbordseite zu zünden. Der Schuß krachte, und mit einem imposanten Feuerblitz stob die Kugel aus der Geschützmündung hervor. Sie heulte zu der Galeone hinüber, tauchte nicht weit von ihrer Bordwand entfernt ins Wasser und riß eine schaumgekrönte Fontäne hoch, die rauschend wieder in sich zusammenfiel. Dies war Raghubirs Kriegserklärung an die Seewölfe. Ben Brighton hatte sich wie die übrigen Männer der „Isabella“ geduckt, weil er damit gerechnet hatte, daß die Kanonenkugel die Bordwand treffen würde. Jetzt richtete er sich an der Schmuckbalustrade des Achterdecks wieder auf und rief zur Kuhl hinunter: „Ed, laß die achtere Culverine zünden — und daß mir der Schuß ja im Ziel liegt!“ „Aye, Sir!“ rief der Profos mit ergrimmter Miene zurück. Er stand schon neben Matt Davies, der als Geschützführer des achteren Siebzehnpfünders auf der Backbordseite fungierte, hatte die Fäuste in die Seiten gestemmt und brüllte Matt jetzt ins Ohr: „Steck die Lunte an, Mister Davies, aber warte den richtigen Augenblick ab, die Ladung abzufeuern, sonst kannst du was erleben!“ „Gewiß, Mister Carberry!“ rief Matt mit verkniffener Miene zurück, und dachte dabei: Als ob ich so was zum erstenmal in meinem Leben mache! Die Zündschnur brannte, aber Matt senkte sie erst auf das Bodenstück der Kanone, als die „Isabella“ in ein Wellental absackte. Jetzt drückte der Mann mit der eisernen Hakenprothese das Ende des Luntenstockes fest auf die Öffnung des
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Zündkanals. Die Glut sprang auf das Pulver über und fraß sich bis zur Kartusche weiter. Die „Isabella“ wurde von einer Woge hochgehoben. Als sie den Kamm ritt, sprangen Matt Davies und der Profos zur Seite. Die Culverine entließ mit donnerndem Laut ihre Ladung, rollte zurück und wurde von den Brooktauen aufgefangen. Mit gespannten Mienen blickten die Männer zum Gegner hinüber, Ein Blitz stach durch die Nacht, und im nächsten Augenblick verkündeten berstende und krachende Geräusche, daß die Kugel getroffen hatte. Im Schanzkleid des Piratenseglers klaffte plötzlich eine ansehnliche Lücke, und das wütende Geheul der Kerle tönte zur „Isabella“ herüber. Gewitterdonner wälzte sich heran. Das Wummern der feindlichen Kanonen mischte sich unter das Geräusch. Diesmal ließ Raghubir die komplette Steuerbordbreitseite seines Schiffes auf den unbekannten Gegner los — sechs Neunpfünder-Kugeln mit der aus dem ersten Geschütz, das inzwischen nachgeladen worden war. Die beiden anderen Zweimaster schoben sich heran und verkürzten durch gewandtes Manövrieren die Distanz zwischen sich und der „Isabella“. Raghubirs Breitseite heulte auf die Galeone der Seewölfe zu, und wieder duckten sich die Männer. Zwei Kugeln lagen zu kurz und stießen wirkungslos ins Wasser, eine dritte raste dicht am Bug der „Isabella“ vorbei, die drei anderen jedoch bohrten sich in die Bordwand und ins Schanzkleid der Backbordseite. „Ferris!“ schrie Ben Brighton. „Batuti!“ Ferris Tucker hatte bereits die erste Flaschenbombe in die schaufelförmige Mulde gelegt, die den Abschluß des Hebelarms seiner Konstruktion bildete. Jetzt löste er die Arretierung, und die Schleuder katapultierte die Flasche zu den Piraten hinüber. Die Lunte der mit Pulver, Blei, Eisen und Glas geladenen Höllenflasche brannte, und
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als die Bombe zielgenau auf die Kuhl des Zweimasters polterte, hatte sich die Glut gerade bis durch den Korken gearbeitet. Die Flasche ging hoch. Todesschreie gellten von dem Schiff der Piraten herüber. Batuti schickte Brandpfeile mit pulvergefüllten Schäften zu Raghubirs Schiff hinüber, und auch diese explodierten, der eine auf der Back, der nächste unweit des Großmastes, der dritte auf dem Achterdeck. Im Nu war drüben der Teufel los, und unter den Männern Raghubirs brach Panik aus. Statt die Geschütze der Steuerbordseite nachladen zu können, hatten sie alle Hände voll damit zu tun, das Feuer zu löschen, das nach der Detonation der ersten Flaschenbombe und der Pulverpfeile aufloderte. Raghubirs Schiff fiel ein wenig zurück. „Anluven!“ schrie Ben Brighton in die Jubelrufe und Pfiffe der Männer auf der Kuhl. „Wir wenden und versuchen, den Verband von der anderen Seite zu packen!“ Bevor die beiden Piratenschiffe in Raghubirs Gefolge so nah an die „Isabella“ herangesegelt waren, daß sie sie angreifen konnten, hatten die Seewölfe das Manöver vollzogen und nahmen westlichen Kurs — wieder auf die Küste mit den brennenden Hütten und Booten der indischen Fischer zu. Die beiden Zweimaster segelten an Raghubirs Schiff vorbei und eröffneten das Feuer auf die „Isabella“. Diese fiel jetzt noch etwas ab und steuerte praktisch genau auf sie zu —und dann wirbelten wieder die Höllenflaschen durch die Nacht. Die Brandpfeile surrten in rascher Folge auf die Schiffe der Freibeuter zu, und plötzlich krachten auch die vorderen Drehbassen der „Isabella“. Die „Isabella“ zeigte dem Gegner ihren Bug und bot ihm wenig Angriffsfläche. Die meisten Kugeln der indischen Seeräuber gingen fehl, nur eine bohrte sich in die Galion und knickte den Bugspriet ein wenig, und eine andere schrammte an der Bordwand entlang.
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Raghubir war auf die Kuhl seines Schiffes hinuntergesprungen und trieb die Männer mit Gebrüll und Peitschenhieben an, damit sie das Feuer so schnell wie möglich löschten und die Toten über Bord warfen. Erst jetzt begriff er, auf was er sich eingelassen hatte und daß er den Gegner völlig falsch eingeschätzt hatte. Nicht die Männer der Galeone waren es, die eine gehörige Lektion bezogen, sondern er, Raghubir, steuerte trotz seiner zahlenmäßigen Überlegenheit geradewegs in eine blutige Niederlage. Heute nacht schien er seinen Meister gefunden zu haben, und in seiner ohnmächtigen Wut begann er sich zu fragen, wer, in aller Welt, diese Fremden wohl sein mochten. Er hatte seinen Entschluß bereits gefaßt. Er wollte aufgeben und fliehen. Er hatte Seide, Brokat und Perlen in den Hütten der Fischer von Kadiri gefunden und mehr als zwanzig junge Mädchen eingefangen, die auf die drei Schiffe verteilt worden waren. Das genügte ihm vorerst als Beute. * Narayan und Chakra waren wieder bei Bewußtsein. Narayan blickte aus geweiteten Augen zu seiner Frau, die dem Seewolf wieder die Hände zu küssen versuchte. Chakra stöhnte leise vor sich hin. Er hatte schon viel Blut verloren, und die Wunde in seiner Brust sah furchtbar aus. Hasard entzog der Frau seine Finger, ehe sie sie wieder festhalten konnte. „Ich versteh kein Wort von dem, was sie sagt“, erklärte er seinen Männern. „Aber ihre Dankbarkeit scheint wirklich keine Grenzen zu kennen.“ Kankar sah zu ihrem Mann. „Er ist Vishnu“, sagte sie immer wieder. „Er ist zu uns gekommen, um uns vor dem Tod zu retten. Sonst wären wir verbrannt, Narayan, verbrannt. Er ist Vishnu, Vishnu.“ Narayan richtete seinen Blick auf das Gesicht des großen schwarzhaarigen Mannes mit den eisblauen Augen. Eine
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Narbe zog sich von der Stirn des Fremden über die eine Augenbraue bis auf die Wange hinunter. Ein harter, kräftiger, offensichtlich außerordentlich mutiger Mann — aber sah so Vishnu aus? Big Old Shane hatte den Stroh- und Reisighaufen erklettert und kniete neben Narayan. „Soll ich versuchen dem Mann den Pfeilstummel aus der Schulter zu ziehen?“ fragte er. Hasard schüttelte den Kopf. „Lieber nicht. Laß das lieber den Kutscher tun, der hat die richtigen Bestecke dafür. Du tust dem Mann nur unnötig weh.“ Er wies auf den jungen Inder, der zwischen der Frau und dem älteren Mann lag. „Dieser Mann hat die Hilfe des Kutschers noch viel nötiger, sonst stirbt er uns womöglich unter den Händen weg. Wir müssen versuchen, so schnell wie möglich die ‚Isabella’ zu erreichen und an Bord zu gehen.“ „Sir“, sagte Smoky von achtern. „Ich habe zwei Riemen entdeckt. Die können wir benutzen.“ „Das Boot ist ganz schön ramponiert, aber das Feuer hat keine Lecks verursacht“, sagte Shane. „Wir können also unbesorgt zu unsrer alten Lady hinüberpullen.“ „Laden wir soviel Schilf und Reisig wie möglich ab!“ rief der Seewolf seinen Männern in dem Kanonendonner zu, der jetzt wieder losdröhnte. „Wir müssen jeden unnötigen Ballast loswerden.“ Kankar, Narayan und Chakra beobachteten die Fremden in einer Mischung aus Neugierde, Respekt und Dankbarkeit, aber sie fragten sich auch, wieso Vishnu und seine Helfer nicht dieselbe Sprache benutzten wie sie. Während Shane und Smoky schon begannen, die trockenen Bündel des Scheiterhaufens ins Wasser zu werfen, blickte Hasard zur „Isabella“ und zu den Piratenschiffen hinüber. Plötzlich lächelte er. Ben und die Kameraden schlugen sich wirklich wie die Teufel. Die Flaschenbomben und die Brandpfeile flogen durch die Luft wie ein Hagel von Irrlichtern, und auch die
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Kanonen der „Isabella“ krachten fast pausenlos. Das erste Piratenschiff war zurückgeblieben. Auf seinen Decks war Feuer ausgebrochen, und die brüllende Horde von Männern schien vollauf damit beschäftigt zu sein, den Brandherd zu ersticken und zu verhindern, daß die Flammen auch nach den Segeln und dem laufenden und stehenden Gut griffen. Der zweite Segler der indischen Freibeuter wandte sich soeben mit einer Halse von der „Isabella“ ab. Soweit Hasard im Zucken der Mündungsfeuer und im gleißenden Licht der immer wieder auf die See niederzüngelnden Blitze zu erkennen vermochte, hatte auch dieses Schiff einige erhebliche Beschädigungen erhalten. Außerdem brannte es auf seiner Kuhl, und eine von Ferris’ Höllenflaschen, die zuletzt auf seiner Back gelandet war, mußte Verheerendes unter der Besatzung angerichtet haben. Es herrschten Panik und Verwirrung. Die Schreie und Flüche der Kerle gellten zu dem Boot herüber. Nur das dritte Piratenschiff wollte noch nicht von der „Isabella“ ablassen. Als Shane und Smoky das meiste Stroh aus dem Boot geräumt hatten, griff der Seewolf nach den Riemen, ließ sich auf der mittleren Ducht nieder und begann selbst zu pullen. „Wie es scheint, geht das Gefecht sehr günstig für uns aus“, sagte er. „Versuchen wir also, uns dicht an die ,Isabella’ heranzubringen. Ben wird uns übernehmen, sobald er kann.“ Er warf einen Blick über die Schulter, korrigierte etwas seinen Kurs und ruderte dann wieder kräftig an. Seine größte Sorge galt jetzt dem jungen Inder, der zu verbluten drohte. Shane und Smoky betteten Chakra vorsichtig zwischen den Duchten auf den letzten Rest Reisig und Schilf, den sie an Bord behalten hatten. Kankar half ihnen dabei und strich ihrem Sohn, der Unverständliches murmelte, unablässig mit der Hand über die Stirn und über die Wangen.
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Narayan hatte sich auf der Plicht niedergelassen. Er hatte große Schmerzen, ertrug sie aber mit eiserner Selbstbeherrschung und dachte darüber nach, wer die Fremden mit der hellen Haut wohl wirklich waren, woher sie kamen und warum sie sich so bereitwillig für sie eingesetzt hatten. * Die „Isabella“ ging auf südlichen Kurs, luvte also erneut an. Somit hatten sie einen kreisförmigen Kurs durch die Bucht von Kadiri gefahren, und jetzt richteten sich die Mündungen ihrer Steuerbordgeschütze aus den offenen Stückpforten auf den dritten Piratensegler, der seinerseits vorn Nordostwind abfiel und trachtete, mit parallelem Kurs dicht an die Galeone heranzumanövrieren. „Wenn er glaubt, er könnte uns entern, dann hat sich dieser Hund getäuscht, und zwar gründlich!“ brüllte Carberry. „Feueerrr!“ Als erstes ließ er die vier achteren Culverinen zünden, dann nahmen die Männer Deckung vor den heranheulenden Kugeln des Gegners. Dem Steuerbordschanzkleid der „Isabella“ fehlte plötzlich ein Stück, und etwas rüttelte heftig am Großmast, aber dann war der Spuk vorbei, ohne daß einer der Seewölfe verletzt war. „Vordere Batterie - Feueerrr!“ schrie der Profos, und jetzt dröhnten die vier anderen Siebzehnpfünder der acht Stücke zählenden Batterie. „Ferris und Batuti - Feuer!“ rief Ben Brighton. Er selbst enterte hastig das Quarterdeck und lief zu den beiden achteren Drehbassen, um Old O’Flynn, der dort schon bereitstand, zu unterstützen, falls die beiden Hinterlader auch noch zum Einsatz gelangten. Ferris Tucker, hatte seine größte Höllenflasche auf die Schleudervorrichtung gepackt und löste wieder den Sperrhebel. Schwungvoll stieg die geballte- Ladung Pulver, Eisen und Blei in die Nacht auf, senkte sich dann auf
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das Schiff und landete, begleitet von einem der pulvergefüllten Pfeile Batutis, mit zischender Lunte hinter dem Großmast auf. der Kuhl des gegnerischen Schiffes. Batutis Pfeil explodierte zuerst, und so war die Aufmerksamkeit der Piraten von der Flasche abgelenkt, die bei einer heftigen Bewegung des Zweimasters in den Wogen nach achtern rollte. Die Flasche kullerte durch das offene Schott ins Achterdeck, bewegte sich polternd weiter durch den Gang, holperte auf die Stufen eines Niederganges zu und verschwand darin. Sie rollte die Stufen mit dumpfen Lauten hinunter, und es glich einem Wunder, daß sie dabei nicht zerbrach. Ein Pirat rannte der Flasche nun doch nach. Er erreichte noch den Mittelgang des Achterkastells, aber es war schon zu spät, etwas zu unternehmen. Die Flasche war im Pulverdepot des Zweimasters gelandet. Sie ging hoch und löste ein brüllendes, flammendes Inferno aus, in dessen Mittelpunkt ein glutroter Feuerkern stand. Das Schiff wurde von seinem Heck her aufgerissen wie ein Kinderspielzeug aus dünnem Holz. Die Trümmerteile wirbelten in alle Himmelsrichtungen. Ben, der Profos, Ferris, die beiden O’Flynns und die anderen Männer der „Isabella“ lagen flach ausgestreckt auf den Planken ihres Schiffes und schützten ihre Köpfe mit den Händen. Gary Andrews und Batuti nahmen Deckung hinter den Verkleidungen des Groß- und Vormarses. Holz- und Eisenteile segelten an ihnen vorbei, und ein großer Teil der Überreste des Schiffes landete auf dem Oberdeck der „Isabella“, weil die Entfernung zwischen beiden Schiffen nur noch gering gewesen war. Der Kutscher wollte sich neben eine der Culverinen der Steuerbordseite werfen, aber auf halber Strecke knallte ihm eine zerfetzte Planke wie ein Hammer gegen die rechte Schulter. Er stöhnte auf, strauchelte und flog der Länge nach hin. Blacky erhielt einen Holztrümmer ins Kreuz, so hart, daß er meinte, es würde
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ihm das Rückgrat brechen. Unweit der Kuhlgräting blieb er liegen. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Al Conroy hatte sich unter die beiden vorderen Drehbassen gekauert. Er fuhr herum, als hinter ihm etwas mit dumpfem Schlag auf den Planken der Back landete. Al blickte auf den Leichnam eines indischen Piraten. Teile des explodierten Schiffes flogen auch bis zu dem Fischerboot, in dem der Seewolf, Shane und Smoky mit den drei Indern saßen, aber sie landeten glücklicherweise nur mit hellen Klatschern neben den Bordwänden. Der Seewolf hatte aufgehört zu pullen und war in Deckung gegangen. Jetzt richtete er sich wieder auf, spähte zu den Schiffen hinüber und sagte: „Das war der entscheidende Schlag. Die anderen Piraten haben genug. Sie treten den Rückzug an.“ 8. Ginesh und Shandra waren in eine Achterdeckskammer auf Raghubirs Schiff gesperrt worden. Die Tür war fest verriegelt, und ein Fenster gab es nicht, dennoch hatten die Freibeuter ihnen noch die Arme und Beine gefesselt und ihnen zusätzlich je ein Tau um den Hals gebunden, das mit einem in die Wand eingelassenen Augbolzen verbunden war. Sie lagen auf den Planken ausgestreckt. Ginesh war so dicht wie möglich neben ihre große Schwester gerutscht und drückte die Stirn gegen ihre nackte Schulter. Ginesh weinte pausenlos und schrie immer dann auf, wenn draußen wieder die Kanonen krachten. Als die Explosion erfolgte und das eine Schiff der Piraten in die Luft flog, rief sie verzweifelt: „Die Welt geht unter, die Welt geht unter!“ „Nein“, sagte Shandra. „Noch leben wir.“ „Wir müssen sterben!“ „Es wäre besser für uns, aber ich fürchte, wir werden auch weiterhin am Leben bleiben“, sagte Shandra. „Was ist geschehen?“ fragte die Zwölfjährige mit zitternder Stimme.
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„Es hat sich angehört wie ein Kampf. Aber jetzt ist Ruhe. Hörst du, Ginesh? Es ist still, die Feuerrohre brüllen nicht mehr. Jetzt fällt der große Regen, der alle Flammen auslöscht und die schlimmen Gedanken fortwäscht.“ „Wo ist Mutter?“ „Wir werden Mutter bald wiedersehen“, sagte Shandra, aber um ihre Lippen spielte ein bitterer Zug, und nur der Haß hielt ihre Tränen zurück. Raghubir, dachte sie, du hast sie umgebracht, Mutter, Vater und meinen lieben Bruder Chakra, aber du wirst es noch bereuen. Ich werde mich rächen, rächen, rächen! „Und Vater? Und Chakra?“ fragte Ginesh weinerlich. „Warum sind sie nicht da, um uns zu helfen?“ „Du mußt Geduld haben. Viel Geduld.“ „Shandra“, sagte Ginesh plötzlich mit überraschend fester Stimme. „Du brauchst mich nicht zu täuschen. Ich habe genug gesehen und gehört, und ich bin groß genug, um es zu begreifen. Raghubir hat sie alle drei getötet, nicht wahr? Er hat uns Mädchen auf sein Schiff bringen lassen, und dann hat er Mutter, Vater und Chakra auf ein Boot gebunden, das ...“ „Hör auf!“ fuhr Shandra sie unbeherrscht an. „Hör doch endlich auf, du dumme Pute! Mußt du denn immer alles noch schlimmer machen?“ Ginesh starrte sie entsetzt an und verstummte. Dann begann sie wieder zu schluchzen, wandte sich diesmal aber von der Schwester ab. Shandra lag in der Finsternis und schloß in ohnmächtiger Wut und Verzweiflung die Augen. Es tat ihr leid, Ginesh so grob behandelt zu haben, aber sie konnte es nicht mehr ändern. Später würde sie versuchen, sie zu trösten. Im Moment jedoch fühlte sie sich dazu nicht in der Lage. Schritte näherten sich, verharrten vor der Tür der Kammer und bewegten sich wieder knirschend auf den Planken, nachdem der Riegel zurückgeschoben und die Tür geöffnet worden war.
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Shandra richtete ihren Blick auf die Türöffnung. Sie konnte die Gestalt des Mannes nur ganz schwach erkennen, und doch wußte sie, wer es war. „Wir segeln zu meinem Versteck“, sagte er mit seltsam brüchiger Stimme. „Ich will dort sein, bevor der Regen beginnt.“ „Gegen wen hast du gekämpft, Raghubir?“ fragte sie und wunderte sich darüber, wie ruhig sie sprechen konnte. „Gegen ein fremdes Schiff.“ „Hast du — gesiegt?“ „Die Hunde werden uns keinen Ärger mehr bereiten“, antwortete er. „Niemand darf mich reizen, auch du nicht, Shandra.“ „Ich werde gehorchen“, sagte sie. „Später werde ich mich eingehend mit dir beschäftigen“, murmelte er. „Jetzt bin ich zu müde dazu.“ Er warf die Tür zu, schloß ab und schritt davon, zu seiner Kammer, die ganz achtern im Schiff liegen mußte. Shandra begriff. Jemand schien Raghubir das Fürchten gelehrt zu haben, deswegen hatte er ihr so ausweichend geantwortet. Er hatte eine Niederlage erlitten, und jetzt war er auf der Flucht vor seinem Gegner. Sie spürte es und war sicher, daß ihr weiblicher Instinkt sie nicht täuschte. Wer aber war dieser Gegner, der so unverhofft aufgetaucht war und als erstes Raghubirs Schiff befeuert hatte und danach die anderen? Würde er die Verfolgung aufnehmen? Shandra lauschte dem Trappeln der Schritte auf Deck und dem aufgeregten Rufen der Piraten. Die Unruhe hatte sich immer noch nicht gelegt. Man schien Feuer zu bekämpfen und Schäden auszubessern. Gab es noch eine Hoffnung — für sie, Shandra, für Ginesh und für die anderen aus Kadiri entführten Mädchen? * Hasard pullte kräftig und hielt der „Isabella“ den Rücken zugewandt. Shane hatte sich über den stöhnenden Chakra gebeugt und untersuchte mit gerunzelter Stirn und zusammengezogenen Augenbrauen dessen Verletzung. Smoky
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richtete sich hoch auf, hielt sich mit einer Hand an dem verkohlten Maststumpf fest und blickte voraus. „Es hat das Schiff der Piraten im wahrsten Sinne des Wortes zerfetzt“, sagte er. „Mann, das war vielleicht ein Treffer!“ Die „Isabella“ glitt näher und drehte bei, an Bord johlten und pfiffen die Männer und warfen im Triumph über ihren Sieg ihre Mützen hoch. Arwenack turnte keckernd in den Großwanten herum, und Sir John hatte den Profos verlassen und flog mit lauten Flüchen dem Boot entgegen. „Die beiden anderen Schiffe verholen sich tatsächlich“, fuhr Smoky fort. „Die Piraten haben die Feuer soweit gelöscht und bessern jetzt wohl die schlimmsten Schäden aus. Ich glaube aber, ihre Schiffe sind noch manövrierfähig und seetüchtig. Ja, sie hauen ab.“ Der Seewolf blickte seinen Decksältesten lächelnd an. „Wir halten sie nicht auf. Hauptsache, sie haben die Nase voll.“ „Es hat den Anschein. Ob es wohl Überlebende von der Besatzung des explodierten Schiffes gibt?“ „Sieh dich mal um, Smoky“, sagte Hasard. „Ich konnte bislang keinen entdecken.“ „Ho!“ rief Gary Andrews aus dem Großmars der „Isabella“. „Die Freibeuter gehen auf Kurs Norden und verschwinden in der Nacht! Lassen wir sie reisen?“ „Ja, wir lassen sie reisen!“ rief Ben Brighton vom Achterdeck aus zurück. Er hatte sich wieder aufgerappelt und Old O’Flynn bei den achteren Drehbassen zurückgelassen — für den Fall, daß die leichten Geschütze doch noch eingesetzt werden mußten — und stürzte jetzt an die Schmuckbalustrade, die das Achterdeck von der Kuhl trennte, um Bilanz zu ziehen. Der Kutscher und Blacky erhoben sich gerade wieder. Sie fluchten zwar und rieben sich die getroffenen Körperpartien, aber ernsthaft verletzt waren sie nicht. Auch die anderen Männer schienen ausnahmslos wohlauf zu sein. Auf der Back richtete sich Al Conroy auf und beförderte die Leiche des toten Piraten außenbords.
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Ben atmete auf. „Sir!“ stieß Smoky plötzlich aus. „Da schwimmt jemand! Ich will verdammt sein, wenn das nicht ein ... He, da ist ja noch einer! Backbord voraus, keine zehn Yards von uns entfernt!“ Hasard wandte den Kopf. Ein Donnerschlag ertönte, und ein Blitz erhellte die Nacht, so daß er in dem weißen Licht die Köpfe der beiden Männer im Wasser deutlich sehen konnte. Zwei indische Piraten schienen die Explosion also überlebt zu haben. Sie hoben die Hände aus dem Wasser und stießen verzweifelte Laute aus. Der eine ging für kurze Zeit unter, tauchte wieder auf, spuckte Wasser aus und brüllte noch wilder und entsetzter, als müsse er jeden Moment ertrinken. „Die scheinen verletzt zu sein“, sagte Smoky. „Sie brauchen Hilfe.“ „Ich halte auf sie zu!“ rief der. Seewolf ihm zu. „Aber paß auf, daß. sie keine Dummheiten anstellen, wenn wir sie an Bord holen. Vielleicht ist es nur ein billiger Trick.“ „Weiß schon Bescheid, Sir!“ „Shane“, sagte der Seewolf. „Kannst du mal die Ruderpinne übernehmen?“ „Sofort. Dem jungen Mann hier schlägt das Herz übrigens so heftig, als sei er gerade eine Meile weit geschwommen.“ Hasard sagte: „Das ist ein gutes Zeichen. Er scheint eine Menge einstecken zu können, und seine robuste Natur wird ihn retten.“ „Na, hoffentlich“, brummte der graubärtige Riese. Dann setzte er sich auf die achtere Ducht und griff nach der Ruderpinne. Er hielt jetzt ebenfalls nach den Schiffbrüchigen Ausschau und gab sich Mühe, das Boot so nah wie möglich an die beiden heranzusteuern. Hasard tauchte die Blätter der Riemen ins Wasser, so daß sich die Fahrt des Bootes verlangsamte. Smoky kniete schon auf der Plicht und streckte die Hand nach dem ersten Piraten aus, der mit hastigen Schwimmzügen auf sie zuhielt. Er holte ihn an Bord und stellte dabei fest, daß der Mann am Bein verletzt war.
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Während der Gerettete sich gebeugt und mit flackerndem Blick auf der Plicht niederließ, kümmerte sich Hasards Decksältester bereits um den anderen, der offensichtlich mit letzter Kraft auf das Fischerboot zuschwamm. Er war ein schlechter Schwimmer. Ehe er die ihm dargebotene Hand ergreifen konnte, ging er fast noch einmal unter. Hasard hatte sich umgedreht und den einen Riemen losgelassen. Vorsorglich tastete er mit der rechten Hand nach seinem Messer. Smoky hievte den zweiten Schiffbrüchigen an Bord - und genau in diesem Augenblick griff der Beinverletzte nach einem Krummdolch, der in seinem Hüftgurt steckte. Blitzschnell zückte der Seewolf sein Messer, hob es zum Wurf und rief dem Kerl zu: „Halt!“ Ob der Pirat das Wort verstand oder nicht er begriff sofort. Seine Hand glitt von dem Griff des Dolches fort und legte sich auf das Dollbord. „Was ist los?“ fragte Smoky. Er zerrte den zweiten Seeräuber zu sich herauf. Es war ein kleiner braunhäutiger Mann, in dessen Augen die Furcht vor dem Tod zu lesen stand. „Nichts weiter“, sagte Hasard mit einem zornigen Blick auf den Beinverletzten. „Der Kerl hier hätte dir nur um ein Haar seinen Dolch in den Rücken gerammt.“ Smoky ließ den Kleinen los, und dieser ließ sich zwischen Plicht und Ducht auf die Planken sinken. Er schien nicht verwundet zu sein, soweit Hasard durch einen raschen Blick auf seine Gestalt feststellen konnte. Smoky zog dem ersten Geretteten den Krummdolch aus dem Gurt. Der Kerl unternahm nichts dagegen. Er hockte wie gelähmt da, nur seine Augen waren ständig in Bewegung. „Versuch so was nicht noch mal“, sagte Smoky auf spanisch. „Wir können verdammt ungemütlich werden, das hast du ja wohl schon gemerkt.“ Der Pirat verriet durch keine Miene, ob er verstanden hatte. Aber sein kleiner Kumpan hob jetzt den Kopf, sah zuerst zu Smoky und dann zu Hasard und rief:
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„Bitte, tut uns nichts! Wir - froh, daß mit Leben davongekommen! Wollen nicht sterben!“ Sein Spanisch war gebrochen, aber gut genug zu verstehen. Hasard nickte ihm zu. „Na bitte, ich sehe, wir erzielen Fortschritte. Jetzt haben wir wenigstens auch jemanden, der uns die Verständigung mit den drei armen Teufeln hier ermöglicht.“ Er wandte den Kopf und blickte zu Kankar, Narayan und Chakra. Seine Miene veränderte sich, er lächelte ihnen zu. Kankar lächelte zurück. Hasard griff nach den Bootsriemen und pullte wieder an, um bei der „Isabella“ längsseits zu gehen. 9. „Wie heißt du?“ fragte Hasard ihn auf spanisch. „Yasin“, erwiderte der kleine Pirat. Der Seewolf wies auf den anderen Seeräuber. Der Kutscher hatte ihm sehr schnell den Holzsplitter aus dem Bein entfernt, den er bei der Explosion empfangen hatte. Er hatte die Wunde gereinigt und verbunden und erklärt, daß sie nicht sehr schlimm sei. Hasard hatte daraufhin alle beide ins Kabelgatt sperren lassen, um erst einmal ungestört Umschau auf seinem Schiff halten zu können und sich Ben Brightons Bericht über den genauen Verlauf des Gefechts anzuhören. .“Und er?“ fragte er. „Saidu — so lautet sein Name.“ Saidu stieß etwas in seiner Sprache aus, das haßerfüllt und aggressiv klang. Hasard blickte den Kleinen an, und dieser erklärte hastig: „Er sagt, er mich töten, wenn ich weiterhin mit dir spreche, Senor.“ „Er wollte uns töten und sich das Boot im Handstreich aneignen, nicht wahr? Und du solltest ihm dabei helfen, oder?“ „Ja.“ Saidu erhob sich von der Taurolle, auf der er gehockt hatte. Er wollte sich trotz seines wunden Beines, das ihn in der Bewegung behinderte, auf den Kumpan stürzen, aber Hasard war schneller. Er trat zwischen die
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beiden und stoppte den Kerl, der wie verrückt die Augen rollte. Saidu versuchte, dem Seewolf das Messer aus dem Gurt zu reißen. Da riß Hasard der Geduldsfaden. Er holte aus und schickte ihn durch einen Hieb unter die Kinnlade auf die Planken. Saidu streckte die Arme und Beine von sich und blieb reglos liegen. „Komm“, sagte Hasard, öffnete die Tür des Kabelgatts und ließ Yasin in den Gang hinaustreten. Er beobachtete ihn, schritt hinter ihm her und rammte die Tür hinter sich zu. Als er die beiden schweren Eisenriegel vorschob, sagte er: „Yasin, ich warne dich nur einmal. Solltest du versuchen, mich und meine Männer zu überlisten, kenne ich keine Gnade. Überlege es dir. Ich brauche dich als Dolmetscher, aber ich kann auch auf dich verzichten, wenn es nötig ist. Du weißt, was das heißt.“ „Ja“, flüsterte der Pirat. „Aber ich will nicht mehr kämpfen. Ich will leben.“ Hasard schob ihn vor sich her, den Gang entlang und dann den nächsten Niedergang hinauf ins Vordeck. Draußen zuckten immer öfter die Blitze auf. Das Licht huschte durch das Schiff, erreichte ihre Gestalten „und zeichnete kraß deren Konturen nach. „Wo hast du die spanische Sprache gelernt?“ fragte der Seewolf. „In Madras. Ich habe dort als Lakai in dem Haushalt eines Offiziers der Hafenkommandantur gedient. Die Spanier halten ganz Madras besetzt, sie haben ein Fort gebaut.“ „Aber eines Tages bist du fortgelaufen?“ „Ja. Schlug mich durch, wie ich konnte. Dann nahm Raghubir mich auf, bei sich, als Mann auf eine von seinem Schiffen.“ „Auf einem seiner Schiffe“, berichtigte ihn Hasard, während sie durch das Vordecksschott auf die Kuhl traten. „Raghubir ist also der Anführer der Bande?“ „Ja.“ „Und er fährt auf dem ersten Schiff, das uns angriff?“ „Ja. Groß ist er, schwarz seine Haare - und lang. Seine Augen sind dunkel und
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bohrend“, erklärte Yasin. „Er ist Schrecken der Küsten, König der indischen Freibeuter.“ Die „Isabella“ lag immer noch beigedreht in der Bucht von Kadiri. Wenn Yasin fliehen wollte, bot sich ihm jetzt eine günstige Gelegenheit. Auf der Kuhl hielt sich außer ihnen sonst niemand auf, er brauchte also nur dem Seewolf einen Stoß zu versetzen, zum Schanzkleid zu laufen und außenbords zu springen. Ferris Tucker, Bob Grey und Luke Morgan hockten auf der Galionsplattform und reparierten die Galion und den angeknacksten Bugspriet. Das Gehämmer tönte zu Hasard und seinem Begleiter herüber. Die drei würden Yasin auch nicht aufhalten können, falls er es wirklich probierte. Yasin bemerkte den prüfenden Seitenblick des Seewolfes und sagte: „Ich nicht fliehe, Senor. Bin schlechter Schwimmer, will aber auch nicht davon. Bin müde, ums Leben zu kämpfen.“ „Hattest du vor, Raghubir zu verlassen?“ „Ja. Wußte nicht, wie.“ „Ich verstehe“, sagte der Seewolf. „Du wirst mir alles über ihn erzählen, was du weißt. Ich werde dich dafür so rücksichtsvoll wie möglich behandeln und dich irgendwo an Land lassen.“ „Danke, Senor, für Güte“, murmelte Yasin, und es klang fast zu unterwürfig. * Sie betraten die Achterdeckskammer, die auf Hasards Befehl hin in einen Operationsraum umfunktioniert worden war. Der Kutscher hatte vier Öllampen an den Deckenbalken aufgehängt, sie schwankten hin und her und ließen das gelbliche Licht tanzen. Narayan und Chakra lagen auf zwei Kojen ausgestreckt. Kankar kauerte neben dem Kopfende der Lagerstatt ihres Sohnes und warf einen Blick voll glühenden Hasses auf Yasin, als dieser neben dem Seewolf in der Türfüllung erschien._ Bill und Dan O’Flynn assistierten dem Kutscher. Außer ihnen befanden sich noch
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Ben Brighton und Big Old Shane im Raum. Der Kutscher hatte die Pfeilspitze aus Narayans Schulter entfernt. Er zeigte sie vor und erklärte: „Der Rest war ein Kinderspiel. Ich habe die Wunde desinfiziert und verbunden. Der Mann wird vielleicht noch ein bißchen. Fieber kriegen, aber darüber bereite ich mir keine Sorgen. In drei, vier Tagen ist er genesen, dann ist die Wunde vernarbt.“ Er beugte sich jetzt über Chakra, untersuchte ihn eingehend und sagte dann: „Die Blessur wurde ihm mit einem Säbel oder Schwert beigebracht. Der Blutverlust hat ihn sehr geschwächt. Mit einer richtigen Behandlung kann ich auch ihm wieder auf die Beine helfen, aber das dauert einige Zeit.“ Er sah seinen Kapitän an. „Auf keinen Fall dürfen wir diese Leute in ihrem Dorf zurücklassen. Wo sollen sie hin? Ihre Hütten sind niedergebrannt. Wer soll sie neu aufbauen? Die Frau vielleicht?“ „Darüber habe ich noch nicht nachgedacht“, sagte der Seewolf und wandte sich dem Freibeuter zu. „Yasin, hör zu. Ich setze dir jetzt auf spanisch auseinander, wie es um die beiden Verletzten bestellt ist. Dann übersetzt du meine Worte der Frau, verstanden?“ „Ja, Senor.“ Wenig später hatte Yasin Kankar alles erklärt, und sie nickte und näherte sich vorsichtig dem Seewolf, um wieder seine Hände zu küssen. Hasard drehte sich rasch dem Freibeuter zu und raunte: „Sag ihr, daß sie nicht vor mir niederknien soll. Davon halte ich nichts.“ Kankar murmelte etwas vor sich hin, ließ sich auf die Knie sinken und tastete nach Hasards Fingern. „Sie sagt, du bist Vishnu, der Erhalter. Vishnu, der Gott“, erklärte Yasin. Ben, Shane und Dan grinsten. Hasard sagte fast ärgerlich: „Unsinn, erklär ihr, daß ich ein englischer Korsar bin. Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut wie sie, sag ihr das.“ Yasin begann wieder in seiner Muttersprache zu reden, aber Kankar ließ
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ihn nicht zu Ende sprechen. Plötzlich sprang sie auf und stürzte sich auf den überraschten Freibeuter. Sie wollte ihn kratzen und schlagen und zischte etwas Wütendes, Haßerfülltes. Hasard hielt sie an den Armen fest. „Ruhig“, sagte er. „Ganz ruhig, das hat jetzt keinen Sinn mehr. Yasin, übersetze mir, was sie dir an den Kopf geworfen hat.“ Yasin wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich bin Lügner, sagt sie. Und Mörder. Alle Männer des Dorfes Kadiri tot. Und die schönsten Mädchen entführt. Als Raghubirs Sklavinnen, die später verkauft werden sollen. Sie mich dafür töten.“ „Was?“ rief Hasard. „Der Bastard von einem Piraten hat die Mädchen mitgenommen? Herrgott, das wußte ich ja gar nicht! Wohin ist er mit ihnen unterwegs?“ „Zum Schlupfwinkel“, sagte Yasin. Und wo befindet sich der?“ Yasin wurde bleich. „Raghubir - er mich mordet fünffach, wenn ich verrate.“ Hasard sah ihm fest in die Augen. „Er tut dir nichts an, denn ich werde dich freilassen, sobald ich weiß, daß du mich nicht belogen hast. Ich rate dir, es mir zu erklären, wo das Versteck deiner Bande liegt. Keiner kann mich davon abhalten, die Mädchen aus der Gewalt dieses Teufels zu befreien. Wenn ich erst nach ihm suchen muß, kannst du lange auf deine Freiheit warten. Ich werde dich nämlich bis dahin an Bord meines Schiffes behalten.“ „Es ist Insel“, sagte der kleine Inder leise. „Heißt False Divi und liegt vor Mündung von Fluß Krishna, keine vierzig Meilen nördlich von hier.“ „Ich zeige dir meine Karten, und du zeichnest mir die Position der Insel ein“, sagte der Seewolf. „Wir segeln sofort dorthin. Noch heute nacht.“ Er legte Kankar die Hand auf die Schulter und blickte zu Narayan und zu Chakra. „Diese drei nehmen wir mit. Wir können sie später, bei unserer Rückkehr, irgendwo absetzen, vielleicht in einem Nachbardorf von Kadiri.“
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Schritte polterten heran. Die Tür wurde aufgerissen, und Bob Grey steckte den Kopf zur Kammer herein. Der Kutscher warf ihm einen zurechtweisenden Blick zu. „Etwas leiser, wenn ich bitten darf. Ich möchte bei meiner Arbeit nicht gestört werden.“ „Das gilt auch für uns“, sagte der Seewolf. „Yasin, wir gehen in meine Kammer und sehen uns die Karten an. „Sir“, raunte Bob Grey. „Gary hat soeben gemeldet, daß sich ein Boot aus Richtung des Fischerdorfes nähert.“ „Los“, sagte Hasard. „Sehen wir uns an, was das zu bedeuten hat.“ Er wies mit einer Kopfbewegung auf die Frau. „Yasin, sag ihr, sie soll uns an Oberdeck begleiten.“ * Der große Regen hatte begonnen. Schwere Tropfen gingen auf die, Decks der „Isabella“ nieder, und binnen kurzer Zeit bildeten sich riesige Pfützen, weil das viele Wasser durch die Speigatten nicht schnell genug ablaufen konnte. Hasard trat mit Kankar, Yasin und Bob Grey an das Schanzkleid der Kuhl. Sie blickten auf das Boot, das sich durch die Wogen und den schweren Regenguß auf die „Isabella“ zukämpfte. Kankar stieß plötzlich einen freudig erregten Laut aus und begann, den Insassen des Bootes etwas zuzurufen. Im Aufzucken eines Blitzes konnten Hasard, Bob und der Pirat, deren Kleidungen im Nu durchnäßt war und ihnen am Leib festklebten, sechs Männer und fünf Frauen zählen, die ihnen von dem stark schlingernden Boot aus zuwinkten. Etwas später wußte der Seewolf, daß es die Überlebenden des Massakers waren, die sich während des Kampfes in den Dschungel hatten retten können. Es war ihnen gelungen, wenigstens eins der Fischerboote vor den Flammen zu retten, und nun erschienen sie, um die Männer der „Isabella“ um ihre Hilfe zu bitten. Hasard faßte rasch seinen Entschluß. „Wir gehen mit einem Trupp an Land und helfen
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ihnen, eine Notunterkunft zu bauen“, sagte er zu seinen Männern, die sich jetzt nach und nach am Schanzkleid versammelten. „Dann überlassen wir sie vorerst ihrem Schicksal und segeln nach False Divi. Sie sollen in der Zwischenzeit versuchen, das Dorf neu zu errichten. Wenn wir zurückkehren, setzen wir Kankar, Narayan und Chakra hier ab - und hoffentlich auch die entführten Mädchen.“ Das Boot der Inder ging bei der „Isabella“ längsseits. Hasard ließ im strömenden Regen eine Jakobsleiter ausbringen, an der sie aufentern konnten. Blacky stürmte plötzlich aus Richtung des Vordecks heran und rief: „Sir! Unser zweiter Gefangener! Ich habe eben nachgeschaut, ob er irgendwelche Dummheiten anstellt!“ Hasard wandte sich ihm zu. „Und?“ „Er hat sich im Kabelgatt erhängt“ sagte Blacky und blieb schwer atmend vor seinem Kapitän stehen. „Ich habe ihn gleich von dem Tau losgeschnitten, aber er war schon tot.“ „Ich hätte ihn fesseln sollen“, sagte der Seewolf. „Es ist meine Schuld, daß er Selbstmord begehen konnte: Aber etwas vorwerfen, kann ich mir deswegen auch nicht.“ Seine Worte gingen fast in dem Gewitterdonner unter, der sich von der See her über die Koromandelküste wälzte. Er blickte zu dem Dorf hinüber und sah, daß das Feuer, das die Piraten in Kadiri gelegt hatten, jetzt erloschen war. Rudra, der Sturm- und Wettergott der Inder, tobte sich aus, aber er hatte auch ein gutes Werk vollbracht. Das grobe Gerüst von zwei oder drei Hütten stand noch, wie Hasard in dem Licht von zwei rasch aufeinanderfolgenden Blitzen erkennen konnte. 10. Der Regen ergoß sich und überzog die Oberfläche der See mit einem Dunstschleier. Er trommelte auf die großen, lappigen Blätter der Urwaldpflanzen, verwandelte Bäche in
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reißende Ströme und ließ auf den Ghats, den terrassenförmigen Stufen des Dekkans, Seen entstehen. Er dauerte mit unverminderter Heftigkeit bis zum Morgen und schien den neuen, häßlichen Tag über nicht mehr versiegen zu wollen. Ein ewiges Rauschen breitete sich über der Küste aus und verwandelte auch die Strände der Insel False Divi in tückische Schlammfelder. Gebeugte Gestalten wanderten im grauen Licht des Morgens über das hufeisenförmige Ufer der Bucht, in der die beiden Schiffe der Piraten vor Anker gegangen waren. Raghubir, Baudh, Koppal und die anderen Freibeuter schwangen Peitschen und brüllten auf die Mädchen ein, die mit langen Tauen aneinandergefesselt worden waren. Shandra, Ginesh und ihre Stammesschwestern stapften durch den nassen Sand und sanken tief mit ihren Füßen ein. Immer wieder blieb eins der Mädchen stecken, strauchelte und fiel hin. Dann sprangen die Piraten auf sie zu und hieben auf sie ein. „Beeilt euch!“ schrie Raghubir. „Wir wollen nicht im Regen ertrinken! Wir wollen unsere Hütten erreichen!“ Es konnte ihm nicht schnell genug. gehen. Ginesh schluchzte ständig und wollte sich an ihrer Schwester festklammern. Die Kräfte drohten sie zu verlassen. Koppal war plötzlich neben ihr und riß sie von Shandras Arm los. „Was habt ihr zwei diesmal auszuhecken!“ brüllte er sie an. „Wieder einen Mord? Wen soll es treffen? Mich?“ Shandra blickte ihn durch den Regen an und sagte: „Wir sind Gefangene und haben uns in unser Schicksal ergeben. Wir gehören Raghubir und werden nichts tun, was ihn erzürnen kann.“ „Das glaube ich dir nicht, du dreckige kleine Hure“, zischte der Narbige sie an und brachte ihr dabei sein Gesicht so nahe, daß sie erschrak. „Ich werde auch weiterhin auf dich aufpassen, verlaß dich darauf.“
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„Koppal!“ schrie Raghubir. „Was ist da vorn los?“ Er war gut zehn Schritte hinter ihnen. „Nichts!“ beeilte sich der Narbige zu versichern. „Ich gebe nur acht, daß diese zwei nicht den ganzen Zug behindern!“ Shandra zerrte an dem Tau, das die Kerle ihr um die Hüften gewunden hatten und verhinderte auf diese Weise, daß ihre Schwester stürzte. Sie taumelten beide weiter, und vor und hinter ihnen stolperten die mehr als zwanzig anderen jungen Frauen und Mädchen. Shandra blickte über die Schulter zurück und sah noch einmal zu den Beibooten der Schiffe, die auf den Strand gezogen und dort an Pflöcken festgezurrt worden waren, damit sie nicht abtreiben konnten. Wenn wir fliehen, dachte sie, müssen wir eins dieser Boote erreichen und damit auf das Meer hinausrudern. Sie hatte beschlossen, sich gehorsam und eingeschüchtert zu geben, damit Raghubir zu der Überzeugung gelangte, sie habe sich mit ihrem Los abgefunden. Sie hatte Ginesh eingeschärft, als sie während der Überfahrt von Kadiri. nach False Divi in ihrer dunklen, stickigen Kammer gelegen hatten, daß sie alles vermeiden mußten, was den Schwarzhaarigen mißtrauisch stimmen konnte. Ginesh hatte es begriffen und versichert, daß sie sich ganz nach Shandra richten würde. Zu ihrem Glück hatte Raghubir sie doch nicht in seine Kammer geholt. Der Regen und der Sturm hatten den Schiffen schwer zugesetzt, früher, als Raghubir erwartet hatte. So hatte er die meiste Zeit der Fahrt an Deck verbracht, die Manntaue spannen und die Luken und Schotten verschalken lassen und immer neue Befehle gebrüllt, um seine ramponierten Zweimaster sicher durch das Wetter zu bringen. Der Weg zum Schlupfwinkel führte vom Strand der Bucht durch den Dschungel. Shandra und Ginesh sanken fast bis zu den Knien im Morast ein. Der Wald war eine Feuchtigkeit und Hitze ausdampfende, übelriechende Hölle, in der jeder Atemzug zur Qual wurde.
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Schlamm spritzte unter ihren schweren Schritten auf und beschmutzte ihre Gestalten. Sie waren elende, nasse, zerlumpte und dreckstarrende Wesen, die kaum noch Ähnlichkeit mit menschlichen Kreaturen zu haben schienen. Einmal glitt Shandra doch aus und fiel hin. Sie rollte im schwarzen Morast seitlich ins Dickicht, zog Ginesh und die anderen Leidensgenossinnen mit sich, schrie auf und suchte mit ihren aneinander gefesselten Händen verzweifelt nach einem Halt. Sie landete in einem dichten Gebüsch, hörte das Fluchen der Piraten über sich und wußte, daß sie sie mit ihren Peitschen schlagen würden. Plötzlich aber vergaß sie alles um sich herum, denn ein seltsamer Duft stieg ihr in die Nase. Zunächst glaubte sie, sich getäuscht zu haben, dann aber packte sie mit beiden Händen fest zu und riß die Blätter büschelweise von dem verfilzten, dornigen Gesträuch ab. Chakra hatte ihr beigebracht, wie man sich mit seinen Händen gegen Angreifer verteidigen konnte. Kankar, ihre Mutter, hatte ihr jedoch die wichtigen Pflanzen und Büsche des Regenwaldes gezeigt und erklärt, wie man sie auseinanderhielt und welche Wirkung sie auf den Menschen hatten. Es gab Heilkräuter und Pflanzen, die Kraft spendeten, aber der Dschungel hielt in seiner unendlichen Vielfalt auch Gewächse bereit, die dem Menschen Unheil brachten. Shandra gelang es, die Blätter unter ihrem halb zerfetzten Gewand zu verbergen. Sie stopfte sie hinter den schmalen Leibgurt, den sie um ihre nackten Hüften geschlungen trug, zog die Hände wieder hervor und versuchte, sich aufzurappeln. Koppal trat fluchend auf sie zu und schwang seine Peitsche. * Acht Hütten drängten sich auf der Lichtung zusammen, die von den Piraten auf der bewachsenen Kuppe eines Hügels etwa eine Meile von der Ankerbucht
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entfernt gerodet worden war. Raghubirs Behausung war die größte von allen, und Shandra staunte fast darüber, wie geräumig sie in ihrem Inneren war, als sie hineingestoßen wurde. Ginesh und sie wurden von den Zug der anderen Gefangenen losgeschnitten. Sie mußten sich zunächst auf den Boden hocken, Koppal hielt bei ihnen Wache. „Ich würde euch am liebsten den Hals umdrehen“, sagte er, während sie auf Raghubir warteten, der die Unterbringung der anderen Mädchen in den Nachbarhütten kontrollierte. „Wenn Raghubir nicht befohlen hätte, ich soll euch in Ruhe lassen, würde ich euch ein wenig mein Messer zu schmecken geben.“ Er sagte noch andere, häßlichere Dinge, aber Shandra und Ginesh gaben sich Mühe, nicht darauf zu hören. Shandra vernahm, wie die anderen Mädchen schrien, und es wurde ihr entsetzlich weh ums Herz zumute. Dann aber dachte sie an die Blätter, die sie unter ihren zerrissenen Gewand verborgen hielt, und eine Hoffnung nahm in ihrem Geist Gestalt an. Raghubir erschien mit langen, stapfenden Schritten und blieb vor Koppal stehen. „Du kannst gehen“, sagte er. „Ich brauche dich nicht mehr. Nein, keine Angst, auf diese beiden Früchtchen passe ich schon gut genug auf. Trockne deine Kleidung, iß und trink und vergnüge dich dann wie die anderen mit den Mädchen. Ihr habt es verdient.“ Er wies einen kleinen Sack aus Segeltuch vor. „Hier, das sind die Perlen, die wir erbeutet haben. Ich werde sie zählen und dann gerecht verteilen. Eigentlich ist es gut, daß wir jetzt nicht mehr so viele sind, was? So fällt für jeden ein größerer Brocken ab.“ Koppal lachte, aber es klang gekünstelt. Er ging fort, schien aber nicht richtig überzeugt zu sein von dem, was er tat. Raghubir trat zu den Mädchen in die Hütte. Er betrachtete sie nur kurz, dann zündete er in der Mitte des großen Raumes ein offenes Feuer an, das seinen Abzug in einem spitz nach oben hin zulaufenden
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Loch im Dach hatte, durch das der Regen nicht eindringen konnte. Das Feuer verbreitete Wärme und Licht. Raghubir richtete sich auf und schaute wieder auf seine Gefangenen. Er stemmte die Fäuste in die Seiten und lachte schallend. „Nett seht ihr aus! Bei Shiva, in diesem Zustand möchte euch keiner geschenkt haben!“ „Wir sind schmutzig und heruntergekommen“, sagte Shandra. „Ich weiß.“ Raghubir schlug einen etwas versöhnlicheren Ton an. „Später schenke ich dir eins der Brokatgewänder, die wir aus deinem Dorf mitgebracht haben. Aber erst nehmen wir alle drei ein Bad.“ Er wies in eine Ecke des Raumes, in der sich, soweit Shandra erkennen konnte, eine große Truhe, ein Tisch und andere simple Einrichtungsgegenstände befanden. „Dort steht ein hölzerner Zuber“, sagte er. „Wir werden über dem Feuer einen Kessel mit Wasser wärmen. Wir waschen uns und machen es uns so richtig gemütlich.“ Er bückte sich, zog ein Messer und trennte Shandras und Gineshs Hand- und Fußstricke durch. „Ich habe eine Trommel“, flüsterte er im Verschwörerton. „Ginesh, du wirst sie schlagen, und du, Shandra, wirst für mich tanzen. Ich sagte doch, wir werden viel Spaß miteinander haben.“ Shandra nickte. „Ich werde mir Mühe geben, damit ich dir gefalle.“ „Warum?“ fragte er sie, und jetzt schwang Argwohn in seiner Stimme mit. „Ich weiß, daß du die anderen Mädchen verkaufen willst.“ „Später. Wenn meine Männer genug von ihnen haben.“ „Aber ich möchte bei dir bleiben.“ „Wirklich?“ „Ich glaube, wenn ich schon ein Dasein als Sklavin fristen muß, dann habe ich es bei dir besser als anderswo.“ Raghubir lachte und schlug sich mit der Hand auf den Oberschenkel „Das lasse ich gelten! Mach deine Sache gut, und ich überlege es mir. Vielleicht behalte ich auch
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Ginesh bei mir. Ja, aus ihr kann genauso etwas Großes, Hübsches werden wie aus dir.“ Er stand auf. „Mal sehen, was du kannst, Shandra. Bevor du das Badewasser wärmst, setzt du einen kleinen Kessel mit Rotwein auf. Suche ihn, dann findest du ihn.“ „Du willst - heißen Wein trinken?“ fragte sie überrascht. „Wein, den ich von einem spanischen Schiff holte, als wir es enterten und die Besatzung töteten“, sagte er mit prahlerischer Miene. „Vorzüglicher Wein. Erhitzt man ihn, vertreibt er die Fieberkrankheiten, die durch die Nässe den Körper befallen. Wußtest du das nicht?“ „Nein.“ „Ich will mit dir trinken und das vergessen, was geschehen ist. Ich will nicht mehr daran denken, daß ich in der Nacht ein Schiff und eine Meute von guten Kerlen verloren habe. Laß uns fröhlich sein.“ „Ja, Herr“, sagte sie, erhob sich und ging an dem Feuer vorbei zu den Gerätschaften, die in der Raumecke angehäuft lagen: Sie fand einen kleinen Kupferkessel, entdeckte hinter einem kleinen Berg offensichtlicher erbeuteter Waffen auch das große Faß mit dem Zapfhahn und ließ den roten Wein in den Kessel laufen. Er beobachtete sie. Sie war von ihren Fesseln befreit und konnte doch nicht weglaufen, denn er würde sie zehnmal wieder einfangen, wenn sie es zehnmal versuchte, würde sie schlagen und quälen. Außerdem würde er Ginesh festhalten. Sie konnte ohne ihre kleine Schwester nicht fliehen. Sie wandte ihm den Rücken zu. Mit einer geschickten Bewegung fischte sie ein paar Blätter unter ihrem schmutzigen Gewand hervor und ließ sie in den Kessel fallen. Der Wein deckte die Blätter zu. Sie waren schwer und blieben auf dem Boden des Gefäßes liegen, auch dann noch, als sie den Kessel an ein eisernes Dreibeingestell über das Feuer gehängt hatte und der Wein allmählich zu brodeln begann. *
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Die dschungelbewachsene Küste tauchte wie aus Nebeln des Jenseits’ vor der „Isabella VIII.“ auf. Yasin, der Pirat, stand neben dem Seewolf auf der Back und sagte: „Das ist False Divi.“ Sie standen unter einem Dach aus Persenning. Hasard hatte es auf der Back, auf der Kuhl und auf dem Achterdeck spannen lassen, damit seine Männer und er nicht zu naß wurden. In beständigem Rhythmus trommelten die Tropfen auf das geteerte und gewachste Segeltuch. „Wir segeln auf die südliche Küste zu, aber das Versteck befindet sich am Westufer, wenn du die Wahrheit gesprochen hast“, sagte Hasard. „Es ist die Wahrheit.“ „Wir fallen also etwas ab und gehen auf Kurs Nordwest“, sagte der Seewolf. „Die Insel ist nicht sehr groß. Spätestens nach Ablauf von einem Glas müßten wir die Bucht erreicht haben, die du mir beschrieben hast.“ „Ja.“ „Wir werden die Wachen am Ufer überlisten müssen.“ „Ich weiß, wie du es machen kannst“, sagte Yasin. Hasard drehte sich um und stieg auf die Kuhl hinunter, um seinen Männern die nötigen Anweisungen zu geben. Sämtliche Schäden, die die „Isabella“ im Gefecht mit den Piraten davongetragen hatte, waren repariert. Die „Lady“, wie die Männer sie zu nennen pflegten, war jetzt wieder das altgewohnte, seetüchtige, voll manövrierfähige und gefechtsbereite Schiff, auf das sie sich verlassen konnten. Sie segelte einem neuen Abenteuer entgegen, aber der Seewolf ahnte nicht, daß das Drama im Lager der Piraten bereits seinen Lauf genommen hatte. * Raghubir streckte die Hände nach dem Krug aus. Shandra hatte ihn mit einer Schöpfkelle randvoll mit heißem Wein gefüllt. Jetzt brachte sie ihn dem Piraten. Raghubir hob den Krug an die Lippen, nahm probeweise einen Schluck, stellte
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fest, daß der Trunk nicht zu heiß war, um ihm die Zunge zu verbrennen, und setzte ihn wieder an, um ihn fast ganz leerzutrinken.. „Das tut gut“, sagte er, als er ihn wieder sinken ließ. „Nimm auch du einen Becher, Shandra. Ich erlaube dir, mit mir zu trinken. Der Glühwein wird dich in Stimmung bringen.“ „Ja“, sagte sie. Sie holte sich einen Becher und tauchte ihn in den Kupferkessel. Sie ging damit zu Raghubir und kniete sich vor ihn hin. Er verzog plötzlich das Gesicht und sagte: „Irgendwie hat dieser Wein einen merkwürdigen Beigeschmack.“ „Wirklich? Laß mich probieren.“ Sie nahm den Rand des Bechers an die Lippen und tat so, als trinke sie, benetzte in Wirklichkeit aber nur ein wenig die Lippen. Raghubir stellte den Krug weg und griff sich mit den Händen an den Bauch. Ginesh hockte neben ihm, blickte ihn fortwährend wie einen bösen Geist an und schien unfähig zu sein, sich zu rühren. Raghubir stöhnte und preßte die Hände gegen den Leib. Er sank von dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte, legte sich auf die linke Körperseite und gab leise, gequälte Laute von sich. Seine Beine zuckten ein wenig. Sein Gesicht verfärbte sich. Es wirkte im huschenden Licht des Feuers dämonenhaft. „Was - hast du - getan?“ flüsterte er entsetzt. „Der Busch heißt Tanjoghe“, sagte sie mit ausdrucksloser Miene. „Seine Blätter sind giftig. Ein Schierlingskraut, an dem ein Mensch binnen kurzer Zeit zugrunde geht. Besonders dann, wenn er eine so große; Menge Saft zu sich genommen hat wie du, Raghubir.“ „Ich - kann mich nicht - bewegen“, stöhnte er. „Zuerst kommen die Schmerzen, dann tritt die Lähmung ein“, sagte sie ungerührt. „Deine Zunge gehorcht dir nicht mehr. Du kannst nicht um Hilfe schreien. Du bist uns ausgeliefert, Raghubir, und weder Ginesh
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noch ich werden auch nur einen Finger für dich rühren.“ „Du - Satan ...“ „Und was bist du?“ erwiderte Shandra. „Du hast gemordet, geplündert und den Frauen Gewalt angetan. Hundertfach hast
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du den Tod verdient. Das ist meine Rache — Shandras Rache.“ Sie legte ihrer kleinen Schwester Ginesh die Hand auf den Unterarm und lächelte ihr zu...
ENDE