Das Buch Die höchsten und schwierigsten Berge der Welt, der Mount Everest und der K2, werden zum Schauplatz atemberaube...
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Das Buch Die höchsten und schwierigsten Berge der Welt, der Mount Everest und der K2, werden zum Schauplatz atemberaubender Erlebnisse. Bekannte Bergsteiger und Bergsteigerinnen wie Chris Bonington, Lene Gammelgaard, F. S. Smythe u.a. schildern ihre Abenteuer und Überlebenskämpfe in den Todeszonen der Bergwelt. Das Ergebnis ist eine Erzählsammlung aus 60 Jahren spektakulärer Gipfelstürmerei. Von den frühen Expeditionen und jüngsten Tragödien wird erzählt, von tückischen Gletscherspalten, dramatischen Rettungsaktionen und der Einsamkeit in eisiger Kälte. In allen Geschichten ist zu spüren, was Bergsteigerei so faszinierend macht und warum Menschen immer wieder ihr Leben riskieren, um das scheinbar Unbezwingbare letztendlich doch zu bezwingen.
Der Herausgeber Der Publizist und Outdoor-Spezialist Clint Willis ist seit seinem zehnten Lebensjahr Bergsteiger aus Leidenschaft. Heute firmiert Clint als Herausgeber der Serie Adrenaline™ Books und lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Maine.
In unserem Hause sind von Clint Willis bereits erschienen: Überleben auf dem Wasser, Überleben im Eis und Überleben in der Wildnis.
Clint Willis (Hrsg.)
Überleben in Höhen Geschichten von Chris Bonington, Lene Gammelgaard, F. S. Smythe u.a.
Ullstein
Der Ullstein Taschenbuchverlag ist ein Unternehmen der Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München 2. Auflage 2001 Copyright für diese Ausgabe © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München Titel der amerikanischen Originalausgabe: High: Stories of Survival from the Everest and K2 (Thunder's Mouth Press/Bailiett & Fitzgerald Inc., New York) Compilation Copyright © 1999 by Clint Willis Introduction Copyright © 1999 by Clint Willis Copyright der einzelnen Beiträge: s. Quellennachweis Alle Rechte vorbehalten Adrenaline™ and the Adrenaline™ logo are trademarks of Balliett & Fitzgerald Inc., New York Übersetzung: s. Quellennachweis Redaktion: Gabi Banas Umschlagkonzept: Lohmüller Werbeagentur GmbH 8t Co. KG, Berlin Umschlaggestaltung: DYADEsign, Düsseldorf Titelabbildung: Mauritius Satz: hanseatenSatz-bremen, Bremen Gesetzt aus der Sabon Druck und Bindearbeiten: Ebner Ulm Printed in Germany ISBN 3-548-35993-0
Für Harold Brodkey, der die Catskills liebt und für Neill Jeffrey, der die Blue Ridge liebt
Einleitung
Der Mount Everest und der K2 bedienen heute viele Bedürf nisse. Werbeleute versuchen, mit diesen Namen eine Atmo sphäre von Gefahr, Mühsal, Mut, unerhörten Dimensionen oder Ehrgeiz zu beschwören. Journalisten haben sich bemüht, die beiden Berge zu Berühmtheiten zu machen, Reiseveran stalter, die Giganten auf Touristenattraktionen rechtzustutzen. Bergsteiger haben den Everest und den K2 als Müllhalden benutzt und für ihre Erzählungen und ihren Ruhm ausgebeu tet. Die Liste der Everest-Erstbesteigungen scheint endlos: von der ersten Besteigung durch Australier bis zur Erstbesteigung durch eine über vierzigjährige Japanerin. Wir haben uns alle Mühe gegeben, diese Berge langweilig bis zum Überdruß zu machen. Es klappt nicht. Die Autoren, die in dieser Anthologie versammelt sind, wa ren auf ihren Gipfeln und haben die Wahrheit mit herunterge bracht, die absolut nicht langweilig ist. Matt Dickinson erzähl te, was es für einen Amateur heißt, eine schwankende Alumi niumleiter am Everest Nordcol hinaufzuklettern, und wir teilen seine Angst. Jim Haberl harrt sehnsüchtig auf den Son nenaufgang über China, der den Wind am Gipfel des K2 ein wenig sanfter machen und ein bißchen Wärme für seine Hän de und Füße bringen wird, und wir spüren mit ihm die Kälte. Chris Bonington beobachtet durch ein Fernglas, wie seine Freunde Peter Boardman und Joe Tasker 1982 den Nordostgrat des Everest entlangkrabbeln. Und wir sehen die beiden, so wie er – zum letzten Mal. Doug Scott steht mit seinem Kameraden
Dougal Haston, nach einer mit den größten Schwierigkeiten gespickten Klettertour über den Südwestgrat, auf dem Everest, und schreibt später über diesen Augenblick: »Die ganze Welt lag vor unseren Augen ausgebreitet« – und genauso liegt sie auch vor unserem Blick. Wie bei den anderen Titeln der »Adrenalin«-Reihe sind auch in den vorliegenden Band nur wirklich gut erzählte Texte aufgenommen worden. Die Sammlung spannt den Bogen vom Jahr 1933 bis 1996, ohne dabei eine komplette Dokumentation der Geschichte der Everest- und K2-Besteigungen zu liefern. Ursprünglich hatte ich geplant, alle historisch besonders wichtigen (wie auch immer man das auslegen mag) Expedi tionen in dieser Anthologie zu berücksichtigen, und zwar in chronologischer Reihenfolge, doch schließlich verzichtete ich auf alles, was auch nur im entferntesten nach Langweile roch, und ordnete das Material, das übrigblieb, durchgängig einem einzigen Prinzip unter: Es soll angenehm zu lesen und span nend sein. Wer den geschichtlichen Überblick sucht, sollte sich an Walt Unsworths akribisch recherchierten Wälzer Everest (1989) und an Jim Currans nicht ganz so umfangreiches Buch K2: The Savage Mountain (1995) halten. Dennoch ist es beim Lesen dieser Anthologie vielleicht ganz nützlich, etwas darüber zu wissen, was Männer und Frauen an diesen beiden Bergen geleistet haben. Die Geschichte der Mount Everest-Besteigungen beginnt an der Nordseite des Berges, in Tibet (das an der Südseite des Everest liegende Nepal war Fremden bis 1949 verschlossen). Bei einer Erkun dungstour durch eine britische Gruppe 1921 entdeckten George Lee Mallory und Guy Henry Bullock einen Zugang
zum Nordcol. Von hier aus starteten die ersten Expeditionen zum Gipfel. Die Briten kehrten 1922 zur Nordseite zurück. Sieben Sherpas kamen dabei in einer Lawine ums Leben. Beim dritten Versuch 1924 gab es zwei weitere Todesfälle; diesmal starben zwei Engländer: George Mallory und Andrew Irvine verschwanden beim Versuch einer Gipfelbesteigung, nachdem sie auf 8500 Metern Höhe am Nordostgrat des Everest gesich tet worden waren. In den dreißiger Jahren folgten vier weitere Expeditionen. Die Chronik eines dieser Versuche im Jahre 1933 lieferte Frank Smythe mit seinem Buch Lager VI. Smythes Bericht über seinen Weg zum Gipfel ist in die vorliegende Sammlung eingegan gen. Der Zweite Weltkrieg setzte weiteren EverestBesteigungen vorerst ein Ende. 1950 schloß Tibet seine Gren zen für Ausländer, doch glücklicherweise öffnete Nepal die seinen im selben Jahr. Das machte eine Reihe von Expeditio nen zur Südseite des Berges möglich, die ihre ganz eigenen Schwierigkeiten bot. Die Briten unternahmen Anfang der fünfziger Jahre zwei Versuche von der Südseite her und ent deckten dabei einen Weg durch den äußerst gefährlichen Khumbu-Eisbruch. Im Jahr 1952 versuchten sich ein paar hervorragende Bergsteiger aus der Schweiz am Everest und schafften beinahe den Gipfel. Im Jahr darauf erstiegen der Neuseeländer Edmund Hillary und Sherpa Tenzing Norgay im Rahmen einer britischen Expedition den Berg von der heutigen Standard Südcol-Route her. In dem Jahrzehnt nach Hillarys und Tenzings Richtfest auf dem Everest erfolgten ein halbes Dutzend Versuche von Gruppen aus verschiedenen Ländern, darunter auch erfolg reich eine schweizerische Expedition im Jahr 1956. Sie alle nahmen die britische Route, die selbst für die besten Bergstei
ger der Welt immer noch genügend Herausforderungen barg. Dennoch begann diese Elite bald nach noch schwierigeren Wegen zum Gipfel Ausschau zu halten. Die amerikanische Expedition von 1963 schloß die erste Überquerung des Everest (durch Willy Unsoeld und Tom Hornbein) ein. In den späten Sechzigern rückte die Südwest wand in den Mittelpunkt bergsteigerischen Interesses, die geradezu einem Hagel von Versuchen standhielt, bevor sie sich endlich 1975 einer zweiten britischen Expedition geschla gen gab. Diese Expedition unter Führung des Kletterkünstlers Chris Bonington brachte zwei der berühmtesten Gipfelstürmer der damaligen Zeit auf den Everest: Doug Scott und Dougal Haston. Sie dokumentierten ihre Tour und deren Nachwir kung in Boningtons 1976 erschienenem Buch Everest The Hard Way (Everest: ein harter Brocken) (S. 90). Im folgenden Jahr erkletterte eine gemischte Gruppe aus Engländern und Ange hörigen der Königlich Nepalesischen Armee den Berg über die Südcol-Route. Beim Abstieg vom Gipfel mußte der Brite Brummie Stokes durch eine Kette unglücklicher Zufälle eine Nacht im Freien verbringen. Sein Bericht über dieses unfrei willige Abenteuer und seine Folgen können Sie auf Seite 345 lesen. In den späten siebziger Jahren drängten sich immer mehr Leute in den Basislagern. Der Südtiroler Reinhold Messner und der Österreicher Peter Habeier unternahmen die wichtigste Besteigung dieser Zeit, als sie 1978 die SüdcolRoute ohne Sauerstoff bezwangen. Ihre Heldentat versetzte die gesamte Bergsteigergemeinschaft in Erstaunen. Was aber noch wichtiger war, die Tour machte endgültig Schluß mit der Überzeugung, daß Sauerstoffflaschen und große Gruppen von Bergsteigern und Trägern, die sie zu transportieren hatten,
notwendig seien, um an den höchsten Bergen der Welt Erfolg zu haben. Damit brach ein neues Zeitalter für den Himalaja an: relativ leicht bepackte Expeditionen im »Alpinstil«. Messner war 1980 der erste Mensch, der den Everest im Alleingang erkletterte. Er nahm eine Route auf der Nordseite und machte auch diese Tour ohne Sauerstoff. Die Kletterer versuchten sich ständig an neuen, noch schwierigeren Routen zum Gipfel. Die mit leichtem Gepäck ausgerüstete britische Expedition zum Nordostgrat im Jahr 1982 endete, als Peter Boardman und Joe Tasker nicht mehr von ihrer Tour zum Gipfel zurückkehrten. Auch diese Expedi tion leitete Chris Bonington (S. 153). Im folgenden Jahr besuch ten Boardmans Witwe Hilary und Taskers Freundin Maria Coffey den Berg (S. 180). Ebenfalls im Jahr 1982 mußte eine kanadische Everest-Expedition am Südpfeiler aufgeben, nach dem drei Sherpas und ein Kameramann im Eisfall umgekom men waren. Sechs Kletterer verließen daraufhin die Gruppe, die übrigen änderten ihren Plan und nahmen die Route über den Südcol. Alan Burgess schilderte die Reaktionen des Teams auf diese Tragödie in Everest Canada – The Ultimate Challenge (Mount Everest. Die große Herausforderung) (S. 169). 1988 wagte sich eine Expedition an die Besteigung der gefürchteten Ost- oder Kangshung-Wand im »Alpinstil«. Selbst der Purist Reinhold Messner lobte das Team für seinen untadeligen Stil; weder Sauerstoff noch Sherpas wurden auf der schwierigen und gefahrvollen Route eingesetzt. Ed Webster berichtete in seinem spektakulären Buch Snow in the Kingdom: My Storm Years on Everest (Schnee im Königreich. Meine Sturmjahre am Everest) unter anderem auch von dieser Expedition (S. 312). Die Ära der geführten Touren auf den Everest wurde 1983 durch eine amerikanische Expedition zum Südcol eingeleitet.
Die beiden Amateur-Abenteurer Dick Bass und Frank Wells heuerten für ihr Projekt, die »sieben Gipfel« zu erklettern (die höchsten Gipfel auf sämtlichen Kontinenten), erfahrene Hoch gebirgskletterer an, die sie auf den Everest bringen sollten. Sie scheiterten, doch Bass kehrte zwei Jahre später, im Alter von 55 Jahren, zum Gipfel zurück. Hunderte von Kletterern, dar unter viele Amateure, die sich einer geführten Tour ange schlossen hatten, hatten bereits bis zum Frühjahr 1996 die Spitze des Everest erstiegen, als elf Kletterer auf dem Berg starben, darunter drei Führer und zwei Kunden von kommer ziell organisierten Expeditionen. Der Filmemacher und Ama teurkletterer Matt Dickinson, der den Gipfel vom Norden her zu besteigen versuchte, entkam knapp dem Sturm, der acht Opfer forderte. Sein Bericht über die Tour zum Gipfel (S. 16) zeigt, wie hart es ist, den Everest selbst unter optimalen Be dingungen zu bezwingen. Die Berichte über das Desaster von 1996 – so auch das Buch von Lene Gammelgaard – fachten das öffentliche Interesse am Bergsteigen ganz allgemein und am Everest im besonderen erneut an. Es zog wahrscheinlich mehr Kletterer an, als es sie abschreckte. Nach wie vor drängen sich auf den Hängen des Everest die Expeditionen, vielfach von kommerziellen Führern für zahlende Kunden mit unterschied licher Bergsteigererfahrung durchgeführt. Während der Everest seit seiner Erstbesteigung eher ein briti scher Berg war, schien der K2 Mitte dieses Jahrhunderts die Domäne amerikanischer Bergsteiger zu sein. Engländer, Italiener und andere Europäer hatten die Region um den K2 herum erobert, der in Nordpakistan, in der Nähe des Zen trums des Karakorum-Gebirges, liegt. Luigi Amedeo di Sa voia, Herzog von Abruzzen, hatte den berühmten ersten
Besteigungsversuch unternommen. Seine Expedition stieß 1909 bis in eine Höhe von 6250 Metern vor und damit zum Ausgangspunkt der meisten späteren Touren zum K2 am Südostgrat, heute bekannt als Abruzzi-Grat. Der nächste ernsthafte Versuch, den Gipfel zu besteigen, erfolgte 1938. Eine amerikanische Expedition unter der Leitung von Charles Houston schlug sieben Lager am AbruzziGrat auf, doch auf 7925 Metern kehrte sie um. Houstons ge meinsam mit Robert Bates verfaßter Bericht stellt das Muster beispiel einer glücklich verlaufenen Expedition dar. Ein Kapi tel ihres Buches, Five Miles High (In 8000 Meter Höhe), ist ab S. 208 in der vorliegenden Anthologie abgedruckt. Im Jahr darauf führte der in Deutschland gebürtige Fritz Wiessner ein weiteres amerikanisches Team auf den Grat, das den Gipfel beinahe bezwang. Mangelnde Abstimmung der Pläne führte dann jedoch zu einer Reihe von Fehlern, die mit dem Tod dreier Sherpas und eines Amerikaners endete. David Roberts hat über Wiessner und seine vom Unglück verfolgte Expediti on geschrieben (S. 424). 1953 führte Houston eine andere Gruppe zum Gipfel. Die Erkrankung eines Teammitglieds zwang sie allerdings zu einer mit Katastrophen gespickten Umkehr. Bates’ Schilderung dieses denkwürdigen Abstiegs (S. 405) entstammt dem zweiten Buch, das er gemeinsam mit Houston schrieb. Damit endeten die hartnäckigen Bemühun gen der Amerikaner, die ersten auf dem Gipfel des K2 zu sein: Im folgenden Jahr schaffte eine italienische Gruppe den Auf stieg. Walter Bonatti, einer der ganz großen Bergsteiger Itali ens, trug als jüngstes Mitglied entscheidend zum Erfolg des Teams bei. Sein Bericht über die Strapazen des Marsches zum Gipfel (S.122) ist seinem Buch On the Heights (In der Höhe) entnommen.
Der Gipfelbesteigung des K2 durch die Italiener im Jahr 1954 folgte erst im Jahr 1960 ein einziger weiterer Versuch. Danach blieb es fünfzehn Jahre lang ruhig. 1961 schlossen die Pakistani den Zentralkarakorum für Expeditionen. Sie be gründeten diese Entscheidung mit politischen Spannungen zum Nachbarland Indien. Schließlich entspannte sich die politische Lage, und 1975 wagte sich wiederum ein Team von Amerikanern an den K2. Sie stießen unter Führung von Jim Whittaker (der 1963 als erster Amerikaner den Fuß auf den Gipfel des Everest setzte) auf einer neuen Route nur bis in 6700 Meter Höhe, die Expedition litt unter Konflikten und Reibereien zwischen den Teammitgliedern. Galen Rowells In the Throne Room of the Mountain Gods (Im Thronsaal der Berg götter) (S. 229) gehört zu den ersten ungeschönten Expediti onsberichten. Der zweite Gipfelsturm auf den K2 fand erst 1977 statt, als ein Pakistani und sechs japanische Kletterer den Gipfel im Rahmen einer aus zweiundfünfzig Mitgliedern bestehenden Expedition erreichten, die insgesamt 1500 Träger einsetzte. 1978 wurde der Berg endlich auch von Amerikanern bezwungen, vier Mitglieder eines Teams erklommen den Gipfel. Einer von ihnen, Rick Ridgeway, berichtet über den Kampf der vier beim Abstieg (S.260). Reinhold Messner gelang schließlich im folgenden Jahr die vierte erfolgreiche Besteigung des K2. Anfang 1986 hatten zehn Expeditionen den Gipfel erreicht. Im besagten Sommer machten sich weitere neun Expeditionen zum K2 auf, und siebenundzwanzig Bergsteiger bestiegen den Gipfel. Doch viele von ihnen kamen nicht zurück. Der K2 forderte in dieser Saison in einer Reihe von Tragödien, die Jon Krakauer und Greg Child 1987 in einem Artikel in der Zeitschrift Outside schilderten, dreizehn Menschenleben.
Seither haben weitere Kletterer auf dem Gipfel des K2 ge standen, und noch mehr haben auf dem Berg ihr Leben gelas sen. Am bekanntesten wurde der Tod der Engländerin Allison Hargreaves. Sie kam 1995 in einem Sturm ums Leben, der gleichsam das Everest-Desaster des Jahres 1996 ankündigte. Jim Haberls Bericht von der Besteigung des K2 mit seinem Kameraden, dem Kanadier Dan Culver 1992, gibt einen Ein blick in die Motive heutiger Hochgebirgskletterer und in die Risiken, mit denen sie konfrontiert sind (S. 66). Früher wurden Bergsteiger gefragt, warum sie klettern. Heute werden sie häufiger gefragt, wer am letzten Zwischenfall oder an der letzten Katastrophe an einem berühmten Berg schuld war. Waren kommerziell arbeitende Bergführer wie Rob Hall und Scott Fischer und ihre Kunden 1996 am Everest überfor dert? Oder waren ihre Kunden verrückt, sich überhaupt an diesen Berg zu wagen? Allison Hargreaves stieg an einem Tag weiter auf, an dem anderen Kletterern am K2 die Wetterbe dingungen nicht einwandfrei geeignet erschienen. War sie verantwortungslos, als sie es riskierte, ihre Kinder allein zurückzulassen? Viele Autoren, Journalisten und Bergsteiger, die in jüngster Zeit über das Bergsteigen geschrieben haben – und es ist eine ganze Menge geschrieben worden –, befassen sich mit der Frage der Schuldzuweisung oder der Rechtferti gung. Es ist sicherlich sinnvoll, Augenzeugenberichte heranzuzie hen, Ereignisse zu analysieren und nach Fehlern zu suchen, damit sie nicht ein zweites Mal gemacht werden. Und es gibt immer Zeiten, in denen die Suche nach der Schuld auch ein Teil der Suche nach der Wahrheit ist. Manche der öffentlichen
Anklagen und Gegenanklagen scheinen allerdings von zwei irrigen Annahmen auszugehen. Erstens: Es ist möglich, beim Bergsteigen alles richtig zu machen. Und zweitens: Wenn man alles richtig macht, kommt niemand zu Schaden. Doch selbst die besten, routiniertesten Bergsteiger machen Fehler. Und Berge wie der Everest und der K2 bleiben auch dann gefährlich, wenn die Kletterer perfekt wären. Ja, manchmal liegt der größte Fehler in eben diesem Bemühen um Perfektion. Diejenigen von uns, die sich diesen Bedingungen nicht aus setzen wollen, stoßen gar nicht erst in die Todeszone vor. Wir fahren in die Tetons oder in die White Mountains oder bringen unsere Kinder zur Kletterwand. Wir schaffen es allenfalls bis zum Basislager. Oder wir bleiben unten. Wir lesen die Ge schichten, und wenn die Geschichten gut sind, sind wir zu frieden – jedenfalls beinahe. Clint Willis
Matt Dickinson aus Drama am Mount Everest Fast ohne Klettererfahrung bestieg Matt Dickinson 1996 die Nordseite des Mount Everest, um eine britische Expedition zu filmen. Mit dem professionellen Bergsteiger Alan Hinkes und drei Sherpas machte er sich kurz nach dem schweren Sturm, den auch Lene Gammelgaard in Die letzte Heraus forderung beschreibt, auf den Weg zum Gipfel. Dickinsons Aufzeichnungen verdeutlichen, wie allein letztlich jeder Kletterer in der Todeszone ist. Der Sonnenuntergang muß spektakulär gewesen sein, doch alles, was ich davon mitbekam, war ein roter Lichtschimmer, der sich auf dem Metall einer Sauerstoffflasche draußen vor dem Zelt spiegelte. Ich war wild entschlossen, kein bißchen Energie zu verschwenden. Und aus dem Zelt zu kriechen, um eine Fotografie zu machen, gehörte nicht zu den vorrangigen Dingen, ganz egal, wie schön der Sonnenuntergang auch war. Unsere Hauptdiskussion drehte sich um den Sauerstoff. Drei Mitglieder unseres eigenen Teams waren ja jetzt definitiv aus dem Rennen, und so bestand die Möglichkeit, daß wir eine Flasche mehr für den Gipfelsturm mitnahmen. Dafür sprach, daß wir die Sauerstoffzufuhr dann höher einstellen konnten, was ganz offensichtliche Vorteile bot. Dagegen sprach das zusätzliche Gewicht, sechs Kilo mehr, und das war, in Anbe tracht dessen, was vor uns lag, eine ernsthafte Überlegung wert. Wir wogen das Für und Wider ab und beschlossen schließlich, die Entscheidung hinauszuschieben, bis wir in ein
paar Stunden unsere Sachen zusammenpacken und aufbre chen würden. (Als es soweit war, nahm Al eine zusätzliche Flasche Sauerstoff mit, ich nicht.) Gegen 20 Uhr schmolzen wir gerade unsere dritte Runde Schnee, als sich von draußen Schritte näherten. Eine Gestalt bückte sich am Zelteingang und blickte mit blutunterlaufenen, verzweifelten Augen zu uns rein. Es war der Ungar, der zu sammen mit dem Österreicher Reinhard Wlasich die Nord flanke ohne Sauerstoff hatte besteigen wollen. Er sprach uns auf französisch an, doch als er unsere fragen den Gesichter sah, versuchte er es auf englisch. »Ich brauche… könnt ihr vielleicht helfen… Sauerstoff und Gas… bitte.« Die Worte kamen verzerrt und unverständlich aus seinem Mund. Er klang, als hätte er die ersten Symptome von Höhenkrankheit. »Langsam. Beruhig dich erst mal. Was ist los?« Al machte ihm ein wenig Platz, damit er sich in den vorderen Teil des Zeltes knien konnte. »Mein Freund liegt im Sterben. Ich bitte euch, helft mir, ihn zu retten. Wir sind in dem Zelt da drüben.« Er zeigte in die Nacht hinaus. »Redest du von Reinhard?« »Ja. Reinhard. Er liegt im Sterben. Wenn wir ihn nicht den Berg hinunterkriegen, dann stirbt er. Ihr müßt mir helfen.« »Was ist mit dem Arzt von den Norwegern – Morton? Hat er ihn sich angesehen?« »Ja. Am Nachmittag.« »Und was hat er gesagt?« »Er hat ein Ödem – in der Lunge und im Gehirn.«
»Ist er bei Bewußtsein?«
»Er liegt im Koma.«
»Nun, wenn er bereits im Koma ist, dann wird er sterben.
Es gibt keine Möglichkeit, ihn vom Berg runterzuschaffen. Hast du Sauerstoff? « »Er ist alle. Kann ich eine Flasche haben?« »Du kannst so viele haben, wie du brauchst. Hast du einen Regler?« »Ja. Aber wenn wir jetzt aufbrechen, können wir ihn retten.« »Wie?« fragte Al ruhig. »Ich weiß es nicht. Wir können ihn tragen. Ich muß etwas tun!« Der Ungar war außer sich und begann, seinen Frust an uns auszulassen. »Wir können nichts tun. Egal, wie viele Leute wir hier oben hätten, wir könnten ihn doch nicht runter zu Lager V schaffen. Denk doch nur an die Felsen. Wie willst du ihn da abseilen?« Der Ungar verstummte. Tief im Innern wußte er, daß Al recht hatte. Selbst wenn Reinhard bei Bewußtsein gewesen wäre, eine Rettung war unmöglich. Die Tatsache, daß er im Koma lag, kam hier oben in einer Höhe von 8300 Metern einem Todesurteil gleich. »Was glaubst du, wie lange wird er noch leben?« »Ich weiß es nicht. Er atmet kaum noch.« Al und ich tauschten einen Blick aus. Wir hatten gleichzeitig denselben Gedanken: Durch seine Entschlossenheit, bis zum bitteren Ende bei seinem Freund zu bleiben, brachte der Ungar sein eigenes Leben in Gefahr. »Hör zu. Dein Freund hat keine Chance, lebend hier runter
zukommen. Du mußt so schnell wie möglich absteigen, oder du wirst auch sterben. Hast du mich verstanden?« Al sprach jetzt sehr eindringlich. Er hämmerte die Neuigkeiten, so hart er konnte, in das umnebelte Hirn des Ungarn rein. Wieder verstummte er und ließ seine Worte wirken. »Wenn du hierbleibst, bist du morgen abend tot. Also nimm jetzt zwei Sauerstoffflaschen, sieh zu, wie du durch die Nacht kommst, und hol dir, sobald es hell wird, noch eine Flasche, damit du es runter zu Lager V schaffst. Okay?« Der Ungar nickte langsam. »Du kannst nicht mehr für ihn tun, als bei ihm zu bleiben. Es gibt keine Rettung für ihn. Aber wenn du noch länger hier bleibst, bringst du andere Leben in Gefahr. Hast du noch die Kraft, um morgen allein abzusteigen?« »Ja.« Seine Antwort war kaum hörbar. Er nahm die beiden Sauerstoffflaschen und ging in die Nacht hinaus, das Bild eines gebrochenen Mannes. Ich ver suchte, mir vorzustellen, zu was für einer Hölle er zurückkehr te: In ein paar Stunden würde Reinhard tot neben ihm liegen. »Weißt du, was so merkwürdig an der ganzen Geschichte ist?« Mir war gerade etwas Beunruhigendes eingefallen. »Was?« »Als Barney und du beschlossen habt, Brian auf dem Grat zur Umkehr zu bewegen, hast du Reinhard und seinen Kumpel gesehen, wie sie an uns vorbeigingen, und gesagt, daß sie wahrscheinlich sterben.« »Stimmt. Ich konnte an ihrem Tempo sehen, daß sie zu langsam waren und in Schwierigkeiten geraten würden.« Und dann erinnerte ich mich an noch etwas anderes: eine
Diskussion, die ich mit Al gehabt hatte, bevor wir nach Kat mandu aufgebrochen waren. »Und erinnerst du dich an die Unterhaltung, die wir hatten, als du zu uns zum Essen gekommen bist?« Al hatte uns ein paar Wochen vor der Expedition in Hertfordshire besucht. »Du hast damals vorausgesagt, daß genau so etwas geschehen würde. Du sagtest, wir würden Lager VI erreichen und je manden in ebendiesem Zustand vorfinden. Und wenn mich nicht alles täuscht, hast du auch gesagt, daß es ein Osteuropä er sein würde.« »Ja, ich erinnere mich.« »Findest du das nicht merkwürdig?« Al dachte einen Augenblick lang nach. »Eigentlich nicht. Heutzutage gibt es so viele schlecht organisierte Teams auf dem Everest, daß die Wahrscheinlichkeit, hier oben jemanden in Schwierigkeiten anzutreffen, viel größer ist als die, daß keiner Probleme hat.« Damit wandten wir uns wieder den Gaskochern zu und verloren kein weiteres Wort mehr über das Thema. Doch innerlich beschäftigte mich die aufwühlende Unterhaltung, die wir eben mit dem Ungarn geführt hatten. Warum hatte ich nicht mehr Mitgefühl? Warum hatten wir nicht wenigstens angeboten, nach Reinhard zu schauen für den Fall, daß er durch irgendein Wunder wieder aufgewacht wäre? Die Wahrheit war, daß der Berg mir meine Menschlichkeit genommen, meine emotionalen Reaktionen blockiert hatte. Als ich erfahren hatte, daß Reinhard sterben würde, war ich weder überrascht noch schockiert gewesen. Es schien vielmehr ganz normal. Wir sind hier in Lager VI, auf 8300 Metern Höhe, sagte mir mein Verstand, dies ist der Ort, an dem Menschen
sterben, wenn etwas schiefgeht. Reinhard konnte nicht mehr geholfen werden. Uns allen war im Ernstfall nicht zu helfen. Wenn man bereit ist, so weit nach oben zu steigen, ist man aus freien Stücken einen Pakt mit dem Berg eingegangen, der besagt: »Ich bringe mich selbst in eine gefährliche Lage, und ich weiß, daß ich dabei draufgehen kann.« In Anbetracht des enormen persönlichen Engagements ist es vielleicht nicht verwunderlich, daß solche Luxusgüter wie Mitleid und Mitge fühl häufig zusammen mit dem übrigen überflüssigen Gepäck im Basislager zurückgelassen werden. Wenn wir derlei Gefüh le mitgebracht hätten, würden wir sie jetzt vielleicht brauchen – für uns selbst. So langsam ging mir die wahre Bedeutung der Todeszone auf. Um 23 Uhr 20 fiel Al in einen leichten Schlaf. Das Geräusch seines rhythmischen Atems war durch die Sauerstoffmaske gedämpft. Um Mitternacht würde der Tag unserer Gipfelbe steigung beginnen. Mein Körper schrie zwar verzweifelt nach Schlaf, doch der wollte sich nicht einstellen. Wie bei einem Kind, das hellwach in seinem Bett liegt und dem Weihnachtsmorgen entgegenzit tert, jagte die Erwartung wie ein Adrenalinschuß durch mei nen Körper. Ich zog den gefrorenen Stoff meines Daunen schlafsacks, so fest ich konnte, um meinen Kopf und lag abso lut still. Ich starrte in die Dunkelheit des engen Zeltes, alle Sinne überscharf auf die Windgeister gerichtet, die um uns herum Fangen spielten, und fiel in einen zen-ähnlichen Zustand der inneren Ruhe. Während meiner Zeit als langhaariger Teenie
hatte ich, verstärkt durch die übermäßige Lektüre von Carlos Castaneda und Aldous Huxley, oft versucht, mich in diesen veränderten Bewußtseinszustand hineinzumeditieren. Was ich nicht alles versucht hatte! In einem kerzenerleuch teten Schlafzimmer, das vom aromatischen Duft von Räucher stäbchen und den trance-stimulierenden, pentatonischen Synthesizerklängen der psychedelischen Band Gong erfüllt war, saß ich in der Halblotusposition und wartete darauf, in die Astralebene zu entschweben. Doch ganz gleich, wie lange ich für ein Ticket Schlange stand, aus meiner Reise nach Ixtlan wurde nichts. Wer weiß, vielleicht ist Hemel Hempstead nicht der beste Ausgangsort für einen Trip ins Nirwana. Doch jetzt, eingeschlossen in diese winzige Plastikkapsel, 8300 Meter über dem Rest der Welt, glitt ich mühelos in einen Zustand euphorischer Trance. Das enge Quasar-Zelt nahm plötzlich die Ausmaße einer Kathedrale an, das Kuppeldach glich enormen Rundbögen, die mehrere hundert Meter in die Luft ragten. Das beruhigende Zischen des Sauerstoffs, der in die Maske strömte, war wie Musik in meinen Ohren, panflö tengleich, und der Wind murmelte mir mit wispernder Stim me ermutigende Worte für den bevorstehenden Tag zu. Die Musik verklang und wurde durch den pulsierenden Rhythmus meines Blutstromes ersetzt, dessen Echo in den Tiefen meines Schädels widerhallte. Andere Phantasiebilder liefen vor meinen Augen ab. Ich sah mich, wie ich in den Ozean abtauchte und meine Lungen sich mit Wasser füllten. Verzweifelt nach Luft ringend, kam ich in die Wirklichkeit zurück. Darum hatte die Musik aufgehört zu spielen: Der Sauerstoffzylinder war leer. Verwirrt und benebelt wie ich war, hatte ich Schwierigkeiten, meine Stirnlampe zu finden.
Dann kämpfte ich mit dem eingefrorenen Reglerventil, das ich von der leeren Flasche schrauben mußte. Das Zeltinnere war mit einer dünnen Reifschicht aus gefro renem Kondenswasser überzogen. Bei jeder Bewegung fielen Regenschauer winziger Kristalle eiskalt und unangenehm auf meine bloße Haut. Endlich gelang es mir, das Ventil auf einer neuen Sauer stoffflasche festzuschrauben. Ich stellte die Meßanzeige auf einen Liter pro Minute und kroch erschöpft zurück in den Schlafsack. Der Wachzustand war im Gegensatz zu diesem trance-ähnlichen Zustand alles andere als euphorisch. Die süßen Träume hatten sich in dünne Luft aufgelöst. Plötzlich fiel mir ein, daß knapp zehn Meter von unserem Zelt entfernt der Österreicher, Reinhard, im Sterben lag, ohne Hoffnung auf Rettung. Lager VI, das uns noch ein paar Stunden zuvor wie ein ein ladender Zufluchtsort vorgekommen war, erschien mir nun wie ein Ort des Schreckens und der Angst. Die Tatsache, daß wir nichts für Reinhard tun konnten, rückte alles wieder in die rechte Perspektive: Hier bestimmte der Berg. Die Höhe, mit all ihren tödlichen Nebenwirkungen, sog das Leben aus einem starken, gesunden Bergsteiger wie aus einem kränkelnden Kind. Angesichts dieser unsichtbaren Kraft erschien unser eigenes Vorhaben vermessen und zum Scheitern verurteilt. Die verbleibenden zwanzig Minuten bis Mitternacht lag ich da, kalten Angstschweiß auf der Stirn, und betete, daß das Wetter nicht umschlagen, mein Körper der Herausforderung gewachsen sein und – wichtiger als alles andere – daß ich keinen Fehler machen würde. Meine mangelnde Zuversicht in meine Fähigkeiten als Bergsteiger hatte mich seit dem ersten
Tag der Expedition verfolgt. Jetzt packte mich die Angst, ich könnte stolpern, plötzlich fallen oder einen Teil meiner Ausrü stung durch meine Ungeschicklichkeit verlieren, wie es mir auf dem Sattel mit dem Abseilachter passiert war. Weiter unten waren diese Fehler ohne schwerwiegende Folgen ge blieben, doch am Gipfeltag konnte der kleinste Fehler zum Verhängnis werden. Wahrscheinlich waren auch Mallory und Irvine auf diese Art umgekommen… Mitternacht. Alans Armbanduhr piepste ein paarmal schwach vor sich hin. Draußen konnte ich gedämpfte Rufe aus dem Zelt der Sherpas hören. Al kämpfte sich aus dem Schlaf hoch, dann machten wir uns an die mühsame Aufgabe, die Kocher in Gang zu setzen. Das Feuerzeug ließ sich jetzt noch schwerer zünden, als es bereits in Lager V der Fall gewesen war. Ich versuchte es vierzig-, fünfzigmal, bevor ich dem gefrorenen Gas endlich eine Flamme entlocken konnte. Als ich es geschafft hatte, war mein Finger aufgerissen und blutig. Der Gaskocher brannte ein paar Sekunden lang mit lautem Zischen, fing dann zu husten an und verlöschte. »Mistkerl!« So langsam haßte ich die Kocher. Geduldig nahm Al das Feuerzeug. Es gelang ihm, den Kocher wieder in Gang zu setzen. Das lief nun schon seit Lager V so. In der klirrenden Kälte und der dünnen Luft wurden die Propangaskocher extrem unzuverlässig. Sie gingen oft ohne ersichtlichen Grund aus und füllten das Zelt mit Übelkeit erregendem Gas, bis es uns gelang, sie wieder anzuzünden. Sobald sie einmal aufgewärmt waren, schien das Gas besser zu fließen, und nach zehn Minuten frustrierten Herumhantie
rens hatten wir die beiden Kocher endlich so weit, daß sie lustig vor sich hin brannten. Al war damit beschäftigt, Schnee blöcke in topfgerechte Stücke zu schneiden, während ich versuchte, auf meiner Seite des Zeltes für etwas Ordnung zu sorgen. Al, schlau wie immer, hatte sich die flachere, aufwärts ge neigte Schlafplattform unter den Nagel gerissen, und ich durfte mir den verbleibenden Platz mit unserer sich hoch auftürmenden Ausrüstung teilen. Aufgrund der ungünstigen Neigung, in der das Zelt auf dem Schneefeld stand, herrschte im Innern, und besonders auf meiner Seite, ein heilloses Durcheinander. Leere Sauerstoffzylinder, Essensrationen und Kletterausrü stung bildeten einen chaotischen Haufen im hangabwärts gerichteten Teil. Die Seitenwand des Zeltes beulte sich gefähr lich unter dem Gewicht der Last aus, und ich stellte mir vor, daß der kleinste Riß den Stoff wie den Bauch eines Wales aufschlitzen und den Inhalt und mich auf den eisigen Abhang nach draußen katapultieren würde, wo ich eine Fahrt ohne Wiederkehr auf der Nordflanke antreten würde. Ich versuchte, die schwereren Gegenstände am unteren Ende des Zeltes anzuordnen, damit sie aus dem Weg wären. Dann machte ich mich daran, die wichtigen Teile herauszusu chen, die wir für den bevorstehenden Tag benötigen würden: die Lithiumbatterien für die Videokamera, den roten Sturm anzug, die Überschuhe für meine Plastikstiefel. Im Lichtstrahl der Stirnlampe fiel mein Blick auf die Eßpakete, die wir vor sieben Wochen mit großem Optimismus im Basislager vorbe reitet hatten. In blauem Markierstift standen die Namen der Besitzer dar
auf: Tore, Simon, Sundeep, Barney, Brian… Ich riß Brians Paket auf und zerrte die köstlichen Müslipackungen heraus. Ich war sehr wählerisch geworden, und Müsli war eines der wenigen Nahrungsmittel, gegen die mein Magen nichts ein zuwenden hatte. Es dauerte über eine Stunde, den kompakten Schnee zum Schmelzen zu bringen. Wir teilten uns eine Packung Pistazien und tranken mehrere Tassen Tee und Bournvita, bevor wir die Töpfe erneut mit Schnee füllten, um den ganzen Vorgang zu wiederholen… unsere Trinkvorräte für den Aufstieg. Die Sauerstoffmasken waren wie Maulkörbe, und so hatten wir wenig Lust, uns zu unterhalten. Statt dessen konzentrier ten wir uns auf die überlebenswichtige Aufgabe, so viel Nahrung und Flüssigkeit in uns hineinzutrichtern, wie uns nur irgend möglich war. Al hatte in den langen Jahren, die er auf Expeditionen im Himalaja verbracht hatte, die beneidenswerte Fähigkeit er langt, aus der Seitenlage in eine Flasche zu pinkeln. Da ich keinen uringetränkten Schlafsack riskieren wollte, falls ich mich dabei ungeschickt anstellte, verließ ich mich auf die sichere, wenngleich mehr Energie kostende Technik, mich zum Pinkeln auf meine Knie zu kauern. Die Minuten vergingen, und mit ihnen meldete sich ein an deres gefürchtetes Bedürfnis. »Ich muß mal kacken.« »Ich auch.« Al erging es nicht besser. Die Aussicht, die Stiefel überzuziehen und hinaus in den eisigen Nachtwind zu treten, war einfach entsetzlich. Allein der Gedanke daran kostete Kraft. »Wir bringen es besser hinter uns«, sagte Al. »Es führt kein
Weg daran vorbei. Besser, man schleppt keine zusätzliche Last mit nach oben. Außerdem – wenn du jetzt schon keine Lust hast, die Hose runterzulassen, wie wäre es erst am Second Step!« Als gieriger Konsument von Büchern über EverestExpeditionen hatte ich mich immer gefragt, warum alle Hoch alpinisten so ein Trara um ihre Körperfunktionen machten. Wo, in aller Welt, lag das Problem? Wir brauchten fast fünfzehn Minuten, um uns für unseren kurzen Ausflug nach draußen vorzubereiten. Die Sauerstoff zylinder mitzunehmen war nicht gut möglich. Vorsichtig, um nicht die Kocher umzuschmeißen, kroch ich aus dem Zeltein gang. Dabei trat ich gegen einen leeren Zylinder, den jemand draußen abgelegt hatte. Er fiel auf den Eishang, wurde immer schneller und machte sich auf den Weg nach unten. Es gab ein schepperndes Geräusch, als er auf die Felsen aufschlug, ein mal, zweimal, er überschlug sich und kullerte die Nordflanke runter, außerhalb unserer Sichtweite, bis er irgendwann auf dem Gletscher aufkam, gut 1800 Meter weiter unten. Ein Fehler. Während ich über den Eishang schlitterte, erkannte ich, daß das, was ich da tat, sehr, sehr dumm war. Ich hätte Steigeisen anschnallen und den Eispickel mitnehmen sollen. Ein Ausrut scher, und ich würde dem Sauerstoffzylinder die Flanke hinunter folgen. Mit Schaudern erinnerte ich mich daran, daß auf diese Art und Weise einer der taiwanesischen Bergsteiger vor nur wenigen Tagen auf der Südseite tödlich verunglückt war. Ich kam an einen schmalen Absatz, und es gelang mir, den Daunenanzug und die wärmende Unterwäsche runterzuzie
hen. Trotz protestierender Waden- und Oberschenkelmuskeln hockte ich eine kleine Ewigkeit da, schnaufend und nach Luft schnappend. Ein paar Meter weiter hockte Al und tat das gleiche. Auf 8300 Metern Höhe gibt es keine Scham mehr. Seit meinem Aufenthalt auf dem Sattel hatte ich jedesmal starke Schmerzen, wenn ich meinen Darm entleeren mußte. Doch diesmal war es schlimmer als sonst. Mir schossen Tränen in die Augen. Mein ganzes System war total ausgedörrt, und ich fühlte mich, als ob ich entzweigerissen werden würde. »He, Al, ich kriege hier gerade ein Baby.« Als Antwort bekam ich nur ein Grunzen. Mit den Schmerzen kam auch Blut – und nicht gerade we nig. Ich versuchte, nicht daran zu denken, was das bedeuten mußte, sondern tat es als das allen Bergsteigern wohlvertraute Leiden ab – Hämorrhoiden –, obwohl ich mir sicher war, daß ich keine hatte. Als ich die Tortur hinter mich gebracht hatte, ließ ich mich wieder ins Zelt fallen, zog mir die Sauerstoffmaske über und atmete hungrig die sauber schmeckende Luft ein. In der Wär me des Schlafsacks steckte ich meine Hände zum Aufwärmen unter die Achseln – auch dies ein unerwartet schmerzvoller Vorgang. Al kam ins Zelt zurück. »Bei dir alles in Ordnung?« »Alles okay«, antwortete ich, weil ich nicht wollte, daß er wußte, wie es mir wirklich ging. Mir war kotzübel, ich hatte rasende Kopfschmerzen, und jetzt wußte ich auch, warum Bergsteiger Panik bekommen, wenn sie in Höhen über 8000 Metern aufs Klo müssen. Al gab noch ein paar Schneeblöcke in die Wassertöpfe und rollte sich dann in seinem Schlafsack zusammen, um sich
aufzuwärmen. Nur mit Mühe konnte ich seine gedämpft aus dem Schlafsack dringenden Worte verstehen: »Meine Füße sind eingefroren.« Draußen hörte ich, wie die Sherpas ihre Ausrüstung zu sammenpackten. Gyaltsen kam über das Schneefeld zu uns rüber und rief ins Zelt: »Zwei Uhr. Fertig?« »Wir brauchen noch eine Runde Tee«, antwortete Al. »Wir brechen in einer halben Stunde auf.« Die beiden anderen Sherpas, Lhakpa und Mingma, gesell ten sich zu Gyaltsen. Sie machten sich daran, den sauber aufgeschichteten Stapel mit den Sauerstoffzylindern zu sich ten. »Auf keinen Fall gehen wir mit kalten Fingern und Zehen los«, sagte Al zu mir. »Die müssen richtig schön warm sein, wenn wir aufbrechen, sonst riskieren wir, ohne sie wiederzu kommen.« Ich zog meine Innenstiefel aus und knetete meine Füße durch, bis wieder Blut durch die Zehen floß. Die kleineren Zehen fühlten sich seltsam wächsern an, als ob die Haut dort dicker wäre, als sie es eigentlich sein sollte. Gestärkt durch eine letzte Tasse Bournvita und ein paar Ek ken Schokolade standen wir dann draußen vor dem Zelt, mit unseren Steigeisen und Neoprengamaschen an den Füßen. Über unseren »Michelin-Männchen«-Daunenanzügen trugen wir rote Berghaus-Windanzüge und darüber die Klettergurte. Unsere Bewegungsfreiheit war durch die Dicke dieser Spezi alkleidung stark eingeschränkt, und ich mußte Al bitten, mir den Klettergurt festzuzurren, damit er fest um meine Taille saß. Wir packten unsere Rucksäcke so, daß die Sauerstoffzylin
der sicher darin standen. Dabei ist, wie auch bei allen anderen Dingen in dieser Höhe, größte Vorsicht geboten. Die Sauer stoffflasche muß aufrecht getragen werden. Wenn sie im Rucksack umfällt, könnte sich der Verbindungsschlauch biegen und die Zufuhr abschneiden. Im Basislager hatte ich mir ein System zurechtgelegt, und so rollte ich jetzt meine Isomatte zusammen und steckte sie in den Rucksack. In diese Rolle ließ ich den Sauerstoffzylinder gleiten. Er wurde von dem Schaumgummi fest an Ort und Stelle gehalten, und das Ventil lag frei. Ein weiterer Vorteil dieses Systems war, daß die Isomatte sehr nützlich sein würde, wenn wir, aus welchem Grund auch immer, oben biwakieren mußten. Im Geist ging ich eine Checkliste durch, während wir unse re Ausrüstung zusammenpackten. Skibrille in der Tasche vom Sturmanzug. Ersatzgletscherbrille in einer anderen Tasche. Stirnlampe mit zwei Ersatzglühbirnen und Ersatzbatterie. Zwei Trinkflaschen zu je einem Liter, gefüllt mit einem isoto nischen, energiereichen Glukosegetränk. Walkietalkie funktio niert. Essen – Schokolade und Plumpudding – griffbereit. Neue Filme in beiden Fotoapparaten. Steigeisen-Reparaturset. Ersatzkarabiner. Abseilachter. Jumar-Steigklemmen. »Wo hast du deine Getränke hingetan?« fragte Al. »In den Rucksack.« »Du tust sie besser in deinen Daunenanzug, direkt an deine Haut.« Ich folgte Als Rat und steckte eine der Trinkflaschen in den Anzug. Die Sherpas warteten darauf, daß es losging. Mein Hirn suchte verzweifelt in meiner geistigen Checkliste nach einem fehlenden Teil, dem einen vergessenen Gegenstand, der
den Gipfelsturm zum Scheitern bringen würde. Es gab keinen. Wir hatten alles. Wortlos drehten wir den Zelten den Rücken zu und began nen unseren nächtlichen Aufstieg. Lhakpa führte, hinter ihm kamen Mingma und Gyaltsen, dann Al und ich. Nach den angespannt und hektisch verlaufenen Vorberei tungen war es jetzt eine große Erleichterung, sich endlich bewegen zu können. Diese ersten paar Schritte hatten für mich eine wahrhaft magische Bedeutung. Ich wußte, daß wir uns in einer unglaublich privilegierten Lage befanden – einer Lage, für die Tausende von Bergsteigern alles geben würden (und das ist wörtlich gemeint). Wir verließen Lager VI pünktlich nach Plan in einer Nacht, wie sie an der Nordflanke kaum perfekter hätte sein können. Wir hatten Getränke, Essen, ausreichende Sauerstoffreserven und die Unterstützung von drei sehr kräftigen Sherpas. Unse re Ausrüstung war erprobt und getestet, wir waren so fit, wie man das eben oberhalb von 8000 Metern sein kann, und litten an keinen größeren Krankheiten oder Verletzungen, die uns behinderten. Viel besser geht es kaum. Das »Wetterfenster« war offen. Zum ersten Mal erlaubte ich mir den Luxus zu denken, daß wir es vielleicht schaffen könnten. Wenn uns unser Glück jetzt nicht verließ… Wie wir später von dem ungarischen Bergsteiger erfahren sollten, starb Reinhard genau in den Minuten, in denen wir von Lager VI aufbrachen. Die Sherpas schlugen ein flottes Tempo an, als wir uns an die Überquerung des ersten Schneefeldes oberhalb des Lagers machten. Al hatte keine Probleme, Schritt zu halten, doch ich
fiel zurück. Der dünne Lichtstrahl der Stirnlampe, der im Zelt so hell gewirkt hatte, schien nun unzureichend für die Aufgabe, die vor uns lag, erleuchtete er doch nur ein lächerlich kleines Fleckchen Schnee vor uns. Ich schloß zu den anderen auf und konzentrierte mich darauf, Alans Stiefel und seine Steigeisen zu beobachten, wie sie sich in den Schnee gruben. Der Schnee war nicht einheitlich und vor allem die obere Schicht unberechenbar. Oft genug gab sie nach, so daß wir hüfttief in ein verstecktes Loch einsanken. Schnell lernte ich, mich nicht auf das beschränkte Sichtfeld, das die Stirnlampe schuf, zu verlassen. Sie verwirrte das Auge, weil sie Schatten unbekannter Tiefe warf. Felsen konnten viel größer sein, als sie wirkten. Schneelöcher hatten keinerlei Tiefe. Entfernungen waren schwer abschätzbar. War Lhakpas Licht zehn Meter vor mir… oder fünfzig? Ich hatte keine Ahnung. Wir kamen an mehreren alten Zeltplattformen vorbei, die von früheren Expeditionen zurückgelassen worden waren. Alle waren mit dem üblichen zerfetzten Zeltmaterial, den zerborstenen Zeltstangen und leeren Sauerstoffzylindern übersät. Eine Plastiktüte für Nahrungsmittel verfing sich in meinen Steigeisen. Ich schleifte sie hinter mir her, bis sie mir so lästig wurde, daß ich stehenblieb, um sie zu entfernen. An jedem einzelnen dieser verwüsteten Zeltplätze hielt Al, der Bergdetektiv, einen Augenblick lang an und beleuchtete mit dem Licht seiner Stirnlampe die Überreste. Selbst jetzt, an unserem Gipfeltag, war seine Faszination dafür so ausgeprägt wie sonst auch. Der Aufstieg führte uns Schritt für Schritt das Schneefeld hoch und dem weitaus schwierigeren Gelände des Gelben
Bandes entgegen. Ständig mußte ich an unsere begrenzten Sauerstoffvorräte denken, und so versuchte ich mich darauf zu konzentrieren, meinen Atem zu kontrollieren. Ich wußte vom Tauchtraining, wie leicht man Luft verschwendet. Doch das Gelände der Nordflanke variiert sehr stark, so wohl in der Neigung als auch in seiner Beschaffenheit. Steile Eisfelder wechseln sich mit flacheren Steinplatten ab. An spruchsvolle Felsabschnitte enden in langen Traversen. Einen regelmäßigen Atemrhythmus zu finden ist praktisch unmög lich. Die meiste Zeit hechelte und japste ich unkontrolliert nach Luft. Nach einer Stunde fühlte ich mich etwas besser. Die Kopf schmerzen und die Übelkeit hatten mit der konzentrierten körperlichen Anstrengung des Aufstiegs nachgelassen. Meine Füße und Hände fühlten sich warm an, und das Gewicht des Rucksacks war nicht so unerträglich, wie ich befürchtet hatte. Als wir das obere Ende des größeren der beiden Schneefel der erreichten, trafen wir auf das erste bloße Felsgestein. Ich beobachtete voller Schrecken, wie die drei nadelfeinen Lichter der Sherpas sich eine senkrechte Wand hochzubewegen schie nen. Sicher eine optische Täuschung. Ich hatte niemanden jemals davon reden hören, daß man vor dem Grat wirklich und wahrhaftig klettern muß. Doch als ich am Fuß des Felsab schnitts stand, rutschte mir das Herz in die Hose. Er war steil. Sehr steil. Ich hatte keinerlei Erfahrung mit nächtlichen Klette reien. Vor Angst krampfte sich mir der Magen zusammen. Wir waren im Begriff, das Gelbe Band zu überqueren. Schlimmer noch, wir mußten mit unseren Steigeisen über Felsgestein klettern. Das war, als versuchte man, Treppen auf Stelzen hochzusteigen. Die Zackenkrone der Steigeisen wirkt
wie eine unerwünschte Plattformsohle, die den Fuß nicht in wirklichen Kontakt mit dem Fels kommen läßt. Mit Steigeisen über Fels zu gehen erhöht die Gefahr, den Halt zu verlieren oder sich den Knöchel zu verstauchen. Wenn es irgendwo eng wird und die Füße dicht beieinander aufgesetzt werden müs sen, sind sie noch gefährlicher. Man kann sich mit dem Steig eisen des einen in der Neoprengamasche des anderen Beines verheddern – ein Fehler, der unweigerlich zu einem schweren Sturz führt. Auf jedem anderen Berg hätten wir wahrscheinlich haltge macht, um die Steigeisen abzulegen, doch hier war das nicht möglich. Auf der Nordflanke des Everest kann man nicht jedesmal, wenn man von einem Schneeuntergrund auf einen felsigen Untergrund stößt, seine Steigeisen abschnallen, denn das würde Stunden der sowieso sehr knapp bemessenen Zeit in Anspruch nehmen und so gut wie sicher Erfrierungen an den Händen nach sich ziehen. Ich machte eine kurze Pause, während die anderen zum Felsband aufstiegen. Ich schaltete meine Stirnlampe aus und wartete, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Am Himmel konnte ich weiterhin keine Wolken sehen, allerdings war auch der Mond nicht auszumachen. Die einzige Lichtquelle waren die Sterne, die hier so hell funkelten, wie ich es noch nirgendwo gesehen hatte. Die wuchtige Masse des Changtse lag jetzt weit unter uns. Ich konnte gerade noch die kurvige Silhouette seines bogenförmigen Grates ausmachen. Weiter unten – Tausende von Metern weiter unten – konnte man schwach die großen Gletscher erkennen, deren Schatten vom stumpfen, metallischen Grau des Sternenlichts gegen die tiefen Talwände reflektiert wurden. Ganz Tibet lag unter uns,
und man konnte kein einziges elektrisches Licht sehen. Ich zog meine GoreTex-Überhandschuhe aus und faßte an meine Sauerstoffmaske. Eis hatte sich vorne am Einsaugventil gebildet und verstopfte die Zuleitung. Vorsichtig brach ich den Eisblock weg. Dann machte ich mich an den Aufstieg. Meine Steigeisen kratzten mit lautem, metallischem Quietschen am Fels. Die Route verlief über eine Reihe von Felsabsätzen, die von engen Spalten unterbrochen wurden. Es war eine elende Kletterei, bei der sowohl starke Bein- als auch Armarbeit gefordert war, um sich über hohe Felsstufen nach oben zu ziehen. Mehr als einmal mußte ich ein Knie in eine Spalte rammen, um Halt zu finden, oder mich auf meinem Bauch hoch auf einen Balkon winden. »Das ist wohl der First Step«, rief ich zu Al hinauf. Er ant wortete nicht, und Stunden später, als wir vor dem wirklichen First Step standen, erkannte ich, wie sehr ich daneben getippt hatte. Wir erreichten eine Plattform und gönnten uns ein paar Mi nuten Pause, bevor wir uns an den nächsten Abschnitt machten. Die Aufstiegsroute war von verwitternden Seilen übersät. Einige waren zerfetzt, andere verdreht und wiederum andere von der intensiven ultravioletten Strahlung, die oberhalb von 8000 Metern herrscht, völlig ausgebleicht. Al sah sie sich mit erfahrenem Auge an, während er leise vor sich hin murmelte. Er wählte das beste aus dieser jämmerlichen Sammlung aus, hängte seine Jumar-Steigklemme ein und machte sich auf den Weg nach oben, die Klemme bei jedem Schritt nachschiebend. Ich wartete, bis er eine gewisse Höhe erreicht hatte, und folgte
ihm dann. Die Steigeisen machten jede Bewegung zum Alp traum, weil man sie in Spalten klemmen oder auf Vorsprünge stellen mußte, um voranzukommen. Häufig tastete ich wild mit meinen Füßen nach einem Tritt, wobei die Metallzacken der Steigeisen das brüchige Gestein zu feinem Splitt zermalm ten. Ein steter Hagel kleiner Steine und gelegentlich einmal ein faustgroßer Brocken rieselten von oben, wo die Sherpas klet terten, auf uns nieder. Im Normalfall läßt sich so etwas leicht vermeiden – es sei denn, man ist ein wirklich ungeschickter Bergsteiger –, doch hier oben konnte jeder Schritt Geröll lösen. Unsere Ohren stellten sich rasch darauf ein, die Größe eines sich nähernden Geschosses abzuschätzen, wenn es die Fels wand nach unten rumpelte. »Vorsicht unten!« Ein flacher, aktentaschengroßer Stein schlitterte die Flanke hinunter und flog an uns vorbei in die dunklen Tiefen. Nach sechzig oder siebzig Metern Aufstieg machte ich mei nen ersten Fehler. Als ich mich mit dem Fuß abdrückte, um meinen Körper auf einen Felsblock zu hieven, rutschte das Steigeisen plötzlich unter mir weg. Ich verlor das Gleichge wicht und fiel mit meinem Knie auf einen scharfkantigen Felsabsatz. Der Daunenanzug fing die größte Wucht ab; trotz dem dauerte es einige Minuten, in denen ich Sterne sah, bis ich weitersteigen konnte. Während des Sturzes – wie auch bei vielen anderen Gele genheiten – hing mein gesamtes Körpergewicht am Seil. Nach weiteren zwanzig Metern Aufstieg gelangte ich an den Verankerungspunkt des Seiles, an das ich mich einge hängt hatte. Als ich mit meiner Stirnlampe auf den Siche
rungspunkt leuchtete, traute ich meinen Augen nicht: Das Sicherungsseil war mit einem einzigen rostigen Metallhaken an der Wand befestigt, und dieser Haken saß auch noch un sachgemäß verankert und höchst wackelig in einer Spalte. Aus Neugier prüfte ich die Haltbarkeit der Verankerung. Der Haken bewegte sich. Ein leichter Zug, und ich hielt ihn zwischen den Fingern. Wie benommen starrte ich ein paar Sekunden auf das Ding in meiner Hand. Ich konnte nicht glauben, daß mein Sturz durch dieses lächerliche Teil abge fangen worden war. Während der ganzen Expedition hatte mich das Wissen be ruhigt, daß an den technisch anspruchsvolleren Kletterpartien Fixseile befestigt waren. »Komm erst mal in Lager VI an, dann kannst du dich in die Fixseile einhängen«, lautete ein oft wiederholtes Mantra, das einem so etwas wie Sicherheit geben sollte. In diesem einen Augenblick, als der Felshaken aus der Spalte glitt und mein Herz stillzustehen schien, war mein Vertrauen in die Fixseile unwiderruflich dahin. Ich beschloß, mich so wenig wie irgend möglich auf sie zu verlassen. Das Gelände wurde flacher, und ich schloß zu Al und den drei Sherpas auf, die weiter oben auf mich warteten. Als ich bei ihnen angekommen war, setzten sie sich wieder in Bewe gung und arbeiteten sich eine Reihe von Stufen hoch, die in den windgepreßten Schnee gehauen worden waren. Am nächsten steilen Abschnitt führte uns wiederum Lhakpa über die Felsen. Er stieg kraftvoll und zügig bergauf, und bald schon war der Lichtschein seiner Stirnlampe außer Sichtweite. Ich mußte Al um einen Gefallen bitten. »Al, kannst du mich vorangehen lassen? Ich fühle mich als letzter nicht besonders wohl.«
»Kein Problem.« Al hängte seine Schlinge aus dem Seil aus und ließ mich vorbei. Es war eine großzügige Geste, für die ich ihm sehr dankbar war. Jetzt, wo Al am Ende des Seils war, ging ich den nächsten Felsabschnitt mit viel mehr Zuversicht an. Das hatte zum einen psychologische Gründe, zum anderen war es aber auch die praktische Hilfe, die er mir gab, indem er mit seiner Stirn lampe mögliche Stellen beleuchtete, die als Halt dienen konn ten. Ich merkte, daß ich mich viel leichter und sicherer voran bewegte. Wie überall auf dem Everest war das Felsgestein hier brü chig und unzuverlässig. Ein scheinbar fester Halt brach einem unter den Händen weg, Felsblöcke erbebten unter dem Ge wicht eines Beines, und wir hatten den Eindruck, ständig in einem Regen kieselsteingroßer Brocken zu stehen. Nur Zentimeter von meiner Hand entfernt fiel plötzlich ein Stein von der Größe eines Telefonbuches aus der Nacht her aus. Mit Wucht kam er auf und zersplitterte in Hunderte kleinerer Fragmente. Ich bekam eine ganze Wolke von Stein splittern ab. Gleichzeitig erscholl von oben Mingmas Warnruf. Ich sah, wie er mit seiner Stirnlampe den Berg hinunterleuch tete. »Bist du okay?« »Ja.« Wir gingen weiter. In der Zwischenzeit hatte ich jegliches Gefühl für unsere genaue Position auf der Flanke verloren. Vom RongbukGletscher aus erscheint die Entfernung zwischen Lager Sechs und dem Nordostgrat nicht besonders groß. Doch in Wirklich keit war es eine beträchtliche Strecke. Viele Stunden waren vergangen, seit wir das Lager verlassen hatten, und mein
Körper fühlte sich bereits an, als hätte ich einen ganzen Tag anstrengenden Aufstiegs hinter mir. Immer noch gab es nicht das leiseste Anzeichen dafür, daß es bald dämmern würde. Ich sehnte mich allmählich nach den ersten Sonnenstrahlen. Wir begannen jetzt mit dem Teil des Aufstiegs, der uns nach meiner Schätzung über den letzten Abschnitt des Gelben Bandes führen mußte. Noch mehr Plackerei auf einem Steil hang über eine weitere erodierte Verwerfung der Gesteins schicht. Das Ganze begann an einer sich weit hinziehenden, hohen Stufe von mindestens einem Meter, die in einem Felsab satz endete. Wieder eine Gelegenheit, bei der man sich, ob man wollte oder nicht, auf das Fixseil verlassen mußte. Dann ging es etwa eine halbe Stunde weiter bergauf, begleitet von dem höllischen Geräusch unserer Steigeisen auf dem Fels. Wir hielten alle fünf Minuten an, um wieder zu Atem zu kommen. Als ich mich einen Moment lang umdrehte, sah ich, daß Al den Abschnitt ohne Sicherungsseil hochkletterte. Genau wie ich hatte auch er keinerlei Vertrauen zu den Fixseilen, doch anders als ich besaß er genug Hochgebirgserfahrung, um die Route sicher und ohne Sturz zu bewältigen. Als der Untergrund ebener wurde, begannen wir eine wei tere Querung nach rechts über ein schmutziges Schneefeld. Ein leuchtend rotes Seil lag darüber – das neueste Sicherungs seil, das uns bislang begegnet war. Als ich mich daran ein hängte, fragte ich mich, wer es wohl gelegt hatte: die Inder oder vielleicht die Japaner? Das Seil verlief über eine Spalte und dann hoch bis zu ei nem geneigten Felsplateau von der Größe eines Tennisfeldes. Als ich es überquerte, wurde mir klar, daß wir die erste Etappe
unseres Aufstiegs hinter uns hatten. Die Schrecken der nächtlichen Kletterei hatten ein Ende, als wir die letzten Schritte bis zum Nordostgrat bewältigt hatten. Die brüchigen Felsen des Gelben Bandes waren steiler, kom plizierter und viel anstrengender gewesen, als ich sie mir vorgestellt hatte. Sie in der Dunkelheit, allein vom glühwürm chenartigen Lichtschein der Stirnlampen erleuchtet, zu erklet tern war ein regelrechter Alptraum gewesen. Jetzt, wo uns die ersten Strahlen des Morgenlichts die Route den Grat entlang erhellten, langte ich nach oben und schaltete meine Stirnlampe aus. Wenn alles gutging, erreichten wir innerhalb der nächsten sechs Stunden den Gipfel. Die drei Sherpas standen über ihre Eispickel gelehnt, fremdartige Wesen mit ihren Brillen und Sauerstoffmasken. In den Nachtstunden hatten sie ein mörderisches Tempo ange schlagen und ruhten sich nun aus, während wir warteten, daß Al uns auf den Grat folgte. Einer der Sherpas – Lhakpa – hatte den Gipfel schon einmal erklommen, doch ich wußte, daß die anderen noch nie so hoch gewesen waren wie wir jetzt. Alle hatten regelrechte Stalakti ten, die mehrere Zentimeter lang waren, am unteren Rand ihrer Sauerstoffmasken hängen, wo der ausgeatmete Dampf zu Eiszapfen gefroren war. Mingma hatte Probleme mit seiner Maske. Ich sah, daß er sie abnahm, um den gefrorenen Schlauch zu enteisen, und mußte daran denken, daß uns die Expeditionsärzte gewarnt hatten, wir wären innerhalb von dreißig Minuten bewußtlos, wenn aus irgendeinem Grund unser Sauerstoffgerät ausfallen sollte. Mein Sauerstoff floß zum Glück noch, doch die hartgefrore ne Schicht über der Maske bohrte sich unangenehm in die
Haut auf dem Nasenrücken, die schon leicht wund war. Ich lüpfte sie für einen kurzen Moment von meinem Gesicht, um den Druck loszuwerden. Dann sog ich wieder tief den Sauer stoff ein und betete inständig, daß ich keine Probleme mit meinem Gerät bekommen würde. Mit der Morgendämmerung kam auch der Wind, unser größter Feind. Als Al sich vorsichtig zu uns vorarbeitete, hoben die ersten paar Windböen des Tages an und wehten spielerisch um die Nordflanke. Wolken aus Eiskristallen flogen durch die Luft. Während wir warteten, daß Al wieder zu Atem kam, schob ich mich vorsichtig zur Gratschneide vor und blickte über die scharf abfallende Kante die KangshungWand – also die Ostflanke – hinunter. Es kann nur wenige Anblicke auf dieser Welt geben, die furchterregender sind. Von meinem Standort aus war die Kangshung-Wand eine glatte, 3000 Meter tiefe Eiswand, die unter mir fast senkrecht abfiel. Riesige Eisfelder – sogenannte Hängegletscher – sitzen gefährlich locker an den Wänden. Die ganze Flanke ist von Rissen und Spalten durchsetzt. Man brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie die ganze Flanke – all diese Milliarden Tonnen Eis – ihren Kampf gegen die Schwerkraft aufgab und in einer kolossalen Lawine in die Täler weiter unten donnerte. Als Mallory die Kangshung-Wand während der britischen Erkundungsexpedition von 1924 zum ersten Mal erblickte, erklärte er sie für unbesteigbar. Er würde sie, so seine Worte, »anderen überlassen, die weniger weise« waren als er. Jetzt, wo ich die Flanke hinunterschaute, verstand ich genau, was er meinte. Daß sie doch bestiegen worden ist – und zwar über viele verschiedene Routen –, halte ich für eine schier unglaub
liche Leistung. In der Kangshung-Wand sind einige sehr merkwürdige Winde zu Hause, beziehungsweise sie entstehen hier. Bei Tagesanbruch kamen wir in den Genuß eines dieser Winde. Als ich die Flanke hinunterblickte, fegte eine brodelnde Masse von Eiskristallen in senkrechter Fahrt auf mich zu. Es war, als ob man direkt in die gähnende Öffnung des Kühlturms eines Kraftwerks blickte. Es handelt sich um den Schwanz des massiven »Rotors«, den der Everest aus den ständigen, aus nordwestlichen Richtungen wehenden tibetischen Stürmen bildet. Wenn die Eiskristalle den Grat hochwehen, werden sie in einer tödlichen Fahne, die ganze fünfzig Kilometer lang sein kann, nach Südosten abgelenkt. Es gibt nur wenige Bergsteiger, die bis zum Gipfel vordrin gen, wenn die Fahne des Everest weht. Lhakpa rief mir etwas zu, und der Bann war gebrochen. Ich kehrte zur Gruppe zurück. Jetzt begann unser Aufstieg entlang des eigentlichen Grats. Von unserem Standort aus sah das Ganze höchst kompliziert aus – wie der Schwanz eines Drachens, ein Auf und Ab aus felsigen Zacken und Stufen. Zwei dieser Stufen, der First Step und der Second Step, gelten als die größten Hindernisse auf der Nordroute, doch was mir am meisten Sorgen bereitete, war die Länge des Grats. In London hatte ich einmal Crag Jones getroffen, einen der vier britischen Bergsteiger, die den Gipfel über die Nordflanke bestiegen haben. Wir saßen in einem Cafe im Londoner Stadt teil Soho vor zwei Tassen Cappuccino, während Crag seine Fingerknöchel knacken ließ und seine Ärmel hochrollte, um Popeye-Muskeln und Venen zur Schau zu stellen, die etwa so
dick wie Kletterseile waren. »Der First Step und der Second Step sind problematisch, da gibt es keine Frage«, erzählte er mir, »aber das Hauptproblem liegt in der Länge des Grats. Wenn du erst einmal auf dem Grat stehst, muß dir klar sein, daß du unter Umständen weite re zwölf Stunden brauchst, um auf den Gipfel und wieder zurück zu Lager VI zu kommen. Zwölf Stunden. Das ist ein verflucht langer Tag!« Hier konnte ich Crag nur recht geben. Für mich war es jetzt schon ein verflucht langer Tag, und wir hatten erst einen kleinen Teil der Route hinter uns. Lhakpa kam auf mich zu und rief mir undeutlich durch die Maske zu: »Wir schnell gehen. Sehr schnell. Okay?« Er klopfte auf sein Handgelenk, um mir zu bedeuten, daß uns nicht mehr viel Zeit blieb. Wir waren jetzt in einer Höhe von 8600 Metern und damit höher als alle anderen Menschen auf diesem Planeten. Und jede Stunde starben wir ein wenig mehr. In der Todeszone muß man schnell sein, um am Leben zu bleiben. Jetzt, im vollen Tageslicht, stiegen wir längs der mit alten, teils zerfetzen Seilen gesicherten Route auf, die sich den Grat hochschlängeln – das Vermächtnis früherer Expeditionen. Endlich lagen die langen Nachtstunden hinter uns, und ich spürte leisen Optimismus in mir hochsteigen. Ich fühlte mich stark. Eine halbe Stunde später umrundeten wir einen kleineren Felsen und stießen auf die Leiche des ersten Inders. Wir hatten gewußt, daß die Leichen der drei noch hier oben auf dem Grat lagen, wo sie vor wenigen Tagen gestorben waren, doch blödsinnigerweise hatte ich das komplett vergessen.
Und hier lag jetzt, zum Teil unter einem überhängenden Felsen, der erste Körper. Ringsum hatte sich ein nahezu per fekter Kreis aus windverwehtem Schnee gebildet. Al rief durch seine Maske: »Muß einer der Inder sein.« Wir mußten über seine ausgestreckten Beine steigen, um unseren Weg über den Grat fortzusetzen. Die Sherpas standen Seite an Seite, der Anblick des toten Mannes schien sie festgenagelt zu haben. Sie ließen ihre Köpfe hängen, als sprächen sie ein Gebet. Später kam mir der Ge danke, daß sie vielleicht wirklich gebetet hatten. Ich verspürte ein fast unwiderstehliches Bedürfnis, dem toten Bergsteiger ins Gesicht zu blicken. Welcher Ausdruck war in den letzten Augenblicken seines Lebens darauf erstarrt? Entsetzen? Ein Lächeln? (Es heißt, daß das Endstadium der akuten Höhenkrankheit einem ein Gefühl des Wohlbefindens vorgaukelt.) Doch sein Kopf lag weit unter dem Felsvorsprung, der Hals geneigt, so daß sein Gesicht gegen den Fels ruhte. Ich konnte lediglich den Rand der Sauerstoffmaske erkennen. An die Maske war der wertvolle, lebensspendende Schlauch zum Sauerstoffzylinder angeschlossen, der aufrecht gegen einen Fels gelehnt war. Es war ein orangefarbener Zylinder russi scher Herkunft – wie unsere. Ich stützte mich auf meinen Eispickel und beugte mich dar über, um einen besseren Blick auf die Meßanzeige oben auf dem Zylinder werfen zu können. Sie stand auf Null. Selbst wenn er gestorben war, bevor der Zylinder leer war, hätte dieser seinen schwachen Sauerstoffstrom weiterhin in die Atmosphäre abgegeben, bis nichts mehr davon übriggeblieben wäre.
Er war nur leicht bekleidet, mit einem dünnen Vliesoberteil, blauen GoreTex-Bergsteigerhosen und einem Paar gelber Koflach-Plastikstiefel, die unseren sehr ähnlich waren. Sein Rucksack lag nicht weitab, zusammengesunken und leer. Einen Moment lang versuchte ich das Rätsel zu lösen. Was war aus seiner Ausrüstung geworden? Aus seinem Daunen anzug? Aus seinen GoreTex-Handschuhen? Wir wußten, daß das indische Team bestens ausgerüstet war. Das ließ nur zwei Möglichkeiten zu: Entweder hatte er sich seine Kleidung in den letzten Stadien seines Deliriums selbst vom Leib gerissen, oder jemand hatte sie dem Toten gestohlen. Irgendwie fand ich das erste Szenario erträglicher. Die Tragödie um das indische Team stand mit im Mittel punkt meines Films. Die Inder waren durch den Sirenenruf des Everest verführt worden, hatten ihre eigenen Grenzen überschritten und dann nicht mehr genügend Kraftreserven gehabt, um im sich zusammenbrauenden Sturm wieder nach unten abzusteigen. Das Gipfelfieber hatte sie getötet. Doch ich brachte ich es nicht über mich, den toten Mann, der so mitleiderregend zu unseren Füßen lag, zu filmen. Mir war bewußt, daß ITN und Channel 4 diesen anschauli chen Beweis, daß der Everest ein Killer war, haben wollten, doch ich konnte nicht über meinen Schatten springen. Selbst Kriegsopfer bekommen schließlich ein Grab – und wenn sie von einem Bulldozer hineingeschaufelt werden. Dieser Inder aber würde genau da bleiben, wo er jetzt lag, festgefroren für die Ewigkeit. Sein Grab konnte nicht trostloser sein, und sich vorzustellen, daß seine Familie und seine Freunde das Ganze sehen würden, war mir unerträglich. Als wir über die Beine der Leiche stiegen, um unseren Weg
fortzusetzen, überschritten wir eine unsichtbare Linie im Schnee – und eine unsichtbare Linie in unseren Köpfen: Jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Höhe ist ein Killer. Kein menschliches Leben, überhaupt keine Art von Leben, gehört in die Todeszone, und indem wir über den toten Körper stiegen, trafen wir bewußt die Entscheidung, weiter in sie vorzudrin gen. Die Leiche war ein eindringliches Mahnmal dafür, daß unser Leben jetzt ausschließlich von unserer Ausrüstung, unserer Kraft und unserem Glück abhing. Mir kam in den Sinn, daß der Inder jetzt in Harmonie mit diesem Ort war, und daß wir, die wir noch atmeten, die Ein dringlinge waren. Jeder Ort oberhalb von 8000 Metern gehört den Toten, denn in diesen Höhen kann kein menschliches Leben existieren. Wie wir da so in unseren dicken Anzügen, die wie Raumanzüge aussahen, dahinstapften, begleitet vom mechanischen Zischen unseres Sauerstoffsystems, kam ich mir zum ersten Mal in meinem Leben auf meinem eigenen Planeten wie ein Außerirdischer vor. Wir gingen weiter in Richtung Grat. Gegen 7 Uhr erreichten wir den First Step. Er war nicht nur höher – etwa zwanzig Meter hoch –, sondern auch technisch anspruchsvoller, als ich erwartet hatte. Da er vom gewaltige ren Fels des Second Step überschattet wird, neigen Bergsteiger dazu, ihn als unbedeutendes Hindernis abzutun, doch als ich so vor ihm stand und durch meine Skibrille, die innen bereits mit einer dünnen Eisschicht beschlagen war, an ihm hoch blickte, wirkte er alles andere als ermutigend oder harmlos. Wir konnten die Steigeisen nicht abschnallen, um uns an das wechselnde Gelände anzupassen, denn das Ab- und Anschnallen hätte leicht Erfrierungen an den Fingern zur
Folge haben können (hier oben herrschten etwa -40 °C). Abge sehen davon hätte es zuviel Zeit in Anspruch genommen. Die drei Sherpas gingen voraus, ich folgte. Etwa drei Meter der Route führten durch eine eisgefüllte Spalte auf der linken Seite des Felsens. Dann kam ein Quergang bis zu einem felsi gen Absatz und schließlich eine gefährliche Kletterpartie zwischen zwei abgerundeten Felsen. Ich rammte die vorderen Metallzacken meiner Steigeisen in eine winzige Felsspalte und drückte mich ab… mein ganzes Gewicht lag jetzt auf diesem winzigen und unsicheren Tritt. Ich hielt ein paar Augenblicke lang inne, um nach der An strengung wieder zu Atem zu kommen, und ging dann den schwierigsten Teil an. Für den Abschnitt war ein kleiner Balanceakt notwendig, mit dem ich auf Meereshöhe keine Probleme gehabt hätte. Doch hier oben, in einer Bekleidung, die jedes Gefühl für den Fels verhinderte, und zusätzlich noch mit der Aussicht, als Strafe für den kleinsten Fehler die Nordflanke 8000 Meter weit hinabzustürzen, kam er mir ziemlich halsbrecherisch vor. Ich klinkte meine Jumar-Steigklemme, so hoch ich konnte, an das eine der vielen Seile ein, das am stabilsten wirkte. Es verlieh mir ein gewisses Gefühl der Sicherheit, mich im Falle eines Sturzes an einem Seil zu wissen, doch das war eher ein psychologischer Vorteil als ein tatsächlicher. Der Kletterer, der unglücklich genug wäre, hier zu stürzen, würde hilflos im leeren Raum unter dem überhängenden Abschnitt des Felsens baumeln. Vorausgesetzt natürlich, das Seil hielt. Ich schob mich bis zu der exponierten Stelle vor, hievte ein Bein über die glatte Kante und setzte den Fuß auf dem Tritt auf, der sich glücklicherweise auf der anderen Seite befand.
Ich konnte nicht sehen, ob der Tritt sicher war, ich mußte es vielmehr spüren… das Bein befand sich außerhalb meines Blickfeldes. Instinktiv glitt meine Hand nach oben und versuchte, einen Halt zu finden. Ein vorsichtiger Zug, und ich hielt ein Fels stück in der Größe einer Zigarettenpackung in der Hand. Ich warf es die Nordflanke hinunter. Wenige Menschen können sich vorstellen, daß der Everest ein brüchiges Wrack ist. Er sieht aus, als wäre er aus Granit, in Wirklichkeit besteht er aus lockerem Kalkstein… dem denkbar schlechtesten Gestein, auf dem man klettern kann, egal, in welcher Höhe. Ich schloß die Hand um einen Absatz über meinem Kopf, atmete einmal tief durch und lehnte mein ganzes Gewicht auf den Fuß, den ich nicht sehen konnte. Dann schwang ich über und um den Fels herum auf die andere Seite in Sicherheit. Lhakpa wartete dort auf mich. Sein Daumen zeigte nach oben, und ich antwortete ihm mit der gleichen Geste. Ein weiteres Hindernis lag hinter uns. Ein weiterer Schritt in Richtung Gipfel war getan. Der Wind wurde jetzt merklich heftiger, und wir hatten immer noch nicht mehr als etwa die Hälfte des Grats hinter uns. Wir legten an Tempo zu. Die Eiskristallfahne, die von der Kangshung-Wand hochwehte, zog jetzt stärker auf unserer Linken hoch – ein Zeichen, das wir nicht so einfach ignorieren durf ten. Jedesmal, wenn wir eine kurze Verschnaufpause einleg ten, blickte ich in Richtung Norden, also in die Richtung, aus der ein Sturm aufziehen könnte. Wolken bewegten sich in großen Haufen mit hoher Geschwindigkeit auf uns zu, doch
bislang sah das Ganze nicht übermäßig bedrohlich aus. Ich war so mit dem Aufstieg beschäftigt gewesen, daß ich meinen Fotoapparat vollkommen vergessen hatte. In der kleinen Olympus steckten eine brandneue Lithiumbatterie und ein leerer Diafilm. Ich blinzelte durch den Sucher und schoß zwei Fotos von dem Gelände vor uns und eines von Al. Dann machten wir uns eilig wieder auf den Weg. An mehreren Stellen führte uns die Route bis direkt an die Gratschneide heran. In diesen Situationen mußten wir die Windböen abwarten, bevor wir uns über das Eis wagen konn ten. Früher war es mir unbegreiflich gewesen, wie Bergsteiger über den Grat geweht werden konnten. Jetzt konnte ich mir das mühelos vorstellen. In einer der vielen Theorien über Mallorys und Irvines Ende wird vermutet, daß sie über den Grat die Kangshung-Wand hinuntergestürzt sind. Vielleicht waren ihre Leichen oder Geister ganz nah? An einem besonders haarsträubenden, nur wenige Meter langen Teil des Grats mußte man auf etwas steigen, das wie eine Wächte aus losem Eis mit einem Spalt in der Mitte aussah. Die Sherpas, die leichter und beweglicher waren als wir, überquerten das Stück mühelos. Mir dagegen rutschte bei jedem vorsichtigen Schritt das Herz in die Hose in der Erwar tung, daß die Wächte unter mir wegbrechen und ich, am Seil baumelnd, über der Kangshung-Wand hängen würde. Das Eis hielt. Gegen halb neun Uhr morgens erreichten wir den Second Step. Das ist ein weiterer Felsvorsprung, allerdings steiler und mehr als doppelt so hoch wie der First Step. Es gibt keinen Weg daran vorbei, man muß an ihm hoch. In den Achtzigern hatte eine chinesische Expedition eine
leichte Kletterleiter am schwierigsten Teil dieses Felsvor sprungs angebracht, die jedoch kürzlich in einem Sturm zer stört wurde. Die Inder und ihre Sherpas hatten eine neue Leiter befestigt. Auf mich hatte der Gedanke an diese Leiter beruhigend gewirkt. Jeder konnte eine Leiter hochklettern… oder etwa nicht? Allein durch die Tatsache, daß es diese Leiter gab, war mir der ganze Second Step nicht mehr so schwierig vorgekommen. Es sollte sich jedoch herausstellen, daß die Leiter, von der ich bislang angenommen hatte, daß sie eine große Hilfe sein würde, ein Problem darstellte. Am Fuß des Second Step mußte ich zwei unerwartete Schläge wegstecken: Zum einen entdeckte ich, daß meine beiden Trinkflaschen mit Saft, den ich in der vorangegangenen Nacht in Lager VI so mühevoll aus Schnee geschmolzen hatte, zu einem soliden Eisblock gefroren waren. Sogar die Flasche, die ich vorne in meinem Daunenanzug direkt über der Haut gelagert hatte, war gefroren. Zu diesem Zeitpunkt betrachtete ich diesen Umstand lediglich als eine kleinere Unannehmlich keit. Einige Stunden später sollte ich feststellen, welche ern sten Auswirkungen er haben sollte. Auch Al überprüfte seine Flaschen. Sie waren ebenfalls ge froren. Das bedeutete, daß wir für den ganzen Tag keinen Tropfen Flüssigkeit haben würden. Viele erfahrene Hochalpi nisten wären an diesem Punkt umgekehrt. Die zweite unerwartete Wendung war, daß Al sich zu mir beugte und sagte: »Öffne meinen Rucksack und dreh den Sauerstoff auf vier Liter pro Minute.« Er drehte sich um. Ich nahm meine Überhandschuhe ab und ließ nur die Fingerhandschuhe an. Dann öffnete ich die
Schnallen seines Rucksacks und fand innen das Reglerventil für die Sauerstoffzufuhr. In den engen Grenzen seines Ruck sacks gestaltete sich das Ganze zu einem kniffligen und lang wierigen Unterfangen. Ich stellte den Regler auf vier und machte den Rucksack wieder zu. In Alans System wurde jetzt doppelt soviel Sauerstoff ge pumpt wie in meines. Mein Regler war auf zwei Liter pro Minute eingestellt. Ich konnte zwar sein Verlangen, mehr Sauerstoff für den Second Step zur Verfügung zu haben, verstehen, trotzdem überraschte mich seine Bitte. Wir wußten beide, welche Risiken es mit sich brachte, die Sauerstoffzufuhr zu hoch einzustellen. Erstens ist die Flasche doppelt so schnell leer, und zweitens haut es einen schlimmer um, wenn man seinen Körper auf mehr Sauerstoff einstellt und plötzlich keinen mehr hat. »Okay. Steht auf vier«, rief ich ihm zu. Einen flüchtigen Augenblick lang meinte ich mehr als nur Müdigkeit aus Alans Bewegungen herauszulesen. Hatte er größere Schwierigkeiten, als er uns gegenüber zugab? Unsere zunehmende Verwirrung konnte man leicht daran erkennen, daß keiner von uns daran dachte, die zwei Trinkfla schen mit ihrem gefrorenen Inhalt zurückzulassen. So kletter ten wir mit zwei Kilo überflüssigen Gewichts auf unseren Rücken den technisch schwierigsten Teil der Nordroute hoch. Die ersten sechs Meter waren recht einfach. Wir zwängten uns durch einen eisgefüllten Kamin, der zu einem schwächer geneigten Absatz mit einer gegen den Felsen hin auslaufenden Schneebank führte. Ich benutzte die Jumar-Steigklemme für den Aufstieg und schob sie so hoch, wie ich konnte. Dann zog ich mich zu der Stelle hinauf, an der ich sie am Seil festge
klemmt hatte. Jemand hatte diesen unteren Teil mit einem neuen, neun Millimeter starken Seil gesichert, was eine große Hilfe war. Die Steigeisen kratzten über den Stein, während ich verbissen nach einem Tritt in den Felsstufen suchte. Ich kam mir vor wie eine Katze, die mit ihren Krallen einen Baum hochklettern will und dabei kläglich Schiffbruch erleidet. Plötzlich stand ich vor einer großen Felsstufe. Ich klemmte meinen Fuß rechts von mir in ein überstehendes, wellenförmiges Gebilde aus Fels, verfluchte die Steigeisen, und schaffte es gerade so, meinen Körper auf den Absatz hochzuhieven, der zur Leiter führte. Ich legte eine lange Verschnaufpause ein. In meinem Kopf pochte das Blut laut gegen meine Schläfen. Mein Puls raste wie nie zuvor. Meine Atmung war hektisch und praktisch außer Kontrolle. Einen panikerfüllten Augenblick lang glaubte ich, mein Sauerstoffgerät hätte mich im Stich gelassen. Doch dann bemerkte ich, daß ich immer noch das beruhigende Zischen des Sauerstoffs hörte, und zwang mich zur Ruhe. Ich stand mehr oder weniger genau an der Stelle, an der Mallory und Irvine zuletzt lebend durch ein Fernrohr vom Lager auf dem Nordsattel aus gesehen worden waren. Ihr Aufstieg von 1924 war der härteste und vielleicht auch der heldenhafteste aller Versuche, die vor dem Krieg auf dem Everest gestartet worden waren. Für sie hatte keine Leiter am Second Step bereitgestanden. Vielleicht war bei ihrem Versuch der eine abgestürzt und hatte den anderen mit sich in den sicheren Tod gezogen. Den Schrecken dieses letzten Augenblicks hatte ich mir nie richtig vorstellen können. Jetzt aber sah ich mit eigenen Augen, wie
leicht man von diesem Punkt aus zu Tode stürzen konnte. Dies hier war der exponierteste und gefährlichste Teil des ganzen Aufstiegs. Meine Freundin, die Leiter, war das nächste Hindernis, das es zu bewältigen galt. Ich faßte mit meiner Hand danach und fühlte, wie sie schwankte und gegen die glatte Wand schlug, an der sie befestigt war. Und ich hatte mir immer vorgestellt, daß sie fest wäre! Ich begann hochzuklettern. Das erste Problem waren die Steigeisen. Die Metallzacken verfingen sich in den Sprossen oder schabten gegen das Gestein, was mich daran hinderte, einen sicheren Halt auf der Leiter zu finden. Außerstande, nach unten zu blicken, und durch die Brille dazu verdammt, nur starr nach vorne zu sehen, mußte ich, so gut ich konnte, fühlen, wann mein Fuß sich an der richtigen Stelle befand. Ich atmete wieder schneller, und die größere Menge der ausgestoßenen Feuchtigkeit fand ihren Weg durch kleine Ritze in der Maske und fror auf der Innenseite meiner Brille an. Als ich die Leiter zur Hälfte erklommen hatte, konnte ich so gut wie nichts mehr sehen. Ich riß die Brille ab und setzte sie mir auf den Kopf. Wir alle kannten die Gefahren der Schneeblind heit, doch ich meinte, das Risiko für die nächsten paar ent scheidenden Minuten eingehen zu können. Die Leiter neigte sich spürbar nach links. Das und die Tat sache daß sie an dem Fadengewirr von Felshaken und Seilen, beängstigend hin- und herschwankte, ließ das Ganze zu einer sehr körperlichen Erfahrung werden. In dieser Situation behinderten mich vor allem auch meine GoreTex-Überhandschuhe. Ich konnte meine Hand kaum so weit schließen, um die Sprossen der Leiter richtig zu umfas
sen. Doch da ich nun bereits zur Hälfte oben war, konnte ich sie jetzt schlecht ausziehen. Außerdem würde ich ohne sie Erfrierungen von der Berührung mit dem eiskalten Metall der Leiter riskieren. Die »hilfreiche« Leiter war alles andere als hilfreich. Mein größter Wunsch war, sie – und den Second Step – so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Als ich an der obersten Sprosse angelangt war, hielt ich inne, um mich auf meine nächste Bewegung zu konzentrieren. Es würde schwierig werden: Vor mir lag ein gefährliches Kletterstück, das ich allein mit der Muskelkraft meiner Arme bewältigen mußte. Ich mußte mich auf den Absatz hoch schwingen, der das Ende des Second Step markierte. Und dazu mußte ich mich an einen wirren Salat aus morschen Seilen klammern, die zu einer zweifelhaften Schlinge zusam mengeknotet waren. Dann, ohne die geringste Aussicht, einen Tritt für meine Füße zu finden, mußte ich so viele Zacken meiner Steigeisen wie nur irgend möglich gegen die Wand drücken und mich dann affengleich in einer fließenden Bewe gung rechts nach oben schwingen. Unten im Basislager hatte ich noch davon geredet, Brian bei diesem Teil des Aufstiegs zu filmen. Sechs Wochen später kam mir das alles wie ein schlechter Witz vor. Erstens hatte nie wirklich eine reelle Chance bestanden, daß Brian diesen Punkt erreichen würde, und zweitens war der Gedanke, an diesem tödlichsten aller Orte die Filmkamera auszupacken, das letzte, was mir in den Sinn kam. Das hier war Überlebenskampf pur. Als ich die Bewegung ausprobierte, stellte ich fest, daß es einen kritischen Augenblick dabei gab, in dem der Körper weder von der Leiter getragen wurde, noch sicher auf dem
Absatz stand. Das letzte Stückchen des Second Step würde ich, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, über der Nordwand hängen und allein von der Kraft meiner Arme gehalten werden. Ich versuchte es… ohne Erfolg. An die Leiter geklammert, stieg ich ein paar Sprossen nach unten, um mich auszuruhen, bis meine Atemfrequenz sich wieder normalisiert hatte. Ohne den erforderlichen Sauerstoff für das Muskelgewebe in mei nen Armen ermüdeten sie schnell. Instinktiv fühlte ich, daß ich es vielleicht noch ein- oder zweimal versuchen könnte, bevor ich so schwach wäre, daß ich aufgeben mußte. Es dauerte mehrere Minuten, bis das Hecheln nachließ und meine Atemfrequenz wieder in den grünen Bereich absank. Ich unternahm einen neuen Versuch, und diesmal klappte es. Da die Kraft meiner Arme rasant nachließ, zog ich mich rasch auf den Absatz hoch und stolperte dann die wenigen, leicht ansteigenden Meter über den Fels bis nach oben. Von dieser neuen Perspektive auf dem Grat hatte man die Gipfelpyramide zum ersten Mal voll im Visier. Wir warteten, bis Al auf dem Second Step angekommen war, und stiegen dann weiter. Die nächste Stunde kamen wir auf dem kombinierten Ge lände – mal Schnee, mal Fels – gut voran. Ich hielt mehrmals an, um Fotos zu schießen, doch bei der fünften oder sechsten Aufnahme streikte der Fotoapparat: Der Film wurde falsch weitertransportiert, deshalb schloß der automatische Objek tivdeckel nicht. Bei der siebten Aufnahme verweigerte die Olympus komplett den Dienst und gab in den frostigen Tem peraturen auf. Jetzt stand ich ohne Spiegelreflexkamera da, denn meine Nikon F3 war der Kälte bereits in Lager IV auf
ähnliche Art und Weise erlegen. Fluchend öffnete ich meinen Daunenanzug und steckte den Fotoapparat zwischen mein Vlies und die wärmende Schicht darunter, in der Hoffnung, die Körperwärme würde ihn wieder zum Leben erwecken (was allerdings nicht der Fall war). Dann holte ich den Plastikfotoapparat hervor, den ich für acht Dollar in Katmandu gekauft hatte, und mußte mir eingestehen, daß dieses Spielzeug jetzt meine einzige Kamera war. Auf der Papphülle war ein Bild von einer braungebrann ten Frau im Bikini zu sehen, die mit einem Strandball spielte. Ich kam mir unsagbar lächerlich vor, als ich durch den »Su cher« starrte (im Grunde nichts weiter als ein Loch im Plastik) und das erste der zwölf möglichen Bilder schoß. Die Pleite mit dem Fotoapparat beschwor wieder meinen alten Alptraum herauf: Würden die Videokameras dem eisi gen Wind (-40 °C) standhalten? Allein der Gedanke, sie könn ten ihren Geist ausgerechnet jetzt aufgeben, war mehr, als ich ertragen konnte. Ich blickte ein paarmal den Grat zurück, über den wir auf gestiegen waren. Al, leuchtend rot in seinem BerghausSturmanzug, blieb immer weiter hinter uns zurück. Irgendwo in meinem sauerstoffleeren Hirn funktionierten noch ein paar Synapsen. Al hatte mich nicht gebeten, seinen Regler wieder zurück auf zwei Liter zu stellen. Er lief immer noch mit vier Litern pro Minute… und er fiel immer weiter zurück. Bei zwei Gelegenheiten warteten wir, bis Al zu uns aufgeschlossen hatte. Dann erreichten wir den Third Step, wo wir anhielten, um uns auszuruhen. Der Third Step ist bei weitem nicht so schwierig wie die er sten beiden Felsstufen, allerdings liegt er auch weiter oben.
Oberhalb davon befinden sich das lawinengefährdete Eisfeld der Gipfelpyramide, die Traverse über Fels und schließlich der Gipfelgrat. Dankbar für die Ruhepause, nahm ich meinen Rucksack ab und setzte mich hin. Ich achtete darauf, meine Fersen in das Eis zu drücken, um keine Rutschpartie zu veranstalten. Dur stig zog ich die Trinkflasche aus meinem Daunenanzug her aus. Irgendwie hatte ich erwartet, daß der Saft wie durch Zauber wieder aufgetaut wäre, doch natürlich war das nicht der Fall. Etwas anderes hätte man in diesen Temperaturen auch kaum erwarten können. Endlich ging mir auf – ein wenig spät, zugegebenermaßen – , wie dumm ich gewesen war, und so nahm ich beide Flaschen heraus und legte sie am Fuß des Third Step neben ein paar weggeworfene Sauerstoffzylinder. Zwei Kilo weniger zu tragen. Al machte weiter unten eine Verschnaufpause, dort, wo der Grat oben zu einer weiten Terrasse abgeflacht war. Ich zog meinen Fotoapparat heraus und schoß eine Aufnahme von ihm, wie er dort auf dem Rücken lag. Nicht weit von uns entfernt sah ich die Leiche des zweiten Inders, sein Gesicht uns zugewandt. Kein Zeichen von Schmerz oder Verzweiflung war auf seinen gefrorenen Zügen zu sehen. Anders als bei der ersten Leiche, deren Anblick mich schockiert hatte, als wir über sie gestolpert waren, überraschte mich diese nicht mehr – ein sicheres Zeichen dafür, daß mir andere Gedanken im Kopf herumschwirrten. Nach einer Weile schloß Al zu uns auf, und wir machten uns an die letzten Etappen des Aufstiegs. Lhakpa zeigte sich zunehmend besorgt über das Wetter. Der Wind wehte jetzt
stärker als zuvor, und die aufgepeitschten Eis- und Schneepar tikelchen vom Gipfelgrat erfüllten praktisch unser gesamtes, nach Süden gerichtetes Blickfeld. Die Fahne begann stärker zu wehen, und die Luft vibrierte mit dem unheilverkündenden Heulen des starken Höhenwindes. Ich folgte den Sherpas den Third Step hinauf. Dort erreich ten wir das Steileis der Gipfelpyramide. Wenn alles glatt lief, erreichten wir den Gipfel innerhalb der nächsten zwei Stunden. Nach einer Seillänge auf dem Eis zupfte mich Lhakpa am Ärmel und schrie, das Getöse des Windes übertönend: »Wo ist Alan? Kein Alan.« Ich blickte zurück über das Eisfeld und sah, daß er recht hatte. Al war nicht oben am Third Step aufgetaucht. Jede Minute, die wir jetzt mit Warten verschwendeten, ge fährdete unseren Gipfelerfolg. Das Wetter wurde zunehmend bedrohlich. Die Sherpas sahen mich an und warteten auf eine Entscheidung. Sollten wir Al lassen, wo er war, und hoffen, daß ihm der Sauerstoff nicht ausging? Oder sollten wir um drehen, um nachzusehen, ob er gestürzt war und verletzt am Fuß des Third Step lag? Von all den Szenarien, all den Probedurchläufen, die ich mir ausgemalt hatte, war ich nie auf den Gedanken gekom men, daß ausgerechnet Al Probleme bekommen könnte. Ich war verwirrt und schockiert. Es kam uns wie eine Ewigkeit vor, obwohl wir wahrschein lich nur drei oder vier Minuten zurück zu dem windumspiel ten Buckel blickten, der den oberen Teil des Third Step mar kiert. Der Wind blies mit Gewalt über den Schneehang, so daß wir unsere Gesichter aus dem eisigen Wind drehen mußten.
Mein Hirn versuchte, mit der Situation fertigzuwerden, und glücklicherweise waren noch immer nicht alle Synapsen eingefroren. Ich spielte die verschiedenen Möglichkeiten durch und kam zu dem Schluß, daß es nicht sehr wahrschein lich war, daß Al abgestürzt war. Abgesehen davon hatte er immer noch die extra Sauerstoffflasche bei sich, was bedeutete, daß er auch kein Sauerstoffproblem haben konnte. Vermutlich gönnte er sich nur eine Verschnaufpause oder hantierte mit seiner Ausrüstung herum. Das war die logische Antwort. Ich folgerte, daß er uns wohl in seinem Tempo folgen würde. Durch das Herumstehen waren meine Zehen taub geworden. Ich bewegte sie in meinen Plastikstiefeln und konnte spüren, wie sie langsam einfroren. Auch meine Hände waren jetzt zum ersten Mal beängstigend kalt. Irgend etwas in meinem Innern traf eine Entscheidung. »Wir gehen weiter«, sagte ich zu Lhakpa. Die Worte wur den mir von einem plötzlichen Windstoß von den Lippen gerissen. Lhakpa kam den Hang zu mir herunter, um mich besser hören zu können. Ich machte mir nicht die Mühe, meine Worte zu wiederholen, sondern zeigte nur nach oben Richtung Gipfel. Er nickte und klopfte auf sein Handgelenk, um mir zu bedeuten, daß uns nicht mehr viel Zeit blieb. Ich zog die Handschlaufe meines Eispickels um das Hand gelenk fest und folgte den drei Sherpas das steiler werdende Eis hinauf. Eine innere Stimme protestierte schwach, stellte ein paar unangenehme Fragen: Solltest du nicht lieber umdrehen und nachsehen? Solltest du nicht auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß hier oben gar nichts sicher ist – daß wirklich alles
passieren kann? Al könnte etwas zugestoßen sein, sein Sauer stoffventil zugefroren, ein Steigeisen kaputtgegangen, eine Seilverankerung auf dem Third Step herausgerissen sein. Während ich stehenblieb, um nach Luft zu schnappen, blickte ich wieder zum unteren Ende des Schneehangs. Immer noch kein Zeichen von Al. Ich ging weiter. Wieder schob ich die noch leise nagenden Zweifel von mir, indem ich alle Möglichkeiten logisch durchspielte. Ruhig Blut! Mit ihm ist sicher alles okay. Al hat sich doch schon immer an seinen eigenen Zeitplan gehalten. Er war auf dem K2. Viel leicht muß er nur einem Ruf der Natur folgen. Oder, wer weiß, vielleicht will er einfach nicht mit uns zusammen auf dem Gipfel stehen und lieber ganz allein bis nach oben stiefeln? Als ich drei Seillängen über das Eisfeld hinter mich ge bracht hatte, blickte ich erneut zurück. Wieder nichts. Ich stieg auf den Fels zu, der das Ende des Dreiecks markierte. Und dieses Mal blickte ich nicht zurück. Ich hatte eine weitere dieser unsichtbaren Linien im Schnee überschritten. Die gleiche Macht, welche sich bereits unten am Sattel in mir geregt hatte, hatte nun vollständig von mir Besitz ergriffen. Ich war so versessen auf den Gipfel, daß ich Al den Rücken zukehrte, ungeachtet dessen, was ihm zugestoßen sein könnte. In dieser letzten Stunde gab es wirklich nur einen einzigen Gedanken in mir, auf den ich mich mit aller Gewalt konzen trierte. Das Verlangen, den Gipfel zu erreichen, war zu einer alles verzehrenden Flamme geworden. Es hatte meine Sorge für meinen Partner ausgelöscht, meine Fähigkeit, meine Hand lungen zu hinterfragen, blockiert und mich in einen Roboter verwandelt, der entsprechend seiner Programmierung einen
Schritt vor den anderen setzte. Das Gipfelfieber hatte mich fest im Griff, und es kam mir jetzt vor, als würden neue Energien durch meinen Körper fließen. Plötzlich schien es mir, als kostete es mich keinerlei Anstrengung mehr, dem Gipfel entgegenzustreben, und das einzige, was mich immer wieder zum Halten zwang, waren die Sherpas vor mir, die langsamer vorankamen. Doch selbst in meinem verwirrten Zustand fragte sich irgend etwas in mir, woher dieser neue Elan kam. Ich war überzeugt davon, daß mein Körper kurz vor dem totalen Zusammenbruch stehen mußte. Was genau trieb mich bis zum höchsten Punkt der Erde? Die Sherpas waren jetzt müde. Lhakpas flotter Schritt wur de immer schleppender, so als hätte er eine Batterie in sich, die sich allmählich leerte. Am unteren Rand der Schneepyramide ruhten sich die Sherpas nach allen fünf oder sechs Schritten aus. Am oberen Ende des vier Seillängen messenden Stücks waren sie bei einer Ruhepause alle ein oder zwei Schritte angelangt. 8750 Meter. Knapp hundert Höhenmeter lagen nur noch vor uns. Das Schneefeld buckelte sich auf, steiler und steiler, in einer aufsteigenden Kurve auf das zu, was meiner Meinung nach der Gipfel sein mußte. Doch anstelle dem Eis zu folgen, wie ich gehofft hatte, führte Lhakpa uns in ein weiteres dieser Gesteinsfelder, die das letzte Stück flankieren. Mein Mut sank. Wieder Fels… wieder mit den Steigeisen. Doch als ich mir die Eisroute genauer ansah, bemerkte ich, daß der obere Teil ganz offensichtlich lawinengefährdet war. Frischer Lawinenschutt, Blöcke so groß wie Autos, lagen in
der Umgebung verstreut. Der Weg über den Fels war der sicherere der beiden, sofern »sicher« hier das richtige Wort ist. Zunächst mußten wir längs eines winzigen Felsabsatzes queren, der aus einer Verwerfung im Fels entstanden war. Ich klinkte mich in ein Seil ein, das aussah, als hinge es hier schon seit Jahrzehnten, und schob mich vorsichtig voran, wobei ich mit meinem rechten Fuß bei jeder Bewegung weit ausholte, um nicht am linken hängenzubleiben. Als ich nach etwa fünfzig Metern die Hälfte des Absatzes hinter mir hatte, erfor derte eine Felsnase einen kleinen Balanceakt, bei dem man den Körper um einen Vorsprung herum bugsieren und ihn sicher auf die andere Seite bringen mußte. An genau dieser Stelle spannte das Seil gegen den Fels. Durch den ständigen Wind, der es gegen den Felsen schlug, war nur noch ein einziger, ausgefranster Strang übriggeblieben, etwa so dick und stark wie ein Wollfaden, den man zum Stricken verwendet. Und etwa genauso hilfreich, wenn es darum ging, einen Sturz abzufangen. Ich merkte, daß ich lachte, als ich mich bereit machte. Der Abhang unter uns war der steilste, über den wir bislang geklettert waren. Wir hatten die Flanke gequert und befanden uns jetzt praktisch genau unterhalb des Gipfels, weit rechts vom Großen Couloir. Die kleinen Steine und Gesteinsbrocken, die wir unbeab sichtigt lostraten, sprangen nicht langsam abwärts wie zu vor… sie fielen jetzt senkrecht den Abgrund hinunter. Ich drückte mein Gesicht gegen den Fels, um so wenig Ge wicht über dem Abgrund hängen zu haben wie nur irgend möglich, und schob mich zentimeterweise um das Hindernis herum, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Als ich es ge
schafft hatte, blieb ich stehen und rang nach Luft. In dem Moment wurde mir klar, daß ich während der Umrundung des Hindernisses die Luft angehalten hatte… eine schwarze Welle schwappte über mich, das Bedürfnis, ohnmächtig zu werden, überkam mich, und ich versuchte verzweifelt, wieder Sauerstoff in meinen Körper zu pumpen. Als der Schwächean fall nachließ, machte ich mich wieder auf den Weg den brü chigen Absatz entlang. Ich hatte geglaubt, schneller als die Sherpas zu sein, doch diese waren bereits um die Ecke ver schwunden und außer Sichtweite. Gegen Ende der Querung ging die Route abrupt steil in mehrere Felsabsätze über, die denen ähnelten, welche wir auf einigen unserer Nachtetappen bewältigt hatten. Ich zog mich, wann immer es möglich war, mit den Armen hoch, denn ich hatte nach wie vor Bedenken, mein ganzes Gewicht den Steig eisen anzuvertrauen. Auf einer der Felsstufen verfing sich meine Sicherheits schlinge in einem alten Stück Seil und stoppte mich mitten in der Bewegung. Ich mußte mich zurück auf den Absatz fallen lassen und mein Gleichgewicht wiederfinden, bevor ich den Knoten lösen und weiterklettern konnte. Nach etwa zwanzig Minuten Aufstieg gelangten wir an den oberen Hängen des Schneefeldes der Gipfelpyramide an. Wir hatten den lawinengefährdeten Abschnitt glücklich hinter uns gelassen und waren fünfzig Höhenmeter weiter oben. Während des Umwegs hatte der Wind an Stärke zuge nommen. Der Schneegrat und der Horizont über uns waren jetzt in wirbelnde Wolken wehender Eispartikelchen gehüllt. Der Wind war böig: Immer wieder erhob er sich in unerwarte ten, heftigen Windstößen. Ein Blick nach oben ließ mir den
Atem stocken: Eine riesige, umherwirbelnde Masse von Eis partikeln drehte und wand sich wie ein Mini-Tornado über dem, was meiner Meinung nach der Gipfel sein mußte, gerade einmal zwanzig Meter Steileis oberhalb von uns. Wir fanden ein wenig Schutz im Lee einer Felsnase und ruhten uns dort aus, um für den letzten Vorstoß genügend Atem zu haben. So kurz vor dem Gipfel konnte ich vor lauter Ungeduld kaum stillstehen. Eine irrationale Welle der Para noia schwappte über mich: Wir waren nur ein paar Minuten vom Gipfel entfernt… was, wenn er uns so kurz vor dem langersehnten Moment doch noch verwehrt würde? Lhakpa blickte wieder auf seine Uhr und wechselte dann ein paar Worte mit Gyaltsen. Ich konnte ihre Worte nicht verstehen, doch in meinem Zustand glaubte ich, sie unterhiel ten sich darüber, wie gefährlich der Wind auf der Spitze sein würde… und beschlossen, daß es besser wäre umzukehren… Dann kam ich wieder zu Sinnen und erkannte, daß meine Paranoia nichts anderes war als der schleichende Beginn von Höhenkrankheit. In den ersten Stadien treten häufig irrationa le Gedanken auf. Seit ich das Zelt vor acht Stunden verlassen hatte, hatte ich keinen Tropfen Flüssigkeit mehr zu mir ge nommen. Mein Körper befand sich in einem gefährlichen Zustand der Dehydratation. Lhakpa führte uns quälend langsam den Weg hinauf, mit ten in die wirbelnde Wolke hinein. Hinter ihm gingen Gyalt sen und Mingma, ich bildete das Schlußlicht. Es gab keine Seile hier, und ich achtete sorgfältig darauf, so viele Zacken meiner Steigeisen in das Eis zu drücken wie möglich. Auf halbem Weg nach oben nahm ich die Plastikkamera heraus und hielt sie hochkant, um ein Foto von den drei Sherpas zu
machen, die im Stehen ausruhten. Mir war keinen Augenblick der Gedanke gekommen, es könnte sich um einen falschen Gipfel handeln. Genau das aber war der Fall. Als ich den Kamm des Schneefeldes erreichte, war ich vollkommen überrumpelt. Anstelle vor der letzten kurzen Etappe standen wir am Anfang eines weiteren Grates, an dessen fernem Ende die große, ausladende Wächte des echten Gipfels auf uns wartete. Zwischen unserem Standort und dem Gipfel lag eine Achterbahn aus Eiswellen, die vom Wind geformt worden waren und direkt über der KangshungWand hingen. Wegen der starken perspektivischen Verkürzung oder viel leicht auch durch einen weiteren Nebeneffekt des Sauerstoff mangels erschien mir der Grat enorm und der Gipfel Kilome ter weit weg. Wieder überkam mich einer dieser merkwürdi gen Momente des Zweifels, und ich dachte, Lhakpa würde das Handtuch schmeißen und beschließen, den Gipfelversuch abzubrechen. Der Wind blies jetzt unablässig und sehr heftig. Die Eiskristallfahne wehte, und wir standen im Begriff, in sie einzutauchen. Dann bemerkte ich einen Orientierungspunkt, durch den der Grat wieder in die rechte Perspektive gerückt wurde: Die Gebetsfähnchen, die auf dem Gipfel angebracht worden wa ren, hingen jetzt traurig zu einer Seite hinunter. Ich konnte deutlich die einzelnen buntgefärbten Seidenwimpel erkennen. Durch diesen optischen Referenzpunkt sah ich jetzt, daß der Grat sehr viel kürzer war, als ich zuerst angenommen hatte. Der Gipfel lag nur ein paar hundert Meter vor mir.
Jim Haberl aus K2: Traum und Wirklichkeit
Die Kanadier Jim Haberl (geboren 1958) und Dan Culver versuchten, im Rahmen einer von dem Amerikaner Stacy Allison geführten Expedition 1993 den K2 über den Abruzzi-Grat zu besteigen. Haberl, Culver und der Amerikaner Phil Powers starteten von Lager IV auf 8050 Meter Höhe zum Gipfel. Die Bedingungen waren ideal. Halb drei Uhr morgens. Ich kroch aus dem Zelt und befestigte meine Steigeisen. Mit den plumpen Überschuhen und als erste körperliche Bewegung des Tages in so großer Höhe, wurde selbst dieser einfache Vorgang zum Kampf. Meine Finger erstarrten schnell. Ich brauchte dafür fünfzehn Minuten. Dann machte ich mich auf den Weg zum Gipfel. Der Vollmond strahlte hell am kalten Nachthimmel und warf meinen Schatten nach rechts, so daß meine Stirnlampe überflüssig war. Ich hatte nur eine Wasserflasche und eine kleine Kamera dabei. Dan folgte als nächster, bepackt mit seiner großen Kamera mit Zoom, einer Videokamera, einer Wasserflasche und Extraausrüstung. Das Gewicht, das er auf dem Rücken mitschleppte, belief sich auf zehn Kilo, ein be trächtliches Handicap auf 8000 Metern Höhe. Phil verließ das Lager als letzter. Er hatte eine Zwei-Liter-Wasserflasche unter seinen Anorak geschnallt, eine kleine Kamera, unsere auf ein Minimum reduzierte Notfallapotheke mit den Decadron
Injektionen, falls einer von uns Höhenödeme entwickeln sollte, und das Funkgerät in der Tasche. Der Aufstieg zum Gipfel des K2 jenseits der 8000-MeterGrenze brachte uns an unsere körperlichen Grenzen. Wir waren für die Gipfelroute nicht angeseilt, eine Entscheidung, die wir alle für richtig hielten, zumal die nur mäßig steilen Schneehänge mit ihrem Gefälle von dreißig bis vierzig Grad einen hervorragenden Untergrund boten. In dieser Höhe war es zweifelhaft, ob einer von uns den Sturz eines Partners ohne Anker hätte stoppen können, und Anker im Tiefschnee zu befestigen, ist eine zeit- und kraftzehrende Angelegenheit. Die Bedingungen, die wir am K2 vorfanden, übertrafen unsere kühnsten Erwartungen. Der Schnee war griffig und das Wetter ideal. Falls einer von uns beim Abstieg schneller war und die anderen von der Dunkelheit verschluckt wurden, konnte er ihnen mit seiner Stirnlampe leuchten und sie wie ein Leucht turm zum Lager IV lotsen. Aus diesen Gründen beschlossen wir, daß es am sichersten wäre, ohne Seil zu klettern. Jeder von uns wußte, daß er auf sich selbst gestellt war. Von der Spitze blies ein eisigkalter Wind, und meine Hände und Füße schmerzten vor Kälte. Ich wußte, daß ich in dem Augenblick, in dem ich dieses Schmerzgefühl verlor, damit rechnen mußte, Frostbeulen zu bekommen. Wir hatten kein Thermometer dabei, aber die Temperatur lag weit unter dem Gefrierpunkt. Keine Möglichkeit, kalte Zehen und Finger aufzuwärmen; also stapfte ich weiter. Die Höhe verlangsamte unsere Bewegungen so sehr, daß man nicht warm werden konnte. Der Körper paßt sich der Höhe an, indem er die Zahl der roten Blutkörperchen erhöht. Auf diese Weise gelangt mehr Sauerstoff in die Zellen, doch das Blut wird dicker und das Risiko von Erfrierungen an Zehen und Fingern nimmt
dramatisch zu. Wir hatten uns aufgrund des von uns gewähl ten Kletterstils bewußt entschieden, ohne Sauerstoff zu klet tern. Auch diese Entscheidung machte unser Abenteuer noch riskanter. Doch meine Gedanken kreisten in diesem Moment nicht um biologische Vorgänge oder Kletterstile; ich fror ganz einfach gottserbärmlich. Trotz der eisigen Temperaturen war es atemberaubend schön. Die klirrend kalte Luft hatte mich völlig wach und meinen dumpfen Kopf klar gemacht. Ein neues Gefühl begann sich in mir auszubreiten. Vielleicht würden wir – ich – heute tatsächlich den Gipfel erreichen. Auf jeden Fall startete unsere Expedition bei kaltem, aber ansonsten idealem Wetter. Kurz vor sechs Uhr schob sich, ganz nach Plan, die Sonne über den Horizont – da stand sie als leuchtende Scheibe Hun derte von Kilometern entfernt und Tausende von Metern unter uns über China. Ich starrte fasziniert auf die Erscheinung zu meinen Füßen und betete, daß die Sonne meine kalten Beine und Hände schnell aufwärmen und meine Angst vor Erfrie rungen überflüssig machen würde. Ich trat Stufen in den weichen Schnee, der immer abschüssiger wurde, je näher wir uns an die Felsen und Abhänge dort oben heranarbeiteten. Die Sonnenwärme milderte den Wind, der vom Gipfel blies, und das half mehr als alles andere, unsere erstarrten Körper ein wenig zu erwärmen. Ich ging voraus zu einem kleinen Felsvorsprung und machte dort für die erste Pause nach mehr als drei Stunden unun terbrochenem Klettern halt. Wir nahmen alle einen Schluck Wasser aus unseren Flaschen, legten eine neue Schicht Son nenschutz auf, hoben unsere Füße aus dem Schnee, um unsere Stiefel wärmen zu lassen und freuten uns an der Wärme.
Unmittelbar über uns ragte der Flaschenhals auf, der in gutem Zustand zu sein schien. Der Flaschenhals ist eine schmale, nur wenige Meter breite Rinne aus Schnee und Fels mit einem Gefälle von fünfund vierzig Grad, die größte technische Schwierigkeit der Gipfel route über den Abruzzi-Grat. In manchen Jahren ist er eine schwierige Felsenkletterpartie, in anderen Jahren von einer dünnen Eisschicht überzogen – besonders mühsam und ge fährlich auf 8200 Metern Höhe. Dazu wird der Flaschenhals von einer einschüchternden Mauer aus Eiszacken – drohenden Eistürmen – bewacht, die beängstigend über ihm aufragen. Bei unserem Aufstieg war die Rinne verstopft vom Schnee des vorangegangenen Winters. Wir kamen langsam, aber planmä ßig voran, traten regelmäßige Stufen in den Schnee und ver suchten, in dem tiefen Schnee mit unseren Kräften hauszuhal ten. Phil hatte nach unserer Pause die Führung übernommen, und Dan folgte in seiner Spur. Die Sonne stieg weiter empor, und unsere Sorge über die Kälte wich eine Stunde später der Angst vor Überhitzung. Wenn ich nach vorn zu Phil schaute, sah ich die Klappe seines bauschigen Daunenanzugs aus Gründen der Ventilation offen flappen. Ich selbst hätte mir niemals träumen lassen, daß ich ohne eine Mütze auf dem Kopf auf den zweithöchsten Berggipfel der Welt klettern würde. Kurz vor dem Flaschenhals glitt Dan zu meinem Schrecken plötzlich aus, stürzte und schlidderte im weichen Schnee an mir vorbei. Doch bevor er zuviel Fahrt bekommen hatte, konnte er sich mit seinem Eispickel stoppen und in unseren Stufen nun nachsteigen. Es war nur ein kleiner Stolperer
gewesen, der ihm allenfalls eine zusätzliche Anstrengung abverlangt hatte. Beruhigt fingen wir wieder an, Stufen in den Schnee zu treten. Phil durchkletterte den Flaschenhals und wartete. Ich konn te ihn oben auf einem Felsen sitzen sehen, von wo aus er unsere Anstrengungen beobachtete. Seinen Tritten folgend, wobei ich die Steigeisen vorsichtig auf die kleinen Felsvor sprünge setzte, gelangte ich über eine felsige Partie bis zu seinem Sitzplatz. Bei mir selbst beschloß ich, auf dem Rück weg später am Tag eine Route etwas weiter nördlich, im tieferen Schnee der Rinne, zu nehmen, um das heikle Felsen klettern in dieser großen Höhe zu vermeiden. Der Abstieg ist immer schwieriger als der Aufstieg. Ich rief Dan zu, er solle in der Rinne bleiben und den Fel sen, den Phil und ich erklettert hatten, seitlich liegenlassen. Er befand sich noch etwa vierzig Meter hinter uns. Vom Flaschenhals aus bogen wir oberhalb der Felsgruppe nach links und spurten über Schneehänge weiter Richtung Gipfel, der immer noch dreihundertfünfzig Meter über uns lag. Von jetzt an war sein Erreichen nur noch eine Sache der Zeit und des Durchhaltevermögens. Jeder von uns dreien zog sich in sein privates mentales Schneckenhaus zurück und konzentrierte sich ganz auf seine Aufgabe. Unser Tempo war langsam, aber gleichmäßig. Ich zählte die Atemzüge zwischen den Schritten – mein Mantra – und war bald bei fünfzehn japsenden Atemzügen für jeden Schritt angekommen. Ich hatte eine neue Definition für Langsamkeit gefunden, dennoch ließ ich allmählich eine Wegstrecke hinter mir zurück. Phil spurte vorn, methodisch schienbeintiefe Stapfen in den weichen Schnee tretend, und obwohl ich seiner Spur folgte,
konnte ich ihn nicht einholen. Nachdem wir die Eiszacken passiert hatten, bog Phil nach rechts in eine breite Schnee schneise, die dadurch entstanden war, daß der hängende Gletscher und ein Schneehang zur Linken zusammentrafen. Der Schnee in der Schneise war scheußlich – über hundert Meter locker und keinerlei Halt bietend. Bei jedem Schritt hatte man das Gefühl wegzubrechen, sobald man das Gewicht auf den Fuß verlagerte. Obwohl der Weg nicht eigentlich gefährlich war, war es ein äußerst frustrierender und kräfte zehrender Abschnitt. Während Phil mit der Schneise kämpfte, traversierte ich nach links und prüfte rasch die Schneeoberfläche. Ich wollte wissen, ob Lawinengefahr bestand, da mir klar war, daß der rascheste und leichteste Weg nach unten nicht über die Schneise führte, durch die Phil gerade stieg, sondern den Abhang hinunter, falls er einigermaßen sicher war. Der Tief schnee machte es zwar unmöglich, den Hang hinaufzuklet tern, aber beim Abstieg würde er sicherer sein. Meine Beob achtungen bestärkten mich darin, daß der Schnee fest war, und ich traf eine weitere Vorentscheidung für den Abstieg. In regelmäßigen Abständen rastete ich, wußte aber auch, wie wichtig es war, daß wir weitermarschierten. Weit drunten kamen die anderen Mitglieder unseres Teams im Lager IV an. Stacy, John Haigh und John Petroske sahen von unserem Ausguck direkt unter dem Gipfel aus wie Ameisen. Der Blick war überwältigend. Berge, soweit das Auge reichte. Da waren sie, all die Gipfel, über die ich als Teenager immer gelesen hatte: im Osten der Broad Peak und die Gasherbrum-Gipfel; die Latok-Spitzen, der Ogre und MustaghTurm im Südwesten; und im Südosten Masherbrum und
Chogolisa. Sie wurden in diesem Augenblick ein Teil von mir; sie waren keine Bilder in einem Buch oder Worte auf einer Seite mehr, sondern würden als wirkliche Berggipfel in meiner Erinnerung leben. Und natürlich der K2. Jetzt konnte ich sagen, daß ich den K2 kenne. Ich hatte seine Felsen erklettert, an seinen Flanken geschlafen und mich hinter seinen Kämmen vor dem Sturm verkrochen. Und – das Unglaublichste von allem – wir waren dem Gipfel ganz nah. Am 7. Juli 1993, um 14.57 Uhr, zwölf Stunden, nachdem wir Lager IV verlassen hatten, erreichte Phil als neunter Amerika ner auf 8611 Metern Höhe die Spitze des K2. Er blickte hinüber zum Gasherbrum II, einem Achttausender, den er 1987 be zwungen hatte, und sagte später: »Er sah winzig aus.« Ich konnte ihn am Gipfel sehen, weniger als zweihundert Meter von mir entfernt, was bei meinem gegenwärtigen Tempo jedoch immer noch eine beträchtliche Entfernung darstellte. Phil funkte vom Gipfel ans Basislager und erfuhr, daß die ganze Mannschaft geschlossen am Funkgerät hing. Barry Blanchard, der mit seinen beiden kanadischen Kameraden Peter Arbic und Troy Kirwan eine gewagte Besteigung der Südsäule im Alpinstil vorhatte, verulkte Phil: »Ich kann ein fach nicht glauben, daß ein Hinterwäldler aus Wyoming tatsächlich auf dem Gipfel des K2 steht!« Yousaf rief in einem Ton, in dem sich Stolz und Aufregung mischten: »Du Phil, ich mach ein Bild von dir, wie du auf dem Gipfel des K2 stehst. Du wirst dich auf dem Foto nicht erkennen können, aber du wirst wissen, daß du es bist, weil ich es jetzt aufnehme, wäh rend du auf dem Gipfel des K2 stehst.« Stacy meldete sich per Funk von Lager IV und fragte: »Phil, wo bist du?« Phil ant wortete: »Ich bin auf dem höchsten Gipfel!« Er machte einen Schnappschuß von sich und begann den Abstieg.
Auf dem Weg nach unten begegnete er mir. Wir umarmten uns und sprachen kurz miteinander. Immer um die Sicherheit besorgt, fragte Phil, ob ich angesichts der späten Stunde nicht erwägen wolle umzukehren. Seine Sorge war, daß ich immer noch eine gewisse Entfernung bis zum Gipfel zu bewältigen hatte und ein Abstieg im Dunkeln äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein würde. Ich sagte ihm, daß ich das Gefühl hatte, die Sache im Griff zu haben, und weiterklettern wollte. Ich war überzeugt, der Abstieg würde schnell gehen. Wir sprachen über Dan und sein Vorankommen. Es tat uns beiden leid, daß Dan, der während der gesamten Tour zum Lager IV ein hervorragendes Tempo gehalten hatte, jetzt zurückfiel. Phil wollte mit Dan sprechen und ihm vorschlagen, umzukehren und abzusteigen. Dann fragte er, ob ich das Funkgerät und die Tabletten gegen Höhenrausch, die er in der Tasche hatte, haben wollte. Ich lehnte ab. Dann stand ich und sah zu, wie Phil vorsichtig zu Dan hinunterstieg, der mehrere hundert Meter entfernt war. Ich sah, daß Dan sein Gepäck weit hinten zurückgelassen hatte. Er hatte also endlich das Gewicht, das ihn bremste, abgeworfen. Schon ein paar Kilo können in dieser Höhe einen entscheidenden Unterschied machen. Die beiden umarmten sich. Das schwedische Team im Basislager beobachtete diese Gefühlsdemonstration durch ein starkes Fernglas. Phil bat Dan, mit ihm abzusteigen, aber Dan sagte: »Ich muß da rauf.« Phil setzte seinen Abstieg zum Lager IV fort und war bald außer Sicht, nachdem er das Funkgerät und die Notfallapotheke bei Dans Gepäck deponiert hatte. Dan und ich tauschten ein ermutigendes Winken, dann kehr ten wir beide zu der vor uns liegenden Aufgabe zurück – den letzten Metern zum Gipfel. Fünfzig Minuten nach Phil erreichte ich eine Stelle nur fünf
Meter unterhalb des großen Gipfels des K2 und blieb stehen, um auf Dan zu warten. Wir hatten schon vor langem beschlos sen, daß wir die erste kanadische Besteigung des Berges ge meinsam absolvieren wollten. Ich trampelte also eine Platt form und setzte mich in die Nachmittagssonne. Ein zauberhaf teres Panorama ließ sich kaum denken. Ich starrte hinunter auf die zahllosen Berge und saugte ganz einfach das Wunder in mich ein. In allen Himmelsrichtungen erstreckten sich Bergspitzen und Gletscher, manche berühmt, andere namenlos, alle Teil einer grandiosen Schöpfung. Es war eine verwunschene Stunde für mich, wie ich da so allein saß, mir kaum bewußt, daß ich mich in 8600 Meter Höhe auf einem der schwierigsten und gefährlichsten Berge der Welt befand. Es war 15.50 Uhr, und die Zeit schien stillzustehen. Fünfundvierzig Minuten tauchte Dan auf. Gemeinsam machten wir die letzten Schritte zum Gipfel. Es war einer der ungeheuerlichsten Augenblicke meines Lebens. Ich schoß zwei Fotos von Dan, um den Moment festzuhal ten. Gemeinsam hatten wir einen Traum geträumt und ihn nun, fast wie im Bilderbuch, verwirklicht. Ich dachte an meine Familie und meine Freunde, all die Menschen, die mich im Laufe der Jahre unterstützt und es mir ermöglicht hatten, an einen solchen Ort zu kommen. Jahre des Kletterns und der Bergsteigererfahrung waren in diesen Augenblick gemündet. Dan und ich umarmten uns auf der Spitze des K2. Das Atmen fiel mir noch schwerer, weil ich einen dicken Kloß im Hals hatte. Mit der Besteigung des K2 war Dan, ein Mann, der erst sie ben Jahre zuvor mit dem Bergsteigen angefangen hatte, in die Reihen einer kleinen, exklusiven Gruppe abenteuerlustiger
Bergsteiger aufgerückt, die sowohl den Gipfel des K2 als auch den Mount Everest bezwungen hatten – eine Heldentat, die weniger Menschen vorweisen konnten, als in den Weltraum geflogen waren. Auf dem Gipfel zog Dan seine Handschuhe aus und fum melte mit kalten Fingern an den beiden Kameras herum, die er in seiner Jacke getragen hatte. Zuerst machte er einige Video aufnahmen, dann ein paar Fotos. Er machte Bilder, auf denen wir die kanadische Flagge hielten, dann welche mit Transpa renten mit Umwelt-Slogans, die die Aufmerksamkeit auf zwei Naturschutzprojekte lenken sollten, für die wir uns zu Hause in British Columbia einsetzten: den Kahlschlag am Clayoqout Sound und eine riesige Tagebaumine am Tatshenshini River. Wir konnten nicht wissen, daß der Tatshenshini River gerade zwei Wochen zuvor als gesamte Region unter Naturschutz gestellt worden war, aber eins wußten wir beide, nämlich, wie sehr die Wanderungen durch British Columbias Natur unser Leben geprägt hatten. Die Zeit verrann. Meine Hände wurden kalt. Um 16.55 Uhr wurde es Zeit, den Gipfel zu verlassen. Der Wind hatte ge dreht, und das Wetter schlug um. Das Glück hatte uns verlas sen. Ganz plötzlich wich die Wärme aus der Nachmittagsluft, und der eben noch so angenehme Gipfel des K2 wurde zu einer ernsten Bedrohung. Ich war mittlerweile über eine Stunde hier oben und wußte, wir mußten runter. Wir wandten der Spitze des K2 den Rücken und machten uns vorsichtig an den Abstieg ins Lager IV. Jeder Schritt nach unten erforderte höchste Konzentration. Ich war mir der Gefahr des Stolperns oder des Hängenbleibens mit den Steigeisen bewußt, plante jeden Schritt und prüfte
immer wieder die Beschaffenheit des Schnees, um sicherzuge hen, daß ich keine unliebsame Überraschung erlebte. Die obere Hälfte des Berges bestand aus festgebackenem Schnee, zusammengepreßt von dem Wind, der unaufhörlich über die Kämme und Abhänge des K2 fegt. Nach einer halben Stunde, in der wir uns vorsichtig vorangetastet hatten, langten wir dankbar in dem Tiefschnee des geschützten Abhangs an, an dem ich beim Aufstieg meine Oberflächenprobe gemacht hatte. Hier verschnauften wir etwas und warfen uns für zwan zig Minuten in den weichen Schnee. Es lief hervorragend. Wir waren müde, aber der Abstieg verlief nach Plan. Es war 18.15 Uhr, als ich zum Flaschenhals hinüberquerte, der nur dreihundert Meter oberhalb von Lager IV lag. Dan war einige Minuten hinter mir, und ich empfand das als Vorteil, da wir auf diese Weise den Flaschenhals getrennt hinunterklettern konnten. Ich kämpfte mich weiter und be gann vorsichtig den Abstieg durch die Rinne. Wenn der wei che Schnee ab und zu nachgab und meine Steigeisen über die darunterliegenden Felsen schrammten, kämpfte ich instinktiv um mein Gleichgewicht. Die Müdigkeit und die Schwierigkeit des Geländes taten das Ihre, und ich hatte einige üble Stolpe rer im Flaschenhals, aber schließlich lag das Schlimmste hinter mir. Lager IV befand sich unmittelbar unter mir, und wie am Morgen gruben sich meine Steigeisen fest in den harten Un tergrund. Ich begann, zu Lager IV hinüberzuqueren und schaute nach oben, wo Dan gerade in den Flaschenhals ein stieg. Unser Gipfeltag war beinahe zu Ende. Endlich. Ich sehnte mich danach, zu entspannen und unseren Erfolg zu genießen.
Doch Sekunden später wurden meine Gedanken brutal von einem lauten Krachen unterbrochen, einem widerlichen, schrecklichen Geräusch, das in einem einzigen Augenblick die Stille und Harmonie des Tages zerriß. Ich fuhr herum und sah Dan, der, sich mehrmals überschlagend, mit hoher Geschwin digkeit durch den Schnee an mir vorbeiwirbelte. Ich starrte entsetzt hinterher. Alles, was ich sehen konnte, waren Dans Arme und Beine, die sich windmühlenartig schneller und schneller drehten; sein blonder Haarschopf wehte im Sturz. Er kam auf dem harten Schnee unter mir auf, wo der schlaffe Körper weiter beschleunigte. Nur ein Wunder konnte ihn jetzt noch zum Halten bringen. Das Wunder geschah nicht. Ich sah Dan auf einige kleinere Felsen hundert Meter unter mir aufprallen und dann, eine breite Spur hinter sich herzie hend, hinunterstürzen. Er entschwand meinem Blick. Ich weigerte mich, es zu glauben. Verzweiflung packte mich. Meine Kehle war wie zuge schnürt. Ich krächzte schwach um Hilfe. Lager IV war nur zweihundert Meter entfernt. Wieder rief ich um Hilfe, in der Hoffnung, daß jemand mich hören würde. Dann wieder schrie ich nach Dan und horchte. Nichts. Ich folgte der Fallinie seines Sturzes und arbeitete mich vorsichtig mit dem Eispickel über die Felsen nach unten. Die Eindrücke seines Körpers in dem harten Schnee, wo er auf dem Hang aufgeprallt war, waren immer weiter voneinander entfernt, über dreißig Meter. Schwerkraft. Ich fand seine Mütze. Meine Beine waren müde, und das immer steiler werdende Terrain des South Face war der letzte Ort, an dem ich sein
wollte. An einem Felsvorsprung machte ich halt und blickte hinunter auf die unermeßliche Fläche des Bergs zu meinen Füßen. Kein Zeichen von Dan. Nichts. Ich brüllte seinen Namen, wie mir schien, zum hundertsten Mal. Keine Antwort. Ich sank auf den Vorsprung, unfähig zu glauben, was passiert war. Dan war tot. Der salzige Geschmack der Tränen, die über meine Wangen liefen und auf meinen aufgesprungenen Lippen brannten, brachte mich langsam in die Wirklichkeit zurück. Mein Kopf wußte, daß Dan tot war, doch mein Herz weigerte sich, dieser Logik zu folgen. Ich war allein, saß auf einem Felsen kurz unterhalb der 8000-Meter-Marke, starrte auf die unendlich weite Südseite des K2 hinunter und fragte mich, wo Dans Körper wohl zur Ruhe gekommen war. Es war mir hier oben in der dünnen, kalten Luft kein Trost zu wissen, daß Dans Geist für immer bei vielen von uns sein würde. Das waren Gedanken für eine andere Zeit. Für mich ging es jetzt darum, den Abstieg von K2 ohne Dan zu bewältigen. In dem Chaos der Gefühle und des Höhenrauschs versuchte ich, meine Situation einzuschätzen. Zunächst einmal mußte ich wieder zum Lager IV hinaufsteigen und die paar hundert Meter, die ich bei meinem Versuch, Dan zu finden, verloren hatte, mühselig zurückerobern. Die Zeit rann unbarmherzig dahin, und bei einem Blick auf meine Uhr stellte ich fest, daß wir – das heißt, jetzt nur noch ich – über fünfzehn Stunden in einer Höhe von über 8000 Meter geklettert waren. Ich war körperlich und seelisch am Ende. Mein letzter Bissen Essen lag drei Tage zurück. In weniger als einer Stunde würde die Dunkelheit das Karakorum-Gebirge einhüllen. Ich mußte mir
einen Plan zurechtlegen, um in dieser Situation überleben zu können. Vage wurde mir bewußt, daß zu allem anderen auch noch der Wind gedreht hatte – ein Sturm war im Anzug. Es war äußerste Vorsicht geboten, keine Zeit für Fehler. Ich fühlte mich schwach und verzweifelt, aber ich war auch fest entschlossen, heil ins Lager IV zurückzukommen. Eine halbe Stunde brauchte ich, bis ich die Strecke zurück zum Kamm bewältigt hatte. Als ich mühsam über den Grat entlangstapfte, kamen mir Stacy, John und John entgegen. Sie waren mit Seilen und Erste-Hilfe-Geräten ausgerüstet und voller Tatkraft, bei einer Rettung zu helfen. Doch es gab nichts für sie zu tun. Weinend erzählte ich ihnen, wie Dan umgekommen war; dann sank ich erschöpft hintenüber in den Schnee. John und John halfen mir wieder auf die Beine. Wir umarmten uns, die erste Umarmung von vielen. Ich erinnere mich dunkel, daß ich wie betäubt über den flachen Grat zum Zelt taumelte. Phil machte gerade etwas Heißes zu trinken, als ich in unser Zelt gekrochen kam. Im Hintergrund hörte ich Stacy mit Yousaf im Basislager reden und ihm die Nachricht von Dans Absturz übermitteln. Yousaf war tief erschüttert. Er und Dan waren gute Freunde geworden. Dan. Während ich in der Kälte mit meinen Stiefeln kämpfte, fragte ich mich, ob er vielleicht noch lebte. Bei Isolier Überschuhen ist es immer besonders schwierig, an die Schnür senkel zu kommen. Möglicherweise war er schwer verletzt. Ich zog meinen Daunenschlafsack eng um meine Schultern und ließ mich gegen die Rückwand des Zeltes sinken. Ob er blute te? Klammerte er sich vielleicht mit letzter Kraft an einen Felsen? Phil reichte mir einen Becher mit warmem Wasser, und ich nippte dankbar daran. Wenn jemand einen so entsetz
lichen Sturz überleben konnte, dann Dan. Mein Gott, er hatte schon ganz andere Sachen überstanden. Ich fühlte mich tod müde. Konnte er tatsächlich noch am Leben sein? Meine Phantasie versuchte die Oberhand über mein logisches Denken zu gewinnen. Ich wußte, Dan war tot. Sehr rasch wurde es Nacht, und der Wind frischte von Süden her auf. Nein, ich wußte, er war tot. Das heiße Wasser war ein Genuß. Meine kalten Finger schlossen sich um den warmen Becher und wärmten sich an ihm. Ich konnte mir immer noch nicht vorstellen, etwas ande res zu mir zu nehmen als Wasser. Bloß kein Essen. Die Nacht luft wurde von Minute zu Minute kälter, aber mein Schlafsack hielt mich warm. Nach einem weiteren Becher Wasser war ich endgültig am Ende. Ich brauchte unbedingt Schlaf. Gegen drei Uhr früh erreichte der Sturm seinen Höhepunkt. Wir waren im Grunde darauf gefaßt; das Umschlagen des Windes und das fallende Barometer hatten uns gewarnt. Ich hustete die ganze Nacht und hielt mich selbst und Phil damit wach. Phil horchte besorgt auf den Husten. Wichtig war, daß sich kein Sekret bildete. Doch es blieb bei einem trockenen, gereizten Bellen, ein gutes Zeichen. Allem Anschein nach hatte sich kein Höhenödem in meinen Lungen gebildet. Phil lehnte sich gegen die Zeltplanen, um die Belastung der Heringe durch den starken Wind etwas zu reduzieren, und harrte auf das Tageslicht. Wir waren zu fünft in unserem Lager über achttausend Meter: Phil, Stacy, John Haigh, John Petroske und ich. Beim ersten Tageslicht spähte Stacy aus dem Zelt und verkündete, daß die Sichtweite nur zehn Meter betrage.
Windböen klatschten gegen unsere winzigen Zelte und droh ten sie den Abhang hinunter zu wehen. Meine Gedanken wanderten wieder zu Dan. Ich wußte, ich würde ihn nie mehr wiedersehen. Gegen 8.00 Uhr hatten wir unsere Zelte abgebaut und die Ausrüstung verstaut und verließen Lager IV. Bei heftigsten Sturmböen und einer Sichtweite nahe Null tasteten wir uns von Markierung zu Markierung hinunter zum Lager III. Die fünfzehn Meter Abstand zwischen unseren Gletscherstöcken erschienen nun fast zu weit. Phil führte und sicherte unsere Route immer wieder gegen mögliche Lawinen durch Schnee verwehungen. Wirbelnde Eiskristalle stachen in mein Gesicht. Unablässig tobte der Sturm. Es gab keine Atempause in diesem erbarmungslosen Angriff auf meine Sinne. Der bloße Kampf ums Überleben half mir zu vergessen. Wir schleppten uns in die Schneehöhle von Lager III, dankbar für eine kurze Erholung von den grausamen Winden, die Orkanstärke erreicht hatten. Die Stille und Bequemlichkeit der Höhle bildete einen scharfen Kontrast zum Wüten des Ge birgssturms nur zwei Meter von uns entfernt. Ich streifte die Schutzbrille vom Gesicht und schälte zwei Zentimeter dickes Eis von den Rändern. Bald gab es warmes Wasser auf dem Kocher und den Trost einer kleinen Höhle im Schnee, in der sich fünf Freunde zu sammendrängten. In der Ruhepause dachte ich sofort wieder an Dan. Es ließ sich einfach nicht verdrängen. Es würde eine schwere Zeit werden. Ich lehnte mich zurück, schloß die Augen und sah Dan. Wieder fragte ich mich, ob er den Sturz womöglich überlebt hatte und verletzt irgendwo an der Süd seite hing. Solche Gedanken waren widersinnig. Ich hatte
seinen Absturz mit eigenen Augen gesehen. Ich hatte ihn sterben sehen. Trotzdem gaukelte mir meine Phantasie alle möglichen Bilder vor. Ich haßte diese Bilder: Dan blutend, allein, auf den Tod wartend, während der Sturm um ihn herum toste. Mit äußerster Anstrengung verdrängte ich solche Vorstellungen aus meinem Kopf. Dan war tot. Nach einer kurzen zweistündigen Rast schoben wir uns aus dem Eingang der Höhle, um den Elementen erneut zu trotzen. Wieder ging es ums nackte Leben. Der Wind peitschte gna denlos auf mein Gesicht ein. Erschöpft wandte ich ihm den Rücken und bereitete mich zum Abstieg vor. Phil hatte sein Gepäck vor der Höhle gelassen. Jetzt war es weg – den Berg hinunter geweht. Seine Kamera, seine Kleider, sein Schlafsack – alles weg. Wir mußten unbedingt von diesem Berg herunter, um dem Sturm und den tödlichen Auswirkungen der Höhe zu entrinnen. Vom Eingang der Höhle hatten wir Fixseile als Richtschnur gelegt, doch der Sturm setzte uns weiter zu, während wir an der Schwarzen Pyramide an den Seilen hingen. Wieder und wieder packte er mich und warf mich gegen die Felsen. John Haigh wurde von den Böen förmlich hochgeworfen und an den Berg geschmettert. Was bei ruhigem Wetter in einer Stunde zu schaffen gewesen war, verwandelte sich nun, im Toben des Sturms, in drei Stunden Anstrengung bis zum Letzten, zum Überlebenskampf. Ohne die Vorbereitung und das Training des vergangenen Monats wäre der Abstieg ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. So war uns wenigstens der Weg vertraut. Wir mußten nur mit äußerster Vorsicht vorge hen.
Als ich gegen 14.30 Uhr Lager II erreichte, war ich bereits entschlossen, die Nacht über hierzubleiben. Ich war zu schwach zum Weitergehen und hatte Angst, daß ich einen Fehler machen könnte, wenn ich mich weiter voranzwang. Phil, Stacy und John Haigh brachen zum Basislager auf, wo sie kurz nach dem Dunkelwerden anlangten. Peter Arbic und Ghulam kamen ihnen entgegengelaufen, und während Peter das Seil aufrollte, umarmte Ghulam seine Freunde. Er sagte nur: »Es tut mir so leid.« Später saß Phil in Ghulams Zelt und trank Tee. Ghulam sagte: »Jetzt versprichst du mir, daß du nie mehr auf den K2 zurückgehst.« Phil versprach es. John Pe troske war bei mir in Lager II geblieben. Gemeinsam verbrach ten wir die Nacht auf 6700 Metern Höhe. Der Sturm blies in der nächtlichen Finsternis mit unver minderter Heftigkeit weiter. John und ich wickelten uns fester in unsere Schlafsäcke und hofften, er würde nachlassen. Wir waren beide heilfroh, daß unser Team sich die Mühe gemacht hatte, das Zelt hinter einem kleinen Felskamm aufzubauen. Die anderen Zelte – die der Schweden und der Holländer – wurden hart vom Wetter gebeutelt und drohten zerfetzt zu werden. John und ich waren allein auf dem K2. Wir erwachten beim ersten Tageslicht des 9. Juli, nur um festzustellen, daß der Sturm unvermindert wütete. Nach einem kurzen Funkkontakt mit dem Basislager, bei dem wir erleichtert hörten, daß Stacy, John Haigh und Phil am vergan genen Abend heil angekommen waren, krabbelten wir aus unserem Zelt. Wir hatten uns sechzehn Stunden ausgeruht. Das half uns, uns wieder zu konzentrieren. Wir gingen mit höchster Vorsicht an jeden Abseilvorgang. Keiner wollte jetzt noch einen Fehler machen.
Zwei Stunden später, kurz nach zehn, waren wir in Lager I und taumelten in voller Montur in das kleine Zelt. Keiner von uns scherte sich um einen Riß, der durch ein Steigeisen in der dünnen Nylonwand entstanden war. Wir wollten bloß eins, heraus aus dem Sturm. Wir würden später zurückkommen, um unsere Ausrüstung vom Berg zu holen. Nach dreißig Minuten unter der dünnen Schutzhülle traten wir wieder hinaus in den Sturm und folgten weiter den Seilen hinunter zum vorgeschobenen Basislager. Wir brauchten zwei Stunden, um die Talsohle des Abruzzi-Grats zu erreichen, und ich fühlte mich sehr schwach. Ich hatte inzwischen seit über vier Tagen nichts mehr gegessen, und meine Energie war von dem tagelangen Aufenthalt über 7500 Meter und der emotio nalen Erschütterung durch Dans Tod aufgezehrt. Das Gewicht meines Rucksacks war zu schwer, und ich deponierte ihn hier. Ich würde ein andermal kommen und ihn holen. Vom vorgeschobenen Basislager aus folgte ich dankbar Johns Führung über den Godwin-Austen-Gletscher zum Basislager. Endlich, endlich hatten wir den Berg hinter uns. Der Marsch war eine Nerven- und Kraftprobe. Wir waren allesamt todmüde und lechzten danach, so schnell wie mög lich ins Basislager zu kommen, doch die wärmende Schnee decke auf dem Gletscher trug unser Gewicht nur schlecht. Alle paar Schritte brach wieder einer mit dem Fuß durch die har schige Oberfläche. Ich hätte am liebsten vor Wut geschrien. Der Anstrengung, mich ständig wieder aus knietiefen Löchern herausarbeiten zu müssen, nahm mir die letzten Kraftreser ven. Ich ließ mich innerlich fallen. In dem Gefühl, daß wir den Berg hinter uns hatten und damit jede wirklich ernsthafte Gefahr, ließ meine Wachsamkeit nach, und ich verlor beinahe
den körperlichen Willen weiterzumachen. Wir hatten dieses vertraute Terrain im Juni und Anfang Juli über fünfzehnmal überquert, als wir uns auf den endgültigen Aufstieg vorberei teten, doch dieser Marsch über den Godwin-Austen-Gletscher war bei weitem der langsamste und mühsamste. Dann hörten wir ein lautes Krachen hoch droben in den Wolken, die den K2 umhüllten. Ich sah John hinaufschauen. Träge folgte ich seinem Blick. Ich konnte nichts erkennen als die dicke, niedrige Wolkendek ke, die die umliegenden Bergmassive verbarg und uns den Blick auf den oberen Teil des K2 und den breiten Gipfel ver wehrte. Wir zuckten die Schultern und wandten unsere Auf merksamkeit wieder der entmutigenden Schneefläche zu. Sekunden später verwandelte sich das laute Rumpeln in eine riesige Lawine, die sich aus den Wolken ergoß. Die Süd seite des K2 hatte sich ihres vom Sturm aufgewehten Schnees entledigt. Weg! Aber wohin? Hier war nichts, wo wir uns hätten verkrie chen können. Nach einer Paniksekunde drehten John und ich dem herandonnernden Schnee den Rücken zu und kauerten uns auf die Knie nieder. Wenigstens lag ein Kilometer ebene Gletscherfläche zwischen uns und dem Fuß der Südseite des K2. Das mußte der Lawine etwas von ihrer Schubkraft neh men. Sie traf uns mit solcher Wucht, daß John mit einem Schlag von mir fortgerissen wurde. Ich spürte, wie es die Luft aus mir herauspreßte. Ich konnte nicht atmen. Die Wucht des Anpralls wirbelte mich auf Händen und Knien über den flachen Glet scher. Die Stoßkraft des Windes war überwältigend. Es war,
als ob ich in eine heftige Strömung geraten wäre, der giganti schen Woge der Lawine hilflos ausgeliefert. Ich konnte nur beten, daß die Schneewelle, die mich fortschleuderte, aus Pulverschnee bestand und keine größeren Eis- oder Felsbrok ken enthielt. Ein Treffer würde sicher nicht ohne ernstliche Verletzungen abgehen oder gar tödlich enden. Der wuchtige erste Anprall konnte nur ein paar Sekunden gedauert haben, aber er kam mir vor wie Minuten. Allmählich verlangsamte sich das Tempo der Lawine, und der Schnee begann sich über mir zusammenzuschieben. Glücklicherweise hatte sich, als die Kraft der Lawine verbraucht war, nur eine Hülle aus zwanzig Zentimetern lockerem Schnee um mich herum gelegt. Ich staunte über die Macht und die Gnade der Naturgewalten. Als ich mich umschaute, sah ich John nur fünf Meter von mir entfernt, in sein Seil verwickelt wie ein Weihnachtspaket. Er rappelte sich hoch und klopfte sich ab. Wir grinsten uns schwach zu, und ich sagte: »John, laß uns bloß nach Hause gehen.« Wir stolperten über den flachen Gletscher zu der Moräne, an der unser Basislager lag. Aus der Entfernung sah ich vier Leute in unsere Richtung marschieren. Als wir näher kamen, konnte ich Phil und meine drei kanadischen Freunde Troy, Peter und Barry unterscheiden. Sie hatten sich aufgemacht, um John und mir bei unseren letzten Schritten zum Basislager das Geleit zu geben. Die Emotionen schlugen hoch. Ich fühlte mich in den Armen der Freunde geborgen, aber die Zuneigung und Kame radschaft, die in ihren langen Umarmungen lagen, ließen auch gleich den Kummer und Schmerz aufbrechen, die ich tief in
mir verschlossen hatte. Jetzt gab ich ihnen nach, viel zu müde, als daß es mir noch irgend etwas ausgemacht hätte. Die Trä nen liefen mir übers Gesicht. Die letzten paar hundert Meter über die zerklüfteten Felsen zum Basislager verliefen ungewöhnlich still. Gott sei Dank. Der Schnee fiel leise, und die holländischen, katalonischen und englischen Teams blieben in ihren Zelten, als wir schwei gend durch ihre Lager gingen. Ich war innerlich auf dem absoluten Nullpunkt angekommen. Ich hatte keiner Kraft mehr, unsere Geschichte zu erzählen. Wäre ich weniger müde gewesen und hätte klarer denken können, dann hätte ich gewußt, daß es unbedeutend war – jeder Bergsteiger, gleich aus welchem Land, konnte nachvollziehen, was passiert war. Auch wenn es für mich ein ganz persönliches, einzigartiges Schicksal einschloß, für den K2 war sie typisch. Der K2 ist ein Killer So hielten alle ihre Zelteingänge fest geschlossen und ver schoben unseren Bericht auf später. Sie wußten, daß sie sich in ein paar Tagen oder Wochen vielleicht genauso fühlen würden wie ich jetzt und vielleicht ihre eigene tragische Geschichte nach der Gipfelbesteigung erleben würden. Die Rückkehr ins Basislager weckte noch mehr Empfindun gen. Wiedervereinigt mit meinen Freunden, Dans Freunden, hatte ich das unbeschreibliche Gefühl, der glücklichste Mensch der Welt zu sein. Wir weinten alle. Der Tod ist für die, die zurückbleiben, schwierig. Kaum ein Mensch hat Übung darin, seine tiefsten Gefühle und seinen Schmerz auszudrücken. Vielleicht hat das aber auch sein Gutes. Wir versuchten, nicht mehr über das, was passiert war, zu reden. Statt dessen retteten wir uns vor dem schlechten
Wetter ins Verpflegungszelt. Ich hockte ganz hinten in einer Ecke und hörte den anderen zu, während ich an einer Schale heißer Brühe aus Ghulams Küche nippte. Fünf Tage waren verstrichen, seit ich den letzten Bissen Essen zu mir genommen hatte. Mein Magen war noch empfindlich, aber die Suppe schmeckte köstlich. Nach einem zweiten heißen Getränk und ein paar Minuten schleppender Konversation entschuldigte ich mich schließlich und ging zu dem Zelt, das Dan und ich im Basislager geteilt hatten. Ich sehnte mich danach, meine Ausrüstung, meine Stiefel und meinen Anzug loszuwerden. Ich roch nach tageal tem Urin. Jetzt, wo ich den Berg im Rücken hatte, konnte ich meinen eigenen Gestank nicht mehr ertragen. Die inneren Schichten meiner Kleidung klebten an meinem Körper. Ich wollte alles abstreifen, was irgendwie mit dem K2 verbunden war. Das Zelt war noch genauso, wie wir es verlassen hatten, auch wenn die Plattform aus Fels und Eis, auf der es stand, in den sechs Tagen etwas zusammengeschmolzen war. Flüchtig streifte mich der Gedanke, daß ich es bald wieder würde versetzen müssen. Im Zelt waren noch die Sachen von Dan. Seine Bücher, sein Tagebuch, Briefe von zu Hause, nach der Gipfelbesteigung zu öffnen; Glücksbringer, die Freunde ge schickt hatten, hingen von der Decke, Bilder waren an die Zeltwand gepinnt – alles seins. Ich würde lange Zeit brauchen, über seinen Tod hinwegzukommen. Ich schälte mich aus meinem Anzug und der Unterwäsche, zog mich splitternackt aus und warf das ganze ekelerregende Zeug durch den Eingang in den Schnee. Ich stank zum Himmel.
Die kalte Luft biß auf meiner Haut. Ungläubig starrte ich auf meinen nackten Körper. Ich war zu einem Nichts abgemagert. Meine Muskeln waren ge schrumpft. Meine Beine fühlten sich weich und schlabbrig an. Da waren nur noch Haut und Knochen. Der K2 hatte seinen Tribut gefordert. Ich zog mir saubere Baumwollsachen über, kroch in meinen Schlafsack und schlief den Rest des Nachmit tags durch.
Chris Bonington aus Everest: Ein harter Brocken Sechs Expeditionen auf die massive und technisch schwierige Südwestseite des Mount Everest schlugen fehl, bevor der bri tische Bergsteiger Chris Bonington, geboren 1934, zu der Bergwand zurückkehrte, um 1975 seinen zweiten Versuch zu starten. Dougal Haston und Doug Scott übernahmen den Aufstieg zum Gipfel, und Bonington ließ sie 1976 in seinem Buch über die Tour ihre Geschichte erzählen. Doug Scott: Ich holte Dougal unterhalb der Felsgruppe ein und stieg weiter hinauf bis ans Ende der Schlucht. Ich entfernte das Eis vom Seil, während ich, mit Haken gesichert, nach oben stieg. Dabei wurde mir bewußt, wie hart Tut gekämpft haben muß te, um zuerst die Schlucht zu durchqueren und dann über den schneebedeckten Felsblock zu klettern, der auf halbem Weg dort eingeklemmt schien. Voller Interesse nahm ich die neue Perspektive wahr, denn die Seile führten durch eine riesige Spalte – eine wahre Teufelsküche von einer neunzig Meter tiefen Felsrinne, während der Mount Everest sonst eher durch ausgedehnte Abhänge und breite, offene Täler gekennzeichnet ist. Am oberen Ende der Schlucht folgte ich Nicks Seil steil nach oben. Ich nutzte es mehr als Sicherheitsgeländer statt als Möglichkeit, mich direkt daran hochzuziehen, denn er hatte mich warnend darauf hingewiesen, daß das Seil in Dübeln von zweifelhafter Qualität verankert sei. Es war unangenehm, mit einem schweren Rucksack zu klettern, vor allem weil die
Gurte sich ständig, in besonders schwierigen Abschnitten, lösten. Nick hatte beim Legen des Seils erstklassige Arbeit geleistet. Ich war froh, bis in diese Höhe gelangt zu sein und schlug zusätzliche Haken ein. Ang Phurba kam als nächster am Seil herauf, denn Dougal hatte weiter unten haltgemacht, um seine Steigeisen zu befe stigen, die immer wieder von seinen glatten Überschuhen rutschten. Außerdem löste er die Reste von Nicks Seil. Ang Phurba sicherte mich mit der Zuverlässigkeit eines geübten Bergsteigers. Ich glaube, er ist der naturbegabteste Kletterer, dem ich je unter den Sherpas begegnet bin. Nach nur neun Meter schwierigen Aufstiegs band ich das Seil ab, und Ang Phurba kam zu mir hoch. Ich stand erschöpft da, nachdem ich den drei Meter hohen, senkrechten Felsblock mit zu viel Kleidung und zu schwerem Rucksack hochgeklettert war. Von dort ließ ich sechsundsiebzig Meter Seil ab, bis zu einer Stelle für Basislager VI. Ang Phurba und ich traten eine kleine Kerbe in einen Schneegrat, die wir so erweiterten, daß wir unser Gipfelzelt aufstellen konnten. Dougal war nachgestiegen, die Steigeisen baumelten an seinen Hüften. Dougal Haston: Ich schleppte mich bis zu dem vorgesehenen Ort für Basislager VI. Sofort spürte ich wieder meine Energie und den Drang, ganz nach oben zu gelangen – dort vorne lag der Weg, den wir so lange hypothetisch mit dem Finger auf Abbildungen mar kiert hatten. Und die Tatsache, daß er zu bewältigen war, ließ uns alles andere vergessen. Direkt vor uns war ein steil ausse hender, felsiger Abgrund, aber danach folgten anscheinend nur noch schneebedeckte Hänge bis zur Schlucht. Es sah so
aus, als müßten wir gut vorankommen, solange die anderen keine Probleme mit dem Transport hatten. Ang Phurba mur melte immer wieder etwas über einen Lagerplatz weiter oben, unter einer Felsgruppe, aber das schien uns eine unnötige Anstrengung, da die Überquerung der Wand ja von unserem augenblicklichen Standort erfolgen sollte. Diplomatisch erklär ten wir ihm, daß wir dableiben würden, weil wir dieses Lager benutzen würden. Schließlich machte er sich auf den Rückweg und überließ uns seine kostbare Ladung. Wir fingen in regel mäßigen Abständen an zu graben, im Prinzip ohne Sauerstoff, nahmen aber gelegentlich etwas, um während der Pausen Kraft zu schöpfen. Mike, Chris und Mick kamen einer nach dem anderen an, sie sahen verständlicherweise müde aus. Schwere Lasten bis zu einer Höhe von 8230 Metern zu tragen, ist keine leichte Aufgabe. Doug Scott: Sie hatten großartige Arbeit geleistet, besonders Chris, der in Lager V und nun seit acht Tagen oben war. Aber auch Mick, der eine schwere Filmausrüstung zu tragen hatte. Er hatte fünf Tage in Lager V zugebracht. Und Pertemba hatte praktisch an jedem Tag der Expedition hart gearbeitet, indem er schwere Lasten trug und seine Sherpas ermutigte. Schließlich Mike Thompson, der nie zuvor auf einer Höhe von 7000 Metern gewesen war und nun mit scheinbarer Leichtigkeit einen schweren Rucksack bis zu einer Höhe von 8321 Metern schleppte. In vertraulichem Gespräch saßen wir am späten Nachmittag zusammen. Ein starkes kameradschaftliches Zusammengehörigkeitsgefühl verband uns seit Beginn der
Expedition. Einer nach dem anderen brach zu Lager V auf, wir bleiben mit dem Notwendigsten zurück. Den letzten Schritt zum Höhepunkt unserer Route und vielleicht sogar zum Gipfel mußten wir allein schaffen. Ich rief Mike noch unseren Dank hinunter, als sie sich am Seil hinabließen. Er wußte wohl, daß seine Chancen, den Gipfel zu besteigen, gering waren, denn er antwortete: »Kommt ihr nur oben an, eine andere Belohnung brauche ich nicht!« Und so war es während der ganzen Expedition mit allen Mitgliedern des Teams. Die gemeinsame Anstrengung von vierzig Sherpas, sechzehn Bergsteigern sowie Chris’ Planung waren notwendig gewesen, um uns beide bis zu diesem Punkt zu bringen. Uns war be wußt, wie glücklich wir uns schätzen mußten, die Vertreter einer solchen Gruppe zu sein und die Chance zu bekommen, all unsere Anstrengungen zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen. Schließlich machte sich auch Mick auf den Weg, nachdem er sein gesamtes Filmmaterial verbraucht hatte. Dougal und ich waren nun wirklich allein. Wir gruben eine solidere Plattform aus und stellten das Zwei-Mann-Zelt auf. Dabei arbeiteten wir ohne Sauerstoff und legten häufig Pausen ein, um uns zu erholen und über das obere Schneefeld zu blicken, das zur Schlucht des Südgipfels führte. Nachdem das Zelt aufgestellt war, ging Dougal hinein und bereitete das Abendessen vor. Ich hantierte währenddessen draußen herum, um Ausrüstungsgegenstände in einer kleinen Eishöhle zu verstauen und leere Sauerstoffflaschen als Gewichte am Zelt zu befestigen. Sie hingen dann in Girlandenform auf jeder Seite des Schneekamms herab. Schließlich packte ich Seil und Sauerstoffflaschen für den nächsten Morgen in unsere Ruck säcke und schlüpfte zu Dougal ins Zelt.
Dougal Haston: Drinnen besprachen wir den folgenden Tag. Wir hatten fünf hundert Meter Seil, die quer über den Berghang befestigt werden sollten. Anschließend wollten wir zu Lager VI zu rückkehren, um am nächsten Tag unser großes Abenteuer in Angriff zu nehmen. Ich war höher auf dem Mount Everest als jemals zuvor, dennoch lagen Gedanken an den Gipfel noch in weiter Ferne. Auch 1971 und 1972 war alles so nah erschienen: euphorische Abende in Lager V und VI; es sah so aus, als kämen wir gut voran, und man neigte dazu, Schwierigkeiten mit Visionen zu überspielen, in denen man sich selbst auf dem Gipfel der Südwestwand stehen sah. Dann zerstörte die Wirklichkeit nach und nach alle Träume, Niederlagen ließen die Seifenblase platzen. Beide Niederlagen waren unvermeidbar gewesen, hatten jedoch zu großer Enttäuschung geführt. Niederlagen muß man akzeptieren, aber das macht die Sache nicht leichter, besonders bei einem Projekt wie der Südwestwand, wo so viele Überlegungen, so viel Willenskraft und körperliche Anstrengung notwendig sind, um überhaupt die höheren Lagen zu erreichen. Diesmal sah es besser aus. Wir hatten den Felsgrat überwunden und das Terrain das vor uns lag, schien bewältigt werden zu können. Dennoch hielt ich meine Gedan ken streng im Zaum und konzentrierte mich vorläufig nur auf die Überquerung der Wand bis zum Ende der Schlucht. Sollte dies gelingen, würde ich mir weitere Überlegungen über einen anschließenden Aufstieg erlauben. Körperlich fühlten wir uns wohl. Das zeigt vielleicht, wel che Fortschritte wir hinsichtlich der Höhenanpassung gemacht hatten. Wir hatten viele Geschichten über stürmische Lager
plätze auf dem höchsten Gipfel der Welt gelesen oder gehört. Niemand schien jemals eine angenehme Nacht in Lager VI auf der südlichen Paßroute verbracht zu haben. Ihre Nächte schienen geprägt von Schlaflosigkeit, Unbehagen und Durst. Bei uns nichts dergleichen. Die Situation war gut auszuhalten. Wir fühlten uns nicht angespannt, nicht einmal müde oder unwohl, trotz des langen Tages. Mit dem Öfchen vertrieben wir uns die Zeit – wir brauten Tee, Zitronengetränke und bereiteten sogar eine vollständige Mahlzeit mit Fleisch und Kartoffelbrei zu. Jeder war mit sich beschäftigt, nur einmal kam es kurz zu einer gemeinschaftlichen Handlung, als ein Wechsel der Sauerstoffflasche schiefging und der Gasofen in einer weißen Flamme aufzischte. Aber bevor es zu einer Ex plosion kommen konnte, hatte Doug die undichte Stelle ge stopft, während ich gleichzeitig den Ofen abgestellt hatte. Als die Gefahr vorüber war, lachten wir und erinnerten uns an die Reaktion in Lager II, als Lager VI wie eine erfolgreich gezün dete Rakete explodierte. Es wäre wieder ein Grund für einen Mißerfolg gewesen! Danach forderte der Schlaf sein Recht, und ich bewegte mich sanft in eine Welt wirrer Träume, besänftigt durch das leise Rauschen des Sauerstoffs. Die Nacht wurde nur durch einen leichten Wind gestört, der unser Zelt hin und her wiegte, sowie den Wechsel der Sauerstoffflaschen. Man muß schon ein guter oder sehr erschöpfter Schläfer sein, um nicht wach zu werden, wenn der Sauerstoff ausgeht. Angenehm warme Behaglichkeit geht über in plötzliche Kälte. Kurz nach Mitter nacht und dem Austausch der Flaschen gaben wir das Schla fen auf und machten uns an die langwierige Aufgabe, die Arbeit des nächsten Morgens vorzubereiten. Nach Tagesanbruch ging ich hinaus in die blauweiße
Dämmerung, um weiter nach oben zu steigen, während Doug, in sämtliche Daunen gehüllt, im Zelteingang zurückblieb, Kameras und Sicherheitsausrüstung startbereit. Weiter vorn drohte ein Felsvorsprung, der am Spätnachmittag des voran gegangenen Tages, im Licht der untergehenden Sonne, eini germaßen nah erschienen war. Jetzt, im klaren Licht des Ta gesanbruchs, ergab sich eine realistischere Perspektive: Ich stapfte durch den tiefen Pulverschnee eines fünfzig Grad steilen Abhangs, rutschte seitlich ab wie eine Krabbe außer halb ihres Elementes und strebte ein Ziel an, das kein bißchen näher zu kommen schien. Hundert Meter kämpfte ich mich auf diese Weise vorwärts, bis ich endlich einen Haken befesti gen und die Felsstufe genauer betrachten konnte. Sie war nicht lang, sieben oder acht Meter, sah aber schwierig genug aus. Hangabwärts steile Steinplatten mit Puderschicht. Interessante Arbeit. Grad 51 in dieser Höhenlage. Mit äußerster Konzentra tion gelang es mir, drei weitere Haken einzuschlagen, dann ging’s, fürs erste dankbar, zurück in den tiefen Schnee, um das restliche Seil zu befestigen und schließlich Doug das Startsi gnal zu geben. Doug Scott: Ich überquerte den Hang an seinem Seil und kletterte die schwierigen Felsen hinauf bis zu seinem Standort. Ich brachte weitere einhundertzwanzig Meter auf sehr viel leichter begeh barem Boden hinter mich, parallel zur Spitze der Felsgruppe. Langsam wuchsen wir in die Aufgabe hinein und begannen, Es gibt 6 Schwierigkeitsgrade beim Bergsteigen, Grad 6 ist der schwierig ste. Grad 5 ist ziemlich steil und schwierig. Mit Sicherheit ist er noch nie zuvor in dieser Höhe in Angriff genommen worden. (Anm. d. Autors) 1
unsere Lage zu genießen. Nachdem wir monatelang davon geträumt hatten, überquerten wir nun tatsächlich das obere Schneefeld. Dougal rollte die nächste Seiltrommel ab. Dougal Haston: Die Kletterbedingungen und der Schwierigkeitsgrad änderten sich erneut. Ich trat mit den Steigeisen in die Schneedecke und stellte fest, daß kein Eis darunter war. Nur Felsplatten, die noch nie dafür berühmt gewesen sind, guten Halt zu bieten. Wenige prüfende Bewegungen nach oben, unten und zur Seite genügten, um zu erkennen, daß sie rundherum waren. Der Zeitpunkt für eine spannende Überquerung schien gekom men. Aber worauf? Der Fels war brüchig, und was noch schlimmer war – es gab keine Spalten. Nachdem ich eine große Fläche freigekratzt hatte, erschien eine dünne, bewegliche Schicht. Die mußte genügen. Ich klopfte an eine Felskante, die stabil genug schien, um daran zu ziehen – einen Sprung hätte sie allerdings nicht ausgehalten – und fing an, mich daran entlangzuhangeln in Richtung auf einen einladend aussehen den Schneeklumpen. Gedanken an eine ähnliche Überquerung vor neun Jahren tauchten auf, in der Nähe des Gipfels der Eiger-Nordwand. Ein Fehltritt damals, und alles wäre vorbei gewesen. Und plötzlich, bei genauerer Betrachtung, sahen die Dinge hier für jemanden, der gern in dieser Richtung dachte, nicht allzu gut aus. Ich aber gehörte nicht zu dieser Sorte, ja, ich wagte es auch gar nicht, über die Konsequenzen nachzu denken. Und um die gefährlichen Gedanken zu vertreiben, konzentrierte ich mich darauf, auf Zehenspitzen voranzu schreiten. Langsam war die Grenze der Spannung erreicht, und meine Füße befanden sich auf halbwegs haftendem
Schnee. Das muß für den Augenblick genügen, dachte ich, als ich das Seil losließ und mich umschaute. Einige Probehiebe mit der Axt brachten nur ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Kein Mensch ist eine Insel, heißt es. Ich war nahe daran, diesen Satz zu widerlegen, wie ich da so auf dieser unsicheren Schneestufe stand, mitten in einem Meer von Ungewißheit. Aber es gab keinen Adrenalinstoß, nur den klinisch-kalten Gedanken an jahrelange Erfahrung. Ungefähr fünf Meter weiter schien der Schnee tiefer zu werden. Eine weitere kon zentrierte Überquerung würde nötig sein. Langes Herumgra ben, keine Spalten. Zerren am Seil und Dougs ungeduldiges Rufen. Kommunikation in großer Höhe ist in schwierigen Situationen schlecht. Man muß die Sauerstoffmaske abneh men, um rufen zu können. Wenn man es dann versucht, ist der Hals so trocken und schmerzt, daß kein Ton heraus kommt. In der Hoffnung, daß Doug kühlen Kopf bewahren würde, machte ich weiter und suchte nach geeigneten Stellen für einen Haken. Eine brauchbar aussehende Spalte tauchte auf, und zwei aneinandergekoppelte Haken bedeuteten, daß das Spiel weitergehen konnte. Diesmal hatte ich das Gefühl, daß ich mehr Gewicht an den Haken hängen konnte. Um so besser. Zweimal hielt die Spannung nicht stand, ich rutschte auf den dünnen Platten nach rückwärts ab. Aber nach einem dritten Versuch landete ich in tiefem, gutem Schnee und saugte gierig Sauerstoff ein. Der Weg weiter vorn sah an nehmbar aus. Meine Stimme hatte wieder genügend Kraft, um Doug zuzurufen, und kurz darauf machte er sich auf den Weg. Nachfolgen ist normalerweise recht monoton – man hangelt sich an den vorbereiteten Sicherheitshaken nach oben. Diesmal war es anders. Ich konnte fast das Leuchten in Dougs Augen sehen, das durch die Brillengläser schien, als er den ersten
Haken mit seinen Fingern herauszog. »Gefährlich, mein Junge!« Ich mußte ihm zustimmen, während er weiterkletterte. Doug Scott: Ich stieg weiter, indem ich eins unserer beiden Kletterseile benutzte, bevor ich mich leicht hinunterfallen ließ, um abzusi chern. Wir waren wahrscheinlich zu weit oben, denn es gab leichteren Schnee unterhalb der Felsen, die geradewegs hoch zum südlichen Gipfel führten. Allerdings stürzten immer noch Lawinen den Berg hinab, deshalb kletterten wir zu den Felsen hoch, um gute Ankerplätze für die Fixseile zu finden. Wir wollten nicht am nächsten Tag zurückkommen und sie von der Felsgruppe runterhängend vorfinden. Dougal führte ein kurzes Stück auf leichtem Schnee, dann hatten wir kein Seil mehr und kehrten zurück zum Lager. Ich saß im Schnee, um Fotos zu machen und beobachtete, wie die Sonne über dem Gaurishankar unterging. Welch ein Aussichtsplatz! Ich konnte geradewegs auf Lager II, 1829 Meter weiter unten, schauen. Menschen bewegten sich dort zwischen Zelten, offensichtlich trafen sie Vorbereitungen für die Nacht. Berge an Ausrüstung wurden mit Planen abge deckt, ein oder zwei wanderten hinaus zur GletscherspaltenToilette, andere standen in kleinen Gruppen herum, bevor sie für die Nacht in ihre Zelte schlüpften. Eine Schattenlinie kroch die Bergwand hinauf zu Lager IV, als ich zu unserem Zelt zurückkehrte. Wieder sortierte ich unser Gepäck und bereitete die Sauerstoffflaschen für die Nacht vor, während Dougal Schnee für unser Abendessen schmolz. Über Funk erfuhren wir, daß nur Lhakpa Dorje es an die
sem Tag bis Lager VI geschafft hatte. Es war ihm gelungen, lebenswichtige Sauerstoffvorräte hinaufzubringen, aber leider waren Nahrungsmittel, Kamera und weiteres Filmmaterial, das wir brauchten, noch nicht angekommen. Na ja, diese Dinge waren nicht so wichtig, jedenfalls konnten wir am nächsten Tag unseren Versuch starten, den Gipfel zu bestei gen. Es gab auch kein Seil mehr im Lager, aber ich glaube, wir waren beide insgeheim darüber erleichtert. Chris hatte immer betont, daß derjenige, der als erster versucht, den Gipfel zu erreichen, so viel Seil wie möglich befestigen solle. Denn sollte der Versuch mißlingen, sei er doch nicht vergeblich gewesen. Das leuchtete ein, aber es erforderte große Anstrengung dort oben, und wir alle sehnten den Augenblick herbei, an dem wir uns von den Fixseilen würden lösen können. Es war ein wun derbarer Abend, absolut windstill. Wir saßen im Zelt, nippten an unserem Tee und schauten hinaus. Schließlich hatte die Sonne unser Zelt verlassen und strahlte nur noch auf die oberen Schneefelder, die goldene Färbung ging in Rot über, dann war der ganze Berg in Schatten gehüllt. Wir schlossen den Reißverschluß am Zelteingang und produzierten einen ziemlichen Mief, indem wir Wasser für eine Büchse Hack fleisch erhitzten. Dougal Haston: Fünfhundert Meter erkämpftes Terrain waren eine gute Tages leistung, gleichgültig an welcher Stelle des Berges man sich bewegte. Die Tatsache, daß dies alles in einer Höhe von 8230 Metern erreicht war, erhöhte den Wert unserer Leistung, noch dazu, wenn man bedenkt, daß wir uns dabei nicht einmal allzusehr verausgabt hatten. Das war von entscheidender
Bedeutung, denn in solchen Höhen kommt es rasch zur Er schöpfung. Beim Tee besprachen wir, was wir am nächsten Tag in Angriff nehmen wollten. Ich kalkulierte die Möglichkeit ein, daß wir die Nacht in einem Biwak zubringen mußten. Doug sträubte sich gegen die bloße Vorstellung, war aber damit einverstanden, einen Zeltsack und einen Ofen einzu packen. Das Gepäck würde nicht leicht sein. Zwei Sauerstoff flaschen für jeden würden wir für den zweifellos langen Tag brauchen, hinzukamen drei fünfzig Meter lange Seile, sowie verschiedene Dübel und Karabinerhaken. Selbst wenn wir mit einem Biwaklager rechneten, konnten wir keinen Schlafsack mitnehmen. Das würde das Gewicht zu stark erhöhen. Die Biwak-Idee galt nur für den Notfall, und wir hätten diesen Notfall wahrscheinlicher gemacht, wenn wir uns selbst durch zu viel Gewicht gebremst hätten – also versuchten wir, diese Möglichkeit auszuschalten, indem wir so leicht bepackt wie möglich gingen. Das einzige Extra, das ich mir erlaubte, war ein Paar Socken. Ich rechnete damit, daß sie von unschätzba rem Wert sein könnten, wenn es galt, sehr kalte oder sogar erfrorene Füße und Hände zu wärmen. Es gab nichts Dramati sches an diesem Abend. Noch nicht einmal eine außergewöhn liche Unterhaltung. Wir gaben eine Funkmeldung nach unten durch und teilten unseren Leuten in Lager II mit, was wir taten. Dann aßen wir den Rest unserer Nahrungsmittel und schliefen ein. Doug Scott: Gegen 1.00 Uhr nachts erwachten wir vom aufkommenden Wind. Er rüttelte am Zelt, schüttelte es, schleuderte Schnee und Eissplitter dagegen. Ich lag da und fragte mich, was der
Morgen wohl bringen würde. Wenn der Wind stärker wurde, würden wir sicher nicht in der Lage sein, uns fortzubewegen. Gegen 2.30 Uhr begannen wir langsam, uns für den Aufstieg fertigzumachen. Wir setzten Tee auf und wärmten die Hack fleischreste fürs Frühstück auf. Der Wind nahm allmählich ab, als wir in unsere eiskalten Stiefel stiegen und die Reißver schlüsse unserer Anzüge hochzogen. Dougal wählte seinen Daunenanzug, während ich nur meine wasserdichten Sachen anzog. Ich hoffte, ohne die Behinderung durch dicht gepackte Federn um meine Beine schneller und leichter voranzukom men. Noch nie hatte ich einen daunengefüllten Anzug gefun den, der mir richtig gepaßt hätte. Wegen der starken Kälte mußten wir Steigeisen, Gurte, ja sogar Rucksack und Sauerstoffausrüstung im warmen Zelt anlegen. Kurz nach 3.30 Uhr krochen wir heraus, um gerade wegs den Seilen und unserem Ziel zuzustreben. Es war ein stürmischer Morgen, die Dunkelheit machte uns zu schaffen, und es herrschte eine elende Kälte. Es war einer jener Tage, an denen man nur deshalb weitergeht, weil der Partner es tut, und dem geht es zweifellos genauso. Als wir das Ende der Fixseile erreicht hatten, tauchte die Sonne hinter dem Südgip fel auf, und wir blickten dem neuen Tag entgegen. Dankbar genossen wir die Unterstützung durch unsere Sicherheitslinie, denn das sind Fixseile ja letztendlich. Sie erleichtern die Fort bewegung in der Gruppe, nehmen dem Bergsteigen allerdings auch das Abenteuerliche. Jetzt vertrauten wir uns endlich ganz unserem Schicksal an, und es war ein erhebendes Gefühl, sich selbst überlassen zu sein.
Dougal Haston: Es hat etwas Surrealistisches, um diese Zeit ganz allein so hoch oben auf dem Mount Everest zu sein. Die seltsame Schönheit dieser Erfahrung ist nicht zu fassen. Allein, eingeschlossen in einer Sauerstoffmaske, das harte Rasseln deiner Atmung in deinen Ohren. Weit hinten im Westen hinter dem Cho Oyu vereinzelt blasse Streifen, die den Tag ankündigen. Ringsher um tiefes Mitternachtsblau, vor dem sich der Südgipfel deut lich abhebt, weißlich, scharf umrissen. Dazu ständig der Wind der nahen Dämmerung, der herumstreunende Boten des Schneetreibens aufgreift und sanft, keineswegs bösartig, um mich herum wirbelt. Wir bewegten uns leicht und entspannt. Als ich an den schwierigen Stellen von gestern vorbeikam, blitzte nur kurz die Erinnerung daran in mir auf. Später würde ich mich wieder mit diesen Erlebnissen beschäftigen, heute wollte ich mich bewußt auf die neuen Erfahrungen konzen trieren. Nervosität oder böse Vorahnungen mußte ich ver drängen, glücklich und entspannt, erwartungsvoll, wollte ich dem Neuen entgegentreten. Lebenszeichen am Seil hinten deuteten darauf hin, daß Doug rasch folgte. Ich wartete bei den Sauerstoffflaschen, die wir gestern zurückgelassen hatten, als er, zur gleichen Zeit wie die Sonne, auftauchte. Es sah aus, als sei er von einem Heiligenschein umgeben. Im Hintergrund unzählige Bergspitzen. Aber das war kein Heiliger. »Alles in Ordnung, Junge?« klang es in typisch Nottin gerhamer Akzent. »Ja, und bei dir?« Er beantwortete die Frage, indem er nickte und eine Kamera hervorzog, um Bilder vom Sonnenaufgang zu machen. Also befestigte ich das Seil und begann, den weiteren Weg zu
bahnen. Der Eingang zur Schlucht war nicht gerade ein leicht begehbares Gelände, aber für Himalaja-Verhältnisse war es auch keine allzu große Herausforderung. Nichts als knietiefer Pulverschnee, gelegentlich unterbrochen durch Stellen, wo kein Schnee auf dem Felsen lag und man sehr überlegen mußte, wie man weiterkam. Im letzten Teil, bevor wir in die eigentliche Schlucht kamen, folgte ein ziemlich langer Ab schnitt dieser Art, wo wir nur zusammen kletterten. Dabei war jeder auf das Können des Partners angewiesen. Zwischen durch zogen wir das Seil nach, da es keine nennenswerten Sicherungen gab. Der Seilabschnitt vor dem Felsvorsprung verwandelte sich in wunderschönes, hartes, nach vorn weisendes Eis, aber meine Freude schien plötzlich abzunehmen. Ich führte, kam aber immer langsamer voran. Mittlerweile kannten wir die Anzeichen. Ich wußte, daß es nicht an mir lag. Man wird einfach nicht so schnell schwächer. Wieder Sauerstoff. Der Behälter konnte doch noch nicht leer sein! Unter großer Kraft anstrengung erreichte ich einen Standort unterhalb des Fels vorsprungs. Rucksack ab. Zunächst einmal den Druckmesser an der Sauerstoffflasche prüfen. Noch viel übrig. Das sah schlecht aus. Dann mußte das System kaputt sein. Doug kam nach. Wir beide begannen mit den Nachforschungen. Über eine Stunde probierten wir herum. Vergeblich. Seltsamerweise war ich ganz ruhig und blickte allem gelassen entgegen. Ich sage seltsamerweise, denn wenn sich herausgestellt hätte, daß das System nicht repariert werden konnte, hätten wir damit unsere Chance, den Gipfel zu besteigen, verloren. Nur eine leise Wolke der Enttäuschung zog sich über unseren Köpfen zusammen. Doug entschied sich für einen letzten Versuch: »Nehmen wir alles Stück für Stück auseinander, mein Kleiner.
Wir haben nichts zu verlieren.« Ich nickte nur, während er anfing, die Befestigungsklammer, die den Schlauch mit dem Mundstück verband, zu lösen. Endlich etwas Positives – ein Stück Eis war fest in das Verbindungsstück eingeklemmt. Nachdem wir es mit einem Messer herausgeholt hatten, steck ten wir die beiden Teile probeweise wieder zusammen, öffne ten den Zufluß, damit wir feststellen konnten, ob Sauerstoff verbraucht wurde. Ein paar feste Züge an der Maske – das war’s. Ich konnte wieder frei atmen. Doug machte sich auf den Weg zum Felsvorsprung, wäh rend ich zurückblieb und darüber nachdachte, was uns soeben gerettet hatte. Ich überlegte noch ganz ruhig, konnte mir aber auch langsam vorstellen, wie enttäuscht ich in meinem Inner sten gewesen wäre, wenn wir aufgrund eines technischen Mangels hätten aufgeben müssen. Persönliches Scheitern muß man akzeptieren, so bitter es auch sein mag. Einen Rückzug infolge einer schlechten Wetterlage ebenfalls. Wären wir jedoch gescheitert, weil ein durch Menschen konstruiertes System nicht funktionierte, so hätte dies eine seelische Narbe hinterlassen. Aber jetzt hieß es, sich wieder auf den Aufstieg zu konzentrieren. Träge, aber konzentriert beobachtete ich Doug. Er kletterte gut. Langsam, entspannt, schlug er die restlichen Sicherheitsdübel ein. Nur seine seltsame, maskierte und bucklige Gestalt wies darauf hin, daß er rauhe Felsen in 8534 Meter Höhe erklomm. Doug Scott: Zuerst eroberte ich mir meinen Weg von Dougals Standort aus leicht durch tiefen, weichen Schnee. Aber dann wurde es steiler, und die Schneeschicht nahm ab, bis sie nur noch eine
dünne Auflage für die darunter liegenden gelben, unförmigen Felsen war. Ich ging neun Meter weit ziemlich steil nach oben, wobei ich hoffte, daß die Spitzen meiner Steigeisen sich gut in den sandigen Felsen unter dem Schnee eingraben würden. Es gelang mir, drei Dübel dicht nebeneinander einzuschlagen, und ich hoffte, daß einer davon halten würde, sollte ich fallen. Die nächsten neun Meter waren jedoch weniger steil, und es lag auch mehr Schnee. Das war ein Glück, denn mir war der Sauerstoff ausgegangen. Ich erreichte einen Standort, der etwa dreißig Meter oberhalb von Dougal lag. Mit keuchenden Lungen begann ich, das Seil abzulassen. Ich schlug den letzten Haken ein und rief Dougal zu, er solle hochkommen. Während er am Seil heraufkletterte, machte ich Aufnahmen und wech selte meine Sauerstoffflasche aus. Die leere Flasche befestigte ich an den Haken. Wir befanden uns nun in der Schlucht zur Südspitze, und es schien einen deutlichen Weg zum Gipfel der Südwestwand zu geben. Jeder von uns ging noch einen Seilabschnitt, dann hielten wir an, um über die Route zu sprechen. Dougals Sportsgeist kam zum Vorschein – er stellte sich eine direkte Durchquerung der Schlucht, geradewegs hinauf zum HillaryFelsen, vor. Aufgrund des weichen Schnees war ich von dieser Idee nicht begeistert, also zuckte er die Achseln und ging weiter in Richtung Südspitze. Ich weiß nicht, ob der direkte Weg weniger anstrengend gewesen wäre, aber von jetzt an wurde die Route zur Südspitze zunehmend schwieriger. Dougal Haston: Die Südwestwand gab in ihrem Widerstand auch nicht ein bißchen nach. Das wurde sehr offensichtlich, als ich mir den
Weg am ersten Seilabschnitt über dem Felsvorsprung bahnte. Während meiner 18jährigen Erfahrung als Bergsteiger habe ich viele schlechte Schneeverhältnisse erlebt. Chris und ich waren einmal, als wir im Winter versucht hatten, einen neuen Weg auf die Nordwand des Grandes Jorasses zu finden, bis zu den Schultern im Schnee versunken und mußten daher aufgeben. Der Schnee in der Schlucht war nicht so tief, aber es schien viel schwieriger zu sein, damit fertig zu werden. In den Alpen hatten wir uns zurückgezogen, aber jetzt wollten wir vor wärtskommen. Vorwärtskommen? Das Wort wirkte fast lächerlich, da ich mich immer langsamer bewegte. Ein Schritt, und schon war ich bis zur Taille eingesunken. Versuche, nach oben zu kommen, endeten nur damit, daß ich noch tiefer sank. Zeit für eine neue Technik: Schritt nach oben, einsinken, dann anfangen, wie ein tapfer kämpfender Schneepflug das Seil frei zu machen. Vielleicht schaffst du es, dich ein bißchen weiter zu bewegen und nur bis zu den Knien einzusinken. Nachdem wir uns auf diese Weise zwei Seilabschnitte schwer erarbeitet hatten, beschlossen wir, weiter links einen direkteren Weg zu wählen. Das hatte ich Doug bereits ja vorher ganz spontan vorgeschlagen. Ich dachte darüber nach und kam nach kurzer Überlegung zu dem Schluß, daß wir beim augenblicklichen Stand der Dinge froh sein konnten, wenn wir die Südspitze überhaupt erreichten. Es hatte ausgesehen, als würden die Bedingungen besser, aber das war nicht der Fall. Der Abhang wurde um sechs Grad steiler. Ich schwang mich rechts hinüber zu einem Felsvor sprung, um so zu versuchen, dieser Falle der Natur zu ent kommen. Es gab keine Erleichterung für uns. Die Schneever hältnisse blieben gleich, und es war steiler. Außerdem befan den wir uns jetzt auch noch auf offenen Abhängen, so daß wir
dem Wind ausgesetzt waren. Hinzu kam eine harte Eiskruste. Klassische Bedingungen für vom Wind ausgelöste Lawinen. Mit einer Art verrückter, kalter Wut pflügte ich mich weiter durch den Schnee. Es gab keine Stelle, an der man hätte halten können, um sich abzusichern. Einfach keine Möglichkeit. Ich hatte einen Rhythmus gefunden und setzte mein wütendes Aufwärtsstreben fort, Doug folgte mir dicht auf den Fersen. Wenn ich einen halben Meter tief in einem Loch feststeckte, schlug ich mit dem Seil auf die Eiskruste, um sie zu zertrüm mern, schob die Stücke weg, zog mich nach oben, sank wieder ein. Bis zum Oberschenkel. Freischaufeln. Bis zu den Knien. Einen Meter geschafft. Dann das Ganze von vorn. Es war gut, daß Doug so dicht hinter mir war, denn manchmal, wenn das Vorwärtskommen ganz besonders schwierig war, konnte er mich mit beiden Händen im Rücken abstützen, damit ich nicht nach hinten rutschte. Stunden verflogen wie Minuten. Aber immer noch ging es aufwärts. Doug Scott: Ich übernahm die unangenehme Arbeit, als es anfing, leichter zu werden. Ich kletterte über einige Felsen, die aus dem Schnee herausragten, und bemerkte zwischen Felsen und Firn eine Höhle – vielleicht konnte sie später als Biwak dienen. Kurz vor der Südspitze legte ich eine Rast ein, bis Dougal mich erreicht hatte. Dann setzte ich den Weg um die Südspitze fort, während er Atem schöpfte. Ich kroch auf allen vieren, der Wind wirbelte den Schnee um mich herum auf. An einer sicheren Stelle, kurz unterhalb der Kammlinie, brach ich zusammen und zog das Seil ein, während Dougal meiner Spur folgte. Nach einer kurzen Pause kletterten wir beide auf den
Bergkamm. Vor uns lag Tibet! Nach all den Monaten, die wir im westlichen Cwm ver bracht hatten, und zwei anderen Expeditionen konnten wir nun endlich vom Cwm auf die Welt unter uns hinabschauen – auf die endlose, braune Erde Tibets im Norden und Nord osten, auf den Kangchenjunga und genau unter uns auf den Makalu und Chomo Lonzo. Keiner von uns sagte viel. Wir standen nur da, versunken in den Anblick. Dougal Haston: Der Wind pfiff wie verrückt um die Südspitze. Die Bergwand hatten wir erfolgreich erklommen, aber uns fehlte die Ruhe, uns lange darüber zu freuen. Wir hätten eigentlich in Hoch stimmung sein müssen, aber so war es nicht. Sicher, wir hatten die Bergwand bewältigt, aber keiner von uns wollte dort anhalten. Der Gipfel lockte. In den Alpen ist man oft damit zufrieden, eine bestimmte Route zu absolvieren, ohne den Gipfel zu besteigen. Aber im Himalaja ist das irgendwie anders. Eine Expedition gilt nur dann als erfolgreich, wenn man es bis zur Spitze geschafft hat. Wir wußten alles über den Weg, der vor uns lag. Es war der Südost-Kamm, die Originalroute, die Hillary und Tenzing 1953 genommen hatten. Wir mußten mit viel Schnee, aber nicht mit allzu großen technischen Schwierigkeiten rechnen. Aber Schnee auf dem Kamm würde, ähnlich wie der Schnee in der Schlucht, den Aufstieg stärker behindern als irgendwelche technischen Schwierigkeiten. Komplikationen und Ungewiß heit drohten von allen Seiten. Meine Vorstellung war, bis zum Sonnenuntergang oder noch länger im Zelt zu sitzen und dann auf den Kamm zu
steigen, wenn der Schnee voraussichtlich hart gefroren war. Doug leuchtete die Überlegung zwar ein, aber er war offenbar nicht allzu glücklich über dieses Vorgehen. Da jedoch von seiner Seite keine Gegenvorschläge kamen, schlüpfte ich ins Zelt, zündete den Ofen an, um unser Denkvermögen mit etwas heißem Wasser anzukurbeln. Doug begann, eine flache Schneehöhle in die Wächte zu graben und zeigte damit, daß er meine Idee nicht völlig ablehnte. Das heiße Wasser, das durch unsere rauhen, angegriffenen Kehlen floß, rettete uns vor der Gefahr, in Lethargie und Pessimismus zu verfallen. Während er sein Gepäck auf den Rücken warf, sagte Doug rauh: »Ich schau kurz nach dem Seil. Ich will wenigstens eine Seillänge testen, um zu sehen, wie die Bedingungen sind. Sind sie zu schlecht, lagern wir hier. Andernfalls gehen wir weiter, solange es möglich ist.« Das schien mir vernünftig, also nahm ich das Seil, während er in Richtung Nepal verschwand. Die Tatsache, daß das Seil rasch durch meine Hände glitt, schien mir ein gutes Vorzei chen zu sein. Als das Ende erreicht war, signalisierte Doug »Nachkommen!« Während ich ihm schnell nachfolgte, wurde mir klar, daß jetzt die Möglichkeit, den Gipfel zu erklimmen, in greifbarer Nähe lag. Die Bedingungen waren keineswegs hervorragend, aber im Vergleich zu jenen in der Schlucht konnte man sie als »annehmbar« bezeichnen. Ich brauchte nichts zu sagen, als ich Doug erreichte. Er trat nur zur Seite, wechselte das Seil, und ich ging weiter. Wildes, wunderbares Land! Auf der linken Seite fiel die Südwestwand steil ab, rechts wiesen stürmisch geschwungene Schneewächten den Weg nach Tibet. Vorsicht war geboten, aber in unseren Bewe
gungen lag eine gewisse Hochstimmung. Der Hillary-Felsen2 tauchte auf, mit keiner der Aufnahmen zu vergleichen, die wir gesehen hatten. Kein Felsvorsprung, nur eine Unterbrechung der Linie innerhalb des Schneekamms. Siebzig Grad steiler Abgrund über eine Länge von vierundzwanzig Metern. Ich war wieder an der Reihe mit Auskundschaften. Die Bedin gungen verschlechterten sich, aber inzwischen hatte ich mich so an die Technik gewöhnt, daß sogar die zehn Grad extra kein allzu großes Problem darstellten. Doug Scott: Als ich Dougal auf dem Hillary-Felsen absicherte, wurde mir allmählich bewußt, daß wir tatsächlich den Gipfel des »Gro ßen Everest« erklimmen würden. Ich machte noch ein Foto von Dougal und stellte beim Weiterdrehen des Films fest, daß er voll war. In meinem Rucksack war wohl auch kein Film mehr, denn ich hatte Filmmaterial und Schutzhandschuhe mit der Biwakplane und dem Ofen am Südgipfel zurückgelassen. Nachdem ich meine Sauerstoffmaske und den Rucksack abgenommen hatte, stellte ich sie auf den Bergkamm vor mir. Rittlings saß ich darauf, ein Bein in Nepal, das andere in Tibet. Hoffentlich würde Dougal jetzt nicht abrutschen, denn ich fand keine andere Möglichkeit, als das Seil zwischen die Zähne zu nehmen, während ich in meinem Rucksack herum wühlte. Ich fand doch noch eine Farbfilm-Kassette, die ir gendwie vor ein paar Tagen im Rucksack geblieben war. Es war sehr kalt, und der spröde gewordene Film brach ständig Ein senkrechter Vorsprung von etwa 24 Metern, der das letzte schwere Hindernis auf dem Weg zum Gipfel des Mount Everest darstellt. (Anm. d. Autors) 2
ab. Der Wind war stark und wehte den Schnee, den Dougal auf der nepalesischen Seite hinunterschickte, direkt zurück in die Luft und hinüber nach Tibet. Ich legte den Film in die Kamera und folgte ihm. Das war die Stelle, wo Ed Hillary sich wie durch einen Kamin die Gletscherspalte zwischen Fels und Eis hinaufgekämpft hatte. Jetzt war durch den ganzen Monsun-Schnee alles gut bedeckt, allerdings hatte dieser Schnee die Konsistenz von Zucker, so daß es wirklich schwierig aussah. Wie der breite Rücken eines Wals streckte sich der Kamm über die letzten zweihundertsiebzig Meter. Es ging jetzt nur darum, einen Weg zu bahnen. Manchmal hielt die Kruste für einige Schritte, dann strauchelten wir plötzlich, weil wir bis zu den Knien eingebrochen waren. Während des gesamten We ges waren wir uns vollkommen der Gefahr bewußt, welche die riesigen Monsunwächten darstellten, die über die 3048 Meter tiefe Ostwand des Mount Everest hinabhingen. Wir hielten uns daher möglichst links. Es war während der Spurensuche in diesem letzten Ab schnitt, als mir auffiel, daß mein Verstand auf zwei Ebenen zu arbeiten schien, eine davon außerhalb meines Kopfes. Er warnte mich, zu weit rechts im Bereich der Wächten zu gehen. Gleichzeitig drängte er mich, ganz links zu bleiben. Jedesmal, wenn ich durch die Schneekruste stolperte, ermahnte er mich, langsamer zu gehen und meinen Weg sorgfältiger zu wählen. Generell schien er mich zu ermutigen, und das Phänomen wirkte so natürlich, daß ich zu diesem Zeitpunkt kaum weiter darüber nachdachte. Dougal übernahm die Führung und bereitete das letzte Stück Seil bis zur Spitze vor – und bis zu einer roten Fahne, die dort wehte. Der Schnee wurde besser, und Dougal ging langsamer, so daß ich ihn einholen konnte.
Wir stapften dann Seite an Seite die letzten wenigen Schritte zum Gipfel hinauf und kamen zusammen dort an. Die ganze Welt lag vor uns. Dieser Gipfel war alles, was ein Gipfel nur sein konnte, und noch mehr. Mein sonst so zurück haltender Partner wurde überschwenglich: Auf seinem Ge sicht lag ein breites, glückliches Lächeln, wir umarmten uns und schlugen uns gegenseitig auf den Rücken. Das Erlebnis, daß man den höchsten Gipfel der Welt erreicht hatte, ging natürlich aufs Gefühl, jedenfalls kann ich das von mir sagen. Ich kann allerdings nicht behaupten, daß es übermäßig stark war. Ich war auch nicht erleichtert, daß der Kampf vorbei war. In Wirklichkeit war es irgendwie schade, denn wir waren voll programmiert gewesen und mußten nun abschalten, um den Abstieg anzutreten. Aber jetzt noch nicht, denn die Aussicht war so überwältigend, der Sonnenuntergang so farbenpräch tig, daß er uns mit Ehrfurcht erfüllte. Ich war in den Anblick der braunen Hügel von Tibet vertieft. Nur von unserem erha benen Gipfel aus wirkten sie wie Hügel. In Wirklichkeit waren es hohe Berge, einige davon 7300 Meter hoch. Aber es lag kein Schnee darauf, der ihnen Bedeutung verliehen hätte. Ich konnte silberne Flußfäden erkennen, die sich zwischen ihnen hindurchschlängelten, nach Norden und Westen größeren Flüssen zuströmten, darunter vielleicht auch dem Tsangpo. Gen Osten warf die untergehende Sonne ihr Licht auf den Kangchenjunga, obwohl sich rundherum in Richtung Süden Wolken in den nepalesischen Tälern zusammenbrauten und sich von weit hinten eine breite, dunkle Wolkenwand auf uns zu bewegte, die von den Ebenen Indiens herüberkam. Blitze flackerten unheilvoll auf. Dennoch war keine Eile geboten, denn es würde lange dauern, bis das Unwetter den Mount Everest erreichte hatte – Zeit genug für die Nordroute: Rong
buk-Gletscher, östlicher Rongbuk-Gletscher, dazwischen der Changtse. Dort war der Nordpaß und die Stelle, an der Odell stand, als er 1924 die Nordwand bis auf 8534 Meter Höhe erklommen hatte, und Mallory und Irvine, die den Gipfel des Mount Everest besteigen wollten, zum letzten Mal sah. Ob sie es geschafft hatten? Ihre Route war durch den runden Abhang verborgen – keine Spur von ihnen, auch wenn man sich ein wenig vorbeugte – überhaupt nichts. Nicht bei dem diesem Monsun-Schnee, erklärte mir mein »externer« Verstand. Der einzige Hinweis darauf, daß jemand dagewesen sein mußte, war wie die Fahne; erst nach einiger Zeit ging ich hin und betrachtete sie. Sie war ein Eindringling, und es gab Besseres zu tun, als Dinge anzuschauen, die von Menschen geschaffen waren. Dennoch konnte man nicht umhin, sie zu betrachten: ein Dreifuß und eine fast anderthalb Meter hohe Stange, an deren Spitze ein Kranz aus roten Bändern befestigt war. Eine Aufnahme machen. Ach ja! Dougal sollte einige Schnappschüsse von mir machen. Er hatte während des ganzen Trips kein einziges Foto gemacht. »Komm her, mein Junge! Mach einen Schnappschuß für meine Mutter!« Ich reichte ihm meine Kamera. »Mach lieber noch einen. Dein Handschuh ist vor der Linse. Jetzt ein Schwarzweißfoto.« Er war noch nie begeistert vom Fotografieren, aber er tat mir den Gefallen. Dougal Haston: Wir genossen einen einzigartigen Augenblick in unserem Leben. Nach unten und tief in die braunen Ebenen von Tibet hinein ragte der violette Schatten des Mount Everest, bestimmt dreihundertzwanzig Kilometer tief. Auf diesen nördlichen
und östlichen Hängen lag eine Art Wildheit und Entlegenheit, nahezu Unantastbarkeit. Wundersame Vorgänge schienen sich im Bereich der Sonne abzuspielen. Einen Moment lang sah es so aus, als tauche sie hinter einer Wolkenschicht ein, die etwas oberhalb des Horizontes lag. Das war’s – dachten wir! Doch dann sank die Wolke schneller als die Sonne, und da war sie wieder! Dreimal insgesamt. Ich fühlte mich langsam wie Saul auf der Straße nach Tarsus. Was die eher materialistische Seite betrifft, so befand sich vor mir ein Vermessungspfahl aus Aluminium, an dem ein Streifen roten Leintuchs befestigt war. Die Japanerinnen, die im Frühling hier waren, hatten nichts davon erwähnt, daß sie etwas zurückgelassen oder gesehen hätten. Einen Moment lang war ich verwirrt. Dann fand ich die einzig mögliche Antwort: Die Chinesen hatten behauptet, auf den Nordost-Kamm gestiegen zu sein, und zwar kurz nach den Japanerinnen. Die Geschichte war jedoch in Zweifel gezogen worden, da die Aufnahmen vom Gipfel die Genauig keit früherer Bilder vermissen ließen. Es war gut, nun den endgültigen Beweis vor sich zu haben. Ungewißheit ist beim Bergsteigen immer eine unangenehme Erfahrung. Drängend schlich sich langsam ein Gedanke in die Eupho rie, als die Sonne schließlich ihren Wettlauf gegen die Wolken gewonnen hatte und hinabgeglitten war. Welcher Gedanke? Nun, wir waren schließlich auf dem Gipfel der Welt, und es war noch ein langer Weg bis runter zu Lager VI. Bald würde es dunkel sein. Wir wußten, daß wir im Halbdunkeln bis zum Südgipfel gelangen konnten. In den vergangenen Nächten hatte der Mond sehr hell geschienen, und mit einiger Wahr scheinlichkeit war davon auszugehen, daß wir unsere Route die Bergwand hinunter bei Mondlicht zurückverfolgen konn ten. Sollte der Mond nicht herauskommen, blieb als letzte
Rettung immer noch ein Biwak. Aus diesem Grund hatten wir schließlich den Zeltsack mitgenommen. In solchen Höhen rechnete ich immer damit, ein Biwak aufschlagen zu müssen, das heißt jedoch nicht, daß ich diesen Plan mit großer Begei sterung betrachtete. Wir drehten schließlich dem Gipfel den Rücken und begannen mit dem Abstieg. Unsere Fährte war bereits gefroren, so daß man einigerma ßen gehen konnte. Am Hillary-Felsen seilten wir uns ab und ließen das Seil zurück. Wir bewegten uns gemeinsam und erreichten bald unsere kleine Höhle. Die starke Wolkenbildung versprach nur wenig Aussicht auf eine mondhelle Nacht. Die Sauerstofffla schen gaben ihre letzten Tropfen ab und wurden damit zu einer bloßen Belastung. Während wir unschlüssig darauf warteten, daß etwas Licht durchbrach, tat es gut, Tanks und Masken abzunehmen. Wir fühlten uns dadurch zwar leichter an Gewicht, aber nicht an Sorgen. Mit der zunehmenden Bewölkung nahmen die Entscheidungsmöglichkeiten ab. Wir beschlossen, einen Abstieg im Dunkeln in Erwägung zu zie hen, wohl wissend, daß der obere Weg steil und jetzt vielleicht gefroren war. Aber nach einem versuchsweisen Tasten an der Südwest-Seite des Kamms entlang, im starken Nachtwind und mit starr werdenden Fingern und Zehen, schlugen wir uns sämtliche Alternativen zu einem Biwak aus dem Kopf. Ich kehrte zurück auf die geschützte Seite und teilte Doug die traurige Nachricht mit. Da gab es eigentlich nichts weiter zu sagen. Er begann, das Loch zu vergrößern.
Doug Scott: Dougal schmolz wieder Schnee auf dem Ofen, während ich weiter buddelte. Nachdem wir einige Schlucke heißen Wassers getrunken hatten, kam mir Dougal zu Hilfe, und wir vergrö ßerten die Schneehöhle rasch, indem wir mit unseren Eispik keln gruben und den losen Schnee zum Eingang hinauswar fen. Gegen 21.00 Uhr war das Loch groß genug, daß wir uns hineinlegen konnten; wir schoben noch mehr Schnee in Richtung Eingang und verkleinerten ihn so bis auf einen kleinen Spalt. Wir waren nun windgeschützt, zum Glück, denn ent weder waren unsere Sauerstoffflaschen leer oder unsere Sy steme funktionierten nicht mehr. Auch der kleine Ofen war bald leer. Da lagen wir also nun auf unseren Rucksäcken und dem Biwaktuch. Vielleicht wünschten wir uns jetzt, daß wir mehr darüber nachgedacht hätten, in einem Biwak übernach ten zu müssen, denn wir hatten weder Nahrungsmittel noch Schlafsäcke. Ich hatte nur die Sachen, in denen ich hinaufge stiegen war: ein seidenes Unterhemd, einen Wollpulli, einen Nylonanzug und meinen Windschutz-Anzug. Große Sorgen um unser Überleben machten wir uns, glaube ich, nicht. Wir hatten von anderen Bergsteigern gelesen, die die Nacht auf dem Mount Everest ohne große Ausrüstung verbracht hatten, allerdings weiter unten. Aber alle hatten anschließend einige Finger und Zehen verloren. Was uns mehr beschäftigte, war die Art und Weise, wie wir überlebten. So nahmen wir die ganze Kraft unserer schwerfälligen, apathischen Gehirne zusammen, um daran zu arbeiten. Ich zitterte wahnsinnig und zog meine Handschuhe, Stiefel und Socken aus, um Leben in alle meine Extremitäten gleichzeitig hineinzurubbeln. Jeder war so mit seinem eigenen Elend beschäftigt, daß wir einander kaum wahrnahmen. Einmal öffnete Dougal jedoch vorn den
Reißverschluß seines Daunenanzugs und erlaubte mir freund licherweise, meinen nackten linken Fuß unter seine rechte Achselhöhle zu stecken und meinen anderen in seinen Schritt, was zu helfen schien. Ohne Sauerstoff wurde anscheinend keine innere Wärme erzeugt, deshalb saß ich die meiste Zeit da und rieb meine Finger und Zehen. Man durfte nicht ein schlafen. Man mußte sehr wach sein, um sich aufs Überleben konzentrieren zu können: Ich mußte die Stiefel aufrecht halten, damit kein Schnee hineinkam, die bloßen Hände und Füße vor Schnee schützen, die Socken an meinem Bauch wärmen, dabei immer aufpassen, daß ich mit meinem Kopf keinen Schnee vom Höhlendach herunterfegte. Die Temperatur betrug wahr scheinlich dreißig Grad minus. Es war so kalt, daß, als ich zuerst einen Strumpf auf meinen Rucksack legte, der Fuß des Strumpfes so hart wurde wie ein Brett. Den größten Teil der Nacht grub ich an der Höhle herum, nur um warm zu bleiben. Ich schlug im hinteren Teil mit dem Eispickel in den harten Schnee und schob die Stücke zum Eingang hinaus. Als es dämmerte, war die Höhle so groß, daß fünf Leute liegend darin hätten übernachten können! Unsere Gedanken begannen abzuschweifen, eine Folge der Streßsituation sowie des Man gels an Schlaf und Sauerstoff. Dougal sprach ziemlich deutlich mit Dave Clarke. Er führte eine lange und engagierte Unter haltung mit ihm. Und ich ertappte mich dabei, wie ich mit meinen Füßen redete. Ich personalisierte sie sogar so weit, daß sie zwei unabhängige Wesen waren, die Hilfe benötigten. Der linke wärmte sich nur sehr langsam auf, und nach einigen Gesprächen mit dem rechten beschlossen wir, ihn heftig zu reiben. Und während der ganzen Zeit warf mein äußerer Verstand auch immer seine Rede ein.
Dougal Haston: Ich litt schweigend vor mich hin, von den gelegentlichen ruhigen Gesprächen mit Dave Clarke einmal abgesehen. Halluzination oder Traum? Es war irgendwie tröstlich und lenkte meine Gedanken für kurze Zeit von der Kälte ab. Hörte die Unterhaltung auf, versank ich in so tiefes Schweigen, daß ich einzuschlafen drohte. Ich rüttelte mich wach und nahm mir vor, es zu bleiben. Wir hatten zu viele Geschichten über Leute gehört, die in lebensbedrohlichen Situationen einge schlafen und nicht wieder aufgewacht waren. Es sah aus, als seien wir beide zu dieser Entscheidung gekommen, und Dougs zusammenhangsloses Gerede hielt uns beide wach. Es gab kein Entrinnen vor der Kälte. Sämtliche Positionen wur den ausprobiert: Wir hielten einander, wärmten uns gegensei tig die Füße unter der Achselhöhle des anderen, rieben, be wegten uns ständig in der Höhle und machten Armübungen. Es war einfach nicht möglich, sich auch nur ein wenig zu erwärmen. Aber währenddessen vergingen die Stunden. Ich glaube nicht, daß irgend etwas von dem, was wir in dieser Nacht taten oder sagten, sehr vernünftig oder geplant war. Wir litten unter Sauerstoffmangel, Kälte und Müdigkeit, aber wir hatten beide einen ungeheuer starken Willen, die Nacht durchzuhalten; alle unsere Überlebensinstinkte waren mobili siert. Diese und unsere Willenskraft ließen uns die Nacht überstehen. Das erste Tageslicht brach durch, und wir konnten mit den Vorbereitungen für den Abstieg beginnen. Kurze Tests zeig ten, daß wir in der Lage waren aufzustehen und uns zu bewe gen. Die Extremitäten waren zwar leicht taub, aber nicht erfroren. Nierenschmerzen zwangen uns in eine gebeugte Haltung. Die Stiefel gingen schwer an. Meine Innenschuhe
konnte ich vergessen, statt dessen benutzte ich die daunenge fütterten Stiefel. Die Sonne ging auf, aber es gab keine Hoff nung, daß sie unsere Körper wärmen würde. Die einzige Möglichkeit war Bewegung, und bald ließen wir die Schnee wächten hinter uns, verabschiedeten uns von Tibet und be gannen, die Bergwand hinabzusteigen. Die Bewegung war fast wie ein Orgasmus, so intensiv begann das Blut wieder zu zirkulieren. Da uns bewußt war, daß es infolge des Sauer stoffmangels zu Halluzinationen mit entsetzlichen Folgen kommen konnte, behielten wir uns gegenseitig wachsam im Auge, als wir die ersten Sicherheitshaken für den Abstieg befestigten. Doug Scott: Wir hatten seit fast dreißig Stunden weder gegessen noch geschlafen, wir hatten tatsächlich die Nacht draußen in China verbracht, und das in einer Höhe von 8748 Metern ohne Sauerstoff. Schließlich schafften wir die Strecke entlang des Fixseils und fielen um 9.00 Uhr morgens in unsere Schlafsäcke in Lager VI. Ich zündete den Ofen an, schaute mich nach etwas Eßbarem um und stieß auf das Funkgerät. Wir waren so damit beschäf tigt gewesen, die Nacht zu überleben und den Abstieg zu bewältigen, daß uns manchmal alles wie im Traum erschienen war: Wir beide ganz allein, und niemand sonst auf der Welt, mit dem wir den kalten, wirbelnden Schnee teilen konnten. Das Funkgerät brachte uns zurück in die Wirklichkeit; es sendete knisternde Geräusche ins Leben. Stimmen antworteten – Chris besorgt, erleichtert – glücklich über den Erfolg. Täusch eine gute Stimme vor, dachte ich, ich wollte nicht schwach
klingen, obwohl ich mich so fühlte. »Nein, ich glaube nicht, daß wir Erfrierungen haben,« sagte ich, denn zu diesem Zeit punkt prickelten unsere Finger und Zehen vor Kälte. Wir hatten gut überlebt.
Walter Bonatti aus In der Höhe Ardito Desio, der als einer der ersten in die Baltoro-Region vorstieß, leitete im Jahr 1954 die italienische Expedition auf den K2. Nach zwei Monaten am Berg war ein Bergsteiger an Höhenkrankheit gestorben, doch sechs Italiener und zwei Hunza-Träger kampierten noch hoch am Abruzzi-Grat. Un ter ihnen auch Walter Bonatti, mit vierundzwanzig das jüngste Expeditionsmitglied, doch bereits auf dem Weg, ei ner der großen europäischen Alpinisten zu werden 28. Juli, morgens, in Lager VII, auf 7315 Metern Höhe. Ich kam mir vor wie ein Fremder, als ich dem Aufbruch meiner Gefährten zusah, die sich für den letzten Ansturm auf den K2 rüsteten. Es waren Erich Abram, Achille Compagnoni, Pino Gallotti, Lino Lacedelli und Ubaldo Rey. Als wir vor drei Tagen diese Höhe erreichten und unser siebtes Lager aufschlugen, hatte ich wie sie mein Teil an An strengungen und Schwierigkeiten zu bestehen gehabt, war aber noch voller Begeisterung und Hoffnung. Dann schlug zum x-ten Mal das Wetter um, und wir waren für zwei lange Tage und drei Nächte in unseren Zelten gefangen. Am ersten Abend hatte ich etwas gegessen, was mir nicht bekommen war, und von da an konnte ich nichts anderes mehr zu mir nehmen als ein paar Schlucke Limonade. Nun, da der große Augenblick gekommen war und ich zusehen mußte, wie meine Kameraden zum Gipfel aufbrachen, schien die Welt um
mich herum einzustürzen. Ich fühlte mich schwach und lustlos, allen nur im Wege, und verfluchte das Schicksal, das mich daran hinderte, den langersehnten Augenblick zu genießen und endlich mit dem K2 abzurechnen. Vor zwanzig Tagen hatte ich das Basislager verlassen, bei bester Gesundheit und in vorderster Reihe, und es erschien mir wie bittere Ironie, daß ich mich nun in diesem jämmerlichen Zustand befand. Langsam und schwerfällig schritten die fünf voran, Fuß vor Fuß setzend; die Anstrengung, die jeder Schritt sie kostete, war deutlich zu sehen, und man gewann den Eindruck, daß nur Willenskraft und Hoffnung sie in Bewegung hielten. Die Aufgabe, die sie sich für den heutigen Tag gestellt hatten, lautete, das achte Lager aufzuschlagen und alles mitzuneh men, was die beiden Männer, die dort bleiben sollten, benötig ten. Die beiden, die diese bevorzugte Position einnahmen, waren so gut wie sicher für den Gipfelsturm ausersehen, auch wenn sich die endgültige Entscheidung für diesen letzten Akt nach ihrem körperlichen Befinden und ihrem Pflichtgefühl richten würde. Die drei anderen würden ihnen erst einmal helfen, dann aber wieder ins Lager VII absteigen, um die Nacht hier zu verbringen und am nächsten Tag weitere Vorrä te hinaufzuschaffen. Während meine fünf Gefährten weiter und weiter den in der Sonne glitzernden Hang hinaufstiegen, blieb ich im Zelt zurück, eine Beute tiefster Niedergeschlagenheit. Ich war so verzweifelt und wütend auf mich selbst, daß ich mich schließ lich mit aller Kraft zusammenriß. Ich beschloß, um jeden Preis etwas zu essen, auch wenn mir schon bei dem bloßen Gedan ken schlecht wurde. Nur so konnte ich wieder zu Kräften kommen und meinen Platz da droben einnehmen. Ich mußte immer wieder die Augen schließen, um etwas von dem Essen,
das ich mir zubereitet hatte, hinunterzuwürgen und zwang mich dabei, an etwas anderes zu denken. Und immer wieder hatte ich das Gefühl, von der Übelkeit überwältigt zu werden, aber es gelang mir tatsächlich, alles, was ich schluckte, bei mir zu behalten. Ich war kaum länger als eine halbe Stunde allein im Lager gewesen, als Rey plötzlich vor dem Zelt auftauchte. Sein Gesicht war verzerrt vor Erschöpfung und Entmutigung. In wenigen abgerissenen Worten berichtete er mir, daß ihn nach kaum mehr als fünfzig Metern ein heftiges Unwohlsein ge zwungen hatte aufzugeben und seine Last im Schnee liegenzu lassen. Nie habe ich so tief wie in diesem Augenblick nach empfinden können, wie dem anderen zumute war, ohne daß er mir etwas erklären mußte. Solche Rückschläge waren das schlimmste für uns, die wir mittlerweile zwei lange Monate auf diesem erbarmungslosen Berg hinter uns hatten. Die vier Männer waren mittlerweile in der Entfernung winzig klein geworden. Gerade wurden sie von dem dichter werdenden Nebel verschluckt. Das Schicksal des K2 lag nun allein in ihren Händen. Ein letzter stummer Blick nach da oben, dann schlossen wir den Zelteingang. Was blieb uns auch anderes übrig? Von unten war niemand gekommen. Beim vereinbarten Funkkontakt mit dem Basislager um 17.30 Uhr baten wir deshalb dringend darum, die Hunzas mit Material heraufzu schicken. Da wir nur mit dem Basislager Funkkontakt hatten, mußten sie unsere Bitte an Lager V weiterleiten, von wo unsere Vorräte weiter nach oben geschafft werden sollten. Das Basislager gab uns den Wetterbericht durch; wenigstens er fiel günstig aus. Der Himmel war aufgeklart, hieß es, und ein
kalter Wind aus nördlicher Richtung versprach eine endgülti ge Wetterbesserung. (Es sollte unser letzter Kontakt mit dem Basislager sein.) Gegen Abend sah man zwei Männer absteigen: Abram und Gallotti. Also waren Compagnoni und Lacedelli die Glückli chen, die das letzte Stück in Angriff nehmen würden. Ich war sehr froh, als Abram und Gallotti fanden, daß ich besser aus sähe. Das Wunder war also tatsächlich eingetreten. Sie be schrieben kurz den Standort des neuen Lagers. Man mußte zunächst direkt nach rechts aufsteigen, dann ging es durch eine Schlucht und am Ende, nun endgültig auf der Ostseite des Berges, einen weiteren Hang hinauf, der allerdings nicht so steil war wie der davor. Hatte man ihn bewältigt, stieß man auf das Zelt von Lager VIII, das im Schutz eines riesigen Eiszackens aufgeschlagen war. Es lag in einer Höhe von 7620 Metern, und man brauchte vier Stunden, um hinaufzugelan gen. Gallotti hatte ein Abenteuer hinter sich, das beinahe tra gisch geendet hätte. »Wir hatten Achille und Lino beim Auf bau des Zeltes zurückgelassen, und Erich und ich stiegen ab. Wie gewöhnlich waren wir nicht angeseilt. Der Abstieg erwies sich beschwerlicher, als wir gedacht hatten. Ständig sanken wir in unsere Spuren vom Aufstieg ein, bis wir einmal bei einer Querung zu schnell gingen und es beinahe zu einer Katastrophe gekommen wäre. Auf der unteren Hälfte des letzten Hangs müssen sich unter meinen Stiefeln Stollen gebildet haben, und bevor ich noch richtig begriff, was mit mir passierte, rutschte ich auf einmal zur Seite ab. Ich machte mehrere verzweifelte Versuche, mein Tempo mit dem Eispickel zu stoppen, ohne Erfolg. Ich hatte
schon eine ziemliche Geschwindigkeit, als ich mich plötzlich völlig unerwartet mit dem Gesicht zum Hang wiederfand. Ich trat mit aller Kraft gegen die Oberfläche. Die beiden vorderen Zähne meiner Steigeisen griffen, und ein paar Fuß weiter kam ich endlich zum Stehen. Während ich versuchte, wieder zu Atem zu kommen, schaute ich mich um. Ich war zwischen sechsundvierzig und sechzig Meter weit abgerutscht. Es war ein unbeschreibliches Glücksgefühl, als die Talfahrt endlich zu Ende war. Mein Schutzengel muß allerdings zu Tode er schrocken gewesen sein und hat sicherlich etliche Flügelfedern bei dem Sturz gelassen. Ich setzte mich wieder in Bewegung, auf Erich zu. Die letzten paar Meter zu den Zelten bin ich auf Händen und Knien gekrochen…«3 29. Juli Die Morgendämmerung war herrlich, und ich fühlte mich in Anbetracht der Höhe, in der wir waren, wieder richtiggehend wohl. Mein körperliches und seelisches Wohlbefinden ging sogar soweit, daß ich Lust auf Essen hatte. Auch Rey schien sich erholt zu haben; Gallotti und Abram waren dagegen von den Anstrengungen des vergangenen Tages völlig erschöpft. Der Tagesplan sah folgendermaßen aus: Lacedelli und Compagnoni sollten von Lager VIII aus zu der roten Felsmasse am Gipfel aufsteigen. Dort sollten sie laut Plan auf ungefähr 8077 Metern Höhe Lager IX aufschlagen, das aus einem winzi gen »Super K2«-Zelt bestand. Dann würden sie zu Lager VIII zurückkehren, wo inzwischen unsere Verstärkung eintreffen mußte. Wir in Lager VII würden alles Notwendige mitneh men, um zwei weitere Zelte in Lager VIII aufzuschlagen, das 3
Aus Gallottis Tagebuch
als Basis dienen sollte, dazu zwei Sauerstoffgeräte4 für Com pagnoni und Lacedelli für ihren letzten Aufstieg von Lager IX aus. In der Zwischenzeit sollten die Hunzas, die wir am Tag zuvor per Funk angefordert hatten, von den niedriger gelege nen Lagern etappenweise Nachschub an Sauerstoff, Nahrung und Brennstoff heranschaffen. Nachdem wir unser Gepäck mit erzwungener Langsamkeit vorbereitet hatten, rüsteten wir zum Aufbruch. Doch was wir die ganze Zeit befürchtet hatten, trat sehr rasch ein, und das gefährdete die Lage aufs neue: Rey und Abram mußten aufge ben. Kein Zuspruch und keine Ermutigung konnten ihnen neue Kraft einflößen. Sie wußten genau, wie wichtig ihr Part war und was ihr Ausfall für unser Unternehmen bedeutete; trotzdem mußten sie sich nun geschlagen geben, gerade weil sie zuvor Leistungen erbracht hatten, die beinahe über menschliches Vermögen hinausgingen. Fast wortlos legten sie ihre Lasten im Schnee ab und stolperten den Hang hinunter. Das waren schlimme Augenblicke nicht nur für die, die umkehrten, sondern auch für die, die blieben. Nur wer schon einmal eine solche Erfahrung gemacht hat, kann sie wirklich nachempfinden. Abram wollte vorläufig in Lager VII bleiben, da er hoffte, sich wieder etwas zu erholen und sich uns am folgenden Tag anschließen zu können. Von Rey dagegen war nichts mehr zu hoffen; er würde den Rückweg antreten müs sen. So waren nur noch zwei von uns übrig. Auch Gallotti schien so erschöpft, daß ich mich fragte, ob er in der Lage sein würde weiterzugehen. Ich hatte nicht den Darunter sind Geräte mit speziellen Tragevorrichtungen für den Trans port und Einsatz von drei Sauerstoffpatronen zu verstehen. (Anm. d. Übers.)
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Mut, ihn zu bitten, seine Last abzulegen und statt dessen das Sauerstoffgerät zu tragen, das Abram zurückgelassen hatte. Es war das schwerste Stück, aber absolut lebensnotwendig. Bestimmt hatte er einfach nicht mehr genügend Kraft, sonst hätte er von selbst danach gegriffen. Der Sauerstoff war kost bar für unsere Gefährten da droben, doch ein Gerät allein hätte ihnen nichts genützt. Ich beschloß deshalb, das, welches ich auf dem Rücken trug, ebenfalls abzustellen und statt dessen Nahrung und Ausrüstungsgegenstände mitzunehmen, die für die Errichtung eines weiteren Zelts in Lager VIII notwendig waren. Wir würden später oben mit Lacedelli und Compa gnoni besprechen müssen, was als nächstes zu tun war. Ich setzte mich wieder in Bewegung. Die Anstrengung wurde immer größer, und ich kam immer langsamer voran. Wir hatten die diagonale Traverse zur Rechten kaum bewäl tigt, als uns auch schon der Nebel einhüllte. Die Spuren im Schnee, die unsere Gefährten am Tag zuvor gelegt hatten, waren vom Nachtwind verweht worden, und wir fanden unseren Weg allein anhand der Markierungen, die sie in weiser Voraussicht hinterlassen hatten. Gallotti erwies sich als unglaublich ausdauernd; obwohl er am Ende seiner Kraft sein mußte, folgte er mir beharrlich. Es war spät am Nachmittag, als wir endlich das Zelt sichte ten. Der Nebel hatte es vor unseren Augen verborgen, bis wir kaum dreißig Meter davon entfernt waren. Compagnoni und Lacedelli antworteten auf unsere Rufe. Als wir ihr Zelt erreich ten, zeigte sich, daß sie sich in einem Zustand äußerster Er schöpfung befanden. Sie erzählten uns, daß sie viele Stunden mit dem Versuch zugebracht hatten, die Eiswand hinter ihrem Zelt zu überwinden. Sie hatten nur etwa neunzig Meter ge schafft, als sie völlig erschöpft unter Zurücklassung ihrer
Rucksäcke wieder hatten umkehren müssen. Alles in allem erschien die Lage äußerst ungewiß, wir verschoben also alle Gespräche auf später, und Gallotti und ich machten uns erst einmal daran, eine kleine Fläche am Hang einzuebnen, um unser Zelt aufzustellen, bevor die Dunkelheit hereinbrach. Nach einem frugalen Abendessen (wir hatten seit dem Morgen nichts gegessen) krochen wir alle in ein Zelt, um unser weiteres Vorgehen zu besprechen. Der Himmel draußen war übersät mit Sternen, im Freien war es eiskalt. Nach langem Hin und Her faßten wir schließlich den Be schluß, daß wir, falls noch irgendeine Hoffnung bestand, den K2 zu bezwingen, am nächsten Tag auf irgendeine Weise den Sauerstoff in Lager IX schaffen wollten. Es war einfach zu riskant, die letzte Etappe ohne Sauerstoff anzugehen. Gleich zeitig war es unmöglich, die noch anstehende Arbeit auf zwei Tage zu verteilen, denn das hätte bedeutet, unsere bereits bedenklich zusammengeschmolzenen Vorräte an Nahrungs mitteln und Brennstoff völlig aufzubrauchen, einschließlich des Nachschubs, der bereits mit den Hunzas auf dem Weg sein mußte. Außerdem wären wir körperlich noch schwächer gewesen, da sich die Kondition in solcher Höhe sehr schnell verschlechtert, selbst wenn man sich kaum bewegt. Last but not least hätte sich bei einem weiteren Aufschub die Wahr scheinlichkeit eines Wetterumschlags erhöht. Immerhin hatten wir im Laufe unserer Expedition schon zahlreiche solcher Wetterumschläge erlebt. Der Einsatz von Sauerstoffapparaten mit offenem Kreislauf, die eine regelmäßige Zufuhr von Sau erstoff über zehn bis zwölf Stunden gewährleisten und die effektive Höhe um etwa 2132 Meter reduzieren, wäre zweifel los ein beträchtlicher Vorteil; wir könnten dann in einer Höhe von 8230 Metern zu Bedingungen klettern, wie sie auf 6000
Metern herrschen. Wir beschlossen also, daß Gallotti und ich am nächsten Morgen zum Lager VII absteigen würden, um die beiden Sauerstoffgeräte zu holen und im Laufe des Tages in Lager IX zu schaffen. In der Zwischenzeit sollten Lacedelli und Compa gnoni weiter aufsteigen und Lager IX errichten, allerdings nicht an der ursprünglich geplanten Stelle, das heißt links unterhalb der massiven Barriere aus rotem Fels, sondern etwa neunzig Meter weiter unten, um uns unsere anstrengende Aufgabe ein wenig zu erleichtern: Über einhundertachtzig Meter Abstieg, danach gleich wieder der Aufstieg mit einer Last von fünfundvierzig Pfund auf dem Rücken, und das alles in einer Höhe von 7925 Metern. Es war ein äußerst mühseliges Unterfangen, und wenn nicht der Erfolg der K2-Expedition auf dem Spiel gestanden hätte, wäre ein solcher Plan wohl gar nicht gefaßt worden. Doch so wie die Dinge lagen, war es immer noch das beste. Sollte alles erwartungsgemäß laufen, dann würden wir uns in der kommenden Nacht zu viert in dem kleinen Zelt von Lager IX zusammenquetschen und dem langersehnten Tag des Triumphs mit Ungeduld entgegenhar ren. Compagnoni hatte den ganzen Abend völlig erschöpft aus gesehen. Ich bezweifelte, daß er die Anstrengung der Gipfel besteigung würde durchhalten können, und war mehr als einmal versucht, ihn zu bitten, mir seinen Platz zu überlassen, aber dann ließ ich es doch. Ein solcher Vorschlag von mir wäre taktlos gewesen. Außerdem hielt mich auch die Tatsache zurück, daß wir vor der letzten Etappe noch einen äußerst arbeitsreichen Tag vor uns hatten, an dem alles mögliche geschehen konnte. Ich schwankte zwischen dem Wunsch, Compagnonis Platz einzunehmen, den Skrupeln, die mich in
unserer gegenwärtigen Situation daran hinderten, dies laut auszusprechen, und der Befürchtung, daß Compagnoni – ohne mir schmeicheln zu wollen – es an meiner Stelle nicht schaffen würde, den Sauerstoff zum Lager IX zu bringen. Es war gera dezu eine Erleichterung, als Compagnoni, der meine Gedan ken zu erraten schien, zu mir sagte: »Wenn du morgen oben in Lager IX immer noch in guter Verfassung bist, wäre es viel leicht gut, wenn du den Platz mit einem von uns tauschst.« Angesichts des anstrengenden Tages, den ich vor mir hatte, war das nicht sehr wahrscheinlich, deshalb ließ ich die Sache für heute auf sich beruhen. Wenn Compagnonis Vorschlag morgen abend noch einmal in irgendeiner Weise zur Sprache kommen sollte, dachte ich, bevor ich in unser Zelt zurückkehr te, dann heißt das, daß wir alle vier Lager IX erreicht haben, zwei von uns mit dem Sauerstoff. Das ist erst einmal die Hauptsache. Im Zelt klagte Gallotti über einen schneidenden Schmerz im linken Fuß, von der Kälte. Ich half ihm, den Fuß zu massieren, bis die Taubheit wich. Dann versuchten wir uns für die Nacht einzurichten. Am nächsten Morgen wurde es acht, bis wir aufbrechen konnten, obwohl wir seit halb sieben auf waren; in dieser Höhe brauchte man fast eine halbe Stunde, nur um die Stiefel aus Rentierfell anzuziehen. Kein Bergsteiger kann sich eine herrlichere und aufregendere Umgebung vorstellen als die, in der wir uns zum Aufstieg rüsteten. Denn nun sahen wir we nigstens auch den langersehnten Gipfel. Der Eiszacken ober halb des Lagers verbarg zwar den mittleren Abschnitt vor unseren Blicken, aber wahrscheinlich erschien gerade aus diesem Grund der Gipfel selbst, überragt von seinem hängen den Eisfeld, so klar und so nah, daß es wirkte, als könnten wir
ihn mit ein paar Schritten ersteigen. Die Sicht nach oben war zwar durch den Verlauf des Abhangs, auf dem wir uns befan den, stark eingeschränkt, aber der Gipfel war dennoch von ehrfurchtgebietender Schönheit. Unter uns thronte der Skyang Kangri, ein herrlicher Gipfel von beinahe 7620 Metern Höhe, den die Expedition unter der Führung des Herzogs von Abruzzen 1909 durch bloßes Pech nicht hatte bezwingen können, nachdem sie bereits eine Höhe von über 6400 Metern3 erreicht hatte. Von oben gesehen, erinnerte er mit seinen drei riesigen Stufen, die seiner Masse die charakteristische Form geben, an eine gigantische Treppe zum Himmel. Der Horizont schien endlos, eine unendliche Abfolge von Bergspitzen und Eisfeldern, die besonders auf Kuen-Lun zu in ein blasses Blau überging, in dem Himmel und Berge miteinander zu ver schmelzen schienen. Wir wünschten unseren Gefährten Glück und verließen sie. Obwohl wir kein Gepäck hatten, kamen wir nur langsam voran. Da die Schneeverwehungen unsere Spuren schon wieder verschluckt hatten, versuchten wir, ganz kurze Schritte zu machen, um uns für den Aufstieg eine leichtere Spur zu legen. Gallotti hatte seinen Ausrutscher von vor zwei Tagen noch nicht vergessen, und als er wieder an dieselbe Stelle kam, war er ganz besonders vorsichtig. Endlich waren wir bei den Sauerstoffgeräten. In der glei chen Zeit stiegen Abram und die beiden Hunzas Mahdi und Isakhan von Lager VII auf, das sie am Tag zuvor erreicht hatten. Bravo, Erich, du hast es also tatsächlich geschafft, deine Krise in den Griff zu bekommen! Im Gepäck der drei Männer Über die Höhe, die die Expedition erreichte, gibt es unterschiedliche Angaben. (Anm. d. Red.) 3
befanden sich auch leichte Unterlagen und Schlafsäcke, die Gallotti und mir sehr in die Augen stachen, nachdem wir uns in der vorhergehenden Nacht eine einzige Unterlage und einen Schlafsack hatten teilen müssen. Als wir mit dem Sauerstoff auf dem Rücken wieder bei dem Pfad anlangten, den wir gerade herabgestiegen waren, konnte ich Zeuge eines der großartigsten Beispiele von Durchhalte vermögen und Willenskraft miterleben, das man sich vorstel len kann. Ich, der Unerfahrenste, führte. Hinter mir, vor den drei anderen, folgte Gallotti, dessen Schritt so mühsam war, daß seine Pausen länger dauerten als seine Steigphasen. Manchmal ruhte er aus, das Gesicht im Schnee vergraben, und dann, als ob er sich erinnere, wieviel davon abhing, daß der Sauerstoff nach oben geschafft wurde, fand er von irgendwo her die Kraft weiterzumachen. Sein Gesicht war geschwollen und völlig entstellt von der Anstrengung, und als er schließ lich Lager VIII erreichte, war er mit seiner Kraft am Ende. Er hatte so etwas wie ein Wunder vollbracht, und schon das allein hätte den Aufstieg auf den K2 lohnenswert gemacht. Auch wenn wir einen großen Schritt vorangekommen wa ren, lag doch immer noch eine unüberwindbar scheinende Entfernung zwischen uns und den beiden, die in Lager IX auf uns warteten. Ja, dieses Ziel schien sogar noch ferner zu rük ken, weil die Gesamtsituation sich erneut verschlechtert hatte. Auf Gallotti konnten wir nicht mehr zählen. Abram sagte kein Wort, aber ein Blick in sein Gesicht zeigte, daß auch mit ihm kaum zu rechnen war. Isakhan weinte wie ein kleines Kind; er hatte hohes Fieber. Der einzige, der immer noch in hervorra gender Verfassung war, war Mahdi. Er war ein bemerkens werter Mann, der aus der Schar der Hunzas hervorstach. Meiner Meinung nach war er der einzige von ihnen, der den
Vergleich mit den besten nepalesischen Sherpas aushielt, die ich immer wieder hatte loben hören, auch wenn ich persönlich noch nicht mit ihnen zu tun gehabt hatte. Es kam also nur Mahdi in Frage, mit mir zusammen die Sauerstoffgeräte in Lager IX zu transportieren. Doch wie sollte ich ihn dazu bringen, eine solche Anstrengung auf sich zu nehmen, ohne die Hoffnung in ihm zu wecken, daß er damit auch eine Chance hatte, auf den Gipfel zu kommen? Aber das war das einzig denkbare Mittel, sich der Dienste des stolzen und tapferen Mahdi zu versichern. Bevor wir das heikle Thema anschnitten, kochten wir uns erst einmal aus den wenigen Suppenwürfeln, die wir noch hatten, eine Suppe. Mit vollem Magen debattiert es sich leichter. Danach machten wir anderen unseren Vor schlag, wir versprachen eine ordentliche Belohnung in Rupien, wenn wir es schaffen sollten. Wir vermittelten Mahdi dabei den Eindruck, daß er mit mir, Lacedelli und Compagnoni auf den Gipfel steigen könnte. Es war eine notwendige Täu schung, die durchaus auch ein Körnchen Wahrheit barg. Mahdi akzeptierte. Nachdem er mit Sachen von Gallotti und Abram ausstaffiert worden war, mit Ausnahme von Schuhen, was sich als unmöglich erwies, machten wir uns eilig fertig. Abram fühlte sich in der Zwischenzeit wieder besser und erklärte sich bereit, uns zu begleiten, soweit er konnte, und sich beim Tragen des Sauerstoffs mit uns abzuwechseln. Wir legten unsere Steigeisen an und inspizierten ein letztes Mal die Ausrüstung. Wir hatten genügend Seil und auch ein paar Karabinerhaken; daneben führten wir eine kleine Tasche mit Werkzeug, Ersatzventilen und kleineren Ersatzteilen für die Atemgeräte und eine Fackel mit; endlich waren wir aufbruch bereit. Viel Zeit war verstrichen. Es war schon 15.30 Uhr, und uns blieben nur noch vier Stunden Tageslicht. Unsere Kame
raden würden sich allmählich Sorgen machen, wenn sie uns immer noch nicht kommen sahen. Eine Linie von Fußstapfen, die sich zur Rechten nach oben zog, zeigte uns die Route, der wir folgen mußten, um die Wand oberhalb der Zelte zu errei chen. Wir durchquerten ein im Schatten liegendes Terrain, und die Temperatur war auch gleich deutlich niedriger. Unsere Muskeln erstarrten, und anders als noch vor einer Stunde reagierten sie nicht mehr auf unsere Willensanstrengung. Das lag zum Teil an der langen Pause, mehr aber am drückenden Gewicht der Atemgeräte auf unserem Rücken, die durch das unerbittliche Dünnerwerden der Luft noch schwerer zu wer den schienen. Das brachte es mit sich, daß derjenige, der die Sauerstoffgeräte trug, immer nur drei oder vier mühsame Schritte im Zeitlupentempo schaffte, bevor er seine Last dem Nächsten weiterreichte. Am Fuße der etwa dreißig Meter hohen Wand befand sich eine breite und tiefe Gletscherspalte. Unser Weg führte über die einzige Stelle, an der die beiden Seiten der Spalte sich einander annäherten. Die obere Hälfte bestand aus einem Brett aus lockerem Schnee. Das wiederholte Passieren des Bretts durch unsere Gefährten hatte dieses Schneebrett bereits ziem lich in Mitleidenschaft gezogen, so daß es zunächst unsicher war, ob wir es mit einem solchen Gewicht auf dem Rücken überhaupt würden überqueren können. Gegen 16.30 Uhr erreichten wir den Hang oberhalb der Wand. Wir waren mittlerweile so beunruhigt, daß wir keinen Blick mehr für unsere Umgebung hatten. Mit dem letzten bißchen Atem, der uns noch geblieben war, riefen wir nach den Kameraden. Sie hörten uns wahrhaftig und antworteten! Wir waren überglücklich. Aber wo war das Zelt? Eine lange, helle, hier und da unterbrochene Linie, die sich vor uns über
den weiten Hang erstreckte, markierte ihre Spur. Die Linie wurde steiler und steiler, bis sie unter dem Eiszacken des Gipfels abbrach. Unmittelbar vor dem letzten gezackten Grat führten die Spuren leicht nach links und verschwanden. Weiter oben schienen sie sich fortzusetzen, hoch zu einem steil aufragenden Felsen. Bis zum Fuß einer Felsgruppe konnten wir ihnen folgen, und dann war nichts mehr. Und doch muß ten Lacedelli und Compagnoni hier irgendwo sein, in einem Zelt, das unseren Blicken vielleicht durch den großen Vor sprung verborgen war. »Lino! Achille! Wo steckt ihr? Wo habt ihr das Zelt aufgeschlagen?« »Bleibt in den Spuren!« antwortete eine Stimme oberhalb von uns. Wir nahmen den Weg in den Spuren unserer Gefähr ten wieder auf. Nachdem wir die Stimmen unserer Freunde gehört hatten, war uns wohler. Wir gingen davon aus, daß die Spuren zum Zelt führten und daß uns keine weiteren Schwie rigkeiten erwarteten. Auch wenn klar war, daß uns noch eine große Anstrengung bevorstand, wenn wir vor der Dunkelheit da sein wollten, waren wir doch überzeugt, daß es nun keinen Grund zur Beunruhigung mehr gab. Schritt für Schritt, Pause für Pause ging der mühsame Marsch weiter. Wir überquerten einen Bereich mit großen Gletscherspalten, die unter dünnen, brüchigen Schneebrettern verborgen waren, und ich freute mich bei dem Gedanken, daß der K2 unser sein würde, wenn wir diesen Weg das nächste Mal machten. Das Gefühl der Euphorie, das dieser Gedanke auslöste, schien die Mühe einen Augenblick leichter zu ma chen. Dieses Gefühl war jedoch nicht von langer Dauer. Je höher wir kletterten, desto mehr verstärkte sich der Verdacht, daß
das Zelt mit unseren Kameraden nicht hinter dem bewußten Vorsprung stand. Aus unserem jetzigen Blickwinkel schien dieser nicht groß genug, um ein Zelt, wie klein es auch sein mochte, zu verdecken. Andererseits gab es in diesem Areal keinen passenderen Platz für ein Lager. Der Hang stellte sich bis hinauf zu der großen roten Gesteinsbarriere als eine Abfol ge steiler Felsplatten und Schneepartien dar. Allmählich bekamen wir es mit der Angst zu tun und stellten die wilde sten Hypothesen auf. Vielleicht waren die Abdrücke, denen wir folgten, gar keine menschlichen Fußspuren, sondern die Spuren eines Felsens, der abgesprengt worden und den Hang hinuntergerollt war. Doch wenn das stimmte, wo waren dann Lacedelli und Compagnoni? Kampierten sie womöglich dort drüben, auf der anderen Seite des Abhangs zu unserer Rech ten? Das schien unlogisch; die Gefahr eines Eisfalls wäre zu groß gewesen. Aber sie konnten in einer kleinen Spalte Schutz gefunden haben, die wir von hier aus nicht sehen konnten. Was, wenn sie bis zu der Höhe weitergestiegen waren, die wir zuerst anvisiert hatten? Aber das wäre gegen die Absprache gewesen. Außerdem hätte ihr Weg in Anbetracht des schwe ren Schnees senkrecht den Hang hinauf zur Felsenbarriere verlaufen müssen, so daß wir ihre Spuren hätten leicht erken nen können. Andererseits, wenn der Wind sie nun ausgelöscht hatte… Mit derselben Angst wie zuvor riefen wir wieder die Namen unserer Gefährten. Ihre kurze Antwort vorhin war aus der Richtung jenes großen Felsens gekommen. Sie mußten einfach dort sein. Etwas anderes wagten wir gar nicht mehr zu denken. Die Enttäuschung wäre zu bitter gewesen. Mittlerweile war die Sonne hinter dem Gipfel des K2 ver schwunden, und die Luft wurde beißend kalt. Alles um uns herum schien sich verändert zu haben, als wären wir plötzlich
durch einen Zauber auf einen völlig anderen Berg versetzt worden. Vor kurzem hatte noch jede Falte des Hangs in der Sonne geleuchtet und gefunkelt, jetzt gab ein fahler Schimmer allem einen Anstrich von Bedrohlichkeit, die einen frösteln ließ. Die Atmosphäre war geheimnisvoll, und ich kam mir unglaublich winzig und nichtig vor. Niemals zuvor hatte ich die Macht des K2 und des Himalaja überhaupt so stark ge spürt. Die Zauberformel »sechsundzwanzigtausend Fuß« ergriff Besitz von mir. Ich glaube, ich hatte Angst. Plötzlich riß die Realität mich aus dem merkwürdig ekstati schen Zustand, der ruhig hätte fortdauern können, wenn es nach mir gegangen wäre. Im Wirbel der Empfindungen, die auf mich einstürmten, fühlte ich mich von den phantastisch sten Vorstellungen emporgehoben und weit fortgetragen. Doch nun klagte Abram darüber, daß einer seiner Füße ge fühllos geworden sei. Guter Erich, wie gern wollte ich dir sagen, wie sehr ich dich bewundere, wenn ich an alles denke, was du bis dahin geleistet hattest. Du hattest eigentlich vorge habt umzukehren, als wir noch auf dem Grat waren. Seither waren zwei Stunden vergangen, und du schlepptest dich noch immer vorwärts und trugst abwechselnd mit uns die Sauer stoffflaschen, weil du wußtest, daß die kleinste Anstrengung, die du uns erspartest, die Chancen auf einen Erfolg steigerten. Ohne Zeit zu verlieren, zogen wir seinen Fuß aus dem vo luminösen Stiefel und rieben ihn abwechseln heftig mit den Händen, bis ein scharfer Schmerz die beruhigende Gewißheit gab, daß die Gefahr einer Erfrierung vorüber war. Ein letztes bewegendes »Lebewohl«, und dann schauten wir minutenlang dem langsamen Abstieg unseres Kameraden nach. Es war 18.30 Uhr.
Wir erreichten den langen, scharfen Grat, der den Ost- vom Südhang trennt, und standen plötzlich vor einer riesigen Eisschlucht zur Linken, direkt unterhalb von uns, die in einem einzigen Schwung zum Godwin-Austen-Gletscher hinabführt. Dieser Grat war es gewesen, der, von unten gesehen, die hier und da verwehte Linie der Fußspuren unterbrochen hatte. Die Spuren führten den ganzen Grat entlang und dann, wie wir schon von unten bemerkt hatten, den Hang hinauf. Von hier aus konnte man eine steile Rinne erkennen, die unterhalb der Eiszacken am Gipfel begann und dann immer breiter wurde, bis sie schließlich nach unten verschwamm. Die Spuren über querten diese Rinne deutlich nach links, führten dann wieder gerade den Steilhang hinauf und erreichten schließlich die Felsmasse. Was danach kam, war noch immer nicht auszuma chen. Als wir den Schneekamm überwunden hatten, begann Mahdi vor Kälte zu stöhnen und zeigte Anzeichen von Hyste rie. Ich hätte gern Flügel gehabt, um festzustellen, wo die beiden da oben sich versteckt hatten. In einer halben Stunde würde es dunkel sein, und wir wußten immer noch nicht genau, welche Richtung wir uns halten mußten. »Lino! Achil le! Wo seid ihr? Antwortet!« Alles blieb still. Vielleicht konn ten sie uns vom Zelt aus nicht hören, aber warum gaben sie kein Lebenszeichen? Uns allen wäre sehr viel leichter ums Herz gewesen. Wir hatten nun die Stelle erreicht, wo es an die Überque rung der Schneerinne ging. Statt den Spuren unserer Gefähr ten zu folgen, beschlossen wir, eine Abkürzung zur Felsmasse zu nehmen. Der Hang wurde immer abschüssiger und gefährlicher, und
manchmal schien es, als müßten unsere Körper der Anstren gung erliegen. Wir konnten uns nicht einmal für einen Augen blick in den Schnee legen, sonst hätte es uns womöglich 3048 Meter nach unten gerissen. Oh, diese Flaschen, diese verfluch ten Sauerstoffflaschen! Sie schienen uns mit ihrem Gewicht zu erdrücken, wir hatten keine Kraft mehr in den Beinen, und mein armer Rücken hielt den Druck kaum mehr aus. Bis vor kurzem hatte es mir noch ein wenig geholfen, wenn ich ge bückt ging, aber nun war der Hang so steil, daß er mich in eine Schräghaltung ohne jedes Gleichgewichtsgefühl zwang. Manchmal waren die Schmerzen so schlimm, daß wir am Zusammenbrechen waren; dann hingen wir an einem in den Schnee gesteckten Eispickel, und unseren Lippen entrangen sich Laute, die nicht mehr menschlich zu nennen waren, uns aber doch immerhin etwas Erleichterung verschafften. Was für eine Ironie lag in dem Gedanken, daß das, was wir da schleppten, in Kürze unser wichtigstes Hilfsmittel sein würde. Es war reiner Sauerstoff, fünfundvierzig Pfund kostba re Last, die uns in wenigen Augenblicken die körperliche Verfassung zurückgeben konnte, die wir 2132 Meter weiter unten hatten. Wie einfach wäre es, eines der Ventile aufzudre hen! Was machte es schon, daß wir keine Masken hatten? Die Luft um uns herum würde rasch von dem lebenspendenden Gas durchdrungen sein. Ich mußte unwillkürlich denken, an welch dünnem Faden die Eroberung des K2 doch hing. Es begann zu dunkeln. Unsere Rufe wurden immer angst voller, immer verzweifelter, doch die Antwort blieb aus. Wir wollten nicht glauben, daß wir auf dem Felsen dort über uns kein Zelt vorfinden würden. Aber warum antworteten Lace delli und Compagnoni nicht? Wir mußten ihnen inzwischen ziemlich nah sein, vielleicht noch sechsundvierzig Meter
entfernt. »Achille! Lino! Warum meldet ihr euch nicht?« Beide blieben wir stehen, wir hatten kaum noch die Kraft zu atmen, der Schnee reichte uns bis zu den Knien. In wenigen Minuten würde sich das schwache Zwielicht in schwarze Nacht ver wandelt haben. Mahdi fing an, wie ein Verrückter zu brüllen in einer Sprache, die ich natürlich nicht verstand; doch war mir klar, daß er sich in einem Zustand höchster Erregung befand. So konnte es nicht weitergehen. Mit einem Ruck entledigte ich mich des Gewichts der Sauerstoffflasche auf meinen Rük ken, nahm meine ganze Kraft zusammen und zog mich die Rinne hinauf, bis ich einen Punkt etwas über der Felsspitze erreichte. Flach im Schnee liegend, sah ich, obwohl mir von der Anstrengung beinahe schwarz vor Augen war, daß hinten auf dem glatten Felsen kein Zelt stand; eine kurze Linie halb verwehter Spuren führte auf der linken Seite schräg nach oben, den steilen Hang aus Fels und Eis hinauf. Es war ein Schock. Einen Augenblick lang glaubte ich, ohnmächtig zu werden. Aller Mut verließ mich, mein Kopf war völlig leer. Als ich mich wieder aufrappelte, war eine lange Zeit vergangen. Es war stockdunkel. Mahdi hockte neben mir, ich sah seine Augen im Dunkeln schimmern. Ich fand keine Worte, ihm zu erklären, was los war. Meine Kehle war völlig ausgetrocknet; instinktiv stopfte ich eine Handvoll Schnee in den Mund. Die Kälte empfand ich gar nicht. Schließlich erholte ich mich wieder ein wenig, zog meine Handschuhe aus und suchte in meinen verschiedenen Ta schen, bis ich die Taschenlampe fand. Ich versuchte mehrmals vergeblich, sie anzuknipsen. Vielleicht hatte die Kälte die Batterie angegriffen. Sie blieb dunkel.
Nun gab es keinen Zweifel mehr. Unsere Gefährten befan den sich am Fuß des großen roten Felsenmassivs. Warum? Wie sollten wir diesen steilen Hang in der Dunkelheit bewälti gen, um zu ihnen zu gelangen? Wir würden ins Lager VIII zurückkehren müssen. Aber wie sollten sie am nächsten Morgen den Sauerstoff finden? »Lino! Achille! Antwortet! Könnt ihr uns hören?« Es herrschte tiefstes Schweigen, das lediglich hin und wieder von einem schrecklichen Aufheulen Mahdis unterbrochen wurde. Mir kam eine Idee, die ich mei nem Leidensgefährten unter den größten Schwierigkeiten begreiflich zu machen versuchte. Wir mußten das Zelt errei chen, indem wir den Schneehang direkt hinaufkletterten, bis auf die Höhe des roten Felsmassivs, und dann eine lange Schneeleiste darunter querten, die von unserem jetzigen Standpunkt nicht sehr steil aussah. Auf diese Weise konnten wir es vermeiden, im Dunkeln ungefähr einhundertzweiund fünfzig Meter schräg nach oben über Schneeplatten und ge fährliche Felsen zu klettern. Mahdi hörte sich den Vorschlag ohne erkennbare Reaktion an und nahm sein Heulen wieder auf. Ich kroch auf Händen und Knien zum Sauerstoff zurück, um ihn zu holen. Als ich wieder bei Mahdi war, der in der Zwischenzeit viel leicht dreiundzwanzig Meter weitergeklettert war, schwang er seinen Eispickel drohend gegen die Höhe und stieß wilde Verwünschungen aus. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck im Dunkeln nicht erkennen, war aber sicher, daß er zum Fürchten war. Als mir klar wurde, daß seine Verzweiflung die Grenzen des gesunden Menschenverstandes gesprengt hatte, schauder te ich unwillkürlich und dachte mit Entsetzen an die mögli chen schrecklichen Folgen. Wieder nahm ich meine Sauerstoff last vom Rücken und rief nach Lino und Achille. Schweigen.
Mahdi tobte immer weiter. Seine Erregung und Hysterie ließen ihn die unvernünftigsten Dinge tun. Einmal stieg er aufwärts, einmal abwärts, dann wieder seitwärts. Er war sich der Last auf seinem Rücken gar nicht mehr bewußt und tau melte stark. Ich sah ihn jeden Augenblick abstürzen. Nur mit Gewalt konnte ich ihn festhalten, doch in diesen Zustand des Wahnsinns war er stärker als ich. Endlich beruhigte er sich etwas, und es gelang mir, ihn weiter ruhig zu halten, indem ich meine eigene Angst vor ihm verbarg. Wer weiß, wie oft wir beide miteinander bis zum Fuß des K2 hinuntergerollt wären, wenn der Schnee nicht so tief gewesen wäre, so daß Mahdi weit einsank? Inzwischen waren wir an einem Punkt, an dem nicht einmal mehr die Rückkehr ins Lager VIII möglich war. Ich überlegte, was es bedeutete, wenn Lacedelli und Compagnoni den Sau erstoff nicht fanden. Was war das kleinere Übel? Hinunterzu steigen hätte den sicheren Tod für uns bedeutet. Mahdi hatte offensichtlich den Verstand verloren und konnte jeden Au genblick unkontrolliert losstürzen, mit mir im Schlepptau; ich hatte ihn nicht mehr in der Gewalt, das spürte ich. So über dachte ich die letzte, verzweifelte Alternative: die Nacht hier draußen zu verbringen. Instinktiv fing ich an, mit dem Eispik kel auf den Boden zu schlagen, um eine Stufe aus dem Hang herauszuhauen, die groß genug war, daß wir beide nebenein ander darauf sitzen konnten. Dabei drängte sich unter den vielen Gedanken und Erinnerungen, die durch mein Hirn jagten, ein ganz bestimmter in den Vordergrund: die Vorah nung unseres elenden Endes. Je mehr ich mich dagegen auf lehnte, desto stärker hämmerte er gegen meine Schädeldecke. Manchmal dachte ich, mein Kopf würde platzen. Wurde ich etwa auch verrückt? Plötzlich hörte ich mich zu meiner eige
nen Überraschung schreien: »Nein! Ich will nicht sterben! Ich darf nicht sterben! Lino! Achille! Könnt ihr uns denn nicht hören? Helft uns doch, verdammt noch mal!« Woraufhin ich in wüste Drohungen und Verwünschungen ausbrach. Als der Anfall vorüber war, hatte ich das Gefühl, aus einem Alptraum zu erwachen. Ich stellte fest, daß ich eine ziemlich große ebene Fläche geschlagen hatte. Auch Mahdi wirkte jetzt ruhiger; in Abständen wimmerte er vor Kälte und antwortete auf jeden meiner Vorschläge mit einem geschluchzten »Nein, Sahib!« Inzwischen traf ich mit meinem Eispickel auf blankes Eis und mußte aufhören. Der Platz schien jetzt groß genug für uns beide, und ich setzte mich hin, um auszuprobieren, ob er reichte; seine Unterkante ging mir bis zum Knie, und die obere reichte mir genau bis an den Kopf. Mahdi, der unbeweglich ein Stückchen von mir entfernt gekauert hatte, während ich arbeitete, hatte offenbar Mut gefaßt und antwortete mit einem unerwarteten »Ja, Sahib!«. Obwohl wir uns inzwischen mehr oder weniger mit unse rem Schicksal abgefunden hatten, riefen wir noch einmal so laut wir konnten nach unseren Gefährten. Doch unsere Kehlen waren so trocken und stimmlos, daß wir kaum ihre Namen formen konnten. Da wurde, fast nicht zu glauben, auf dem Grat genau unter dem Felsen ein Licht angezündet. »Lino! Achille! Hier sind wir! Warum habt ihr nicht reagiert?« Lacedelli entschuldigte sich mit klar vernehmbarer Stimme, aber ziemlich unwirsch. Da ich ihn kannte, nahm ich das nicht allzu ernst. Eine der Auswirkungen der dünnen Luft ist extreme nervöse Reizbar keit. Immerhin, so sagte ich mir, hatte ich die beiden gerade
noch verflucht und beschimpft. »Habt ihr den Sauerstoff?« fragte er. »Ja«, antwortete ich. »Gut! Laßt ihn dort und kommt sofort herauf.« – »Das geht nicht! Mahdi schafft es nicht.« – »Was?« – »Ich sagte, Mahdi schafft es nicht. Ich würde es vielleicht schaffen, aber Mahdi hat den Verstand verloren und marschiert gerade quer über den Hang.« Während unserer Unterhaltung war Mahdi, pausenlos wie im Delirium schreiend, aufgesprungen und kletterte nun unbeholfen den steilen Eishang hinauf direkt auf das Licht zu, ohne die schreckliche Gefahr zu beachten, in der er sich be fand. Das Licht nützte ihm nicht nur nichts, es führte ihn sogar in die Irre. »Nein, Mahdi! Kehr um! Nicht gut!« rief ich immer wieder. Doch er, geblendet von der Hoffnung auf Leben, die das Licht ihm gegeben hatte, setzte seinen akrobatischen Kletterakt fort. Plötzlich verschwand das Licht. Die Freunde machen sich fertig, um uns zu Hilfe zu kommen, dachte ich. Mahdi hatte auf dem nun wieder dunklen Abhang angefan gen, wie ein Verrückter zu brüllen: »Nicht gut, Lacedelli Sahib! Nicht gut, Compagnoni Sahib!« Er war ein neuer Anfall. Aber sein Gott war mit ihm, und es gelang ihm, unbeschadet zu mir zurückzukriechen. Vergeblich harrten wir auf das Erscheinen unserer Freunde. Wieder riefen wir nach ihnen, flehten sie um Hilfe an, aber die ganze Nacht über erhielten wir kein Lebenszeichen. Ich hatte das Gefühl, als ob mir ein Feuerbrand in die Seele geworfen worden wäre. Mit Versprechungen und Beschwörungen gelang es mir, Mahdi dazu zu bringen, sich neben mich zu setzen. Er wollte um jeden Preis ins Lager VIII zurückkehren, und zweimal mußte ich ihn mit Gewalt zurückhalten, immer in Gefahr, daß
wir beide kopfüber abstürzten. Ich nahm meine Steigeisen ab, damit das Blut besser zirkulieren konnte, und tat bei Mahdi dasselbe, der sie, durch die Kälte gefühllos geworden, einfach anbehalten hätte, statt seine Handschuhe auszuziehen und später wieder anzulegen. Unsere Kehlen und Lippen waren trocken und brannten. Eine Durchsuchung meiner Taschen förderte drei Karamelbonbons zutage, die unsere ganze Ver pflegung darstellten. Wir nahmen jeder eines in den Mund, mußten sie jedoch sofort wieder ausspucken, weil wir keinen Speichel hatten. Die Nacht war ruhig, aber das Pfeifen des Windes war immer wieder zu hören, und bald machte sich die Kälte bemerkbar. Ich hätte gern gewußt, wie spät es war, aber ich brachte nicht die Kraft auf, auf meine Uhr zu schauen. Es war mir schon eine Erleichterung, einfach still sitzen bleiben zu können. Wir hatten seit dem Morgen bis gegen acht Uhr abends nur die paar Stunden in Lager VIII gerastet und diese Zeit hauptsächlich damit verbracht, uns wieder aufbruchfertig zu machen. Nun, wo wir wenigstens ruhig sitzen durften, gelang es uns, die Wirklichkeit zu vergessen, doch leider nur für kurze Zeit. Für den Augenblick waren die Bedingungen einigermaßen erträglich, denn unsere Muskeln waren noch warm. Doch wie würde es später werden? Am liebsten hätte ich gar nichts gedacht, aber es gelang mir nicht. Der Himmel war mit Myriaden von Sternen übersät, die so hell waren, daß sie merkwürdige Reflexe auf dem Schnee erzeugten. Ich hatte das Gefühl, daß es etwa eine Stunde früher sehr viel dunkler gewesen war. Es stand kein Mond am Himmel, doch sämtliche Gipfel in unserem Umkreis waren klar zu erkennen. In den Tälern zog sich ein ungeheures Wolkenmeer immer dichter zusammen, das alle Berge bis zu einer Höhe von 7620 Metern bedeckte. Was für ein herrlicher
Blick, konnte ich in meinen wenigen ruhigen Augenblicken denken. Alle hohen Gipfel des Karakorum ragten geradezu magisch wie dunkle Felsinseln aus dem milchigen Meer her aus. Da waren die Gipfel des Falchen Kangri und hinter ihnen die des Gasherbrum, der höchste davon der Hidden Peak. Doch der K2 beherrschte all diese Giganten, und es schien fast unmöglich, daß wir hoch oben auf ihm waren. Instinktiv drehte ich mich um und blickte zu ihm auf, und wie um mir das zu bestätigen, schien der K2 mich herauszufordern, indem er den klar umrissenen Schatten seiner furchtbaren Eismassen enthüllte, die in den Himmelsraum hineinstachen. Nur nach oben ähnelte er einem Berg; hier unten war er wie das Schwert des Damokles, das über zwei winzigen Menschen schwebte. Wenn nur der allerkleinste Teil dieser gigantischen Eishaube wegbrach, würden wir fortgerissen werden wie dünne Stroh halme. Während Angst und Hoffnung, Erinnerung und Reue in mir wechselten, ließ die schreckliche Kälte unsere Gliedmaßen, durch die in regelmäßigen Abständen ein heftiges Zittern lief, taub werden. Wir klammerten uns aneinander und versuch ten, den Kontakt mit dem Eis um uns herum so gering wie möglich zu halten. Immer wieder merkte ich, wie ein Körper teil fühllos wurde, und kämpfte mit allem, was mir zu Verfü gung stand, gegen die vom Eis verursachte Taubheit an. Häufiges Bewegen der Gelenke oder kräftiges Reiben der betreffenden Partie reichten nicht aus. Deshalb packte ich meinen Eispickel und hieb wiederholt gegen die Stellen, an denen mich die Kälte gepackt hatte. Diese Methode half nicht nur, die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen, sie min derte auch meine Angst, aus Sauerstoffmangel ohnmächtig zu werden.
Plötzlich traf die erste Böe aus Wind und Schnee unsere Ge sichter wie ein Schlag, dann noch ein und noch eine. In kürze ster Zeit hatte uns der Schneesturm völlig eingehüllt. Die Schneewirbel waren so wild und heftig, daß ihre eisigen Kristalle durch unsere Kleidung drangen. Bald konnten wir nicht einmal mehr schreien, um uns Erleichterung zu verschaf fen. Mit Mühe gelang es uns, unsere Nasen und Münder mit den Händen zu schützen, um nicht zu ersticken, und unsere Augen waren fast blind. Wie Schiffbrüchige auf einem sturm gepeitschten Meer klammerten wir uns mit jeder Faser unseres Seins ans Leben, um nicht unterzugehen. Der Kampf wurde immer verzweifelter und ungleicher, und wir wußten kaum noch, ob wir ums Leben kämpften oder ob wir überhaupt noch am Leben waren. Dreimal begrub uns der Schnee beinahe, füllte erstickend den Raum, in dem wir saßen, und dreimal schaufelten wir ihn weg. Jeder von uns kämpfte nun für sich allein und mobilisier te seine letzten Kräfte. Plötzlich hörte ich neben mir ein Heu len, das eindeutig aus Menschenmund kam und nicht vom Sturm, und streckte instinktiv die Hand nach einem Schatten aus. Ich konnte Mahdi gerade noch daran hindern, sich kopf über hinunterzustürzen. Ob dieser Akt einzig und allein von dem verzweifelten Instinkt, in Lager VIII zurückzukehren, diktiert wurde, werde ich niemals wissen. Schließlich gelang es mir, eine Höhlung in den Schnee zu scharren, in der ich meinen Kopf verbergen und etwas Schutz finden konnte. Der Sturm tobte mit unverminderter Heftigkeit weiter. Erst gegen Morgen ließ er nach. Ein Wolkenmeer bedeckte noch immer alles um uns herum, so daß wir nur wenige Meter weit sehen konnten. Ganz allmählich klarte der Himmel auf, und ein Stern wurde sichtbar. Ich weiß nicht, wie viele Stun
den das Inferno gedauert hatte, ich weiß nur noch, daß mein Körper sich anfühlte, als ob er nicht mehr zu mir gehörte. Ich konnte weder meine Füße noch meine Hände spüren. Die Beine trugen mich nicht mehr, und der übrige Körper, beson ders die Arme, wurde von ständigen Zuckungen geschüttelt, die ich nicht kontrollieren konnte. Es war bemerkenswert, daß ich immerhin noch imstande war, einigermaßen vernünftig zu denken. Ohnmächtig sah ich dem Aufbruch Mahdis zu, der, halb gelähmt von der Kälte, plötzlich den Abhang hinunterzustol pern begann, ohne die ersten Sonnenstrahlen abzuwarten, die uns nun bald erreichen mußten. Ich fragte mich besorgt, ob er den Abstieg ohne Sturz bewältigen konnte, aber ich wußte auch nicht, wie ich ihn hätte zurückhalten können. Etwa sechsundvierzig Meter unterhalb von mir verharrte er plötz lich und blieb eine ganze Weile bewegungslos stehen. Schließ lich setzte er sich wieder in Bewegung, und ich beobachtete mit vor Angst zugeschnürter Kehle seinen unsicheren Abstieg, der alle paar Schritte von einem offenbar durch Schmerzen erzwungenen Halt unterbrochen war. Es war eine unendliche Erleichterung, als ich schließlich sah, daß er das Ende des ersten, zweihundertdreizehn Meter hohen, äußerst steilen Hangs erreicht hatte. Jetzt machte es nichts mehr aus, wenn er stolperte und fiel; die Gefahr eines tödlichen Sturzes war gebannt. Armer Teufel, in was für einer Verfassung mußte er sein. Ob er überhaupt begriffen hatte, warum wir die Nacht ohne einen Schutz hatten verbringen müssen? Ich hatte ihm in der Nacht, bevor der Schneesturm einsetzte, unter anderem eine erkleckliche Summe in Rupien versprochen, um seine wilde Entschlossenheit umzukehren etwas zu dämpfen, und er hatte bei mir ausgehalten; ob er mich wohl jetzt verfluchte,
daß er es getan hatte? Gestern abend hatte ich große Angst um sein Leben gehabt, jetzt trat er allein den Rückweg an. War meine Entscheidung falsch gewesen? Das wußte Gott allein. Wie eine überirdische Vision stieg auf einmal die Sonne über dem Wolkenmeer auf und schuf zahllose Streifen von Licht und Schatten. Die Wärme ihrer Strahlen rief mich ins Leben zurück und brachte das heftige Zittern, das fortwäh rend durch meinen ganzen Körper lief, ein wenig zur Ruhe. Ich zog meine Handschuhe aus. Meine armen Hände waren nicht wiederzuerkennen, aber das Gefühl begann in sie zu rückzukehren, sie schmerzten. Schließlich konnte ich auf meine Armbanduhr schauen; es war wenige Minuten vor sechs. Was war mit meinen Gefährten da oben passiert? Selbst jetzt konnte ich das Zelt nicht erkennen. Ich rieb meinen Körper und klaubte den Schnee aus allen Falten und Höhlun gen in meiner Kleidung, in die ihn der Schneesturm hineinge preßt hatte. Mein Vollbart war gefroren und bildete eine Art festen Kragen aus Eis um mein Gesicht. Ich grub die Sauer stoffpakete aus dem Schnee aus, legte meine Steigeisen an und machte mich an den Abstieg. Es war unglaublich, wie unsicher ich auf den Beinen war, obwohl ich jetzt keine Last zu tragen hatte. Ich mußte den Eispickel bei jedem Schritt in den Schnee treiben und mich an ihm festhalten, um nicht niederzusinken. Auf diese Weise brachte ich den zweihundertdreizehn Meter steilen, gefährlichen Abhang hinter mich. Danach spürte ich, wie mein Gleichgewichtsgefühl langsam wiederkehrte, auch wenn meine Schritte immer noch schwankend waren. Bald war auch die Kälte aus meinem Körper gewichen. Stolpernd suchte ich mir den Weg über die Gletscherspal ten. Plötzlich erreichte mich ein Ruf von oben. Ich drehte mich um und schaute hinauf, sah aber immer noch nichts außer den
bunten Sauerstoffflaschen, die ich dort deponiert hatte. So setzte ich meinen Weg nach unten fort. Und da war endlich Lager VIII. Vorwärts, Walter! Noch eine letzte Anstrengung, dann bist du wieder bei Freunden, im Zelt, in der Wärme. Mit dieser Aussicht vor Augen wurde es leichter, die Gletscherspalten zu überqueren. Ich mußte nur schlittern, um voranzukommen. Da wirbelte es mich durch die Luft, und ich fand mich dreieinhalb Meter weiter unten, bis zum Bauch in den Schnee eingesunken. Meine Gefühle droh ten mich zu überwältigen, als ich endlich wieder die zwei Zelte des Lagers erblickte. Sie waren genau vor mir, aber als ob sie ihr Spiel mit mir treiben wollten, schienen sie einfach nicht näher zu kommen. Es war die Wirkung der nachlassen den Spannung, die man nach jedem Abenteuer spürt, wenn es so gut wie überstanden ist. Ein paar Schritte von den Zelten entfernt stand ich auf ein mal vor Isakhan, der herausgekommen war, um ein wenig Schnee zum Schmelzen zu holen. Ich war sehr erleichtert, als er mir sagte, daß Mahdi soeben eingetroffen sei und er ihn in sein Zelt verfrachtet habe. Ich schnallte meine Steigeisen ab und kroch zu Abram und Gallotti ins Zelt. Der erzählte: »Kurz vor sieben wurden wir geweckt, als der Zelteingang aufgeris sen wurde. Mahdi starrte uns in einem Zustand höchster Erregung an und zeigte uns seine gepeinigten Hände und Füße. Vor allem seine Zehen waren schwarz angelaufen und sahen schlimm aus. Die Erklärungen, die er, immer wieder von der Erschöpfung überwältigt, hervorstieß, waren alles andere als klar und weckten bei uns die schlimmsten Befürch tungen. Erich und ich schauten uns an und trauten uns nicht,
unsere Gedanken laut auszusprechen.«3 Kurz darauf traf ich im Lager ein. Armer Mahdi!4 Meine Gedanken wanderten zurück, und ich sah im Geiste noch einmal dramatische Szenen vor mir. Da war der Mahdi von vor einem Jahr, der den Abstieg vom Nanga Parbat bewältigt und auf seinen Schultern einen Mann mit einem erfrorenen Fuß getragen hatte – Hermann Buhl, der diesen Gipfel ganz allein bezwungen hatte. Ich berichtete meinen Freunden in kurzen Worten vom Drama der vergangenen Nacht. Wahrscheinlich war mir immer noch nicht ganz klar, was ich hinter mir hatte. Ich war völlig unverletzt. Um 17.20 Uhr am selben Nachmittag erschien Isakhan in unserem Zelt mit der englisch gesprochenen Ankündigung: »Ein Sahib steigt gerade auf den K2!« Wir stürzten nach drau ßen. Ein dicker Klumpen saß in meiner Kehle, und ich konnte meine Gefühle nicht mehr unterdrücken. Zwei winzige Punkte bewegten sich langsam und stetig den Grat entlang, der die bläuliche Tönung des Zwielichts angenommen hatte. Um dreiundzwanzig Uhr feierten fünf Leute in einem klei nen Zelt denselben Sieg. Es waren Erich Abram, Pino Gallotti, Achille Compagnoni, Lino Lacedelli und ich. In diesem Au genblick trat alles andere in den Hintergrund. In der Nacht schneite es.
Aus Gallottis Tagebuch Er mußte sich im Skardu-Hospital mehrere Finger und Zehen abnehmen lassen. 3 4
Chris Bonington/Charles Clarke aus Der unbezwingbare Gipfel In den achtziger Jahren versuchten Bergsteiger, die schwie rigeren Routen am Mount Everest mit alpinen Leichtgewicht-Taktiken zu bewältigen. Chris Bonington leitete 1982 einen gewagten Aufstieg im alpinen Stil am Nordost-Kamm des Mount Everest. Peter Boardman und Joe Tasker, die an einigen der waghalsigsten Aufstiege dieser Epoche beteiligt waren, machten sich am 15. Mai auf den Weg zum Gipfel. Boningtons Aufgabe bestand darin, für die beiden am Nord joch ein Lager als Zufluchtsort zu errichten. In der Zwi schenzeit verfolgte er durch ein Fernrohr, wie seine Freunde am Kamm vorankamen. Es war immer schwierig, aufzustehen, bevor die Sonne das Zelt gewärmt hatte, was so gegen 9.00 Uhr geschah. Selbst dann lag ich noch lange benommen da, ehe Durst und Hunger mich aus der Wärme meines Schlafsacks trieben. Es war wie der ein idealer Tag, wolkenlos, fast windstill – es war eine Freude, draußen zu sein. Ich stolperte hinüber zum Küchen zelt und spähte zum ersten Mal an diesem Morgen durch das Teleskop. Ich richtete es zunächst auf den Schneevorsprung, hinter dem die dritte Schneehöhle lag. Keine Spur von ihnen, also führte ich das Fernrohr den Kammrücken entlang bis zur ersten Bergspitze. Immer noch nichts. Konnte es sein, daß sie verschlafen hatten? Und dann sah ich sie – zwei kleine, deutli che Gestalten auf dem höchsten Punkt, den sie früher als geplant auf dem ersten Gipfel erreicht hatten. Um dorthin zu
gelangen, mußten sie entweder sehr schnell geklettert oder aber vielleicht sogar vor Tagesanbruch losmarschiert sein. Sicherlich wußten sie, daß sie an diesem Tag eine lange Strecke zu bewältigen hatten, denn um eine realistische Chance zu haben, den Gipfel zu erreichen, mußten sie es bis zum Abend bis Punkt 8393 schaffen. Das Bild durch das Teleskop war so scharf, daß ich sogar ihre Gliedmaßen sehen konnte. Den Rest des Tages beobachte te entweder Adrian oder ich durch das Teleskop, wie Pete und Joe sich langsam ihren Weg auf dem Bergkamm bahnten. Aber jetzt kamen sie nur noch schleppend voran. Sie befanden sich auf neuem, sicherlich schwer begehbarem Grund. Wir vermu teten, daß sie ein Fixseil hinter sich ließen, denn sie hatten ungefähr dreihundert Meter Seil dabei. Ihr langsames Tempo war nicht verwunderlich. Sie befanden sich jetzt auf etwa 8250 Metern Höhe über dem Meeresspiegel. Jeder von ihnen hatte bestimmt gut fünfzehn Kilo Gepäck auf dem Rücken: Schlaf säcke, Zelt, Ofen, Nahrungsmittel, Brennstoff und Kletteraus rüstung. Schwer zu sagen, wie schwierig der Aufstieg war, aber ich vermute, daß er schwieriger war, als sie erwartet hatten. Ich fragte mich, ob je ein Mensch unter diesen Bedin gungen in einer solchen Höhe geklettert war. Sie waren jetzt höher als alles andere, abgesehen von fünf Gipfeln in der Welt. Wir verbrachten den Tag mit Kochen, Trinken und Essen, aber immer wieder gingen wir zum Teleskop, um auf diese winzigen Gestalten hinaufzustarren. Ich wartete auf drei Uhr, dann könnten wir mit ihnen Kontakt aufnehmen, hören, wie es ihnen ging, wie der Aufstieg war – aber vor allem einfach nur, sie hören. Es war fünf vor drei. Ich stellte das Funkgerät ein und begann zu rufen.
»Hallo, Bergsteigerteam, hallo, Bergsteigerteam, hier Auf stiegslager, könnt ihr mich hören? Ende!« Das Gerät knatterte, aber man hörte nur einige entfernte Stimmen, die chinesisch sprachen. Die Berggipfel, die sich schwarz gegen den Himmel abzeichneten, waren starr und zerklüftet. Ich versuchte es nochmals. Es war nun drei Uhr durch, aber immer noch kam keine Antwort. Ich war nicht übermäßig besorgt. Vielleicht funktionierte ihr Gerät nicht; wahrscheinlicher war jedoch, daß das Klettern sie so sehr in Anspruch nahm, daß sie entweder vergessen hatten, das Funkgerät einzustellen oder einfach keine Zeit dazu war. Ich konnte deutlich eine Gestalt auf dem Kamm sehen, auf halber Strecke zwischen dem Gipfel der ersten Bergspitze und dem schwarzen Zahn der zweiten. Die andere Gestalt befand sich genau unterhalb des Horizontes und bewegte sich sehr langsam. Wir riefen dann während des restlichen Nachmittags jede halbe Stunde durch, aber wir bekamen keine Antwort. Um 21.00 Uhr an diesem Abend, die Sonne war bereits hinter dem Everest untergegangen, schauten wir zum letzten Mal zu ihnen hinauf und riefen sie wieder über Funk. Eine Gestalt zeichnete sich im schwindenden Licht auf dem schmalen Joch unmittelbar unterhalb des zweiten Gipfels ab, während die andere Gestalt sich auf die erste zu bewegte, um sie einzuho len. Sie waren seit vierzehn Stunden unterwegs. In etwa zwan zig Minuten würde es dunkel werden, sie mußten also einen Schlafplatz irgendwo am Fuß des zweiten Berggipfels finden, entweder eine Schneehöhle oder besser einen schmalen Fels vorsprung, der aus dem Schnee herausragte und auf dem sie
ihr Zelt aufschlagen konnten. Aber wie sah es da oben aus? Der Bergkamm war offensichtlich schmal, und die Abhänge zu beiden Seiten schienen steil zu sein. Aber es gab jede Menge Schnee auf der Ostseite. Das einzige Problem konnte viel leicht sein, daß er zu weich war und zu wenig Konsistenz hatte. Wir aßen zu Abend, schauten zum Kamm hinauf, dessen schwarze, gezackte Kante sich deutlich von der tiefblauen Farbe des klaren, sternenübersäten Himmels abhob. Kein Lichtschein war zu sehen, wahrscheinlich hatten sie ihr Lager oder ihre Höhle auf der anderen Seite eingerichtet. Ich schlief tief in dieser Nacht, aber am nächsten Morgen ging ich sofort zum Teleskop. Keine Spur von ihnen. Vielleicht waren sie schon aufgebro chen. Es war wieder ein strahlender, klarer Tag, und das Fehlen einer Schneefahne vom Gipfel war ein Hinweis darauf, daß sie nur mit wenig Wind zu kämpfen hatten. Wir wußten, daß sie auf der anderen Seite des Kammes für etwa dreihun dert Meter außer Sichtweite sein würden, weil der Weg auf der Nordseite durch die nackten Felspfeiler des zweiten Ber ges versperrt war. Ich vermutete, daß sie versuchen würden, so schnell wie möglich zurück zur Nordseite zu kommen. Denn im Osten war der Schnee wahrscheinlich unsicher, außerdem würden sie mit uns Kontakt aufnehmen wollen, selbst wenn ihr Funkgerät nicht mehr richtig funktionierte. Es sah auch so aus, als gäbe es auf dieser Seite miteinander ver bundene Vorsprünge quer über die felsigen Abhänge. Zu diesem Zeitpunkt waren wir nicht übermäßig beunru higt. Wir packten gemütlich unsere Rucksäcke, tranken noch einen Tee und brachen dann auf in Richtung Nordjoch. Vorher
hinterließen wir Charly noch eine Nachricht, damit er Be scheid wußte. Diesmal nahmen wir wieder unsere Abstiegs route und kamen gleichmäßig, ohne besondere Vorkommnis se, voran. Ich hatte ein Fernglas mitgenommen und schaute etwa alle zehn Minuten hinauf zum Kamm, in der Hoffnung, Joe und Pete zu sehen. Von den Berghängen, die zum Joch führten, hatten wir eine ausgezeichnete Aussicht. Unterhalb des zweiten Berggipfels gab es einen sehr schmalen Paß. Der Kammrücken war dann für schätzungsweise drei Seillängen eben, bevor er zum Joch unterhalb des letzten Berggipfels hin abbrach. Wir wußten von Fotoaufnahmen, daß sie dann auf diese Seite des Kammes kommen mußten, denn es gab einen nackten Felspfeiler auf der Ostseite. Richtung Norden dagegen eine Reihe Felsvorsprünge, von denen wir annahmen, daß sie den Zugang zur Nordwand erleichtern würden. Ich erforschte jede Stelle, von der ich vermutete, daß sie dort auftauchen könnten und richtete dann das Fernglas wieder zurück auf den Kamm. Unser Gesichtsfeld war so gut, daß sie deutlich sichtbar gewesen wären, wenn sie zum Kammrücken oder zur nördlichen Seite des Kammes zurück gekehrt wären. Aber es war nichts zu sehen. Nur Fels und Schnee und Eis. Ich konnte nicht umhin, dafür zu beten, daß es ihnen gutging. Ich ertappte mich dabei, daß ich weinte, so stark war die Angst geworden, die unbemerkt in mir hochge krochen war. Ich schalt mich selbst. Noch gab es keinen Grund zur Sorge. Sie sind nur auf der anderen Seite des Kammes. Wir waren nun auf der Rampe, die zum Zentrum des Nord jochs führte. Unsere Schritte von vor zwei Tagen waren von Schnee zugeweht, und wieder überließ ich es gern Adrian, uns den Weg zu bahnen. Es war 18.00 Uhr abends, als wir unseren früheren höchsten Punkt erreichten. Ich warf einen prüfenden
Blick auf einen schmalen Schneegrat. Er sah zu bewältigen aus, aber steil und beängstigend, so daß wir ihn morgens in Angriff nehmen sollten, wenn wir frisch und ausgeruht waren. »Komm Adrian, wir übernachten hier. Mit dieser Gletscher spalte zwischen uns und dem Abhang sind wir sicher genug.« Ich begann, neben der Spalte eine Plattform zu graben. Adrian war entsetzt angesichts der ungeschützten Position unseres Lagerplatzes, aber ich versuchte, ihn zu beruhigen, daß er vollkommen sicher sei. »Wenn du erst im Zelt liegst, wirst du den Abgrund vergessen.« Die Dämmerung war wunderschön, der Himmel wolken los, kaum eine Brise Wind. Auf der einen Seite war der Nordost-Kamm schwarz und massiv, während unter uns der östli che Rongbuk-Gletscher sich wie ein endloser, weißer Highway dahinstreckte. Auf der anderen Seite des Gletschers ragten die sanften Schneespitzen, die den Lhakpa La begrenzen, nach oben, und hinter ihnen türmte sich das feste, felsige Dreieck des Khartaphu empor. Der Frieden dieser Szenerie war beru higend. Ich war glücklich, wieder oben zu sein, froh, mit Adrian bergsteigen und unser bescheidenes Abenteuer teilen zu können: den Aufstieg zum Nordgipfel. Am nächsten Morgen bauten wir das Zelt ab, und ich brach entlang des zerbrechlichen Schneegrats auf, der, so hofften wir, um die Gletscherspalte herumführen würde. Wie so oft, war es leichter, als es aussah. Und obwohl der Grat fast senkrecht in eine riesige Gletscherspalte unter uns fiel, war ich durch das Seil, das Adrian angebracht hatte, abgesichert. Ich schlug große Stufen ins Eis und arbeitete mich so nach unten, dann rief ich Adrian zu, er solle das Seil veran kern und mir folgen. Wir hatten nun das Seil so befestigt, daß
es für unsere Rückkehr bereit war. Bald hatten wir uns beide vorsichtig daran abgeseilt und konnten den Fuß auf die leichte Rampe setzen, die wir von unten gesehen hatten. Wieder war ich froh, daß Adrian die Führung übernahm. Während des Aufstiegs suchten wir weiterhin alle paar Minuten den Kamm ab, aber immer noch war nichts zu sehen. Obwohl allmählich die Angst in uns hochstieg, konnten wir nicht umhin, das Gefühl zu genießen, auf unerforschtem Boden zu sein, unseren eigenen Weg auf den Nordpaß zu finden. Es gab verblüffende Andenken an unsere Vorgänger. Ein altes Nylonseil hing von einem riesigen, überhängenden Schneebuckel herunter. Ob die Chinesen es 1975 zurückgelassen hatten? Weiter oben, bei einem großartigen, schmalen Eisschornstein, ragte eine Butan gasflasche heraus, sicher französischer Jahrgang 1981. Diese Route erschien uns zu schwer, und wir verfolgten die Rampe weiter hinauf bis zum Fuß eines spitzwinkligen Schneehanges, der zum Rücken des Berghanges zu führen schien. Ich ging wieder vor und trat den Weg nach oben durch den steilen, aber sicheren Schnee frei, bis mein Kopf plötzlich über den Bergrücken hinausragte. Ich hatte den Nordpaß erreicht. Es war eine scharfe Messerschneide, die auf der anderen Seite steil abfiel und eine ganz neue Aussicht auf den nahegelege nen Pumo Ri freigab. Wohlgeformt und geradezu elegant stand er da, dahinter die massige Gestalt des Cho Oyu. Ich bewegte mich vorsichtig entlang der Messerschneide, bis zu der Stelle, wo sie sich zu einem leichten Abhang verbreiterte, und befestigte einen Sicherheitshaken. Während Adrian, mit Haken gesichert, nach oben stieg, konnte ich mich umschauen. Der Kamm weitete sich genau über dem tiefsten Punkt des Jochs zu einer breiten Kuppel. Die Stelle würde sowohl einen guten Lagerplatz als auch einen ausgezeichneten Aussichts
punkt auf den Nordostkamm abgeben. Durch die Konzentra tion und die ganz reale Freude, diese letzte Steigung des Jochs zu erklimmen, war die Sorge um Pete und Joe in den Hinter grund getreten, aber nun drängte sie erneut hervor. Ich nahm das Fernglas heraus und suchte wieder die Kammlinie ab, jedoch vergebens. Aber was war mit den Amerikanern in der großen Schlucht an der Nordwand? Ich fing an, sie zu suchen und erspähte eine Reihe von Zelten, kleine farbige Schachteln, die unterhalb einer nackten Bergwand klebten. Nichts bewegte sich, aber eine Linie Spuren schlängelte sich quer über den Abhang, verlief rund um den riesigen, gefrorenen Wasserfall, der die große Schlucht etwa auf halber Höhe versperrte. Es gab noch ein anderes Lager, das unter einem Felsvorsprung genau an der Seite der Schlucht versteckt lag, und ich konnte gerade noch ein paar Spuren erkennen. Bei diesem idealen Wetter würden sie sicher auch versuchen, den Gipfel zu erreichen. Inzwischen hatte Adrian mich erreicht. Auch er empfand ein ähnliches Hochgefühl wie ich, wenn ich einen Gipfel erklommen habe. Weil das das Ziel war, das wir uns vorge nommen hatten. Kurz nach seiner Ankunft sahen wir zwei winzige Gestalten, die an den Fixseilen der amerikanischen Route hinabstiegen. Konnten das Pete und Joe sein, die ir gendwie zur Nordwand hinübergekommen waren, ohne daß wir sie gesehen hatten? Aber das hieße, sich an einen Stroh halm klammern. Unser Verstand sagte uns sofort, daß dies Amerikaner waren, vielleicht auf dem Rückweg von einer erfolgreichen Gipfelbesteigung. Wir gruben eine Plattform für das Zelt und verbrachten den Rest des Tages damit, abwechselnd den Nordostkamm abzu
suchen. Wir hatten jetzt den 19. Mai, und ich war sehr besorgt. Pete und Joe waren nun seit zwei Nächten und fast zwei Tagen außer Sichtweite. Von diesem Aussichtspunkt aus konnten wir sehen, wie kurz die Entfernung war, die sie hätten überwinden müssen, um nach ihrem Weg um den zweiten Berggipfel auf unserer Seite des Kammes ins Blickfeld zu geraten. An diesem Nachmittag beobachtete Adrian, wie sich im Aufstiegslager etwas bewegte. Konnten sie das sein? War es möglich, daß sie den ganzen Weg zurückgegangen waren, ohne daß wir sie gesehen hatten? Aber nein. Dort waren drei Gestalten. Es konnten die amerikanischen Skifahrer sein, oder vielleicht war es Charlie, der mit einigen Tibetanern heraufge kommen war. Um 18.00 Uhr schalteten wir das Funkgerät ein. Keine Antwort von Pete oder Joe, aber Charlie war beruhigend und fröhlich zu hören. Ich sprach sofort von meinen Befürch tungen. Charlie erinnert sich: Um 18.00 Uhr am 18. hatte ich eine knisternde Verbin dung zum Paß. Ich wollte Chris gerade von unserer Mahlzeit berichten, aber seine Nachricht klang ängstlich, sehr hoch, fast unverständlich. Sie hatten sie nicht gese hen… ›Ich bin besorgt.‹ ›Ich teile deine Sorge‹, antwortete ich. Ich teile deine Sorge… Meine Welt der Hochstimmung erstarrte zu Eis. Noch traten nicht Kummer oder Schmerz an ihre Stelle, sondern eine seltsame Realität: Ich befand mich in einem Lager auf großer Höhe, zusammen mit zwei Tibetanern, die auch die Nacht dort verbrachten. Fünf Kilometer entfernt auf dem Nordostkamm war et
was passiert oder passierte gerade etwas. Zwei Meilen entfernt waren Chris und Adrian auf dem Nordjoch in Sicherheit. Wir waren 9600 Kilometer von zu Hause weg. Ich schrieb düster in mein Tagebuch: Der Bergkamm ist ein lockerer Spaziergang von hier unten bis zum zweiten Gipfel. Dann folgt offenbar ein sehr gefährliches Stück. Ich weiß nicht, wie die Sache sich vom Nordpaß aus dar stellt. Ich denke, wir sollten uns auf eine Katastrophe ein stellen. Aber noch gibt es Hoffnung. Wenn die Situation morgen unverändert ist, werde ich sie wohl aufgeben müssen. Andererseits war es letztes Jahr auf dem Kongur genauso, und niemandem war etwas passiert.1 Betrachtet man die Sache einmal optimistisch, können sie am achtzehnten früh aufgebrochen, außer Sichtweite ge langt sein und ›das große Problem‹ gelöst haben. Am achtzehnten konnten sie immer noch nicht zu sehen sein, aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Lager zwischen den beiden Felsstufen aufgestellt haben, am nächsten Tag den Gipfel erklommen und zurück zum Nordpaß geklettert sein. Die Lösung ist ziemlich einfach. Entweder kommen sie freudestrahlend angestürmt oder schleppen sich mehr oder weniger mühsam heran, je nach dem Grad ihrer Verletzung oder Erkrankung; oder wir sehen sie über haupt nie wieder. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß sie verloren sind, doch es hat auch eine ganze Zeit ge dauert, bis ich Micks2 Tod begriffen hatte. O Gott!
Die Gipfelgruppe hatte 1981 zehn Tage lang den Kontakt verloren. (Anm. d. Autors)
2 Mick Burkes Tod auf dem Mount Everest 1975 (Anm. d. Autors)
1
In dieser Nacht schlief ich nicht gut, und sobald es hell genug war, schaute ich ängstlich durch das Fernglas. Wieder ein bildschöner Tag, aber immer noch kein Lebenszeichen. Den ganzen Tag über schalteten wir stündlich das Funkgerät ein, hatten jedoch wenig Hoffnung, eine Antwort zu erhalten: Es war unwahrscheinlich, daß wir sie hören würden, ehe sie in direkter Sichtweite waren. Ich suchte jetzt nicht nur den Kamm ab, sondern auch den Gletscher am Fuß, nur für den Fall, daß sie abgestürzt waren. In dieser Nacht ging Adrian nach draußen, um einen letzten Blick zum Kamm hoch zu werfen. »Chris, komm und schau dir das an! Ich glaube, ich habe etwas entdeckt. Es könnte ein Zelt sein.« Er reichte mir das Fernglas. »Es ist etwa nach einem Drittel des Weges, der den Berg kamm entlangführt, oberhalb und jenseits der Berggipfel, direkt unter dem Kamm. Schau, da sind drei leichte Uneben heiten. Geh von der linken aus nach unten. Da ist ein kleines Senkloch, und da ist es, auf einer Art Vorsprung. Es ist nur ein kleiner, orangefarbener Punkt. Es könnte doch ein Zelt sein, oder?« Es war zweifellos auf der Linie vom letzten Berggipfel bis zur Nordwand. Warum hatten wir sie dann nicht gesehen? Sie hätten zu sehen sein müssen, wenn sie langsam gingen, schon seit langer Zeit. Aber dieser kleine, orangefarbene Punkt war ein schwacher Hoffnungsschimmer. Ich schob logische Einwände beiseite. Das konnten Pete und Joe sein. Vielleicht hatten sie den Gipfel erreicht und waren auf dem Rückweg. Sie konnten morgen bei uns sein. Weder Adrian noch ich schliefen in
dieser Nacht. Ich stellte mir vor, was sie sagen würden, was sie gemacht hatten, wie sie aussehen würden. Ich redete mir ein, daß es ganz sicher ihr Zelt war und daß sie auf dem Rückweg waren. Die Nacht schlich so unglaublich langsam dahin. Wir hatten ausgemacht, daß wir Charlie um acht Uhr anrufen würden, und ich schilderte ihm meine Hoffnung. »Es gibt einen schwachen Hoffnungsschimmer. Gestern abend hat Adrian einen kleinen, roten Flecken gesehen, das könnte ein Sumitomo-Zelt sein. Es ist ungefähr auf der richti gen Linie. Aber wir haben keine Leute gesehen, und es ist natürlich möglich, daß es ein kaputtes Zelt von einer früheren Expedition ist. Es steht mehr auf Fels als auf Schnee, deshalb sticht es nicht so deutlich hervor. Es ist nichts Hundertprozen tiges, aber es läßt wenigstens hoffen. Ende!« Aber als das Licht auf der Nordwand besser wurde und wir auf den entfernten kleinen Punkt starrten, schwand unsere Hoffnung dahin. Es gab keinerlei Zeichen von Bewegung. Es war auch die falsche Farbe, denn es war orangefarben, wäh rend das Sumitomo-Zelt außen dunkelrot und innen hellgelb war. Außerdem hatte es die falsche Form; es war eher quadra tisch als gewölbt. Vielleicht hatten die Franzosen dieses Zelt im letzten Jahr zurückgelassen. Das Wetter war so klar und unser Aussichtspunkt so gut, daß wir sie ganz bestimmt hätten sehen müssen, wenn sie das Ende der Berggipfel er reicht hätten. Unsere Hoffnung war weg, Verzweiflung machte sich breit. Sie waren nun seit vier Tagen außer Sicht, und das, um eine Entfernung von lediglich drei Seillängen, aller höchstens aber acht oder so zu bewältigen. Vier Nächte ober halb von 8250 Metern. Wenn sie so langsam vorangekommen waren, hätten sie bestimmt beschlossen umzukehren. Wir hatten schon erlebt, was es bedeutet, vier Nächte in einer Höhe
von 7850 Metern zu verbringen. Die einzige Erklärung war, daß eine Katastrophe passiert war. Was, wenn einer von ihnen abgestürzt war und sich verletzt hatte? Bestimmt wäre doch der andere zurückgegan gen und hätte uns um Hilfe gerufen; vor allem, weil wir davon ausgingen, daß sie ein Fixseil hinter sich gelassen hatten. Er hätte nur zwei oder drei Seillängen zurückgehen müssen. Oder waren beide möglicherweise krank oder so erschöpft, daß keiner von ihnen sich bewegen konnte? Das schien un wahrscheinlich. Sie waren gut akklimatisiert, und selbst wenn sie müde waren von unserer langen Expedition, wußten sie doch, wie sie ihr Tempo einteilen mußten. Sie waren ja schon früher ohne Sauerstoff auf dieser Höhe gewesen, auf dem Kangchenjunga und dem K2. Einer von ihnen konnte vielleicht kollabiert sein, aber nicht beide. Damit blieb nur noch eine schreckliche Erklärung übrig. Daß sie beide tot waren. Entwe der war einer abgestürzt und hatte den anderen mitgerissen, oder eine dieser zerbrechlichen Eisfalten war abgerissen und hatte beide die mächtige Kangshung-Wand hinuntergefegt. Ich konnte mich an ihre enormen Dimensionen erinnern, wie steil der obere Teil des Kammes ausgesehen hatte, und wie brüchig und gefährlich Dick das Gefälle am ersten Gipfel erschienen war. Unter uns hatte Charlie ebenfalls eine schlaflose Nacht ver bracht.
Wellen verschiedenster Emotionen rauschten über mich hinweg. Ich empfand Schmerz, weil ich sie liebte. Sie wa ren die Personifizierung dessen, was ich einmal sein
wollte, aber ich hatte nicht diese Kombination von kör perlicher Konstitution, Können und innerer Antriebs kraft, um die Gipfel gewaltiger Berge zu erreichen. Sie spielten mit dem Feuer, ja, innerhalb der riesigen Skala dieses Unternehmens, aber nicht, weil sie leichtsinnig waren. Nicht Pete und Joe. Es gibt, denke ich, einige Bergsteiger, die – von Ehrgeiz gepackt, berauscht von der Gefahr und erregt durch die Aussicht auf Erfolg – alle Ängste und Gefühle verdrängen, große Risiken eingehen und, während sie schnell und häufig allein klettern, oft genug überleben können, um einen bestimmten Ruf zu erwerben. In meinen Augen sind diese Bergsteiger wie eine der Erscheinungen Buddhas, der als Eremit lebte und extremes Asketentum praktizierte, über alle Maßen ausgemergelt war, bevor er durch diese Hingabe die Er leuchtung errang. Ich fragte mich, ob Pete und Joe, wie Buddha nach seiner Erleuchtung, in die menschliche Welt zurückkommen und am Vollmondtag im Mai den Teller mit frischer Dickmilch aus den Händen eines Dorfmädchens entgegennehmen würden. Für Pete und Joe gab es, das fühlte ich, diesen Weg der Mitte: Sie glaubten, daß das Bergsteigen in großen Höhen seine Be rechtigung innerhalb des Bergsports hatte. Statistisch ge sehen gefährlich, ja aber mit Sorgfalt, List und Schnellig keit innerhalb vernünftiger Grenzen. Sie hatten ihren Glauben in großen Höhen durch wiederholte Besuche gefestigt, sie kannten und respektierten den Kampfplatz von Lawine, Sturm und Steinschlag. Sie hatten unter Ein satz aller Kräfte in kurzer Zeit den Gipfel des Kangchen junga bestiegen, hatten sich wegen Lawinengefahr vom K2 zurückgezogen. Sie waren klug, und manchmal hat
ten sie große Angst. Nie zeigten sie übertriebene Hoch stimmung nach einem Erfolg. Ich sprach mit Adrian darüber und mittags dann mit Charlie. Es schien keinen Sinn mehr zu haben, weiter auf dem Nord joch zu bleiben. Wir ließen das Zelt stehen, befestigten es an einer Schaufel und beschwerten es mit ausreichend Schnee. Wir ließen auch das Funkgerät, das Kochgeschirr, die restli chen Lebensmittel und einen Zettel zurück, auf dem wir sie willkommen hießen und berichteten, was wir getan hatten. Wir nahmen uns sehr zusammen. Obwohl ich kaum noch Hoffnung hatte, daß sie überlebt hatten, wollte ich es mir nicht eingestehen. Außerdem waren wir immer noch auf dem Berg und brauchten unsere ganze Konzentration, um sicher zurück zum Aufstiegslager zu gelangen. Als wir die Bergwand er reichten, an der ich ein Fixseil angebracht hatte, hüllten uns die Wolken ein, und der Wind fing an, schmerzende Schnee flocken in unsere Gesichter zu peitschen. Adrian, der eine Brille trug, konnte fast nichts mehr sehen, da die Gläser völlig beschlagen waren. Er spürte auch die kräftezehrenden Aus wirkungen der drei Nächte, die wir auf etwa 7000 Metern Höhe zugebracht hatten. Wir waren beide völlig erschöpft, als wir den Hang hinunterstolperten, dankbar für die Wegmar kierungen, die wir angebracht hatten, um den Rückweg zu finden. Nachdem wir den Gletscher wieder erreicht hatten, ent spannten wir uns langsam. Und dann, als wir bei der Felsmo räne ankamen, konnten wir das Seil abnehmen und in unse rem Tempo hinuntersteigen. Ich ging voraus und trieb mich über die zerklüfteten, mit frischem Schnee bedeckten Felsen,
um zurück ins Lager zu kommen. Schließlich war es in Sicht, und Charlie kam mir entgegen. »Sie wissen es. Ich bin sicher, sie wissen es«, murmelte ich. »Ich weiß.« Wir umarmten einander und weinten.
Alan Burgess/Jim Palmer aus Mount Everest: Die große Herausforderung Der Khumbu-Eisfall, ein Schauplatz aus massiven Eistür men und gähnenden Schluchten, befindet sich am Fuße der Standardroute über den Südsattel auf den Mount Everest. Er birgt Gefahren, sowohl für die Bergsteiger als auch für die Träger. 1982 stellte sich eine kanadische Expedition diesen Gefahren. Die Folgen beschreibt der britische Bergsteiger Alan Burgess (geboren 1958), der sich besonders wegen sei ner schwierigen Klettereien und seines sonnigen Gemüts, das er mit seinem Zwillingsbruder Adrian teilt, einen Namen gemacht hat. Ich war gerade aufgewacht und nahm durch die enge, gefro renen Öffnung meines Schlafsacks nur ein schwaches Licht und die kalte Luft wahr. Im Hintergrund knackte irgendwo in einem Nachbarzelt das Funkgerät. Das Geräusch machte mir bewußt: Ich war im Lager I. Jetzt konnte ich erkennen, daß sich das Zelt unter dem Gewicht neuen Schnees bog, dessen schwarzer Schatten ein Drittel der Zelthöhe ausmachte. Das Funkgerät knackte erneut, und ich erkannte die gedämpfte Stimme von Bill March. Die Geräusche kamen also aus dem übernächsten Zelt. Ich versuchte, etwas zu verstehen. Er sprach wohl mit dem Basislager. Oder vielleicht mit Leuten im Eisfall. Aber nein, es konnten keine Leute im Eisfall sein. Oder doch? Es schien eine Menge Schnee gefallen zu sein. Einige
Minuten lang hörte ich zu und schnappte hier und da ein Wort auf, und plötzlich war mir klar, daß er mit einem Träger sprach. Sie hatten also das Basislager verlassen! Ich setzte mich auf und atmete ein paarmal tief durch, denn ich spürte die Höhe. Ich öffnete das Zelt und steckte widerwillig meinen Kopf hinaus, wobei mir das gefrorene Kondenswasser auf die Schultern rieselte. Schnee fiel herein. Im Lager I mußte es über einen halben Meter Neuschnee gegeben haben. Langsam begann ich zu begreifen, wie ernst das Problem war, das Bill offenbar über Funk zu lösen versuchte. Wie lange mochte es her sein, daß die Leute das Basislager verlassen hatten? Auf meiner Uhr war es 5.15. Sie konnten bereits zwei Stunden im Eisfall sein! Möglicherweise zu spät, um umzukehren! Aber vielleicht war weiter unten auch weniger Schnee – vielleicht gab es im Basislager gar keinen. Ich hörte die Stimme von Kiwi Gallagher. Viel konnte ich nicht verstehen, aber ich hörte etwas wie »kein Schnee im Basislager« und Bruchstücke einer Diskussion darüber, wo sich wer befand. Es kamen weitere Berichte herein und ergänzten meine Vorstellung von der Situation, bis mir klar wurde, daß Sherpas und Bergsteiger mitten im Eisfall verstreut waren. Sie waren bereits über zwei Stunden im Eisfall und mindestens zwei weitere Stunden vom Ziel entfernt. Pat Morrow war an der Spitze, über »dem Tal«. Er versank so tief im Schnee, daß er um Hilfe aus Lager I bat, den Weg frei zu machen. Sie waren in Schwierigkeiten geraten und arbeiteten sich nun nach oben, um herauszukommen. Ich zog meinen Kopf zurück. Tim Auger lag neben mir in seinem Schlafsack, und ich bemerkte, wie er aufwachte. Ich wollte ihm gerade von unserer möglichen Rekrutierung zum Freischaufeln des Weges erzählen, als ich merkwürdigerweise stockte. Ich wollte etwas sagen, aber konnte die Worte nicht
finden, weil mich ein neues, ungutes Gefühl völlig überwältig te. Irgend etwas stimmte nicht. Tim setzte sich auf, blinzelte und schaute ins Leere. Da hörte ich eine Lawine. Sie wurde lauter. Das Zelt begann zu zittern. Tim und ich sahen uns an, während der Boden wackelte und der Luftzug ohrenbetäu bend an den Wänden zog und zerrte. Es mußte eine große Lawine sein. Eine sehr große. In dem Getöse bewegten sich Tims Lippen unhörbar, seine Augen waren weit aufgerissen. Aber ich antwortete nicht. Ich starrte nur zurück. Mein ganzes Bewußtsein war von dem Getöse überflutet. Die Zeit schien ewig, bis ein hohler Lärm wie ferner Donner das Ende der Lawine verkündete. Eine sehr schwere, unheimliche Stille kehrte ein. Tim und ich saßen noch immer unbeweglich und starrten einander an. Wir riefen beide nach Bill, hörten aber sofort das Funkgerät. Pat Morrow. Er berichtete, daß ihn die Lawine beinahe er wischt hätte. Er sagte, daß sie sich oberhalb befänden, sich die Lawine aber weiter nach unten bewege. Er glaubte, daß weiter unten einige Sherpas seien, wußte aber nicht, wie viele. Das Funkgerät knackte nun wie verrückt. Wir konnten un möglich erkennen, wer gerade sprach, während wir schnell unsere Stiefel und Anzüge anzogen. Irgend jemand sagte, daß das Basislager ebenfalls den Luftsog abbekommen habe. O Gott! Muß diese Lawine groß gewesen sein! Pat ging nach unten, um die Leute zu zählen. Andere Stimmen sprachen schnell und riefen Worte, die wir nicht verstehen konnten. Und dann gaben die Stimmen von Kiwi und anderen plötzlich Befehle. Mir wurde klar, daß sie einen Suchtrupp vom Basisla ger aus losschickten. Sobald ich fertig war, lief ich nach drüben zum Zelt der
Sherpas, um ihnen zu erklären, was los war, oder wenigstens das bißchen, was ich wußte. Bill stand jetzt in voller Montur in der Nähe, das Funkgerät an seinem Helm. Als ich an ihm vorüberkam, schaute er mich an, und in unseren Augen war die gleiche Angst. Dave McNab stand angezogen in der Zelt tür und schnallte sich Steigeisen an. Dann hörte man Rusty Baillie über Funk. Seine Stimme war deutlich, aber stockend. Er erklärte, daß sich oberhalb von ihm Sherpas befunden hätten, die jetzt aber bestimmt nicht mehr am Leben seien. Er konnte nichts mehr sehen. Die Lawine hatte ihn erwischt, und er war bis zur Hüfte verschüttet gewesen. Auch Peter Spear war verschüttet worden, aber sie hatten ihn gefunden. Die Funknachrichten waren nun deutlich und genau. Kiwi leitete die Koordination vom Basislager aus, und die Gruppen bewegten sich schnell nach oben. Bill bat mich, bei Sungdare, der unter einem Anflug von Schneeblindheit litt und krank war, und Gyaljen Phortse zu bleiben. Bill, Dave, Pat, Nawang Karma und Tenzing Tashi seilten sich an und verschwanden über den Schneeberg hinunter zum Eisbruch. Ich blieb mit den beiden Sherpas und ohne Funk allein zu rück. Sungdare und Gyaljen Phortse befanden sich in dem Zelt genau hinter meinem, knapp zwanzig Meter bergaufwärts. Ich machte mich auf den Weg nach oben, bis zu den Knien im Schnee, und rief von außen an ihrer Tür. Sie öffneten und ließen mich herein. Sungdare, ein großer, selbstsicherer und erfahrener Bergsteiger, lag auf der Seite, die Knie angezogen und die Arme über das Gesicht gelegt. Schneeblindheit ist schmerzhaft und jedes Kranksein entmutigend, aber ich wuß te, daß er mehr fühlte als nur das. Gyaljen Phortse saß da und starrte die Wand an. Normalerweise war er ein überschweng licher und freundlicher Mensch, doch jetzt waren seine Augen
tot und ausdruckslos. Er sagte nur: »Bei einem solchen Schnee fall sollten wir im Basislager sein.« Darauf gab es keine Antwort. Ich wechselte ihre Gasflasche und machte ihnen Tee. Ich brachte Sungdare dazu, sich umzudrehen und aufzusetzen, damit ich seine Augen und sein Wahrnehmungsvermögen untersuchen konnte. Er schien in Ordnung zu sein. Ich vermu te, daß ihn sein Instinkt und seine Erfahrung bereits vor der Lawine zu krank gemacht hatten, um an diesem gefährlichen Morgen nach draußen zu gehen. Eine solche Krankheit ist manchmal die höfliche Art eines Sherpas, objektive Gefahren zum Ausdruck zu bringen. Ich arbeitete eine Weile draußen, grub Zelte und Ausrü stungen aus und stapelte Geräte wieder auf. Dann ging ich in unser Zelt zurück, um Frühstück zu machen, Tee zu trinken und über unsere Lage nachzudenken. Ich fragte mich, wie das Team reagieren würde, falls es Todesfälle oder schwere Ver letzungen gegeben hatte. Ich dachte auch an die Sherpas, die ich von anderen Expeditionen her gut kannte, und hoffte, daß es ihnen gutging. Insbesondere hoffte ich, daß Pema Dorje außer Gefahr war, denn ich wußte, daß seine Mutter ihn besorgt angefleht hatte, an unserer Expedition nicht teilzu nehmen. Mir kamen auch einige praktische Gedanken. Wir befanden uns im Wettlauf mit dem jahreszeitlich bedingten Jetstream, der nun jeden Tag tiefer kam. Irgendwann würde er den 8848 Meter hohen Gipfel des Mount Everest erreicht haben, und wir mußten vor ihm dort sein. Ich stellte Berechnungen an: die Zeit, in der die Lasten durch den Eisfall zu den Lagern trans portiert werden konnten; die Zahl der Rücken, um sie zu
tragen, die Zahl der Tage, um es zu bewältigen. Möglicherwei se schneite es an einem Tag zuviel. Vielleicht an zwei Tagen. Vielleicht eine Woche lang. Wo mußten wir die Grenze ziehen? Wie lange konnten wir es uns erlauben, unsere Vorräte und unsere Zeit aufzubrau chen, bevor auch nur alle das Basislager verlassen hatten? Vielleicht hatten wir zuviel Druck gemacht. Vielleicht gab es aber auch keine andere Möglichkeit, um zum Erfolg zu gelan gen. Einige Stunden später kehrten Tim Auger, David McNab und zwei Sherpas zurück. Sie waren sehr niedergeschlagen. Die Sherpas gingen in Sungdares und Gyaljen Phortses Zelt, Tim und Dave in unseres. Ich begann, Tee und Essen für sie zu kochen. »Alle Westleute sind okay«, sagte Tim. Es war gut, das zu hören. Aber Tim fuhr fort: »Einige Sherpas sind umgekom men. Wir haben eine Leiche ausgegraben. Pasang Sona. Steve [Dr. Stephen Bezruchka] und Rusty haben eine Stunde mit Wiederbelebungsversuchen verbracht. Aber es war vergeblich. Ihrer Meinung nach fehlen noch zwei Sherpas. Wir können aber erst nach einer Überprüfung im Basislager sicher sein. Sie werden uns über Funk Bescheid geben, sobald sie wissen, wer fehlt.« Die Lawine hatte weite Flächen mit einer festen Mischung von Schnee und Eisblöcken bedeckt. Daher stieß fast jede Suchstange der Rettungsmannschaften, die sich durch eine Landschaft schwankender, von Rissen durchzogener Verwü stung, durch Schneefall und graue Kälte kämpften, auf etwas Festes. Und bald ließ das Gefühl verzweifelter Dringlichkeit nach; schließlich wurde ihnen klar, welches Glück sie gehabt
hatten, überhaupt Pasang Sona zu finden. Ein sichtbares Stück Seil hatte sie zu ihm geführt. Es war hoffnungslos, nach den anderen zu suchen. Peter Spear hatte extrem viel Glück ge habt. Später schrieb er: Wir hatten schon viele Lawinen gehört, aber diese wurde immer lauter und lauter und lauter… Ich schaute durch den Schnee nach oben…. und da kam eine gewaltige Lawine, fünfzig Meter breit und Hunderte von Metern hoch, direkt auf mich zu. Ich rief Rusty zu: »Lawine!« und versuchte, unter meinen Rucksack Schutz zu suchen, um den Stoß zu überleben… Ich war noch immer am Kletterseil befestigt, der Windstoß… traf mich… der Schnee, der über mich herabstürzte, wirbelte mich umher, wälzte mich herum, bog und schlug mich. Als es vorbei war, waren nur ein Teil seines Gesichts und ein Unterarm frei. Er konnte seine Nase und seinen Mund frei machen, hatte aber furchtbare Schmerzen. Sein Körper befand sich gequetscht in einer hoffnungslos verrenkten Stellung, und das Seil an seinem Gurt spannte enorm. Rusty fand ihn, nachdem er sich selbst befreit hatte, und er und ein Sherpa gruben ihn aus. Peter war ungeheuer erleichtert, als der Sherpa ein Messer hervorholte und das Seil zerschnitt. Sein Anzug war voller Schnee, den sie schnell ausklopften, und Rusty gab ihm eine Daunenjacke für den Weg zurück zur Basis. Sie trafen die Rettungsmannschaft, die die Seile nach oben brachte. In seinem Tagebuch schilderte Peter die Freude, die er beim Anblick der beiden empfand. Und sie bemerkten an ihm, so vergnügt er auch zu sein schien, doch Anzeichen von Schock
und Schmerzen. Später beschrieb Tim seine Gefühle, als er herunterkam, um Bill und Dave zu helfen. »Ich erinnere mich, als Bill stehen blieb… und uns nach hinten zurief: ›Alle Bergsteiger sind da‹, was bedeuten sollte, alle aus dem Team.« Von weiter unten hörten sie jedoch jemanden rufen: »Nein, es fehlen ein paar Leute.« Tim sagte, daß er, als er die Verwüstung, das stille, dichte Weiß gesehen habe, gewußt habe, daß kein Vermißter überlebt haben konnte. Er sagte, diese Erkenntnis sei »… betäubend [gewesen]. Dein ganzer Körper kommt dir stumpf vor.« Die Männer arbeiteten ruhig, die Befehle und Berichte kamen knapp und mechanisch, da der Schock seine Wirkung tat. Tim schrieb in seinem Tagebuch: Während wir vom unteren Ende des verschütteten Seiles aus gruben, tauchte eine Hand auf, und uns wurde die grausame Wirklichkeit klar. Wir brauchten eine Ewig keit, Pasangs Körper von dem weißen Zement zu befreien…James [Blench] fragte Bezruchka: »Was sollen wir tun?« Bezruchka antwortete, die Tränen unterdrückend: »Wir könnten eine CPR, eine Wiederbelebung versuchen. Wenn ich an seiner Stelle wäre, wünschte ich mir, jemand versuchte es.« Wir legten den kalten, leblosen Körper zu sammen mit Rusty in einen Schlafsack, um ihn zu wär men, während Dave McNab und Bezruchka fast eine halbe Stunde lang versuchten, ihn wiederzubeleben. Der Versuch erwies sich als vergeblich, er war offensichtlich tot.
Gegen 9.00 Uhr morgens wurde ihnen klar, daß sie keine Chance hatten, noch Überlebende zu finden, nicht einmal weitere Leichen. Sie beschlossen, Pasang Sonas Leiche nach unten zu bringen. Speedy notierte, daß es »dunkel und neblig war und schneite«, als sie die Leiche herunterbrachten, was ihn an die Stimmung einer »Wagnerschen Tragödie« erinnerte. Peter Spear schrieb, daß das Geschehene in vielen die Er kenntnis geweckt habe, daß der »Everest kein Berg [sei], mit dem man spielen konnte«. Es war ein sehr ruhiger Abend im Basislager. Die letzte Zählung war vorgenommen worden, und es gab keinen Zwei fel mehr, wer wo war. Die Leiche auf dem Steinaltar draußen war die von Pasang Sona. Er war vierzig Jahre alt, stammte aus Kunde und war an drei früheren Everest-Expeditionen beteiligt sowie auf dem Annapurna I gewesen. Dawa Dorje, einer der beiden Sherpas, deren Leichen nicht gefunden wurden, war auch vierzig. Er stammte aus Thame, und ich kannte ihn gut von der Annapurna-IV-Expedition im Winter. Er war ein richtiger Gentleman, gut gekleidet, sauber und gutaussehend. Er war überall in Nepal geklettert und war einer der erfahrensten Sherpas. Der Jüngste, der ums Leben gekommen war, war Ang Tsul tim aus Khumjung. Er war zwanzig Jahre alt, und dies war seine erste Kletterexpedition gewesen. Zuvor hatte er nur mit Trekkinggruppen gearbeitet. Nachdem die Familien benachrichtigt, der offizielle Bericht geschrieben und die wenigen Gegenstände, die den Sherpas gehörten, zusammengesucht worden waren, schrieb Bill:
In dieser Nacht war es schwer, Schlaf zu finden, und ich wachte um 1.00 Uhr auf, kroch aus dem Zelt und machte mich auf den Weg hinunter zur Leiche. Zwei Sherpas standen da und hielten still Wache; es war eine wunder schöne, sternenklare Nacht, und der Mond ließ das Tal taghell erscheinen. Wir sprachen ein leises Gebet, und ich trauerte still und tief über den Verlust, den wir erlitten hatten. Zur gleichen Zeit gab Don Serl in seinem Tagebuch eine ganz andere Stimmung wieder: Ich gehe nach Hause. Für mich ist die Tour gestorben, und es scheint mir keinen wirklichen Grund oder Anlaß zu geben weiterzumachen. Ich glaube, wir haben es schrecklich versaut, und es kostete drei Menschenleben, um uns etwas zu lehren, von dem ich bezweifle, daß wir es lernen können oder wollen. Wir waren viel zu nach lässig hinsichtlich der anderen Gefahr des Eisfalls – der Lawinen. Die Eiszacken und all das erwiesen sich nicht als das eigentliche Problem und haben unsere Aufmerk samkeit von der wirklichen Gefahr abgelenkt, die nie mand von uns in vollem Maße erkannt hatte. Diese Nachlässigkeit unsererseits kostete Menschenleben. Und jetzt zu sagen: »Wir werden äußerst vorsichtig sein«, das sind leere und wahrscheinlich sogar falsche Worte, da ich glaube, daß wir diese Art von Lawinengefahr noch im mer nicht einfach so vorhersagen können. Vielleicht ist sie ja wirklich unvorhersehbar, und ich habe nicht vor, mich wissentlich in eine Gefahr zu begeben, von deren
Existenz ich jetzt weiß… Drei Sherpas sind nun tot… Ich kann nicht hinnehmen, daß… es zu meiner Verantwor tung gehört, zu dem Berg zurückzukehren. Sicher, ich klettere aus Freude, wegen der Herausforde rung und auch wegen der Gefahr, aber ich sehe keinen Weg, wie ich an dieser Tour noch Freude empfinden kann. Der Mensch lebt nicht lange genug, um sein Leben damit zu verbringen, Dinge zu tun, die er nicht genießen kann, jedenfalls wenn er die Wahl hat. Also ist das für mich gelaufen. Ich werde mich wieder auf ein Klettern zurückziehen, das sich zwischen mir und dem Berg ab spielt, bei dem ich den Preis für meine Irrtümer, wie sie vorkommen mögen, zahle. Aufrichtigkeit. Geradlinigkeit. Nicht irgendeine furchtbare Situation, bei der drei Men schen sterben und das Ganze weitergeht. Das ist die Um kehrung jeglicher Werte, die mir etwas bedeuten. Mir ist nie deutlicher geworden, daß es hier um das Ziel und nicht um den Weg geht… Wenn Rusty recht hat mit sei ner Äußerung, daß Expeditionen diese Gegend durch den Tod der besten und lebendigsten Sherpas ausbluten, so stellt sich eine moralische Frage. Vielleicht rechtfertigt dies schon Expeditionen, die sich selbst tragen. Wahr scheinlich. Werde später darüber nachdenken, und gründlicher. Jetzt versuche ich, ein bißchen zu schlafen. Ist vielleicht ein wenig schwierig.
Maria Coffey aus Zerbrechliche Grenze Viele Bergsteiger, die im Himalaja kletterten, haben über den Tod geschrieben. Doch Maria Coffey (geboren 1952) ist keine Alpinistin. Sie war die Lebensgefährtin eines Bergsteigers – Joe Tasker, der im Jahr 1982 am Nordostgrat des Everest verschwand. Chris Bonington und Charles Clarke haben die ses Ereignis in Der unbezwingbare Gipfel geschildert. Im darauffolgenden Jahr reisten Maria Coffey und Hilary Boardman, die Witwe von Taskers Partner am Everest, Peter Boardman, in den Himalaja und bestiegen den Berg, der die beiden Männer das Leben gekostet hatte. Lhasa war zwei Stunden entfernt, eine staubige Fahrt mit dem Minibus über eine schlechte Straße durch glasklares Licht und eine Landschaft voller intensiver, scharf abgegrenzter Farben. Braune Hügel bildeten den Hintergrund für einen See mit tiefblauem Wasser, und die Farben eines in den Fels gehaue nen, kürzlich restaurierten Buddhas leuchteten in allen Schat tierungen. Lhasa selbst wirkte dagegen auf den ersten Blick blaß. Graue Flachbauten, deren Wellblechdächer in der Sonne glänzten, säumten lange, asphaltierte Straßen, durch die junge chinesische Soldaten flanierten oder radelten. Wenig schien übrig von der sagenhaften alten Stadt, die bis zum Einmarsch der Chinesen in den Fünfzigern existierte. Dann kam der Potala-Palast in Sicht, der Wohnsitz des exilierten Dalai Lama, ein riesiges architektonisches Wunderwerk auf einem Hügel, das ehrfurchtgebietendste Bauwerk, das ich je gesehen habe.
Ich drehte den Kopf, um dieses Bild so lange wie möglich vor Augen zu haben, als der Bus die Stadtgrenze passierte, auf erdbeerbaumgesäumten Straßen an einem Kieswerk vorbei fuhr, dessen Tor dünne, Rauchwolken ausstoßende Loren entließ, und schließlich in den weiten Hof des sogenannten »Guest House« einbog, jenes Barackenkomplexes, in dem alle ausländischen Besucher wohnten. Irgend jemand hatte sich als Gärtner betätigt. Bunte Blumen brachen aus dem staubigen Erdboden und erhellten den Eingang zur Rezeption und zum Gemeinschaftsspeisesaal auf. Joe und Pete hatten auch hier gewohnt; die Aufkleber ihrer Expedition waren an der Glastür zu sehen. Hilary und ich teilten ein Zimmer, das auf einen Hof mit verdorrtem Gras hinausging und einen Blick auf die schroffen, felsigen Bergketten dahinter bot. Vier Türen weiter gab es ein primitives Badezimmer mit sporadisch fließendem Wasser, zwei Toiletten und einem trogartigen Becken. Unsere Betten waren schmal, hoch und hart und mit Eiderdaunendecken für die kalten Nächte ausgestattet. Wir stapelten unser Gepäck auf dem blank gebohnerten Holzboden und gingen zum Essen in den Speisesaal. Das Sonnenlicht strömte durch die Fenster des Raums mit der hohen Decke, der mich an eine Aula erinnerte. An den Tischen saßen Touristen, größtenteils ältere Amerika ner oder Deutsche. »Ich möchte mit niemand hier reden«, sagte Hilary ent schlossen, und ich verstand sie. Es war nicht ganz einfach, Fremden die Gründe für unsere Anwesenheit in Tibet zu erklären. Als jedoch das Essen serviert wurde, tauchte plötz lich ein Gesicht, das mir von Fotografien her irgendwie ver traut war, an unserem Tisch auf. Pertemba, ein Sherpa-Führer, hatte 1975 nach einem Aufstieg über die Südwestseite mit Pete
Boardman auf dem Gipfel des Everest gestanden. Hilary hatte ihn in Nepal kennengelernt und später bei seinem Besuch in England wiedergetroffen. Jetzt begrüßte er sie mit Tränen in den Augen. Von Petes Tod hatte er erst vor kurzem erfahren. Wir hatten gehört, daß er etwa um die gleiche Zeit wie wir im Rongbuk-Tal sein würde, um eine kleine Trekking-Expedition zu führen, doch diese Begegnung in Lhasa kam völlig uner wartet, und Hilary war sichtlich bewegt. Die beiden setzten sich an einen Tisch, um zu reden, und nach dem Essen ging ich zu ihnen hinüber. Pertemba gab uns das Gefühl, daß er verstand, warum wir diese Reise machten, und wie Hilary akzeptierte auch er die These nicht, daß Joe und Pete am Kangshung-Hang abgestürzt waren. »Ich hätte es gewußt, wenn Pete eines solchen Todes ge storben wäre«, sagte Hilary. »Ich hätte es gespürt.« Pertemba nickte. »Vielleicht sind sie eingeschlafen, völlig erschöpft, und einfach nicht mehr aufgewacht.« Ich hörte zu, doch meine innere Gedanken weigerten sich an diesem Nachmittag, beim Tod zu verweilen. Ich war im Gegenteil damit beschäftigt, etwas zum Leben zu erwecken, und versuchte mir vorzustellen, wie Joe hier in diesem Speise saal saß, entspannt und vergnügt nach einem guten Essen. In diesem Gedanken lag ein großer Trost, aber er steigerte auch meine Spannung. Von nun an brachte mich jeder Tag äußer lich dem Ort und damit auch der Tatsache seines Todes näher. Unser Ziel war der Everest, aber wir konnten dort nicht lange bleiben; schon bald würde ich dem Berg wieder den Rücken kehren und damit leben müssen, daß ich Joe zurückließ. Nach dem Essen gingen Hilary und ich auf unser Zimmer und ruhten uns ein bißchen aus, jede in ihre Gedanken einge
sponnen und schläfrig von dem plötzlichen Höhenunter schied. Trotzdem rappelten wir uns bald wieder hoch. Unsere Zeit in Lhasa war begrenzt, und wir beschlossen daher, uns wenigstens den alten Teil der Stadt anzusehen. Dong und Zhiang fuhren uns auf den grauen Straßen zurück zum Park hor, einer Marktstraße, die rund um den heiligen Jo-khangTempel verläuft. »Wir warten hier auf euch«, sagte Dong. »Seid bitte in zwei Stunden wieder da.« »Warum kommt ihr nicht mit?« fragte ich, ohne nachzu denken. »Nein, nein, wir warten hier. Zwei Stunden, bitte.« Später, als ich die Ruinen der Klöster sah, die die chinesi schen Soldaten zerstört und geplündert hatten, die Einschläge der Maschinengewehrkugeln an den noch stehenden Wänden, begriff ich, warum Dong und Zhiang nicht mitgekommen waren. Wie auch immer man Recht oder Unrecht in ihrer jüngsten Geschichte definieren mochte, den Tibetern war die Anwesenheit der Chinesen, vor allem derer in Uniform, an den Stätten ihrer Welt, die sie vor den Greueln der Kulturrevo lution gerettet hatten, verständlicherweise verhaßt. Der Parkhor war anscheinend den schlimmsten Verwü stungen entgangen, denn er vermittelte mir sofort ein starkes und ganz unmittelbares Gefühl für das alte Tibet. Abermals – wie bereits in Hongkong – glitten wir völlig unvermittelt von einer Welt in eine andere, und mein erster Eindruck von Lhasa mit seiner militärischen Atmosphäre trat mehr und mehr zurück. Auf dem sonnenbeschienenen Kopfsteinpflaster standen behelfsmäßig aus Holz und Leinwand zurechtgezim merte Verkaufsbuden. Die Häuser, die die Straße säumten,
waren aus Holz und grob behauenen, weiß gewaschenen Steinen, die mit Lehm verfugt waren. Die oberen Stockwerke ragten gefährlich weit vor und neigten sich mit ihren rosa und hellblauen Fensterläden, bunten Blumenkästen und flattern den Gebetsfahnen bedenklich nach vorn. In manchen Häusern befanden sich im Erdgeschoß Läden, deren Eingänge ins dunkle, kühle Innere führten. Marktschreier riefen uns zu und streckten uns im traditionellen Gruß die Zunge heraus, wäh rend wir vorüberschlenderten und den Schmuck, die Teeblök ke, die ranzige Yakbutter und die Säcke mit Gerstenmehl betrachteten. Einer der Verkaufsstände bestand lediglich aus einem großen, auf dem Boden ausgebreiteten Teppich, um den herum Angehörige des Khampa-Stammes aus Osttibet um Türkisarmreifen und Messingzymbeln feilschten. Es waren schöne, kräftige Männer mit scharfen, wilden Gesichtszügen und langem, schwarzem, mit Bändern durchflochtenem Haar. Sie schenkten uns nicht die geringste Beachtung, als wir ste henblieben und sie anstarrten. Ansonsten erregten wir aller dings durchaus einiges Aufsehen, da wir an diesem Nachmit tag die einzigen Touristen auf dem Markt waren. Ein alter Mann mit langem, weißem Bart blieb stehen und sah mich überrascht an. Er umfaßte eines meiner dünnen Handgelenke mit seinen Fingern und befühlte vorsichtig meinen Oberarm, offensichtlich fasziniert von dem Mangel an Muskeln. Dann wandte er sich Hilary zu, verglich ihre kräftigen Arme mit meinen und ging weiter, breit grinsend und augenscheinlich höchst belustigt. Zwei buddhistische Nonnen in braunen Gewändern kamen vorbei, die geschorenen Köpfe bedeckt mit gestärkten, flügelähnlichen Hauben. Sie schienen sich an unserem Anblick zu freuen und lachten vergnügt, vor allem, als ein kleines Mädchen vorüberlief und mir einen spieleri
schen Klaps auf den Po gab. Die einzigen Fahrzeuge auf der Straße waren Fahrräder. Ihre Klingeln bildeten ein unablässiges Hintergrundgeräusch. Die Fahrradfahrer schlängelten sich geschickt zwischen den Käufern und Spaziergängern hindurch. Da gab es kein An rempeln oder Herumschubsen, die Atmosphäre war freund lich und entspannt. Nach der uniformen Kleidung in China boten die Menschen hier die größtmögliche visuelle Abwechs lung. Die Myriaden von Farben all der Westen, Schürzen, Kopftücher, Gürtel und Hüte waren zwar von einer dicken Schicht aus Staub und Schmutz überzogen, hoben sich aber immer noch leuchtend gegen das schwarze und braune Tuch ihrer Kleider, weiten Hosen und Hemden ab. In Silber gefaßte Türkise schmückten Ohren und Handgelenke. Und immer wieder sah man auf den stumpfen Gesichtern ein breites, offenes Lächeln, das Belustigung und Freude ausdrückte. Dieses Lächeln, trotz der Armut der Menschen und des grau samen Geschicks ihres Landes, entzückte mich auf unserer ganzen Reise. Hilary bekam in der Hitze und der großen Höhe, in der wir uns befanden, allmählich Durst. Wir hielten deshalb Ausschau nach einer Möglichkeit, uns etwas zu trinken zu kaufen. Die erste Ladentür, durch die wir unseren Kopf steckten, führte in einen Raum voller Lederhäute, die von den niedrigen Decken balken hingen. An hölzernen Bänken arbeitende Männer forderten uns lachend auf einzutreten. Unser nächster Versuch war erfolgreicher. Wir traten in einen kühlen, dämmerigen Raum und gingen über einen von vielen Füßen glattpolierten Steinfußboden. Die Wände des Ladens bestanden aus dunkel gebeiztem Holz, und er war völlig leer bis auf eine Theke auf der einen Seite. Dahinter erhoben sich bis zur Decke Regale
voller Flaschen, gefüllt mit geheimnisvollen, hellfarbenen Flüssigkeiten. Wir sprachen kein Wort tibetisch, und der Ladeninhaber lachte über unser Geräusper und Gestotter. Schließlich deuteten wir auf eine Flasche mit einer dicken, gelben Flüssigkeit, die nach Fruchtlikör aussah. Die Helligkeit draußen ließ uns blinzeln. Da entdeckten wir eine hölzerne Bank im Schatten eines Baums und ließen uns nieder, um unseren Kauf zu inspizieren. Ein Mönch mit geschorenem Kopf saß in der Nähe. Seine safrangelbe Kutte wirkte wie eine Spiegelung der Flüssigkeit, an der wir vorsichtig schnüffelten und nippten. Er verfolgte unsere Untersuchung mit unverhüll ter Neugier. Was auch immer sich in der Flasche befand, mag zwar durchaus ein Fruchtgetränk gewesen sein, hatte aber auf jeden Fall einen stark alkoholischen Beigeschmack. »Was meinst du, trinken tibetische Mönche Alkohol, Hilary?« »Ich hätte eigentlich gedacht, nein. Sollen wir…?« »Komm, wir bieten ihm die Flasche an. Er kann ja höchstens ablehnen.« Er umschloß die wiederverkorkte Flasche in einer fließen den, sanften Bewegung mit den Falten seines Gewandes, vor Vergnügen glucksend. Während Hilary sich auf die Suche nach einer Wasserleitung machte, holte ich meine Kamera heraus, doch der Mönch schüttelte den Kopf und wandte das Gesicht ab. Minuten später war ich von einer Gruppe von Kindern umringt, die aufgeregt gestikulierten und wollten, daß ich sie fotografierte. Ich tat es, und sie streckten die Hände aus, nicht, wie ich zunächst annahm, um Geld, sondern um die Polaroidbilder in Empfang zu nehmen, die ihrer Erwar tung nach aus meiner Kamera herauskommen mußten. Es tat mir leid, sie enttäuschen zu müssen. Auf einmal schämte ich
mich, eine Touristin zu sein. Der Jo-khang-Tempel, ein großes Heiligtum, erhebt sich in der Mitte des Parkhor. Pilger umkreisten den Tempel im Uhrzeigersinn. Sie drehten bronzene und hölzerne Gebetsrä der und sprachen bei jeder Umdrehung Gebetsformeln. Die noch Frömmeren maßen den Boden mit ihrem Körper aus, indem sie sich in voller Länge darauf niederwarfen. Ein hohl wangiger junger Mann, in ein loses sackartiges Gewand ge kleidet, betete laut, während er sich wiederholt zu Boden warf und dann wieder zu seiner vollen Größe hochschnellte. Die Holzleisten, die zum Schutz an seinen Händen und Knien festgebunden waren, knallten laut, wenn er auf die Pflaster steine fiel. Der kleine Junge, den er bei sich hatte, vollzog das gleiche anstrengende Frömmigkeitsritual. Die Erschöpfung und schmutzstarrende Haut der beiden legte Zeugnis davon ab, daß sie sich dem Ende einer langen Reise näherten. Ein alter Mann saß auf den Pflastersteinen in der Nähe des Tem pels, die Augen geschlossen, und bewegte den Kopf im Rhythmus zu seinem Singen und Klatschen. An der Mauer standen weitere Pilger und ließen Gebetsperlen durch ihre Finger gleiten. Auch Bettler waren zu sehen; eine Frau ent blößte faltige Hängebrüste und streckte ein Babyfläschchen in die Höhe, während ein Kind neben ihr ein Neugeborenes im Arm hielt. Je näher man dem Tempel kam, desto inbrünstiger wurden die Frömmigkeitsbezeugungen. Die Menschenmenge wurde immer dichter und drängte sich zwischen den beiden großen Eingangssäulen hindurch, über Bodenfliesen, die stellenweise von den sich niederwerfenden Pilgern im Laufe der Jahrhunderte förmlich ausgehöhlt waren. Es gab ein riesiges Gebetsrad, und ich wartete, bis ich an der Reihe war, es zu drehen und die Hunderte von Zauberformeln, die darauf
eingeritzt waren, in die Winde zu senden. Gebete für Joe und Pete, dachte ich. Leider konnten wir nicht mehr in den Tempel hineingehen – es war Zeit, zum Minibus zurückzukehren. Nur zögernd trennten wir uns von der wogenden Pilgermenge und gingen zurück über den Marktplatz, an den grausigen Fleisch buden vorüber, wo uns das rote Fleisch und das tropfende Blut in der Nachmittagssonne grell in die Augen stachen, zurück in das moderne Lhasa. Es war ein verzauberter Nachmittag gewesen, und meine Sinne waren nahezu überfordert vom Ansturm all der frem den Klänge, Gerüche und Farben. Aber die neuen Erfahrungen waren ungeheuer eindrucksvoll gewesen. An jeder Ecke hatte ich Joe vor mir gesehen, wie er den Marktplatz filmte und über die um ihn herum wuselnden Kinder lachte. Die verschiede nen Stadien der Trauer sind gut bekannt. Ich spürte, daß ich mich in der Such-Phase befand, auf der Suche nach dem verlorenen Gefährten an einem Ort, von dem ich wußte, daß er hier gewesen war, ihn gleichsam neu erschaffend, noch nicht fähig zu akzeptieren, daß er tot war. Doch dieses Wissen konnte den Schmerz nicht lindern. Zurück im Gästehaus, wuschen wir uns das Haar unter dem Wasserhahn im Hof. Auf den Stufen sitzend, mit Hand tuchturbanen um den Kopf, genossen wir die letzte Wärme des Tages hier an diesem geschützten Fleckchen und schrieben Postkarten. Wenn wir Lhasa verlassen hatten, würde es keine Verbindung mehr nach Hause geben. »Was schreibst du?« fragte Hilary. »Das Wetter ist phantastisch, wir waren chinesisch essen, schade, daß ihr nicht hier seid.« Sie warf ein feuchtes Handtuch nach mir. In Wirklichkeit
fielen uns die Postkarten alles andere als leicht. Ich beschrieb kurz meine Eindrücke von Lhasa und meine Gefühle ange sichts unserer nächsten Reiseetappe. Zu Hause warteten viele Leute auf ein Lebenszeichen von uns – Menschen, die uns auf vielfältige Weise über die letzten Monate hinweggeholfen hatten und sich über eine Karte aus Lhasa freuen würden; es war also die Mühe wert. Als wir nach dem Abendessen im Bett lagen, las Hilary aus Petes Tagebuch den Eintrag über seinen Besuch im Parkhor vor. Es war ein merkwürdiges Echo des Nachmittags, den wir erlebt hatten. Mein Kopf schmerzte und meine Finger kribbel ten, beides Auswirkungen der plötzlichen Höhe von 3700 Metern über dem Meeresspiegel. Ich nahm ein Beruhigungs mittel, weil ich unbedingt schlafen wollte, und trat hinaus in den Hof, um zu den Sternen über Lhasa aufzuschauen, bis mich die Kälte und die einsetzende Wirkung der Tabletten ins Bett trieben. In Petes Tagebuch stand, daß er und Joe einmal bei Anbruch der Morgendämmerung vom Gästehaus aus zu dem See hinter dem Potala gegangen waren, um den Sonnenaufgang zu fotografieren. Hilary hatte Dong beim Abendessen gefragt, ob wir das auch machen könnten, aber er und Zhiang hatten einen straff durchgeplanten und vollgepackten SightseeingTagesausflug organisiert, den wir anscheinend nicht verpassen durften. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen fuhren wir mit dem Minibus zum Kloster Sera. Als der Potala in Sicht kam, sagte Zhiang etwas zum Fahrer, und wir bogen in eine Seiten straße ein. Dong wandte sich um.
»Das ist eine Abkürzung zum See.« Es war genau so, wie Pete es in seinem Tagebuch beschrie ben hatte. In der völlig ruhigen Oberfläche des Sees spiegelte sich die unvorstellbare Pracht des Palastes. Noch hing der Nebel über dem Potala, was die Aura des Geheimnisvollen und Rätselhaften, die ihn umgab, noch erhöhte. Ich hatte das Empfinden, mich jeden Augenblick in der dünnen Luft auflö sen zu können. Mehrere Gruppen chinesischer Soldaten, außer Dienst, aber trotzdem in Uniform, alberten am Seeufer herum und fotografierten einander vor dem ehrfurchtgebietenden Hintergrund. In Sera blieben Dong und Zhiang wieder zurück, und wir betraten den Klosterhof ohne sie. Steinstufen führten hinauf in eine große, düstere Halle, getragen von Holzsäulen und ge schmückt mit Thankas, langen Bahnen aus mit komplizierten Mustern bemalter Seide, die von der Decke bis fast zum Fuß boden herabhingen. Sonnenstrahlen, in denen Staubpartikel chen tanzten, durchdrangen die Düsternis, und die Luft war geschwängert vom Geruch der Kerzen aus ranziger Yakbutter und glimmenden Zypressenzweigen. Die religiösen Wandma lereien waren frisch restauriert, und ihre intensiven Farben – rot, blau, grün und gold – strahlten förmlich im Zwielicht, ganz im Gegensatz zu den fett- und rauchgeschwärzten Thankas und Eingangssäulen. An den Wänden standen große, friedliche, goldene Buddhas, Darstellungen früherer Inkarna tionen des Dalai Lama. Im Hintergrund der riesigen Halle befand sich eine Reihe kleiner, fensterloser Räume, erhellt von Lichtdochten, die in großen Bottichen mit streng riechender Yakbutter schwammen. Statuen von Geistern, manche wohl wollend und gütig, andere finster und furchterregend, dräng ten sich in den dunklen Räumen und warfen lange, flackernde
Schatten an die Wände. Ein zwischen Pfosten gespanntes Seil dirigierte die Pilgergruppen an den Gottheiten vorbei. Ich schloß mich der Menge an, die sich langsam, unter ständigem Murmeln von Gebeten vorwärtsschob. Hin und wieder kam es zu einem kurzen Halt, bei dem jeder auf seinen Vordermann auflief, wenn jemand vortrat und eine weitere Gabe zu den weißen Tüchern, dem Geld, dem Schmuck und den Fotografi en des Dalai Lama legte, mit denen die Altäre bedeckt waren. Die ganze Zeit war ich mir überdeutlich bewußt, daß ich ja nur eine neugierige Touristin war, deren Reichtum sich an ihrer Kleidung, ihrer Armbanduhr und der Kamera um ihren Hals ablesen ließ, aber die Leute um mich herum schienen es nicht zu bemerken. Ich senkte den Kopf und faltete die Hände und versuchte, mich in meine katholische Kindheit zurückverset zend, auf diese Weise meine Achtung vor der Frömmigkeit, der ich hier begegnete, auszudrücken. Als wir später am Tag das Drepung-Kloster besuchten, gab mir das völlige Fehlen von Pilgern das Gefühl, in einem Mu seum zu sein. Der gelegentliche Anblick eines einzelnen Mönchs war der einzige Hinweis darauf, daß das Gebäude eine Religionsgemeinschaft beherbergte. Ich sonderte mich von der Gruppe ab und stieg allein eine schmale Treppe hinauf. Durch einen niedrigen, dunklen Korridor gelangte ich auf das flache Dach. Die Sonne drang durch die offene Tür, so daß ich unwillkürlich nach meiner Sonnenbrille tastete. Auf der Brüstung standen in einer Reihe goldene Figuren, die das Gebäude vor Eindringlingen schützten sollen. Ich ging langsam näher und versuchte mich zu erinnern, warum sie mir so bekannt vorkamen. Plötzlich fiel es mir wieder ein: Derbyshi re; krachende Holzscheite im Kamin; unsere Köpfe dicht nebeneinander über Fotografien gebeugt; ein Februarabend
vor sechs Monaten. Damals hatten Joe und ich dieses Dach angeschaut; in einem seiner Bücher über Tibet war eine Abbil dung davon gewesen. Gegen eine Mauer gelehnt und über die Statuen hinweg auf die Zinndächer Lhasas blickend, die das Sonnenlicht reflektierten, fragte ich mich, ob er auch auf dieses Dach gestiegen war, und wenn ja, ob er ebenfalls an jenen Abend gedacht hatte. Ein getragener Gesang setzte ein und unterbrach meinen Tagtraum. Vor einem Altar ganz in meiner Nähe warf sich ein älterer Mönch vor dem Buddha nieder. Meine Gegenwart schien ihn nicht zu stören, aber Minuten später gestikulierte er ärgerlich in Richtung zweier vorbei schlendernder chinesischer Soldaten, offensichtlich aufge bracht angesichts dieser handfesten Repräsentation der Macht, die versucht hatte, seinen Glauben zu entweihen. Die Stunden vergingen, und die Anstrengung, soviel Neues aufzunehmen, war ermüdend. Es war beinahe Abend, als wir ins Gästehaus zurückkehrten. Ich beendete gerade schläfrig mein Abendessen, als zwei Männer an unseren Tisch traten und sich vorstellten. »Wir sind Journalisten aus Holland«, sagte der eine. »Sind Sie nicht die Frauen der beiden Engländer, die auf dem Eve rest verschwunden sind?« Mein Kopf fuhr hoch. Ich war plötzlich hellwach. Die Be richterstattung über Joe und Pete in den englischen Zeitungen hatte mich argwöhnisch gegenüber der Presse gemacht. »Wir berichten über den Aufstieg der Holländer zum Nord col und sind gerade aus Rongbuk zurückgekommen. Sie brechen morgen dorthin auf?« Hilary hatte mir von dem holländischen Team erzählt, mit dem wir das Basislager teilen würden. Sie und Pete waren mit
zweien der Bergsteiger befreundet gewesen, und sie freute sich schon auf das Wiedersehen. »Nein. Wir gehen zuerst nach Kharta.« Hilary wirkte ange spannt. »Wie kommt es, daß Sie in Lhasa sind?« »Es hat einen Unfall gegeben«, sagte der eine. »Eine Lawine. Ein Bergsteiger ist schwer verletzt, und wir sind hier, um einen Bericht für unsere Zeitung in Holland zu schreiben.« Hilarys Gesicht war schneeweiß. »Wer?« Der Journalist zögerte. »Eelco Dyke – kennen Sie ihn zufällig?« Während ich der Schilderung des Unglücks lauschte, das Hilarys Freund zugestoßen war, kroch mir ein kaltes, unheim liches Gefühl den Rücken hinauf. Ich hatte das Empfinden, als ob die Wände des geräumigen Speisesaals von Bruchstücken der Gespräche widerhallten, die die Überlebenden aus dem Team von Joe und Pete nach dem Verschwinden der beiden auf dem Heimweg hier, in diesem Raum, geführt haben muß ten. Hilary war ganz in das Gespräch mit den beiden Männern vertieft. Ich ging in unser Zimmer und fiel in einen unruhigen Schlaf. Ich träumte, daß Joe am Leben war, er war bei mir in meinem Haus in Manchester, und wir aßen zusammen. Es war dermaßen realistisch und normal, daß ich völlig verwirrt erwachte und ein paar Sekunden lang nicht wußte, wo ich war und warum ich hier war. Kein guter Tagesanfang. Beim Früh stück konnte ich die Tränen kaum zurückhalten. Der Lastwagen, der uns zum Everest bringen sollte, wartete draußen vor dem Speisesaal. Tele, unser Fahrer, war damit beschäftigt, den Motor warmlaufen zu lassen, die unzähligen Reifen zu überprüfen und Ausrüstungsgegenstände einzula
den. Es war ein großes, schwerfälliges Arbeitsfahrzeug. Die an den Seitenwänden befestigten Holzleisten klapperten, und die Ketten, die von der rückwärtigen Ladeklappe herabhingen, rasselten ohrenbetäubend, als wir die unbefestigen Straßen entlangrumpelten. Unser Gefährt stank nach Abgasen, wirbel te riesige Staubwolken auf und rüttelte unsere Knochen tüch tig durch, aber es erwies sich als absolut zuverlässig. Tele war ein winziger, vogelähnlicher Mann, der mit seinen dünnen Beinen unglaublich flink aus dem Laster heraus- und hinein turnte. Er konnte kaum über das Lenkrad schauen, und es erschien mir wie ein Wunder, daß er das schwere Ding mit solcher Sicherheit fuhr. Er hatte ein breites Lächeln, das viele Zahnlücken enthüllte, und trug meistens eine Wollmütze, aber keine Socken – eine Tatsache, die mich die ganze Reise über beschäftigte. Dong hatte Hilary und mir angeboten, uns zu ihm in die Fahrerkabine zu setzen, aber wir hatten abgelehnt, weil uns sonst die herrliche Aussicht entgangen wäre. Dafür nahmen wir sogar den kalten Wind und den erstickenden Staub in Kauf. Zhiang hatte sich nach vorn zu Tele gequetscht, und wir übrigen saßen inmitten der Ausrüstungsberge und hatten so gut wie möglich Dongs Rat befolgt, uns ein Polster gegen die Stöße des Lastwagens zu schaffen. Wir schwitzten in unseren Skilatzhosen und Daunenjacken. Doch schon bald würden wir ihren Schutz brauchen, da es rasch höher ging und die Temperatur stark fiel. Wir waren durch die Straßen von Lhasa gerumpelt und in den Friendship Highway eingebogen, vorbei an dem in den Felsen gehauenen Buddha und über die lange Brücke, die sich über den Brahmaputra spannt. Es war ein langsames Höher steigen durch eine öde Landschaft brauner und purpurner Hügel. Eigentlich nahm man nichts wahr als unendlichen
Raum, Himmel und intensives Licht. Die Straße führte über eine Reihe von Pässen, und dazwischen fuhren wir über Hochebenen, eine immer höher als die andere. Am Khamba La Paß sahen wir Dutzende quadratischer weißer Tücher, jedes mit einer heiligen Inschrift, an Stangen gebunden, die mit kleinen Steinhaufen gestützt waren. Die winzigen Flaggen flatterten heftig in dem Wind auf 4785 Metern Höhe und sandten Gebete in die Luft. Ich schnitt ein Stück von meinem langen Seidenschal ab, band es an eine der Stangen und trat zurück, um zuzusehen, wie der Wind meine kleine Flagge peitschte. Ihre Farbe hob sich hell gegen das Blau des Himmels ab. Joe hatte diesen Schal immer getragen, wenn er zu Hause in England kletterte. Manchmal löste sich ein Ende, und der Wind blies es ihm ins Gesicht, wenn er unten an einem Fels hang stand und zu seiner Route hinaufspähte. An jedem Gebetsflaggen-Steinhaufen, den wir passierten, hinterließ ich ein Stück dieses Schals, wie unter Zwang, ohne so recht zu wissen, warum. Vielleicht war es ein Trauerritual, vielleicht auch ein Ausdruck meines Versuchs, Joe als Teil von Tibet zu akzeptieren. Die Straße führte achtundvierzig Kilometer am YamrockSee entlang. Alle paar hundert Meter flogen Vogelschwärme mit wildem Flügelrauschen und erschrockenen Schreien aus den Binsen am Ufer auf. Als der See, jetzt unsichtbar, hinter uns auf der staubigen Hochebene lag, hielten wir an einer Tankstelle. Es war ein primitives Ding, ein niedriges Lehmge bäude mit dem Tank auf dem Dach und Leitungen innen, die durch Meßzylinder an der Theke und durch die Wand in den Hof hinaus verliefen. Pumpen gab es nicht; die Fahrer füllten ihre eigenen Kanister mit Benzin und leerten sie in den Tank ihrer Wagen. Hinter der Theke saß ein junges tibetisches
Mädchen, das die Kosten dieser Transaktionen ausrechnete und das Geld von den Kunden entgegennahm. Trotz der Benzinschwaden, in denen sie saß, lächelte sie fröhlich. Wäh rend ich den Trichter für Tele hielt, half Zhiang ihm, das Benzin einzufüllen, bis der große Tank des Lastwagens über floß; danach verstauten wir hinten auf dem Wagen noch ein paar Reservekanister. Als wir weiterfuhren, mischte sich der Benzingeruch mit dem Staub, so daß wir husten mußten und uns den Mund mit Tüchern zuhielten. Ich kauerte mich hinten im Wagen zusammen, flüchtete gleichsam vor meinen Begleitern und der mich umgebenden Landschaft, und überließ mich zusammenhanglos aufsteigen den Gedanken an die Vergangenheit. Die holprige Straße, das ratternde Gefährt und der starke Wind und Staub ver schwammen in Phantasiebildern. Ich sah mich in Joes Auto sitzen und mit ihm an einem Samstagabend in ein Pub fahren, sah sein Profil im Licht des Armaturenbretts, wenn wir redeten und lachten. Leichte Musik von der Kassette, Musik, die zu den fließenden Linien der Derbyshire Dales und zu den kurvi gen, unbeleuchteten Straßen paßte. An einer Steinmauer parken und Arm in Arm den steilen Hügel hinuntergehen. Die Stufen hinauf, hinein in die Wärme und das Licht der überfüll ten Bar, wo Freunde mit geröteten Gesichtern uns begrüßten und zu einem Drink einluden. Es war ein langer, langer Weg bis zu dieser holprigen, schlaglochgepflasterten Straße in Tibet. Etwas in mir rebellierte. Ich war zu jung, um so etwas durchzumachen. Alles war vorbei, noch bevor es richtig ange fangen hatte. Joes Talente entfalteten sich gerade erst, er hätte noch so viel tun können. All die verpaßten Chancen, die Gespräche und die gemeinsame Zeit, auf die ich mich gefreut hatte und die ich nun nie erleben würde. Reue: ein hoffnungs
loses Gefühl. Hinter meinen geschlossenen Lidern erstand ein Bild schirm, auf dem Erinnerungen vorüberhuschten, hervor- und wieder zurücktraten. Eine von ihnen nahm Gestalt an: Wie ich den Flughafen verlasse, nachdem Joe nach Hongkong geflogen war, die Rückfahrt mit seinem Auto nach Derbyshire, in die Fabrik, die einen Teil seines Geschäfts aufgekauft hatte und in der sich jetzt sein Laden befand. Eine der Sekretärinnen nahm die Wagenschlüssel in Empfang. »Ich hole das Auto dann, kurz bevor er zurückkommt«, sagte ich noch wie betäubt. »Diesmal fahren Sie aber nicht wieder einfach in den Ur laub, wenn er von der Expedition zurückkommt«, befahl sie mir mit heuchlerischer Strenge. »Er hat uns letztes Mal so leid getan.« Joe war sehr beliebt bei den Mädchen hier; er schickte ihnen Postkarten von seinen Reisen und kam zu ihren Weih nachtsfeiern. »Nein«, antwortete ich, »das werde ich nicht tun. Ich tue es nicht mehr.« Die Wut packte mich erst, als ich meinen kleinen Käfer aus dem Fabrikhof fuhr. Warum hatte ich mich so schuldig ge fühlt, als sie das sagte? Warum hatte ich ihr ausdrücklich versichern müssen, daß ich für ihn dasein würde, wenn er zurückkam? Verdammt noch mal, hatten sie oder irgendein anderes Mädchen überhaupt eine Ahnung, was es hieß, mit einem solchen Mann zusammenzuleben? Er entschwebte ins Büro, flirtete mit allen, beeindruckte sie mit seiner Ungezwun genheit und Freundlichkeit und brachte einen Hauch von Glamour und Aufregung in ihr Leben. Aber was wußten sie von dem Streß und der ständigen Angst, mit der ich lebte,
oder von der Eifersucht und Unsicherheit, die mich plagten? Wie wären sie wohl mit einer solchen Beziehung umgegan gen? Ob sie auch einmal daran gedacht hatten, als sie über meine Reise nach Korsika klatschten, die ich so rasch nach seiner Rückkehr aus Kongur angetreten hatte? Beinahe hätte ich gewendet, wäre zurück ins Büro marschiert und hätte sie zur Rede gestellt. Aber dann wurde mir klar, daß ihre Bemer kung ganz einfach von Unwissenheit zeugte. Wie hätten sie oder irgend jemand anders die Kompliziertheit der Liebe zu einem Mann wie Joe verstehen sollen – ich hatte am Anfang ja selbst keine Ahnung davon gehabt. Ein Prickeln in den Wangen und an den Fußsohlen ließ mich aus meinem Tagtraum aufschrecken und brachte mich zurück auf den Laderaum des Lastwagens. Ich krümmte die Zehen in den Stiefeln und blickte um mich. Die Straße war kurvig und steil und gab das Panorama der Täler und Ebenen frei, die hinter uns lagen. An einem Schwefelsee vor einem Felshang winkten uns zwei kleine Jungen zu. Auf dem Kharo La Paß in 5182 Metern Höhe lief die Straße dicht an einer Reihe kreuz und quer verlaufender Gletscherspalten vorbei. Wir konnten bis zu der Stelle hinaufsehen, wo der Gletscher entsprang, auf einem Berg, der weitere 1219 Meter aufstieg. Die Höhe ließ nun auch meine Handflächen kribbeln. Ich rieb die Hände gegeneinander und schalt mich selbst dafür, daß ich mich meinen sentimentalen Anwandlungen überlassen hatte. Immerhin hatte ich das Privileg, hier an diesem hochge legenen, wilden Ort zu sein, und damit auch die Pflicht, alle Sinne zusammenzunehmen, um ihn angemessen zu würdigen. Auf der anderen Seite, den halben Weg vom Kharo La Paß wieder hinunter, hielten wir neben einem Bergfluß und nahmen ein Mittagessen, bestehend aus Dosenfleisch, Keksen und
Litschi, ein. Ich ging am Flußufer entlang, um ein privates Plätzchen zu finden. Als ich zurückkam, das Gesicht vom Staub gereinigt, überreichte mir Tele ein Sträußchen wilder Blumen. Hilary hatte auch eines. »Er ist die ganze Zeit herumgelaufen und hat ganz be stimmte Blumen gesucht«, sagte sie. Weit vor uns auf einem Hügel, der sich steil aus der Ebene erhob, zeichneten sich im klaren Nachmittagslicht die Umrisse der alten Festung Gyantse gegen den Himmel ab. Der Anblick war märchenhaft. Er kam näher und näher, bis wir schließlich an der Stadt vorbeifuhren – der drittgrößten in Tibet. Die Mauern der Festung hoch über uns wirkten wie riesige ent blößte Zähne. Der Laster rollte weiter, Gyantse wurde zu einem Schemen hinter uns, und das Nachmittagslicht wich dem weichen Abendlicht. In einem staubigen Weiler hielt ein Bauer in seiner Arbeit inne und winkte. Ich setzte die Kopfhö rer meines Walkmans auf und hörte eine Kassette mit dem Titel »China«. Für eine Weile lösten sich meine Traurigkeit und meine Sorgen in der Schönheit der tibetischen Hochebene auf. Zwölf Stunden, nachdem wir Lhasa verlassen hatten, fuh ren wir in ein Militärlager in Shigatse ein und purzelten stau big und mit schmerzenden Gliedern aus dem Lastwagen. Es war bereits dunkel, und wir wurden sogleich in einen schwach erhellten Speiseraum geführt, in dem ein Tisch mit einer Mahlzeit aus Reis, Fleisch und getrocknetem Fisch gedeckt war. Erleichtert, daß die ständige Bewegung des Tages endlich zum Stillstand gekommen war, aßen wir alles auf und stillten unseren Durst mit unzähligen Tassen grünen Tees. Als wir den Speisesaal wieder verließen, standen bereits die Sterne am
Himmel, und es war beißend kalt. Unser Zimmer hatte einen Everest-Aufkleber an der Tür. »Vielleicht haben Pete und Joe auch hier geschlafen«, sagte Hilary sinnend. In dem großen, halbblinden Spiegel sah ich zwei staubige, zerzauste Gestalten. Bevor wir unter die Eiderdaunen krochen, wuschen wir uns mit mehreren Krügen kaltem Wasser. Es tat gut, sich im Bett auszustrecken, die müden Muskeln und schmerzenden Glieder zu entspannen. Doch meine Gedanken kamen nicht zur Ruhe, das Mühlrad drehte sich unablässig weiter. Ich dachte an Joe auf dem Berg, stellte mir vor, wo er lag und wie er aussah. Nicht zu wissen, was ihm zugestoßen war, war fast nicht zu ertragen und machte es noch schwerer, die Tatsache seines Todes zu akzeptieren. Irgendwo in mir lauerte immer noch die Hoffnung, daß sie auf wunderbare Weise wieder auftauchen würden. Noch wochenlang, nach dem ich von seinem Verschwinden erfahren hatte, stürzte ich bei jedem Klingeln hoffnungsvoll zum Telefon. Eines Nach mittags stand ich in einem Laden für Obst und Gemüse in Manchester, wartete darauf, daß ich an die Reihe kam, und lauschte abwesend den Nachrichten im Radio hinter der Theke. Es kam das letzte Thema vor dem Wetterbericht, die »Geschichte des Tages«. »Der im Himalaja vermißte, totgeglaubte Bergsteiger ist wohlbehalten in einem nepalesischen Dorf aufgetaucht.« Als der Name genannt und der Unfall, den der Mann über lebte hatte, geschildert wurde, stolperte ich tränenblind aus dem Laden, ohne etwas gekauft zu haben. Es konnte sich gar nicht um Joe oder Pete handeln, dafür war es viel zu spät. Trotzdem hatten die ersten Sekunden eine unmögliche Hoff
nung in mir aufblitzen lassen, und nun fühlte ich mich aufs neue zerschmettert und grausam getäuscht. Chris Bonington hatte mir gesagt, daß die Chancen, daß jemand einen Absturz von der Kangshung-Wand überlebte, gleich Null waren. Er hatte mir auch erklärt, daß sie, wenn ihnen irgend etwas kurz vor dem Gipfel des Everest das Weitergehen unmöglich ge macht hatte – etwa eine Verletzung –, nicht lange überlebt hätten, denn in dieser Höhe und ohne Sauerstoff verfällt der Körper rasch. Es gab also keine Hoffnung. Und doch, ganz tief innen klammerte ich mich an einen letzten, sich langsam auflösenden Strohhalm. Deshalb war es so schwer, sich jenen Berg zu nähern: Ich spürte, daß das Hiersein, die Tatsache, daß ich mit eigenen Augen die Ungeheuerlichkeit der Herausfor derung sah, der Joe sich gestellt hatte, mich zwingen würde, seinen Tod zu akzeptieren und ihn loszulassen. Gegen 6 Uhr früh war ich wieder hellwach und innerlich stark angespannt. Hilary im Bett gegenüber rührte sich eben falls. Unsere Freundschaft wuchs, beschleunigt durch die gemeinsamen Erfahrungen. Es herrschte bereits eine unglaub liche Gelöstheit zwischen uns, und wir konnten uns schon überraschend gut ineinander hineindenken. »Heute werden wir sie sehen, Maria«, murmelte sie schläf rig; und ich wußte, was sie meinte. Shigatse, die zweitgrößte Stadt Tibets, beherbergt das Tashi lumpo. Das prachtvolle Kloster mit seinem schimmernden goldenen Dach ist der Sitz des reinkarnierten Pantchen Lama und Heimat einer ständig wachsenden Zahl von Mönchen und sogar einiger Novizen. Innerhalb der riesigen hölzernen Tore liegt eine kleine, von Mauern umgebene Stadt mit unregelmä
ßig gepflasterten Straßen, die sich zwischen Bauwerken und Höfen hindurchschlängeln. Es herrschte eine friedvolle, in sich ruhende Atmosphäre, doch das konnte den Eindruck der Leere und die Echos der Vergangenheit nicht bannen, die in allen Klöstern, die ich in Tibet besuchte, widerzuhallen schie nen. Immerhin verbrachte die Mönche im Tashilumpo-Kloster ihr Leben wenigstens offensichtlich in den geregelten Bahnen von Gebet und Arbeit und betätigten sich nicht bloß als Touri stenführer. Ich empfand in diesen Mauern ein Gefühl tiefer Ruhe und ging langsam herum, um die Bilder, die sich mir boten, so intensiv wie möglich in mich aufzunehmen. In einer mit riesigen Thankas behängten, höhlenartigen Halle, durch deren hohe, schmale Fenster nur wenig Licht drang, intonier ten gelbgewandete Mönche, in Reihen auf Gebetskissen kau ernd, ihre Gesänge und neigten die geschorenen Köpfe vor einem Altar. Hunderte von Kerzen flackerten um die riesige Buddhagestalt, und der Geruch von brennender Yakbutter, Zedernholz und Räucherwerk hing in der Luft. Zwei junge Männer in braunen Kutten gingen durch die Reihen. Sie tru gen riesige Messingkrüge und gossen aus ihnen Tee in die Schalen zu den Füßen ihrer Klosterbrüder. Der Singsang der Mönche hallte gleichmäßig und psalmodierend im Raum wider, bis irgendwo laut ein unsichtbarer Gong geschlagen wurde und sich ein plötzliches Schweigen herniedersenkte. Die Mönche verharrten still und lautlos, während der tiefe Ton des Gongs unter der hochliegenden Balkendecke nachklang. Die Touristen gingen weiter herum, deuteten auf die seidenen Thankas und redeten laut. Ich hätte am liebsten den Finger auf die Lippen gelegt, um ihnen zu bedeuten, ruhig zu sein. Viel leicht lag es an meiner katholischen Herkunft, die mich gleich sam dazu zwang, im Hintergrund zu bleiben, im Schatten, im
Innersten angerührt von der Feierlichkeit der Zeremonie und unfähig, das Mysterium des Augenblicks zu durchbrechen. Unser Führer, ein kleiner, älterer Mönch, wies mich den Mit telgang hinunter in einen Raum, in dem sich das Grab des vierten Dalai Lama befand. Es war eine massive Kuppel aus Perlmutt, verziert mit kostbaren Edel- und Halbedelsteinen. Schwelgerischer Reichtum, verglichen mit der Armut der Tibeter. »Genauso habe ich mich im Vatikan gefühlt«, flüsterte ich Hilary zu. »Es ist schön, aber auch zutiefst verwirrend.« »Laß uns nach draußen gehen«, sagte sie, »ich brauche ein bißchen frische Luft.« Wir schlüpften nach draußen und gelangten in einen klei nen, tiefer gelegenen Hof, leuchtend von Blumen und Sonnen licht. Eine mit einem Strick angebundene Ziege tat sich an einem Berg Gemüseabfälle gütlich, und Fenster gaben den Blick auf spartanische Räume frei. »Vielleicht sind das die Wohnquartiere«, vermutete ich, »sie erinnern mich an die Zellen der Nonnen in meinem Konvent.« »Kein Wunder, daß du und Joe euch versteht«, sagte Hilary. Es dauerte lange, bis sie von Pete und Joe durchgehend in der Vergangenheitsform sprechen konnte. »Ihr seid beide religiöse Flüchtlinge.« Ein junger Mönch trat auf einen Balkon heraus. Er sah ärgerlich aus und gab uns gestikulierend zu verstehen, wir sollten verschwinden. Wir traten schnell den Rückzug an und machten uns auf die Suche nach unserem Führer, beschämt über unser Eindringen in einen verbotenen Bereich. In der Bibliothek wurden uns alte und sehr kostbare Texte gezeigt, die Lebensgeschichten buddhistischer Heiliger, auf
dicken Seiten festgehalten und in herrlichen Seidenbrokat gebunden. In einem nahegelegenen Raum saßen sechs Mönche auf Matten auf dem Steinboden und schnitzten Wörter in Holzblöcke, die zum Drucken von Sutren oder Gebetsformeln in Texten und auf Gebetsfahnen verwendet werden sollten. Einer der Mönche entdeckte das Buch über tibetische Klöster, das Hilary unter dem Arm trug, und bedeutete ihr, daß er es gerne anschauen würde. Daraufhin ließen auch alle anderen ihre Arbeit im Stich. Sie drängten sich aufgeregt um den Band und weisen auf einzelne Fotografien. In der Küche putzten zwei junge Novizen Gemüse für eine Brühe und kicherten, als wir unsere Köpfe hereinsteckten. Riesige Eisenkessel und ein rußgeschwärzter Topf dampften auf Herden, die mit Zweigen und Yakdung befeuert wurden. An der Wand hingen große Messingkellen und Trichter. Ich suchte das saubere, weißgescheuerte Klo im Haupthof auf. Ich mußte kaum Fliegen von dem Loch im Boden ver scheuchen. Ein vorbeigehender Mönch wandte taktvoll den Blick ab, als ich aus der Tür trat. Hinter ihm trottete eine kleine Ziege. In einem kleinen, vom Duft des Räucherwerks erfüllten Raum oberhalb des Hofes saßen sich zwanzig ältere Mönche auf farbenfrohen Teppichen und Sitzkissen in zwei Reihen gegenüber. Sie trugen rote Roben und die typische Kopfbe deckung. Jeder hatte vor sich eine Glocke, ein Reihe kleiner Zymbeln und eine Muschelschale. Ihre Oberkörper schaukelten im Takt ihres Singsangs leicht vor und zurück, und sie machten merkwürdige Handbewe gungen, die offenbar zum Gebet dazugehörten. Einer tauchte eine Bürste mit langen Borsten in eine Schale und versprühte
die Flüssigkeit um sich. Plötzlich griffen alle gleichzeitig nach ihren Instrumenten: Glocken klingelten, die Muscheln dienten als Blasinstrumente, die Zymbeln rasselten und ein tiefer Trommelschlag erklang. Die Haare in meinem Nacken stellten sich auf, als die Musik durch den Raum brandete, um schließ lich wieder in leisen Gesang überzugehen. Wieder stand ich in einer Ecke im Hintergrund, verlegen, Zeugin eines uralten Rituals zu sein. Unbewußt hatte ich mich ganz ähnlich hinge stellt wie Joe – die Beine gespreizt, die Arme vor der Brust verschränkt, leicht nach hinten gelehnt –, als ob ich wollte, daß er Gestalt annähme und diese Erfahrung mit mir teile. Das Gebet war vorüber; Schweigen senkte sich über den Raum. Es war nur noch ein leises Rascheln zu hören, als die Mönche ihre Kopfbedeckungen abnahmen, zusammenfalteten und in seidenen Überzügen verstauten. Wir gingen still hinaus, passierten die von der Sonne beschienenen Mauern des Tashi lumpo und kehrten zu unserem Lastwagen zurück, um den nächsten Teil unserer Reise in Angriff zu nehmen. Es war eine lange, herrliche Fahrt ohne irgendwelchen Ver kehr, von einigen vereinzelten Armeelastern abgesehen. Auf den hohen, weiten Ebenen tauchten Dörfer mit weißen und grauen Mauern auf, wie winzige Fleckchen, die größer wur den und beim Näherkommen Gestalt annahmen. In einem Dorf war ein Yak angebunden, der zufrieden, vor einem Hintergrund aus Hochebene, schneebedeckten Bergen und Himmel, wiederkäute. In den tiefen Tälern klammerte sich der Weg an purpurne und braune Felshänge, die vom Wind schraffierte Gebilde zeigten. Weit, weit drunten erstreckte sich in klar abgehobenen Streifen von Grün bewässertes Land an den Flußufern hin. Zum Mittagessen machten wir halt an einem windumtosten
Paß, an dem einige wilde, wuschelhaarige Yaks hoffnungsvoll zwischen den Felsen grasten. Dem einen flatterte eine Gebets fahne am Horn. Hilary wollte gerne die Ausrüstung fotogra fieren, die uns eine Firma für Bergsteigerbedarf gestiftet hatte, und ich trieb die Tiere zusammen, so daß sie noch aufs Bild kamen. Es war sehr friedlich hier oben: Gebetsfahnen im Wind, die grasenden Yaks, dahinter die Schneeberge am Horizont. Auf der anderen Seite des Passes fiel die Straße steil ab. Vorspringende Terrassen, die aus einem rauschenden Wild wasser im Tal aufstiegen, flankierten sie. Ich starrte und starrte: Das Déjà-vu-Gefühl war überwältigend. Und dann plötz lich erinnerte ich mich: Joe hatte dieses Straßenstück gefilmt; die Bilder waren im Fernsehen gezeigt worden. Ich stellte mir vor, wie er sich aus dem Landrover lehnte, den Fahrer bat, langsamer zu fahren, und sich fragte, wie diese paar Meter Film wohl werden würden. Hinter einer Biegung kam eine eindrucksvolle Bergkette in Sicht: Gipfel in Wolken. Makalu, Lhotse, Nuptse – hörte ich die anderen die Namen der einzelnen Bergspitzen nennen. Hilary umklammerte meinen Arm und deutete nach vorn. »Da ist es, Maria.« Über den Wolken, unvorstellbar hoch, der Gipfel des Eve rest. Denny klopfte auf das Dach der Fahrerkabine, und Tele hielt an. Nach dem Verstummen des Motors herrschte absolu te Stille, abgesehen vom Wind und dem Klicken und Surren der Kameras. Ich schaute unverwandt hinauf zu dem Berg, der so viel gigantischer war als in meinen Vorstellungen. Ich konnte den Grat erkennen, wo Joe und Pete zum letzten Mal gesehen worden waren. Das Bild verschwamm, Tränen rannen
mir übers Gesicht und sammelten sich im Kragen meiner Jacke, den ich eng unter dem Kinn zusammengezogen hatte. Verzweiflung packte mich ganz unvermittelt und mit voller Wucht. Der Mann, den ich geliebt hatte, der mein Leben mehr als zwei Jahre lang geteilt hatte, war auf diesem Berg verschol len, fast auf dem höchsten Punkt der Erde. Ein harter, kalter Ort, erbarmungslos und unendlich einsam. Eine »Schneefah ne« wehte vom Gipfel des Everest; ich schauderte, als ich mir die Gewalt und die Eiseskälte des Windes da oben vorstellte. Unzählige Leute hatten es gesagt, und ich wußte es ja selbst: Joe hatte nicht so jung sterben wollen, aber wenn es sein mußte, dann hätte er sich gewünscht, sein Leben so zu beenden, wie es geschehen war: hoch im Himalaja. Es lag eine Einfachheit und eine Schönheit in der Art seines Todes. Keine schwächende Krankheit, kein banaler Autounfall, sondern besiegt von der Macht des Berges. Als der Laster wieder startete, kniete ich mich auf die Rucksäcke hinter der Fahrer kabine und blickte hinauf auf den Grat, magisch angezogen von der plötzlich physischen Realität des Everest, verstört wie ein verletztes Kind und nicht weniger trostbedürftig. Da machte die Straße einen Bogen, der Everest verschwand aus unserer Sicht, wir näherten uns Xegur.
Charles S. Houston/ Robert H. Bates aus In 8000 Meter Höhe Der amerikanische Medizinstudent Charlie Houston, gebo ren 1913, führte 1938 eine kleine amerikanische Expedition auf den K2. Die Mannschaft aus fünf Bergsteigern und sechs Sherpas, unter ihnen Bob Bates, Bill Houseman und Paul Petzoldt, verbrachte eine beträchtliche Zeit damit, verschie dene Routen zu erforschen, bevor sie den Abruzzi-Grat in Angriff nahm. Houston und Bates schrieben gemeinsam das Expeditionsbuch In 8000 Meter Höhe; hier beschreibt Hou ston seinen Gipfelversuch mit Petzoldt. Am Samstag, dem 16. setzten Petzoldt und ich um fünf Uhr morgens den »Primus« in Gang, in der ehrgeizigen Hoffnung, früh aufbrechen zu können. Als wir uns jedoch um sieben Uhr endlich auf den Weg machen wollten, trieben uns ein kalter Wind und bedrohlicher Schneefall zurück in unsere Zelte, wo wir noch eine Stunde zubringen mußten. Dann brach die Sonne durch die Wolken, und wir marschierten los. Von früheren Inspektionen her schien uns die rechte Seite des Sporns über Lager V vielversprechender als die steile Schnee rinne, deren Anfang man links gerade noch erkennen konnte. Ich bog ab und überquerte einen steilen, schneebedeckten Eishang. Dazu brauchten ich die Steigeisen. Bald waren wir jedoch gezwungen, die rechte Seite des Grates direkt zu besteigen. Der Fels war sehr rissig und darüber hinaus mit Pulverschnee überzogen, was den Führer und seinen zweiten Mann ziemlich nervös machte. Nach Stunden schwerer Arbeit
waren wir gerade mal sechzig Meter über dem Lager. Zu unserer großen Enttäuschung war dieser Weg aufgrund der schwierigen Kletterei ungeeignet, höher gelegene Lager zu versorgen. Also kehrten wir um. Nach dem gewohnten Mittagessen stieg unsere Laune wie der, und kurz nach Mittag wandten wir uns zur Linken des Grates, wo wir uns einen steilen Schneehang hocharbeiteten. Hier war der Schnee sehr tief und fiel so weit nach unten, daß man ihn nicht mehr sehen konnte. Die Bergsteiger hatten ein mulmiges Gefühl. Glücklicherweise ging der Schnee bis auf die Spitze des Vorsprungs, und wir hatten einige hundert Meter einen leichten Aufstieg. Pauls nahezu unheimliche Fähigkeit, schon viele Meter im voraus den besten Weg förm lich zu erschnüffeln, war eine große Hilfe. Bald jedoch gerieten wir in sehr unangenehmen Felsschotter, was den zweiten Mann zu vielerlei Flüchen veranlaßte, da er von herabfallen den Steinchen getroffen wurde. Wir setzten unseren Weg fort und kamen zu einer winzigen Nische am Fuße einer weiteren riesigen Felsspitze, die offenbar ebenso schwierig zu ersteigen war wie diejenige oberhalb von Lager V. Es war schon vier Uhr nachmittags, und ein Sturm begann aufzuziehen, so daß wir ins Lager zurückkehrten, wo wir Bates und House mit den drei Sherpas vorfanden, die es sich in den Zelten, mit deren Errichtung sie den ganzen Nachmit tag beschäftigt gewesen waren, schön gemütlich gemacht hatten. Wir drängten uns alle in ein kleines Zelt, um das Abendessen zu verzehren, das Paul gekocht hatte und das seine früheren kulinarischen Anstrengungen fast noch über bot. Nach dem Essen begleiteten uns einige Vorträge aus dem Oxford Book of English Verse zufrieden in unsere Schlafsäcke.
Der Wind nahm den Abend über zu, und wir schliefen in dem unheilvollen Geflattere der Zelte ein. Die Aussichten auf den kommenden Morgen waren düster, und als wir um fünf Uhr aufwachten, waren wir völlig von Nebel umgeben. Das Frühstück wurde von dem unvermeidlichen Dipp-dipp-dipp schmelzenden Eises vom inneren Zeltdach begleitet. Ein Eiszapfen war von der einen Zeltwand, die sich aufgebläht hatte, abgerissen und durchnäßte einen Schlafsack. Dem Sherpa, der das Frühstück ins andere Zelt brachte, erfroren im Wind fast die Hände. Alles in allem war es ein ungastlicher Morgen. Um acht Uhr war das Wetter ein wenig besser geworden, und wir beschlossen, mit unseren Schlafsäcken weiter bis zu Lager VI vorzudringen. Die Unterstützungsmannschaft plante, ein paar Stunden später aufzubrechen und im Lager VI ein Zelt mit Essen zu bestücken, während Petzoldt und ich ver suchten, noch weiter nach oben zu gelangen. Wir brachen auf, eingepackt in Schneeanzüge, Handschuhe und Helme. Sobald wir aus dem Schutz des Kammes heraustraten, bekamen wir den Wind voll zu spüren, der wolken- und schneegeladen durch die Felsen heulte. Sofort gefroren unsere Bärte, und unsere Hände und Füße wurden taub. Wir wußten, daß uns nun Erfrierungen drohten, und kehrten um in der Furcht, im Sturm nicht mehr zurückzufinden. Die anderen, die sich offenbar Sorgen um uns gemacht hatten, kamen uns mit heißen Getränken aus ihren Zelten entgegen, und Pasang begrüßte uns mit den Worten: »Genau wie am Nanga Parbat, Sahibs«, zog uns gleich darauf die Stiefel aus und begann unsere gefrorenen Füße zu rubbeln. Den Rest des Tages verbrachten wir damit, uns mit einem ununterbrochenen Festessen zu ermutigen. Das Mittagessen
begann wie üblich und wurde mit kleinen Leckerbissen bis zum Tee fortgesetzt. Der Tee wiederum wurde bis zum frühen Abendbrot hingezogen und schließlich zum eigentlichen Abendessen. Dann hielten wir es nach langen Diskussionen, Vergleichen dieses Wetters mit früheren Wetterlagen und allgemein optimistischen Vorstellungen für nötig, noch einen kleinen Imbiß zu uns zu nehmen, um die Nacht durchzuste hen. Dennoch waren wir ziemlich bedrückt, als wir uns gegen acht Uhr in unsere Zelte zurückzogen. Der Wind war stärker geworden und blies von Westen her schwere Wolken zu uns hinüber. Gefrorener Schnee wehte auf die Zelte, und die Temperatur fiel ständig. Wir freuten uns auf unsere kuscheli gen Schlafsäcke. Zu unserem Erstaunen war Montag der 18. einer der schön sten Tage, die wir je erlebt hatten. Jeder einzelne Gipfel um uns zeigte sich klar und deutlich, purpur und rosa im frühen Morgenlicht eingefärbt. Der Wind hatte sich gelegt, der meiste Neuschnee war von den Felsen weggeweht, und – das war das beste – die Morgensonne wärmte unsere Zelte rasch auf. Bei diesem milden Wetter war es angenehm, Frühstück zu ma chen, und Petzoldt und ich brachen vor acht Uhr mit unseren Schlafsäcken und einem leichten Mittagessen auf. Wir erreich ten den Absatz, auf dem Lager VI entstehen sollte, lange vor Mittag und ließen dort unser Gepäck zurück. Petzoldt brach zur linken Seite des Grates auf, und wurde aber schneller von steilen, schneebedeckten Felsplatten gebremst. Nachdem wir über eine Stunde lang versucht hatten, einen Weg zu finden, um sie zu queren, kehrten wir um und versuchten es auf der rechten Seite. Diese schien auf den ersten Blick noch schwieri ger zu sein, doch ich fand etwa einen halben Meter weiter oben einen Kamin, der sich mit einigen Schwierigkeiten be
wältigen ließ. Am Ende sicherten wir einen luftigen Übergang, noch immer auf der rechten Seite des Grates, durch verschie dene Haken, und er brachte uns zu einer Hochebene kaum sechzig Meter über dem Lagerplatz. Etwa um die gleiche Zeit traf die Unterstützungsmann schaft mit Zelten, Nahrung und den üblichen Flüchen wegen herabfallender Steine ein. Sie waren gelegentlich von kleinen Felsstücken bombardiert worden. Doch blieben sie von den größeren Steinen verschont, die zu beiden Seiten des Vor sprungs heruntergefallen waren. Während sich Petzoldt und ich noch weiter nach oben arbeiteten, machten sich Bates und House, die zunächst nicht glauben mochten, daß man hier zwei Zelte, ja nicht einmal eines, aufstellen konnte, an die Arbeit. Die Sherpas, die eine natürliche Begeisterung für Maurerarbeit besaßen, bauten drei unsichere Plattformen und errichteten ein Zelt für die Erkundungsmannschaft. Dann kehrte die Gruppe zum Lager V zurück, in der Absicht, am nächsten Tag die restliche Ausrüstung nach oben zu bringen. Petzoldt und ich waren mittlerweile bei der oberen Route auf Schwierigkeiten gestoßen. Verschiedentlich waren befe stigte Seile vonnöten, und das Eis in den Rinnen beiderseits des Grates hielt uns sehr erfolgreich auf dem Kamm gefangen. Etwa hundertfünfzig Meter oberhalb des Lagers verlor Paul einen Handschuh, der über den Abgrund wehte und in Se kundenschnelle verschwunden war. Das war eine ernste Sache, denn wenn man einen so wesentlichen Schutz unwie derbringlich verliert, erkennt man, wie schmal der Grenzbe reich zwischen warmen Händen und Erfrierungen ist. Um uns herum war die flaumige Wolke, die immer über diesem Teil des Abruzzi-Grats zu hängen schien, feucht und klamm, aber wir erreichten eine Stelle, von der aus wir einige hundert
Meter einen einfachen Weg hatten, bevor wir ins Lager zu rückkehrten. Die Unterstützungsmannschaft – sie sei geprie sen – hatte Luftmatratzen aufgeblasen, Schlafsäcke ausgebrei tet und sogar Schnee für das Teewasser geschmolzen. Der Tee war bald fertig, und während der üblichen Mahlzeit aus gepreßtem Dörrfleisch wurden die Pläne für den nächsten Morgen besprochen. Es war eine kalte und wundervolle Nacht. Zum ersten Mal bemerkten wir einen Vollmond, der den hohen Gipfeln um uns herum einen seltenen himmlischen Glanz verlieh. Doch war die Nacht zu kalt, um unsere phantastische Umgebung lange zu bewundern. Am Morgen herrschte teils klares Wetter, nur im Osten zogen dicke, dunkle Wolken auf. Das war un gewöhnlich, da die Bewölkung meist von Westen oder Süden her kommt. Wir fragten uns, ob der bereits lange vorhergesag te Wetterumschlag bevorstand. Glücklicherweise kam gegen neun Uhr Westwind auf, und wir konnten einige Stunden lang den Kampf der Winde beobachten. Große Nebelmassen wälz ten sich über Windy Gap, um dort auf einen stärkeren Wind aus Kaschmir zu treffen, der sie zurück nach Turkestan blies. Die Sonne erwärmte die Felsen, und es wurde ein angenehmer Tag. Es dauerte nicht lange, bis Petzoldt und ich unseren gestri gen höchsten Punkt passiert hatten und uns auf dem Weg hinauf zur berühmten Schwarzen Pyramide befanden, die den Abruzzi-Grat krönt. Das sollte die Crux des Aufstiegs sein. Wir hatten von Anfang an das Gefühl, daß die letzten drei hundert Meter hinauf zur Schulter, einem großen Schneefeld, bei weitem der schwierigste und unwegsamste Abschnitt von allen waren. Wir waren sehr aufgeregt, doch zwang die Schwierigkeit des Felsens uns zu Konzentration. Petzoldt
gelang erneut das Kunststück, schon Minuten, bevor wir sie erreichten, die beste Route vorauszusehen, und gegen Mittag kamen wir zu einer steilen Schneerinne, die wir von unten bereits studiert hatten. Paul hatte vorhergesagt, daß uns unser Weg oberhalb von ihr zur Spitze der Pyramide führen würde. Eine anstrengende halbe Stunde lang klopften wir Tritte in die schmale Rinne hinauf und sahen uns am Ende genötigt, nach rechts auf gefährlich aussehende Hänge zu queren. Wir schlugen weitere Haken in den Fels, deren Schutz wir sehr begrüßten. Ein Ausrutscher auf diesen Hängen hätte uns nach einer schnellen, aber keineswegs bequemen Reise schnur stracks ins Lager I befördert. Kurz nach Mittag schüttelten wir uns auf der Spitze der Schwarzen Pyramide in einer Höhe von etwa 7450 Metern die Hände. Wir hatten den Abruzzi-Grat erobert und einen Weg zu den Schneefeldern der 7500 Meter hohen Schulter gefunden. Das Begeisternde dieses Augenblicks war nicht allein unse rer Höhe zu verdanken. Der größte Teil des Karakorum lag sichtbar vor uns. Weit im Südwesten erhob sich der weiße Kegel des Nanga Parbat hoch über die Schneegipfel um ihn herum. Broad Peak, anmutig wie immer, schien nah genug zu sein, um ihn über den unten liegenden Gletscher hinweg zu berühren. Weiter westlich erhob sich der Masherbrum deut lich und schön. Ob unsere Freunde der britischen Expedition diesen Gipfel bezwungen hatten? Den Shaksgam im Norden konnten wir noch nicht sehen. Das sollte später kommen. Nach einer gemütlichen Zigarette, die uns in diesen Höhen besonders gelegen kam, wandten wir uns wieder unserer Aufgabe zu. Über uns befand sich ein steiler, hoher Hang, der an vielen Stellen mit Pulverschnee überzogen war. Zu unserer
Linken stürzte ein kurzer Felshang ins Nichts, und auf unserer Rechten war über einem großen Felsen ein kleiner Hang, der zu einem zerklüfteten Eisbruch führte, der von der 7500 Meter hohen Schulter herunterkam. Letzteres schien uns die leichte ste und sicherste Route zu sein, und wir begannen, Stufen für einen horizontalen Übergang zu dem Eisbruch zu treten. Das reine, unberührte Eis fiel jäh zu einem schrecklichen Abgrund ab, es hatte eine Neigung von fünfundvierzig Grad. Vielleicht war dieses Eis durch Wind oder Druck entstanden. In Anbe tracht der bekannten Theorien hielten wir es aber für wahr scheinlicher, daß es sogar in Höhen von 7400 Metern zu Schneeschmelzen kommt. Um etwa achtzig Stufen zu treten und zwei Haken zur Wegsicherung einzuschlagen, benötigten wir eine Stunde. Dann erreichten wir die Mitte eines großen Eisbruchs aus Blöcken und Türmen festgepreßten Schnees, der vom Gipfel des K2 gestürzt war. Wir bahnten uns einen Weg durch dieses Labyrinth und fanden uns auf einem DreißigGrad-Schneehang wieder, der uns keine Probleme bereitete. Wir stapften ihn nach oben, wobei wir immer langsamer gingen und immer stärker an die zunehmende Höhe erinnert wurden. Um etwa 15 Uhr erreichten wir oben den Schneehang hundert Meter unter der langersehnten 7725-Meter-Marke. Endlich waren wir an einem Punkt, dessen Höhe wir auf grund früherer Vermessungen genau kannten und auf den unsere Augen viele Wochen lang gerichtet waren. Leider konnten wir den Gipfel über uns noch immer nicht sehen. Zwischen uns und der Vorderseite des Kegels erstreckte sich ein weiterer kleiner Hang, dessen sanfte Krümmung unserem ungeduldigen Blick die letzte Felspyramide entzog. Weil es zu spät war weiterzugehen, schoß Paul ein paar Fotos von unse rer großartigen Umgebung, und wir machten uns auf den
Rückweg zu Lager VI. Als wir ankamen, fanden wir die Un terstützungsmannschaft irgendwie verstimmt und keineswegs gemütlich in drei riskant errichteten Zelten. Auch sie hatten einiges zu berichten, denn sie hatten Lasten von fast zwanzig Kilogramm über die losen Steine unten vom Lager V hinauf tragen müssen. Die Sherpas, Bates und House hatten den ganzen Nachmittag an diesem engen Platz geschuftet. Sie hatten Felsbrocken, die im Eis festgefroren waren, losgeklopft und für die beiden anderen Zelte feste, aber schräge Plattfor men gebaut. In diesem Augenblick fühlten wir uns weiter weg von der normalen Welt als jemals zuvor, denn unser winziger Zelt platz hing unsicher an den steilen Felsplatten. Das nächste ebene Stück Boden, das wir sehen konnten, befand sich gut 2100 Meter unter uns auf dem Godwin-Austen-Gletscher. Das Leben daheim mit seinen Problemen, kleinen Ärgernissen, Hoffnungen und Kämpfen erschien uns bedeutungslos und weit, weit entfernt. Und doch dachten wir oft an unsere Freunde und Familien. Wir hatten alle das Gefühl, daß, wenn wir nur ein paar Tage dort verbringen könnten, wir unsere Energie und unsere Begeisterung um ein vielfaches stärken und die letzten dreihundert Meter mit frischer Kraft angehen könnten. Der engste Kontakt zu unseren Familien waren Briefe, die wir aber nie zu schreiben schienen. Nach dem Abendessen hielten wir Kriegsrat, bei weitem den ernstesten und entscheidendsten der vielen vorangegan genen. Wir hatten in Lager VI Nahrung und Benzin für viel leicht zehn Tage deponiert. Einige der unteren Lager waren gut versorgt, so daß wir zurückkehren könnten, ohne Essen oder Zelte mitzunehmen. Wir waren uns sicher, daß wir oben mindestens noch zwei Lager brauchten, um den Gipfel zu
erreichen. Das bedeutete, daß wir in jedem Lager mindestens sieben Tage lang Proviant benötigten, und es gingen noch einige Tage damit drauf, sie zu errichten. Unser Sicherheits spielraum wurde sehr schmal. Sollten wir so schnell wie möglich nach oben und darauf hoffen, daß das schöne Wetter anhielt? Oder sollten wir lieber auf der sicheren Seite bleiben und mit voller Mannschaft zurückkehren? Letzteres wäre sicher die klügere Entscheidung, aber irgendwie hatten wir das Gefühl, daß wir die kleine Chance wahrnehmen sollten, nachdem wir schon so lange geschuftet hatten und so weit gekommen waren. Die große Frage war das Wetter. Wenn wir uns sicher sein könnten, daß das gute Wetter anhielt, könnten wir ohne grö ßere Sorge noch zwei Lager weiter oben errichten und erst dann zurückkehren, wenn unser Nahrungsvorrat fast aufge braucht war. Wir meinten, daß wir mit gutem Wetter und ohne Pannen den Gipfel erreichen könnten. Wenn aber auf der anderen Seite in zwei, drei Tagen ein Sturm losbrach, hätten wir nur eine Alternative: nämlich zu warten, bis das Wetter wieder aufklarte. Der bloße Gedanke daran, unseren Weg, der schon unter optimalen Bedingungen schwierig genug war, im Sturm herunterklettern zu müssen, war entsetzlich. Bei Sturm oder auch schon bei Neuschnee würden wir in Houses Kamin, auf Petzoldts Felsspitze und auf den Hängen unterhalb von Lager III in ernsthafte Schwierigkeiten geraten. Die langen Verzöge rungen, die zur verläßlichen Sicherung eines jeden Bergstei gers vonnöten sind, bedeuteten Erfrierungen, wenn wir den Rückzug in einen Sturm anträten. Nein, es gab keine Alterna tive. Wir mußten bei gutem Wetter absteigen.
Wir mußten also entweder umkehren, bevor der Sturm los brach, oder darauf gefaßt sein, zu warten, bis der Sturm seine Gewalt verloren hatte. Vieles sprach dafür, daß es in naher Zukunft einen Sturm geben würde. Wir hatten zwei Wochen lang fast ununterbrochen schönes Wetter gehabt, und das zu einer Zeit, in der sich das Wetter nach Meinung aller Experten häufig änderte. Außerdem hatte sich in den letzten beiden Tagen die Wolkenwand über Turkestan bedrohlich vergrößert. Bestimmt erwartete uns ein Sturm, doch wie stark er sein würde, konnte uns niemand voraussagen. Alle Stürme, die wir bisher erlebt hatten, hatten nur drei bis fünf Tage gedauert. Aber die französische Expedition von 1936 hatte zwei volle Wochen bei Schnee und Wind in ihren Zelten gelegen. Es wurde immer offenkundiger, daß wir höchstens ein Lager höher vordringen konnten. Unser erstes Ziel war es gewesen, einen sicheren und direk ten Weg zum Gipfel zu finden. Unser zweites Ziel warf einen großen Schatten auf das erste: die gesamte Mannschaft wieder heil nach Hause zu bringen. Wir glaubten, daß wir das erste Ziel gut erreicht hatten, wenn wir es bis zum großen Schnee feld unterhalb des Gipfelkegels schafften. Der Abruzzi-Grat war zwar weit davon entfernt, einen einfachen Aufstieg zum Gipfel zu bieten, aber er war ein direkter und sicherer Weg, sofern man besonnen vorging. Nachdem wir mehrere Stunden diskutiert hatten, entschie den wir endlich, daß wir uns noch immer in der Sicherheits zone bewegten, wenn zwei von uns mit Nahrung für drei Tage ausgestattet, so hoch wie möglich vorstießen – unter der Bedingung, daß sie sofort umkehrten, wenn schlechtes Wetter drohte. Die beiden würden an einem Tag den Gipfelkegel so weit nach oben steigen, wie es Zeit und Kraft vor der Rück
kehr zu Lager VI und dem Beginn des Rückzugs zuließen. Es war eine schwere Entscheidung. Wir alle spürten das, aber wir waren uns einig, daß es keine andere Möglichkeit gab als diesen Kompromiß zwischen übertriebenem Ehrgeiz und Sicherheit. Auf wen sollte nun die Wahl fallen? Die Gruppe hatte als ganze Pläne gemacht; jeder einzelne war in ausgezeichneter Verfassung, und jeder einzelne war gleichermaßen fähig, die Last des letzten Aufstiegs auf sich zu nehmen. Doch hatten Petzoldt und ich den Weg erkundet, und die paar zusätzlichen Tage in großer Höhe hatten uns sicher ein bißchen besser akklimatisiert. Daher erklärten sich House und Bates bereit, für uns das Lager zu errichten und zu Lager VI zurückzukeh ren, während wir beide noch höher stiegen. In dieser Nacht fand keiner festen Schlaf, denn es war uns bewußt, daß sich unser Abenteuer dem Ende zuneigte und daß wir das große Ziel, das wir uns gesetzt hatten, nicht erreichen würden. Am Morgen des 20. hatten wir wieder ausgezeichnetes Wet ter, was unsere Entscheidung vom Vorabend bestätigte. Der Himmel über uns war dunkelblau, ein sehr hoher Himmel. Weit im Westen küßte eine kleine Wolkenbank den Gipfel des Nanga Parbat. Es war windstill – das gute Wetter hielt noch immer an. Wir verteilten die Last auf vier Rucksäcke, einen für jeden uns. Denn unserer Meinung nach hatten die Sherpas die Grenzen ihrer Kletterkunst erreicht. Unmittelbar vor unserem Aufbruch bettelte Pasang darum, mitgenommen zu werden. Da wir weder seinem Lächeln noch seinem Mut widerstehen konnten, wurden unsere Lasten wieder leichter, und ein fünfter Rucksack wurde gefüllt. So tapfer sich die anderen beiden Sherpas auch gehalten hatten, trauten wir ihnen doch nicht zu, den immer schwieriger werdenden Weg nach oben
zu gehen. Wir ließen sie zurück, und sie konnten in der Sonne dösen. House und Petzoldt gingen am vorderen Ende des Seils, dicht gefolgt von Bates, Pasang und mir. Wir waren guter Stimmung, doch war die Gruppe von einer merkwürdigen Trägheit befallen. Vielleicht war es ein Gefühl der Niederlage, ein Bedauern, daß sich unser Klettern dem Ende näherte. Vielleicht forderte aber auch die Höhe ihren Tribut. Bates klagte über Magenprobleme, sein erstes Unwohlsein auf der ganzen Tour. Wir hatten wenig zu tragen, deutlich unter zehn Kilo, und kamen doch nur sehr langsam voran. Erst am Nachmittag erreichten wir das obere Ende der Schneerinne mit ihrem schwierigen Vorsprung, der höher hinauf zur Spitze der Schwarzen Pyramide führte. Dort nahmen wir rasch ein kleines Mittagessen zu uns und rieben unsere Füße, die von den Riemen unserer Steigeisen ganz taub geworden waren. Wir versuchten, auf den warmen Steinen ein wenig Schnee zu schmelzen, denn wir nahmen bei diesen Klettertouren kein Wasser mit. Die schon lange von uns be nutzte Kombination aus Fruchtbonbons und Schnee schien die Bedürfnisse unserer ausgetrockneten Münder aber nicht zu befriedigen. Es war bereits drei Uhr, bis alle die Spitze der Pyramide er reicht hatten und wir die Querung des fünfundvierzig Grad steilen Eishangs in Angriff nehmen konnten, in den Petzoldt Stufen geschlagen und im Eis Haken zur Sicherung befestigt hatte. Da sahen wir, daß die Sonne das Eis rund um die Eisen spitzen, die nun am Seil baumelten, geschmolzen hatte. Die Löcher, in denen sie gesteckt hatten, waren mit Wasser gefüllt. Wenn House, Bates und Pasang vor Einbruch der Dunkelheit
ins Lager VI zurückkehren sollten, mußten sie sofort aufbre chen. Daher legten sie ihr Gepäck am Anfang des Übergangs ab. Dies sollte der höchste Punkt gewesen sein, den sie erreich ten, etwa 7530 Meter. Petzoldt und ich erkannten wohl, welch großes Opfer sie brachten, als sie uns beiden die Auserwählten sein ließen, die noch weiter vorstoßen durften. Doch war jetzt keine Zeit für sentimentale Gefühle. Die drei anderen machten sich an den Abstieg und kamen nach einem schwierigen, aber ereignislosen Weg kurz vor Einbruch der Dunkelheit im Lager an. Petzoldt und ich luden uns einige Kilo mehr auf die Rük ken und schleppten sozusagen das ganze Lager über das Eis. Wir gruben unser Zelt in den Tiefschnee am anderen Ende des Eisbruchs. Kaum war die Sonne untergegangen, als wir uns der großen Kälte in dieser Höhe bewußt wurden, einer Kälte, die unsere Körper bis auf die Knochen zu durchdringen schien. Wir schlüpften in unser Zelt und stellten unseren Kocher auf. Da bemerkten wir voller Schrecken, daß wir die Streichhölzer im Lager VI zurückgelassen hatten. Das war eine Katastrophe. In meiner Tasche fand ich noch vier Sicherheits- und fünf Sturm streichhölzer, alle von zweifelhaftem Wert. Letztere, die ich den ganzen Weg von New York bis hierher mitgebracht und in den tiefer gelegenen Lagern in der Sonne getrocknet hatte, hatten durchweg in Höhen von über 6000 Metern ihren Dienst versagt. Nur mit großer Vorsicht und vorherigem Einreiben mit Fett brachte man sie vielleicht zum Glühen. Die Sicher heitsstreichhölzer hingegen stammten aus Kaschmir und waren äußerst zerbrechlich. Petzoldt probierte das erste. Es zischte – und ging aus. Auch ich versuchte ein Sicherheitsstreichholz. Sein Kopf brach ab. Petzoldt nahm in seiner Verzweiflung ein Sturmstreichholz
und rieb es fast beiläufig. Es entflammte, und der Kocher wurde in Gang gesetzt. Nun hatten wir nur noch sechs Streichhölzer. Daher schmolzen wir nach dem Abendessen einen großen Wasser vorrat für den Morgen. Wir wickelten den Topf in unsere Kleidung und legten das Paket unter unsere Füße. Dies war ein Vorgehen, das sich schon bei früheren Gelegenheiten als sehr wirkungsvoll erwiesen hatte, wenn es darum ging, Was ser vor dem Einfrieren zu bewahren. Wir verfluchten uns, weil wir die Streichhölzer vergessen hatten. In meinem Tagebuch steht: »Diese Nachlässigkeit war wohl ein Hinweis auf die Höhenkrankheit.« Sonst war alles da, und als wir in unsere warmen Schlafsäcke krochen, fragten wir uns, was der Morgen wohl bringen würde. »Ich finde, das Wetter sieht stabil aus«, sagte Paul. »Da bin ich mir sicher«, antwortete ich, dabei hatte ich die ganze Zeit das Gefühl gehabt, daß die Wolken ziemlich un heilvoll ausgesehen hatten. Ich fragte mich, ob er insgeheim dieselben Zweifel hegte. »Wenn nur der Wind ein wenig nachlassen würde, dann wäre die Kälte nicht so schlimm.« Einen Augenblick lang dachten wir beide gewiß an die tauben Finger und Zehen, die wir an anderen Tagen morgens hatten, bevor uns die Sonne erreichte. Paul: »Sind die Streichhölzer an einem sicheren Ort?« »Sie sind hier in meinem Schlafsack.« »Ohne Streichhölzer sind wir verloren.« Stille. »So, morgen ist unser großer Tag. Laß uns schlafen.«
Am nächsten Morgen rührten wir uns nicht, bis die aufgehen de Sonne unser Zelt erwärmte. Es war ein wunderschöner Tag. Wir verbrauchten drei Streichhölzer, bis endlich eines unseren Kocher anzündete und uns ein warmes Frühstück sicherte. Nun hatten wir noch drei. Bevor wir unser Zelt verließen, richteten wir es so her, wie es die beiden erschöpften Bergsteiger, als die wir am Abend sicher zurückkehren würden, bei ihrer Rückkehr benötigten. Dann endlich legten wir an diesem kalten, windstillen Morgen unsere Steigeisen an. Unsere vier Shetland-Pullover, Flanell hemden und Windjacken, zwei Paar leichte Wollhandschuhe und die Skihandschuhe reichten kaum, uns vor Erfrierungen zu bewahren, obwohl nicht einmal Wind wehte. Durch achtzehn Meter leichtes Bergseil voneinander ge trennt, starteten wir zum letzten Teil unseres Aufstiegs. Zwei Stunden Anstrengung brachten uns zu dem Punkt, den wir zwei Tage zuvor erreicht hatten. Wir legten eine Rast ein und schossen noch ein paar Fotos von der einzigartigen Landschaft unter uns. Die Wolkenbank über Turkestan war verschwun den, doch hielt sich der Westwind noch immer. Der Nanga Parbat war frei, und ein weiterer wunderschöner Tag schien uns sicher. Oberhalb der Schulter waren wir erneut gezwungen, uns östlicher zu halten. Dort kämpften wir uns über sanfte Schneehänge in einer außergewöhnlich abwechslungsreichen Beschaffenheit aufwärts. Dreihundert Meter lang stießen die scharfen Spitzen unserer Steigeisen kaum in die Eiskruste. Im nächsten Abschnitt dagegen versanken wir bis zu den Knien im Pulverschnee. Dann kamen Stellen von Reif, die wie Federn
geformt waren. Diese merkwürdigen Strukturen entstehen durch hohe Windgeschwindigkeiten und niedrige Temperatu ren, die die Massen feinen Pulverschnees zu sonderbar wir kenden Verwehungen anhäufen. Einige von ihnen sind Hun derte von Metern lang, ein bis eineinhalb Meter tief und einige Meter breit. Wenn man in eine dieser Verwehungen tritt, kann es sein, daß ein großes Stück von einigen Metern Länge ab bricht und wegrutscht. Daher muß man sich ihnen vorsichtig nähern. Alles in allem fanden wir den Weg nicht allzu schwierig. Als wir aber immer weiter nach Osten ausweichen mußten, wurde der Schnee im Windschatten der eigentlichen Schulter tiefer und pulvriger. Es wurde anstrengender, vorwärts zu kommen. Bald erreichten wir den Fuß einer richtigen, fünf zehn bis achtzehn Meter hohen Wand, der Oberlippe einer großen Spalte im Schneefeld. Sie zu bewältigen war hoff nungslos. Daher setzten wir unseren Weg weiter nach Osten fort, wo wir schließlich auf eine steile, schmale Schneebrücke trafen, die uns zur oberen Stufe brachte. Dieser Weg war sehr unsicher, und erst nach einigen Schwierigkeiten waren wir imstande, den höheren Hang sicher zu erreichen. Dort angekommen, schwammen wir bis zu den Hüften in weichem Pulverschnee. Die Höhe begann, sich bemerkbar zu machen. Petzoldt fühlte sich stark und bewegte sich schnell voran. Doch ich spürte in meinen Beinen eine merkwürdige Schwäche. Jeder Schritt nach oben war eine Anstrengung, die mehrere Atemzüge benötigte. Dennoch schien mein Denken klar und aktiv zu sein. Gegen ein Uhr hatten wir das obere Ende des großen Schneefeldes erreicht; nicht ganz dreihundert Meter jenseits einer sanft geneigten Schneeschulter erhob sich der letzte Bergkegel.
Auf den ersten Blick schien er uns schwierig. Als wir ihn jedoch genauer prüften, gewannen wir die Überzeugung, daß dieser Weg direkt vom Schneefeld auf den Gipfel führte. Doch lagen zwischen uns und dem Fuß der Gipfelpyramide mehre re hundert Meter Schneeschulter, die mit Eisbrocken übersät war, offensichtlich Überbleibsel von Lawinen, die von den großen Eiswänden unterhalb des Gipfels heruntergekommen waren. Wir hatten von unten schon solche Eismassen wegbre chen sehen. Sollte uns eine von ihnen treffen, wäre unser Schicksal besiegelt. Der Weg, auf dem wir dieser Gefahr aus gesetzt waren, war jedoch recht kurz, und es gab nichts, was uns an einem raschen Übergang hinderte. Dennoch war es ein Risiko – ein Risiko, das zukünftige Expeditionen im Auge behalten mußten. Wir aßen schnell zu Mittag und hatten während unserer Rast fast das gesamte Karakorum unter uns. Dann legten wir das Seil ab und rollten es in der Sonne auf, damit es trocknen konnte, und gingen weiter. Petzoldt, der ausgeruhtere von uns beiden, machte sich ent schlossen auf den Weg und hatte sich einige Minuten später am Fuß des Gipfelkegels vor der Gefahr des Eisbruchs in Sicherheit gebracht. Ich konnte ihn sehen, wie er vor mir sich beharrlich nach oben arbeitete und ab und zu stehenblieb, um sich zu orientieren. Ich kam nur lächerlich langsam voran. Jeder Zentimeter Höhe, den ich gewann, war mühevoll. Meine Beine waren so schwach, daß ich alle fünf, sechs Schritte stehenbleiben mußte. Schließlich war ich so müde, daß ich die Gefahr von oben vergaß. Ich kämpfte weiter – ich weiß nicht, warum. Es war dumm, einige Zentimeter mehr gewinnen zu wollen. Doch irgend etwas in meinem Inneren drängte mich weiter. Ver schiedene Gedanken schossen mir durch den Kopf. Bin ich je
zuvor so müde gewesen? Wäre ich weniger müde gewesen, wenn ich mich einen Tag länger in dieser Höhe hätte akklima tisieren können? Wären Bob oder Bill erfolgreicher gewesen? Als ich den letzten Bergkegel endlich erreicht hatte, konnte ich keinen Schritt mehr weiter. Petzoldt befand sich fünfund vierzig Meter über mir und bearbeitete das Gestein, als ich mich, an einen großen Felsen gelehnt, hinsetzte. Ich hatte meine Grenze erreicht. Bald kehrte ich um und torkelte zurück zum äußeren Ende der Schulter, wo wir das Seil gelassen hatten, jenseits der Reichweite von Lawinen. Dort legte ich mich in die Sonne und ruhte aus. Petzoldt war stehengeblie ben und arbeitete in den Felsen. Nachdem ich fünfzehn oder zwanzig Minuten lang ausge ruht hatte, kontrollierte ich meinen Puls. Er lag bei 135, mein normaler Wert auf Meereshöhe war 50. Mir gingen alle mögli chen Einträge für mein kleines Notizbuch durch den Kopf, das ich bei mir trug, aber irgendwie hatte ich nicht die Kraft, sie wirklich aufzuschreiben. In das tiefe Bedauern in meinem Inneren, das Unternehmen zu einem Zeitpunkt beendet zu haben, als der Erfolg zum Greifen nah schien, mischte sich ein Gefühl der Erleichterung, daß der harte Kampf nun endlich ein Ende hatte. Nun konnten wir ins Basislager und nach Hause zurückkehren mit dem Bewußtsein, daß wir unseren Auftrag zwar nicht vollständig, aber dennoch gut erfüllt hatten. Ich versuchte, mich in die Zukunft zu versetzen, um die Erinnerung an diese überwältigenden Augenblicke auf unserem mächtigen Gipfel in mein Gedächtnis gewissermaßen einzuzementieren. Andere Empfindungen saßen zu tief, als daß ich sie in Worte hätte fassen können. Ich hatte das Gefühl, daß mein ganzes bisheriges Leben in diesen letzten Stunden des harten Kampfes gegen die Natur einen Höhepunkt er
reicht hatte. Und doch war die Natur sehr nachsichtig gewe sen. Sie hatte sich kaum Mühe gegeben, uns die ganze Kraft ihrer Elemente entgegenzusetzen. Im Gegenteil: Sie hatte uns ausgezeichnetes Wetter und keine zu harten Bedingungen beschert. Ihr schien es lieber, daß sich unsere armseligen Körper in der dünnen Luft verausgabten. In der Tat: Wie klein waren wir, daß wir uns so verzweifelt zu einem bestimmten Punkt auf der Erdoberfläche hinkämpften, zu einem Punkt, der so viele Monate lang ein reales Ziel für uns gewesen war! Ich glaube, in jenen Minuten auf dem K2 in knapp 8000 Metern Höhe erreichten meine Gefühle eine Tiefe, die sie niemals wieder würden erreichen können. Meine Gedanken wurden von Petzoldts Stimme unterbro chen, der sich nach unten gekämpft hatte und neben mir zusammenbrach. Auch er war sehr müde, wenn auch frischer als ich. Wir waren vom Lager V sehr schnell nach oben gestie gen. Zum Akklimatisieren hatten wir oberhalb dieses Lagers nur drei Nächte, und wir hatten die letzten zwei Wochen fast ununterbrochen unter schwierigen Bedingungen gearbeitet. Nach einer kurzen Pause berichtete mir Petzoldt, daß er genau am Fuß der Gipfelpyramide eine große flache Stelle gefunden habe, die seiner Meinung nach der ideale Platz für ein letztes Lager sei. Soweit er es habe erkennen können, sei das Erstei gen der Felsen oberhalb dieser Ebene nicht so schwierig wie das der Schwarzen Pyramide auf dem Abruzzi-Grat. Er hatte die Felsen eine Weile geprüft, und war wie ich der Überzeu gung, daß von unserem Rastplatz aus ein nicht zu schwieriger Weg direkt auf den Berggipfel führte. Auf etwa 8000 Metern hatte er einen Fotoapparat im Fels fixiert, mit der Spitze seines Eispickels den Auslöser betätigt und ein Selbstporträt geschos sen, dessen Qualität sich später als ausgezeichnet erweisen
sollte. Keine Frage: Unsere Arbeit war getan, und wir brachen um vier Uhr mit gemischten Gefühlen zum Abstieg auf. Die ganze Welt war totenstill. Nicht einmal das Geräusch von Stein schlag unterbrach die Stille. Die Gipfel um uns herum schie nen atemlos unseren Abstieg zu erwarten. In der immer dunk ler werdenden Dämmerung stapften wir hinunter ins Lager VII. Die Berge um uns herum wurden erst rosa, dann blauvio lett, dann purpur. Wir kamen heil, erschöpft und durchfroren, aber merkwürdig zufrieden im Lager an. Unser erster Gedanke war Tee. Mit unendlicher Vorsicht rieben wir eines der Streichhölzer mit Wachs ein, trockneten es so gut wie möglich und rieben es. Es zischte und ging aus. Einem Sicherheitsstreichholz brach der Kopf ab. Paul entzün dete mit prahlerischer Miene unser letztes Streichholz. Es brannte tatsächlich und verhieß uns so ein warmes Abendes sen. Zu müde für lange Gespräche, schmolzen wir Schnee für den nächsten Morgen, krochen in unsere Schlafsäcke und fielen in einen traumlosen Schlaf.
Galen Rowell aus Im Thronsaal der Berggötter Die amerikanischen Expeditionen auf den K2 von 1938 und 1953 setzten einen hohen Maßstab für Kameradschaft. Als die Amerikaner jedoch 1975 auf den Berg zurückkehrten, be hinderten heftige Fehden unter den Teilnehmern den Auf stieg. Im Anschluß an das Unternehmen legte der Fotograf und Bergsteiger Galen Rowell (geboren 1940), basierend auf den Tagebucheinträgen der Expeditionsmitglieder, eine schonungslos offene Dokumentation über die Zwistigkeiten innerhalb der Gruppe vor. Im Thronsaal der Berggötter bildete den Auftakt einer neuen Ära in der Berichterstat tung. Am 16. Juni stieg ich mit Lou, Wick, Rob und Steve zu Lager II auf. Jim und Dianne blieben unten, um am anderen Ende des Windensystems zum Savoia Paß hinauf Dienst zu tun. Die Freds hielten sich mit Leif im Basislager auf, beide ziemlich verstimmt nach einer heftigen Auseinandersetzung mit dem Rest des Teams. Ich konnte ihre Gefühle, die Expedition be treffend, durchaus nachvollziehen. Doch für ihre Drohung, abzubrechen und einfach umzukehren, fehlte mir das Ver ständnis. Vorher hatten gerade diese beiden sich am meisten von uns allen über die Vertragsbrüchigkeit der Träger aufge regt, die die Gruppe im Stich ließen, als es schwierig wurde. Jetzt verhielten sie sich meiner Ansicht nach ganz genauso. Ich fand, wir waren es einander schuldig, es so lange miteinander auszuhalten, daß es möglich war, einen ernsthaften Aufstiegs
versuch zu unternehmen, auch wenn wir keine dicken Freun de mehr waren. Langjährige Anstrengungen und Hoffnungen wären sonst völlig vergeblich gewesen. Die Freds waren überzeugt, daß die Whittakers und Wickwire in Seattle eine geheime Absprache getroffen hätten, die übrigen Teilnehmer auszuschließen und allein auf den Gipfel zu gehen. Ich hielt das für gewaltig übertrieben. Die Allianzen, die von den anderen oftmals als Verschwörungen bezeichnet werden, sind meistens nichts anderes als Ausdruck eines beiderseitigen Egoismus. Wick und Lou erweckten den Ein druck, als hätten sie sich verbündet, weil jeder für sich das gleiche Ziel verfolgte: der erste auf dem Gipfel zu sein. Jim sah in ihnen die Sieger eines hausgemachten Konkurrenzkampfs an. Doch wenn tatsächlich eine Absprache über die Zusam mensetzung des Gipfelteams getroffen worden war, warum hatten Wick und Lou sich dann so schwer ins Zeug gelegt? Wenn es tatsächlich eine Verschwörung gab, warum machten sie sich die Sache nicht leichter und warteten einfach ab, bis Jim die Katze aus dem Sack ließ, sobald wir die unteren Lager aufgeschlagen hatten? Jeder von uns hatte eine etwas abweichende Auffassung von der Rebellion der beiden Freds. Leider führte Fred Dun ham kein Tagebuch. Das Folgende sind die Aufzeichnungen der übrigen Teammitglieder aus dieser Zeit. Lou Whittaker: Große Krise heute! Die beiden Freds laberten uns gestern abend bis Mitternacht voll, und heute sagt Stanley, er habe die Expedition dicke satt. Meint, auf ihn höre sowieso niemand mehr, und Jim und Wick und ich leiteten die Expedition, ohne
den anderen Mitgliedern das geringste Mitspracherecht einzu räumen. Beide waren gestern ziemlich verschnupft, nachdem sie einen Rüffel einstecken mußten, als sie sich darüber lustig machten, daß Wick und ich wegen des Schnees aus Lager II zurück mußten. Jim hatte zu ihnen gesagt, wenn jemand etwas versucht, was alle wollen, wie zum Beispiel auf den Berg zu steigen, sei ein Fehler normalerweise kein Grund zur Freude… Die Freds haben ständig an allem rumgemotzt – dem Land, den Kulis, den HAPs, Manzoor und jetzt an den übrigen Expeditionsmit gliedern. Meiner Ansicht nach haben sie einfach nur Schiß vor dem Berg. Dunham sagte, er wolle morgen tragen helfen, aber Stanley weigert sich vielleicht… Er schmollt wie ein Fünfjähri ger – macht es einem wirklich schwer, ihn zu akzeptieren…. ich glaube nicht, daß ich zu streng mit den Freds war, aber Wick meinte, wir (Jim und ich) neigten dazu, Probleme einfach niederzuwalzen, und könnten dabei ziemlich rücksichtslos werden. Rob Schalter: Vor zwei Tagen hatten wir eine echte Krise mit den beiden Freds, die plötzlich damit herausrückten, daß sie von den Großen Drei ausgegrenzt seien und sich nicht mehr als voll gültige Expeditionsmitglieder fühlten. Stanley glaubt, es bestünde eine Verschwörung, die die Großen Drei auf den Gipfel bringen soll, und wir anderen seien nur die Kulis, die für die Erreichung dieses Ziels herhalten sollen. Er scheint seine Abneigung gegen die Balti auf uns übrige übertragen zu haben… Stanley spricht ernstlich von Umkehr; ich habe stun denlang mit ihm debattiert, aber nichts erreicht.
Dianne Roberts: Ich weiß selbst noch nicht so recht, was ich von der Sache mit den Freds halten soll. Vor ein paar Tagen, nachdem sie mit Lou und Wick in Lager II waren, wurden sie auf einmal völlig unzugänglich. Danach nahmen sie erst Galen und Steve, dann Wick und Jim zu einem Gespräch auf die Seite, um ihnen in einem ziemlich merkwürdigen Stil mitzuteilen, daß es sie total ankotze, wie die Dinge sich hier entwickelten, daß sie sich von den anderen ausgeschlossen und übergangen fühlten, daß ihre Ansichten belächelt würden und noch mehr solchen paranoi den Blödsinn, bis hin zu dem Vorwurf, Jim, Wick und Lou seien an einer (bereits in Seattle) angezettelten Verschwörung beteiligt, mit dem Ziel, ihnen dreien unter Ausnützung der Kräfte des übrigen Teams den Weg auf den Gipfel des K2 zu bahnen. Mann-oh-Mann! Es war für uns alle ein Schock – sowohl der Inhalt ihrer Vorwürfe als auch die Heftigkeit, mit der sie vorgebracht wurden; aber es wirkte auch wie ein Katalysator für all die Gefühle, die schon seit Wochen unter schwellig gären. Wir übrigen (bis auf Leif) saßen in Lager I und diskutierten fast einen ganzen Nachmittag und noch den folgenden Vormittag darüber. Galen legte sich mächtig ins Zeug; er versuchte die Ausbrüche der Freds mit der »autokratischen/diktatorischen« Leitung der ganzen Expedition zu entschuldigen oder doch zumindest zu erklären. Mein Gott – von allen Seiten warfen die Leute sich die unmöglichsten Anschuldigungen an den Kopf. Kaum eine davon klang auch nur halbwegs vernünftig – mit Ausnahme der Feststellung, daß unsere Gruppe in zwei Lager gespalten ist, die von Anfang an nicht miteinander auskamen.
Jim Whittaker: Stanley hat echt den Verstand verloren. Sagt, er wolle die Expedition verlassen – Lou, Wick und ich hätten angeblich in Seattle eine Absprache getroffen, daß wir drei den Gipfel besteigen und er nur den Träger für uns spielen soll. Behaup tet, wir würden einem anderen überhaupt keine Chance geben. Er sagt, ich sei ein Diktator, Wick ignoriere alle anderen außer Lou und mir, und zur Hölle mit uns allen. Manzoor Hussain (in einem nach der Expedition verfaßten Brief): Zwischen den beiden Freds und Lou und Wick kam es zu Streitigkeiten… Im Grunde war das Team schon von Anfang an in vier Parteien gespalten. Fred Dunham und Fred Stanley bildeten die eine (die extreme Linke), Lou Whittaker und Jim Wickwire eine andere (der alle den größten Ehrgeiz, den Gipfel zu besteigen, unterstellten), Steve Marts, Rob Schaller, Galen Rowell und Leif Patterson die dritte (die Gemäßigte)… Jim Whittaker und Dianne Roberts die vierte, die sich aus allem heraushielt. Fred Stanley hatte allerdings einen heftigen Streit mit Jim Whittaker und sah in ihm eher einen Gegner als einen Mitkämpfer. Leif Patterson: Der Fünfzehnte begann mit einem furchtbaren Krach. Dun ham mißfällt der gesamte bisherige Ablauf. Stanley will sogar umkehren. Sie haben durchaus stichhaltige Gründe. Ich habe das ziemlich böse Gefühl, daß die Expedition womöglich auseinanderbricht… Galen hatte letzte Nacht ein langes Ge
spräch mit den beiden Freds. Es war schon fast Morgen, als sie auseinandergingen, ohne eine Lösung gefunden zu haben… Meine Ansicht, die ich im Team auch immer wieder zum Ausdruck bringe, ist, daß wir einander brauchen, daß wir unbedingt ehrlich zueinander sein müssen. Ich erinnere mich noch, an dem Abend, unmittelbar bevor Rob in Lager I eintraf, rief Wick, der schon dort war, über Funk durch. Er gibt Man zoor den Auftrag, ein Telegramm an seine (Wicks) Frau zu schicken, in dem Joanne (Robs Verlobter) unter Androhung gerichtlicher Maßnahmen untersagt wird, irgendwelche per sönlichen Informationen über Rob an die Presse weiter zugeben. Warum wird Rob nicht informiert? Warum geht das Telegramm nicht direkt an Joanne? Wie kommt die Nachricht über irgendwelche Enthüllungen überhaupt nach hier oben? Ganz offensichtlich wird hier eine Intrige hinter dem Rücken der anderen gesponnen, und das schockiert mich zutiefst. Am Morgen des 16. Juni schaltet sich Fred Stanley in den Funkkontakt ein, um mit Jim Whittaker abzurechnen. Er fragt geradeheraus nach dem Telegramm, das jetzt nicht mehr vor Rob geheimgehalten werden kann. Whittaker lehnt jede Dis kussion ab. Fred ist sauer. Immerhin wird das Telegramm storniert – wenigstens ein Gutes. Nach einem Marsch zu Lager I hatten Fred Stanley und ich ein Gespräch… Wir kamen gut miteinander aus. Fred ist sehr stark und gewissenhaft. Warum sind die Leiter unseres Teams bloß so blind für seine Qualitäten? Fred ist schwer enttäuscht. Ihm war es genauso wichtig, einfach nur mit Wick und Dun ham zu klettern, wie auf den Gipfel des K2 zu steigen – und wie hat Wick ihm diese Haltung gedankt?
Andererseits stichelt Fred gern gegen Whittaker. Auch nicht gerade die feine englische Art. Ich habe mir folgenden Plan zurechtgelegt: Wenn Lager III errichtet wird, möchte ich zusammen mit den beiden Freds die Führung übernehmen und Lager IV aufschlagen. Voraussetzung ist allerdings, daß wir es gesundheitlich schaffen. Meine Lungen sind nicht in Ordnung… Es ist überhaupt eine beschissene Expedition. In einem erstklassigen Team von guten Freunden wäre mein Kranksein gar kein Problem. Doch unser Team ist schlecht und wird von inneren Spannungen schier zerrissen. An mir bleibt es immer wieder hängen, alles zusammenzuhalten und zu schlichten, aber in meinem ge genwärtigen Zustand schaffe ich das nicht. Meiner Ansicht nach kann man eine dermaßen katastrophale Vertrauenskrise nicht durch bloßes Reden lösen. Reden ist nur der erste Schritt. Heraufbeschworen wurde die Krise aber zunächst einmal durch ein bestimmtes fortgesetztes Verhalten, und das kann nicht durch Worte ungeschehen gemacht werden, sondern nur durch ein anderes, neues Verhalten. Ich glaube immer noch, daß wir mit Ehrlichkeit und einem gegenseitig wertschätzen den Verhalten, das jedem einzelnen von uns die notwendige Anerkennung für seine Bemühungen signalisiert, der Schwie rigkeiten Herr werden und die Einigkeit in unserem Team wieder herstellen können. Diese Geschichte mit Wick und Lou, die angeblich allein auf den Gipfel wollen, muß aus der Welt geschafft werden. Wick sollte einfach seinen Job als Expediti onsleiter machen, und das bedeutet zuallererst einmal, das Verhältnis zu seinen engsten Freunden in Ordnung zu bringen: zu den beiden Freds und zu Rob. Der Gipfel soll eine Herausforderung für uns alle darstellen, nicht nur für ein paar von uns, die sich zusammengeschlossen haben. Die Fäulnis,
die unser Team befallen hat, ist schon gefährlich weit fortge schritten. Jim Wickwire: Eine neue, schwere Krise hat die Expedition getroffen: Das mögliche Aussteigen der beiden Freds. Die Sache gärt schon eine ganze Weile. Die beiden sind der Ansicht, daß sie zu wenig zu sagen haben, daß ihren Vorschlägen oder Bemer kungen nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird oder sie sogar von vornherein abgeschmettert werden. Fred Dun ham brütet seit dem Funkzwischenfall mit Manzoor am Zehn ten finster vor sich hin. Gestern abend nach dem Essen unter breitete Fred D. Galen und Steve, wie unglücklich er darüber ist, daß »sein Freund Jim Wickwire so abweisend sei« und daß er es satt habe, sich ständig von Jim unterdrücken zu lassen. Später hörte ich die beiden dann mit gedämpfter Stimme bis tief in die Nacht hinein reden. Irgend etwas Schwerwiegendes war da im Gange, was Galens Bericht über seine Unterredung mit Dunham bestätigte. Stanley empfindet offenbar gleich, und es geht das Gerücht, daß die beiden die Expedition ver lassen wollen. Ich kann die Behauptung, das Ganze sei lediglich die Folge unvereinbarer Persönlichkeiten, nicht akzeptieren. Zugegeben, Jim spielt sich manchmal ein bißchen auf; Lou auch, aber ich glaube eher… daß die beiden eingeschüchtert sind vom Berg, von der Zeit und von der Entfernung zu den Menschen, die ihnen wichtig sind. Nach dem Frühstück gingen Jim und ich in ihr Zelt, um noch einmal mit ihnen zu sprechen. Jim redete als erster. Er sagte, sein Hauptziel sei, auf den Berg zu steigen, und alles,
was er getan habe, sei einzig und allein auf dieses Ziel ausge richtet. Um den Gipfel zu erreichen, sei aber jedes Expediti onsmitglied wichtig, und wenn er ihnen dabei auf die Zehen getreten sei, dann tue es ihm leid. Fred S. entgegnete trocken: »Nett gesagt, aber ich glaube kein Wort.« Ich mischte mich ärgerlich ein: »Das ist absolut unfair.« In dem Ton ging es weiter, völlig unbefriedigend; als Jim gegangen war, redete ich noch eine halbe Stunde allein mit ihnen…. schließlich gab ich auf. Kurz bevor ich Lager I verließ, sprach ich noch mal kurz mit Fred Dunham. Er meinte, er würde weiter für die Expedi tion arbeiten, weil er sich den Menschen verpflichtet fühlt, die das Projekt auf seine Bitte hin unterstützt haben. In dem Gespräch mit den beiden Freds gab ich zu, daß ich auf den Gipfel des K2 will, daß ich deswegen hergekommen bin und daß ich, sollte ich es nicht bis oben schaffen, ohne Bedauern auf der Stelle umkehren werde, in dem Bewußtsein, alles getan zu haben, um mein Ziel zu erreichen. Fred Stanley meinte dagegen, daß er sich der Expedition angeschlossen habe, weil Fred und ich mitmachten. Das hört sich schön an, ist aber doch wohl kaum ein ausreichender Grund, den langen Weg nach Pakistan und zum K2 machen… Wir hockten den ganzen Nachmittag im Zelt und diskutier ten alle Für und Wider unseres weiteren Vorgehens. Galen, Jim, Dianne, Lou und Steve. Nichts Endgültiges, höchstens, daß man ihnen anbieten könnte, die Route zum Lager III zu spuren. Für mich kommt das dem Eingeständnis gleich, daß wir im Unrecht sind. Was ich nicht glaube. Jedenfalls nicht in dem Maß, wie die beiden meinen… Rob… verbrachte heute nachmittag fast vier Stunden mit den beiden Freds in ihrem Zelt. Nichts weltbewegend Neues. Ihrer Ansicht nach ist die Expedition in zwei Lager gespalten:
Jim, Lou und ich auf der einen und alle übrigen auf der ande ren Seite. Sie würden es für eine Art poetischer Gerechtigkeit halten, wenn Steve Marts und ein Balti – und nicht einer von uns – auf den Gipfel stiegen. Oder noch besser, und das würde wirklich alles über den Haufen werfen, die beiden Whittakers ohne mich. Und das sollen meine Freunde sein? Der entscheidende Faktor ist jedoch wie bei jeder HimalajaExpedition die Motivation. Wer nicht genügend davon hat, wird die Strapazen nicht durchstehen, die er durchstehen muß, um den Gipfel zu erreichen, zu dem er strebt. Ich gebe zu, daß ich eine ziemlich starke Motivation habe, den K2 zu besteigen. Und ich sehe nicht ein, weshalb ich mich dafür entschuldigen müßte. Für die Whittakers gilt dasselbe. Auch sie sollten sich nicht dafür entschuldigen müssen. Rob und Leif – und auch Galen, glaube ich – haben diese Motivation ebenfalls. Die Freds haben sie nicht. Deshalb weigere ich mich, das Ganze als eine einzige riesige Unterdrückungskampagne gegen die Freds anzusehen. Natürlich hat es persönliche Reibereien gegeben, und die wird es auch immer wieder geben, aber alles nun daran festzumachen, ist absoluter Schwachsinn. Wenn ich ganz ehrlich bin, dann bin ich diese vier Monate in Pakistan, weil ich meinen Traumgipfel schaffen will. Die beiden Freds (vor allem Stanley) wollen aus unterschiedlichen Gründen aussteigen. Lou hat denselben Traum wie ich, und – wenn die Route einigermaßen okay ist und wir bei Kräften bleiben – werden wir miteinander auf den Gipfel steigen. Wenn nicht, dann nicht, ohne daß wir alles Menschenmögliche – bis zum Einsatz unseres Lebens – dafür gewagt haben. (Am nächsten Morgen) Mit Stanley ist es jetzt endgültig
schiefgelaufen. Um 8.00 Uhr früh meldete er sich per Funk und wollte den Grund für das Telegramm an Mary Lou wissen. Rob und Steve waren mit im Zelt und frühstückten. Ich hatte Rob noch gar nichts von dem Telegramm gesagt, vor allem, weil es mir widerstrebte, Steve als Verfasser zu nennen. Stanley ließ nicht locker, deshalb erklärte ich in Robs Gegen wart das Zustandekommen des Telegramms. Rob verstand und nickte. Stanley dagegen warf mir vor, Rob in den Rücken gefallen zu sein. Auf diese Anschuldigung folgte eine der irrationalsten Haßtiraden, die ich je gehört habe, und zwar gegen Jim und mich. Er brüllte, Jim, Lou und ich hätten uns verschworen, auf Kosten der anderen den Gipfel zu bestei gen… Es war davon die Rede gewesen, wer im Team am kräftigsten ist… Lou, Jim und ich – aber das mit dem angebli chen Pakt zwischen uns dreien, der uns auf den Gipfel bringen soll, war blanker Unsinn. Wir hatten einfach nur festgestellt, daß wir eine stärkere Motivation hatten als die anderen, aus genommen vielleicht Leif und Rob… Vor ein paar Minuten sagte Galen, daß die anderen fünf sich beim Aufstieg von Jim, Lou und mir ausgegrenzt gefühlt hätten, als ob wir eine eigene Gruppe bildeten, die von beson derem Gipfelehrgeiz getrieben wurde, und daß wir uns beim Hermarsch nicht besonders kameradschaftlich und umgäng lich gezeigt hätten. Kameradschaftlichkeit ist aber keine Ein bahnstraße, doch er verlangt sie nur von unserer Seite. Für mich persönlich war die ganze Angelegenheit wieder einmal eine Bestätigung für die Unsicherheit der anderen, für ihr ständiges Bedürfnis, bemuttert zu werden. Ich war so glück lich auf dem Anmarsch, einfach nur glücklich, hier in diesem phantastischen Land zu sein. Warum hätte ich mir da Leute als Begleiter aussuchen sollen, die meine Gefühle nicht teilten,
statt solcher, die wie ich empfanden – z. B. Lou? Freundschaft basiert auf Gegenseitigkeit, nicht darauf, daß einer sich zu rücklehnt und darauf wartet, daß sein »Freund« angekrochen kommt und ihn bedient. Fred Stanley: Als ich gestern abend mit Steve zum Lager kam, begrüßten uns die Träger und Manzoor. Sie banden unser Seil los und trugen unsere Ausrüstung in die Zelte. Ein warmes Gefühl der Geborgenheit überkam mich. Ich zog Sweater, Daunenweste und Windjacke an, holte meinen Becher heraus und ging ins Verpflegungszelt… Das Abendessen war fertig. Ich fühlte mich prima. Irgendwann erwähnte ich beiläufig im Gespräch, daß Fred und ich kaum an uns halten konnten, als Wick und Lou gestern nachmittag auf dem Weg zum Lager II bereits nach wenigen Minuten (wegen eines Schneesturms) umkehr ten, und das nach dem ganzen heldenhaften Geschwätz und Getue, das sie darum gemacht hatten. Ich hatte kaum davon angefangen, als Jim auch schon wütend auf mich losging. Er behauptete, wir Freds würden uns immer nur über ihre Fehler freuen…. wir seien nur glücklich, wenn etwas schiefging, zum Beispiel damals, als er es nicht in fünfundvierzig Minuten vom Basislager bis ins Lager I schaffte, wie er geprahlt hatte (ich hatte davon überhaupt nichts gewußt) usw. Ich hielt nun einfach den Mund und beendete langsam mein Abendessen… Ich bin echt auf dem Tiefpunkt angelangt. Meine ganze Be geisterung für die Expedition ist dahin; ich wünschte, ich könnte irgendwie aus der Sache herauskommen, ohne die anderen im Stich zu lassen. Aber in einer so kleinen Gruppe zählt jeder einzelne. Heute morgen ging es darum, daß Wick
und Lou an die Spitze zurückkehren und Rob und Galen ins Lager II geschickt werden sollten, um das Windensystem zu installieren. Als das Gespräch darauf kam, wieweit die beiden ersteren in der Lage sind, die Route festzulegen, ging ich hinaus, um in Ruhe meinen Kakao zu trinken und meine Pfannkuchen zu essen, ohne das ständige Gedröhn der Stim men der Whittakers, die Galen und selbst Fred übertönten… Lou und Jim genieren sich nicht, immer ein bißchen lauter zu schreien, als ihr Gegenüber sich je getrauen würde, so daß man von vornherein weiß, daß es keinen Sinn hat, sich mit ihnen herumzustreiten; oder sie greifen einen persönlich an, indem sie z. B. sagen, daß die Erfahrungen, die man mit den befestigten Routen in Yosemite gesammelt hat, hier völlig nutzlos sind, oder etwas Ähnliches. Jim fragte Fred, ob er etwas dagegen hätte, daß Wick und Lou sich wieder an die Spitze setzten – für mich klang es wie eine Provokation. Mir persönlich ist das scheißegal. Ich habe sogar gehofft, heute morgen krank zu sein, damit ich eine Entschuldigung hätte, liegen zu bleiben – ja vielleicht sogar umzukehren. Wenn ich Alex Bertulis Adresse hätte, würde ich ihm schreiben, was er für ein Glück hatte, das alles hier los zu sein, auch wenn es auf üble Art ablief. Daß Whittaker gegen ihn stimmte, spricht in meinen Augen nur für ihn. Ich weiß zu gut, daß keiner hier außer Wick, Lou und allenfalls noch Jim eine Chance hat, auf den Gipfel zu kommen… Wick markiert den Zaungast, glaube ich; er will es auf keinen Fall mit Jim und Lou verderben, weil er sicher ist, daß Lou als Bruder des Leiters der Expedition und er selbst als zweiter Leiter diejenigen sein werden, die auf den Gipfel steigen… Ich hoffe, daß der Zaun, auf dem er rumhockt, ein Staketenzaun ist, und er einen der Pfähle in den Hintern kriegt…
Jim hat eine ganze Reihe von Telegrammen losgeschickt… des Inhalts, daß wir auf dem Anmarsch betrogen wurden, daß jetzt aber alles prima läuft… Fred kam gerade von einer »Psychotherapie-Sitzung«, wie er es nannte, mit Galen und Steve zurück. Er sagte, sie hätten über einige der Gefühle gesprochen, die wir alle haben. Galen hätte erklärt, seine Strategie sei es ganz einfach, sich an der Gesellschaft der anderen zu freuen und auf den Erfolg der Expedition hinzuarbeiten. Ich sagte zu Fred, genau das finde ich ja so deprimierend. Der Erfolg der Expedition besteht nämlich darin, einen der Whittakers auf den Gipfel zu hie ven… Ich war nie mit einem dermaßen blinden Fanatismus darauf aus, den K2 zu bezwingen, wie etwa Wick. Ich habe aus Freu de an der Sache an dieser Expedition teilgenommen, aber bisher hatte ich verdammt wenig Freude gehabt. Ich weiß noch, wie Jim an dem Morgen, als Lou Fred im Concordia dumm anmachte, meinte, alles würde besser werden, wenn wir erst am Berg seien. Es wurde aber nur schlimmer. Galen hat heute morgen eine Psychoanalyse-Sitzung mit dem Rest der Gruppe anberaumt. Thema sind Fred und ich und er selbst. Ich glaube, er hat auf diese Weise einen Weg gefunden, seine Probleme mit den Whittakers zur Sprache zu bringen – eine gute Katharsis für ihn. Jetzt schalten sich Lou, Wick und die übrigen in das Drama ein und analysieren uns. Ich fange hin und wieder einen Satz auf, aber ich muß unwillkürlich grinsen. Ich habe den Eindruck, daß Galens gute Absichten niedergebrüllt werden. Er möchte, daß wir besser behandelt werden, daß man zur Abwechslung auch mal auf uns hört, unsere Meinung ernst nimmt und uns nicht immer gleich über den Mund fährt. Wick redet sich in Rage. Ich höre was von
angeschlagenen Egos, der Untauglichkeit mancher Leute für Himalaja-Expeditionen, Geflenne im Zelt… Fred kam zurück und sagte, die beiden Jims wollten mit uns reden. Ich habe ihnen schließlich klargemacht, daß es für mich außer der Tatsache, daß ich unzufrieden mit den persönlichen Konstella tionen bin und jederzeit bereit auszusteigen, nichts mehr zu reden gibt. Fred wiederum meinte, er sei bereit zu bleiben und zu tun, was ihm gesagt wird… Jim hielt eine aufmunternde kleine Rede mit abschließendem Appell. Er meinte, er tue einfach nur, was seiner Ansicht im Augenblick nötig ist, und sein einziges Interesse dabei sei, die Expedition auf den Gipfel zu bringen, und wenn ich nicht bereit bin, darüber zu reden, kann er auch nichts machen. Kurzum, er bat uns zu bleiben; sonst sei die Expedition geplatzt. Schließlich ging er. Fred sprach noch mit Wick, der versuchte, seine Position und seine Handlungsweise zu erklären. Er schwafelte was von Sicherheit und unserer angeblichen Sicherheitsbesessenheit, von Technik und technischer Kompetenz… Ich dachte die ganze Zeit, was das eigentlich damit zu tun hat, daß die Whittakers die Leute wie den letzten Dreck behandeln? Eben fiel mir ein, daß wir, als ich noch klein war, immer davon träumten, ein Loch zu graben, so tief, daß wir drüben in China wieder herauskämen. Es war, weil ich gerade ein Loch in den Schnee pinkelte… Am liebsten würde ich reinspringen und in Washington rauskommen. Vorhin kam Rob vorbei und sagte, er versuche, sich aus der Morgenanalyse herauszuhalten. Wir sprachen über die Situa tion. Er sagte, er habe sich das Ganze noch mal genau überlegt – seit Rawalpindi hätten die Großen Drei ihn konsequent übergangen… Er scheint wie Galen zu glauben, daß es besser wird, wenn wir fünf zusammenhalten, daß die Whittakers sich
dann ändern oder ändern werden… Wicks Zurückhaltung ihm gegenüber seit Pakistan hat ihn schwer gekränkt… Ich glaube, Wick hat heute morgen ganz schön sein Fett abbe kommen, und ich will ihm ja auch gar nicht an allem die Schuld geben, aber ich kann die zwei letzten Nächte auch nicht einfach so vergessen. Als ich auf seine Frage, warum ich mich der Expedition angeschlossen hätte, antwortete, »wegen dir und Fred«, meinte er, das sei ein ziemlich armseliger Grund. Für mich war er ausreichend, aber die eine Hälfte hat sich jetzt erledigt. Ich muß auf dem K2 nichts beweisen oder herausfinden. Mir ging es um ein Abenteuer mit Freunden. Um 18.00 Uhr kam ein Funkruf (aus Lager I); wir (Fred, Leif, Manzoor und ich) saßen gerade beim Abendessen. Wick wollte ein Telegramm an Mary Lou (seine Frau) schicken. WIR
HABEN ERFAHREN, DASS
JOANNE (Robs Verlobte) ALS OFFIZIELLE ODER INOFFIZIELLE VERBINDUNG ZUR PRESSE AUFTRITT. DAZU IST SIE NICHT ERMÄCHTIGT. UNSERE VERTRAGLICHEN VERPFLICHTUNGEN DER NATIONAL GEOGRAPHIC SOCIETY UND DEM SIERRA CLUB GEGENÜBER ERFORDERN, DASS WIR ALLE AN DIE PRESSE WEITERGEGEBENEN INFORMATIONEN GEMEINSAM PRÜFEN. WIR KÖNNEN JOANNE NICHT DARAN HINDERN, MIT DER PRESSE ZU REDEN, ABER SORG BITTE DAFÜR, DASS SIE WEISS, DASS SIE GERICHTLICHE SCHRITTE ZU GEWÄRTIGEN HAT, WENN SIE WEITERHIN TAGEBUCHEINTRÄGE IN DER ERSTEN PERSON ODER FOTOS AN DIE PRESSE WEITERGIBT. SONST LÄUFT ALLES GUT. ICH LIEBE UND VERMISSE DICH. Die Androhung gerichtlicher Schritte überraschte uns, besser gesagt, sie verschlug uns die Sprache. Jim kam zu Manzoor
und sagte: »Ja, ich glaube, das sollte abgeschickt werden.« Ich hatte ein paar Minuten vorher aus dem Zelteingang geschaut und (aus der Ferne) gesehen, daß Rob sich auf den letzten Hang von Lager I zu bewegte. Fred ging zum Funkgerät und verlangte Jim. Jim Whittaker kam und fragte: »Welcher Jim?« (Wick oder Whittaker), und Fred sagte, das sei ihm schnurz, er wollte nur die Quelle des Gerüchts herausfinden. Jim sagte, er würde ihm Wick geben; Rob komme grade ins Lager. Wick kam ans Gerät, sagte, ohne Freds Frage zu beantworten, ein paar Worte, unter anderem, daß der nächste Funkkontakt um 8.00 Uhr am nächsten Morgen sei, und beendete einfach das Gespräch. Da saßen wir, völlig platt. Was für eine Gemeinheit Rob gegenüber… Leif sagte, er könne es einfach nicht fassen, daß hier ständig Sachen hinter irgend jemandes Rücken ablau fen. Wir kamen überein, Rob am Morgen von dem Telegramm zu erzählen, und überlegten, ob wir nicht ein zweites hinter herschicken sollten, das Joanne darüber informierte, daß das erste nicht im Namen der gesamten Expedition abgeschickt worden sei. Wir redeten noch weiter; Fred ging schließlich… Leif wies erneut darauf hin, daß wir fünf gemeinsam stark genug seien, die Expedition so zu gestalten, wie wir das woll ten. Mir wurde klar, daß wir die Lager selbständig errichten können, und zwar in der Höhe, die uns richtig scheint, und für so viele Personen, wie wir wollen. Leifs Ansicht nach muß das Gipfelteam von allen Expeditionsmitgliedern bestimmt wer den… In diesem Gespräch gelang es ihm, einiges von seiner phantastischen Kraft auf mich zu übertragen. Jedenfalls genug, daß ich beschloß, noch eine Weile zu bleiben und der Mensch zu sein, der ich in einer Situationen wie dieser gern wäre… Nachdem wir nun mit allen außer den Großen Drei geredet
haben, weiß ich, daß sie in vielem gleich empfinden wie ich und daß es, wenn es je zu Abstimmungen kommt, fünf zu vier stehen wird (gemeinsame Abstimmungen über mich, ange setzt von unserem Gesetzesfanatiker Wick)… Heute morgen wachte ich um sieben Uhr auf. Mein Hirn arbeitete sofort auf Hochtouren – es war einer der Augenblik ke, in denen man alles plötzlich völlig klar vor sich sieht… Jetzt hatte ich alles, was ich gestern morgen gern zu Wick und Jim gesagt hätte, parat. Ich freute mich schon auf den Funk kontakt und sagte den anderen, daß ich das gern übernehmen würde. Gleichzeitig traf ich Vorkehrungen für eine Sache, auf die ich keineswegs besonders stolz bin – ein Gespräch ohne Wissen der anderen mitzuschneiden. Ich brauchte das für mich persönlich…. um es Wick oder den Whittakers vorzule gen, wenn Dinge gesagt werden, die so nicht stimmen. Um acht ist Jim dran. Ich frage nach Wick. Er kommt. Ich frage ihn, ob er bereit ist, die Quelle seines Gerüchts preiszugeben. Er antwortet in seiner vorsichtigen Anwaltsmanier, daß er erst jetzt erfahren habe, daß in Zeitungen in Seattle möglicherweise Tagebucheinträge der Expedition in der ersten Person abge druckt wurden. Er hatte ziemlich herumgedruckst, bevor er damit herausrückte, und meinte anschließend, er wolle erst mit Rob sprechen. Dann sagte er plötzlich, bevor er weiterre de, wolle er wissen, ob ich angesichts der gestrigen Ereignisse überhaupt noch Expeditionsmitglied sei. Ich antwortete, daß ich Expeditionsmitglied bin, bis sie mich rauswerfen so wie Alex. Jim mischte sich in das Gespräch ein, und ich sagte, daß er, Wick und Lou aufhören sollten, uns übrige wie Scheiße zu behandeln, in die sie ihre Steigeisen rammen können, bloß um ein bißchen höher auf den K2 zu kommen. Ich sagte ihnen auch, daß sie sämtliche in Seattle geschmiedeten Pläne, daß sie
als erste auf den Gipfel steigen, vergessen könnten; daraufhin meinte Jim, ich sei wohl gerade dabei, den Verstand zu verlie ren. Schließlich kam Wick wieder ans Funkgerät, um mit Manzoor zu sprechen, und trug ihm auf, das Telegramm zu stornieren. Fred, Leif und ich redeten später noch mal über alles. Wir waren erleichtert, daß Wick wenigstens das Tele gramm zurückgenommen hatte, aber sonst nicht gerade glück lich mit der Situation. Am 21. Juni 1975 war Sonnenwende. Doch im Basislager gab es keinen Sommer. Es gab kein Grün, keine Vögel sangen, keine Insekten summten. Seit drei Tagen hatte es ohne Unter laß geschneit, und das Lager nahm allmählich das Aussehen eines verlassenen Außenpostens in der Arktis an. Mein Leben kam mir genauso leer und öde vor wie die Landschaft. Meine Bronchitis hatte sich zu einer Lungenent zündung ausgewachsen, und ich konnte nichts tun, als die Zeit durchzustehen, bis ich wieder gesund war. Mir wurde bewußt, daß dieser trübe Tag der einundzwanzigste Todestag von Mario Puchoz auf dem K2 war. Offiziell war er an Lun genentzündung gestorben. Das machte mir angst, aber ich versuchte mich an dem Gedanken aufzurichten, daß Puchoz höchstwahrscheinlich an einem Lungenödem gestorben war, das man fälschlicherweise für eine Lungenentzündung gehal ten hatte. Mein einziger Kontakt mit dem Arzt lief über das Funkgerät. Rob, Steve, Wick und Lou warteten das Ende des Sturmes in Lager II ab. Sie konnten wegen der Schneesturmund Lawinengefahr nicht absteigen. Rob verordnete mir Keflex, ein starkes Antibiotikum, und versuchte, meine Moral mit der These zu stärken, daß ich wahrscheinlich bloß die
Grippe hätte. Doch ich wußte nur zu genau, daß meine Sym ptome die gleichen waren wie die von Leif, als der Lungenent zündung hatte. Es hatte mit Bronchitis angefangen, und plötz lich waren Schwäche und Fieber dazugekommen. Ich versuch te, im Sitzen zu schlafen, weil ich im Liegen schlecht atmen konnte. Jede Nacht hielt mich die befremdliche Täuschung wach, daß ich zwei Köpfe auf ein und demselben Körper mit mir herumtrüge. Auf dem Höhepunkt seiner Krankheit hatte Leif eine ähnliche Vision gehabt. Die beiden Freds waren ebenfalls im Basislager. Stanley hatte irgendein Magenleiden, Dunham litt unter schlimmem Husten. Ihr Verhalten glich dem von Hilfsarbeitern, die über zeugt sind, keinerlei Aufstiegschancen im Beruf zu haben. Als sie noch gesund waren, waren sie zwar durchaus willig zu arbeiten, aber nicht zu schwer und nicht zu lange. Wenn es ihnen – wie heute – schlecht ging, nahmen sie einfach Kran kenurlaub. Die in den oberen Lagern ließen ständig durchblicken, daß die Freds ihrer Ansicht nach nur simulierten und durchaus hätten auf den Berg steigen können, wenn sie nur gewollt hätten. Die Freds überhörten diese kaum verhüllten Stichelei en und fühlten sich allenfalls in ihrer Überzeugung bestätigt, daß die Sorge der Großen Vier für ihr Wohlergehen sich einzig und allein auf ihre Tauglichkeit als Lastträger beschränkte. Die Einstellung der dort oben war: Wenn ich Husten oder Magen schmerzen hätte, würde mich das nicht vom Bergsteigen abhalten. Das war durchaus ernst gemeint. Sie hätten sich nicht vom Wetter daran hindern lassen, höher zu gehen. Für die Freds aber waren Gesundheit und Sicherheit sehr viel wichtiger als die Ehre, den Gipfel bezwungen zu haben. Viel leicht hatten die Stimmen ja recht, die behaupteten, daß die
beiden nicht auf den K2 gehörten. Doch das hätte bedeutet, daß nur wir anderen die nötige Motivation hatten, einen Berg zu besteigen, und das konnte ich nicht glauben. Von solchen Erwägungen abgesehen, hatten die Freds zu diesem Zeitpunkt tatsächlich jegliches Interesse am Aufstieg verloren, und so weit wäre es wahrscheinlich nicht gekommen, wenn sie anders behandelt worden wären. Dunham nahm die Expedition nicht mehr ernst und bezeichnete sie als »das hochgelegenste JungsPfadfindertreffen der Geschichte«. Vorige Woche war ich noch der Ansicht der Whittakers und Wickwires gewesen. Ich glaubte, die Freds ließen mit ihrer Drohung umzukehren die Expedition im Stich. Immerhin war ich von den Großen Vier schlechter behandelt worden als alle anderen und trotzdem dabei geblieben. Ich war vorbereitet, Tag für Tag in dieser großen Höhe hart zu arbeiten, um den Weg zu bahnen, ganz gleich für wen. Ich hatte mich darauf eingerichtet, alle Arten von Unbequemlichkeit und Unbehagen zu ertragen. Ich wollte mich damit abfinden, einen Monat oder länger nicht zum Basislager zurückkehren zu können und in Lagern zu schlafen, die ständig kälter und kleiner wurden, damit zu leben, daß meine Atmung von einem autonomen Reflex zu einer ständigen, bewußten Anstrengung wurde, und war bereit, eine Zeitlang auch auf die allergrundlegendsten Annehmlichkeiten der menschlichen Existenz zu verzichten, die noch der ärmste Bettler in den Straßen von Kalkutta als selbstverständlich ansieht. Ich war bereit, mich auf den Berg einzulassen, aber ich war nicht auf das vorbereitet, was mir schon bald zustoßen sollte. Wegen der Krankheit der beiden Freds witterte Lou auf ein mal überall Simulanten, und so wurde ich zum bedauernswer ten Opfer der Umstände.
Noch immer mit meiner Bronchitis kämpfend, war ich am 16. Juni zusammen mit Lou, Wick, Rob und Steve am Savoia Paß angekommen. Es war derselbe Tag, an dem Fred Stanley Jim am Funkgerät zur Rede gestellt hatte. Wir fünf befanden uns auf dem Weg zu Lager II. Der größte Teil unserer Ausrü stung lag auf einem Schlitten unter der Eisfläche, wo Jim und Dianne darauf warteten, daß wir die Winde installierten, die Stanley auf den Paß geschleppt hatte. Eigentlich müßte die Winde auf einer völlig ebenen Fläche montiert werden; sie auf einem abschüssigen Felsen so zu montieren, daß die Basis eben war und der Griff mit beträchtlicher Kraft gekurbelt werden konnte, gestaltete sich äußerst schwierig. Nach einer Stunde Arbeit hatte ich die Winde behelfsmäßig mit Nylon riemen als Halterung installiert. Vor der Dunkelheit konnten wir gerade noch eine einzige Fuhre hinaufziehen. Für uns fünf Personen hatten wir fünf Schlafsäcke und Nahrungsmittel für einige Tage, aber nur zwei Zelte und einen Kocher. Die kleinen Zwei-Mann-Zelte waren aus Gründen der Stabilität im heftigen Wind eng und niedrig. Drinnen waren zwei Leute schon zuviel, und drei waren eingepfercht wie die Ölsardinen. Lou und Wick, die beiden größten und breitesten von uns, nahmen das eine Zelt, Rob, Steve und ich quetschten uns in das andere. Da Lou und Wick den meisten Platz hatten, erboten sie sich, für uns alle zu kochen. Über einem einzigen winzigen Kocher genügend Schnee für fünf Männer zu schmelzen, dauerte Stunden. Um 21.30 Uhr, in tiefster Dun kelheit, brachte Lou uns soviel Wasser, daß wir unser gefrier getrocknetes Abendessen anrühren konnten. Nach dem Essen fragte ich, ob wir noch etwas Schnee zum Trinken und Nach füllen unserer Flaschen schmelzen könnten. Doch der Kocher war bereits aus, und sie wollten ihn nicht noch einmal in Gang
setzen. Ich fand mich damit ab, die Nacht ohne Wasser zu verbringen – was auf Meereshöhe nichts Besonderes gewesen wäre. In dieser Höhe jedoch verliert ein Mensch schon allein beim ganz normalen Atmen viel Flüssigkeit, da die warme, feuchte, ausgeatmete Luft sehr viel mehr Feuchtigkeit enthält als die kalte, trockene, eingeatmete. Um Mitternacht hatte ich noch kein Auge zugetan. Im Mund hatte ich das Gefühl, als müßte ich ein Baumwollknäuel schlucken. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und krabbel te über meine Gefährten weg zum Zelteingang. Ich öffnete ihn und drückte meine Lippen in den weichen Pulverschnee. Es war irgendwie merkwürdig, vom Durst verzehrt zu werden und dabei, wie ein Seemann, von einer Form von Wasser umgeben zu sein, die ich nicht trinken konnte. Bei einer Tem peratur um Null lieferte der leichte Pulverschnee mir lediglich ein paar Teelöffel Feuchtigkeit, bevor mein Mund so kalt wurde, daß der Schnee an meinen Lippen klebenblieb. Ich kroch in meinen Schlafsack zurück und lag weiter wach. Das Wasser war so nah und doch so fern. Wie ein Drogensüchtiger ohne Schuß drehten sich meine Gedanken nur noch um das eine, und ich sehnte die Morgendämmerung herbei, wie ich noch nie etwas herbeigesehnt hatte. Der 17. Juni brach mit einem klaren Morgen an, und nach einer Ewigkeit – wie mir schien – wurde auch der Kocher angezündet, und mein Körper und mein Geist erhielten end lich die ersehnte flüssige Labsal. Aber es war nicht genug. Ich fühlte mich sehr schwach und erklärte den anderen, daß ich nicht mit ihnen zum Lager III aufsteigen konnte. Rob und Steve waren bereit, mit mir zurückzubleiben. Wir wollten versuchen, die Winde wieder aufzustellen und mehr Zelte, Kocher und Nahrungsmittel heraufzuziehen.
Lou und Wick machten sich auf den Weg zum Grat ober halb von Lager II. Als sie sich dem höchsten Punkt näherten, steuerte Wick auf eine fünfundfünfzig Grad steile Schneerinne zu, die auf ein kleines Plateau hinaufführte, von dem aus er den größten Teil der geschwungenen Nordseite des Passes überblicken konnte. Die Schneerampe, die Wick und Lou vom Flugzeug aus entdeckt hatten, war hier nirgends zu sehen. Wenn es keine schmale, verborgene Traverse weiter oben gab, mußte die Route zum Lager III direkt über den Rücken des scharfen Grats selbst führen. Tief enttäuscht kehrten die bei den Männer in Lager II zurück und halfen uns an der Winde. Gegen Abend hatten wir mehrere hundert Kilo neuer Vorräte ins Lager geschafft. Rob sprach über Funk mit Fred Dunham im Basislager, der über starken Husten klagte. Rob verordnete das übliche Empi rin mit Kodein. Was für eine Ironie lag doch darin, daß die Freds ihre Wehwehchen hatten und deprimiert waren, weil sie nicht auf dem Berg sein wollten, während Leif schwerkrank war und trauerte, weil er gern mit uns auf dem Berg gearbeitet hätte. Uns war klar, daß der folgende Tag entscheidend war. Wir mußten eine Route finden, über die Tausende von Kilo Ausrü stung in die höheren Lager geschafft werden konnten. Gleich zeitig war uns bewußt, daß der Grat aus steilen Felsspitzen bestand, die mit instabilem Schnee und Eis bedeckt waren. Ihn überqueren zu müssen glich der Überquerung einer Meile der Skyline von Manhattan, nachdem sie auf einen Fleck in 6096 Metern Höhe versetzt worden war, wo die Hälfte der Zeit Stürme wüteten. Und selbst wenn wir den Grat schafften, lag immer noch eine vertikale Meile bisher unerforschten Gebiets zwischen uns und dem Gipfel.
Am Morgen des 18. quetschte ich mich in das Zelt, in dem das Frühstück zubereitet wurde, und erklärte: »Ich kann heute leider nicht mit euch gehen.« »Was ist es diesmal?« fragte Lou mit einem ungläubigen Unterton. »Ich fühle mich krank. Ich habe Kopfweh und Muskel schmerzen, Schüttelfrost, fühle mich einfach sehr schwach, und meine Augen sind extrem lichtempfindlich.« »Ich habe genau die gleichen Symptome«, entgegnete Lou, »aber ich werde auf diesen Berg steigen. Wenn du es so sehr wolltest wie wir, würdest du nicht wegen jeder Kleinigkeit zurückbleiben. Ich dachte, du machst dich, aber du bist keinen Deut besser als die Freds. Ich glaube, du hast ganz einfach Schiß vor dem Berg.« Lous Rede kam mir beinahe unwirklich vor. Wie in Watte gepackt, fühlte ich mich viel zu krank und träge, um zu strei ten. Ich wiederholte nur, daß ich sehr schwach sei und Fieber habe und nicht mehr weiterkönne. Während die anderen frühstückten und zusammenpackten, rollte ich mich schwei gend in einer Ecke des Zelts zusammen. Irgendwann kehrte ich in unser Zelt zurück und kroch wieder in meinen Schlaf sack. Lou hatte anklingen lassen, daß, wer zurückblieb, Angst vor dem Berg hatte. Das war eine Herausforderung, die ich nicht annehmen konnte. Ich wußte, daß ich zum Basislager zurück mußte, aber ich fühlte mich zu schwach, um es allein zu schaf fen. Die vier anderen packten zusammen, um auf den Grat zu gehen. Bald würde ich allein sein. Rob steckte seinen Kopf ins Zelt, drehte sich um, um sicher zu sein, daß ihn keiner hörte, und sagte zu mir: »Ich glaube,
du hast die richtige Entscheidung getroffen. Wenn du dich heute abend immer noch schlecht fühlst, solltest du umkehren. Wenn nötig, komme ich mit. Heute ist ein idealer Tag, den wir nicht verschenken wollen.« Ich wußte, daß das stimmte. Das Team hatte jetzt seit über einer Woche versucht, den Weg über die Felsspitzen zu schaffen. »Ich werde schon zurechtkommen«, sagte ich. »Ich hoffe, ihr schafft es. Lou irrt sich in mir. Ich wäre heute gern mit euch dort oben, und ich will diesen Berg ersteigen.« »Ich weiß«, sagte Rob, während er rückwärts aus dem Zelt kroch. Hinter ihm hoben sich die anderen gegen den Himmel ab. Sie verließen gerade das Lager auf Schnee, der vor Kälte knirschte. Rob schulterte sein Gepäck und beeilte sich aufzu schließen. Eine Minute später waren sie fort. Im Laufe des Vormittags ging es mir immer schlechter. Ich versuchte, Tagebuch zu schreiben, war aber zu schwach, um mehr als das Datum und die Temperatur zu notieren. Als ich hinausging, um zu urinieren, wurde mir schwindelig, und ich sackte auf die Knie. Gegen Mittag hörte ich Schritte auf das Lager zukommen. Ich linste durch den Zelteingang, sah Lou und wälzte mich wieder auf den Bauch. Meiner Ansicht nach würde Lou mir nicht glauben, daß ich wirklich krank war, deshalb wollte ich auf Rob warten. Er als Arzt konnte die anderen vielleicht überzeugen, daß ich hinuntergebracht werden mußte. Doch die Gestalt, die da gekommen war, war nicht Lou. Es war Jim, der beschlossen hatte, ganz allein eine Ladung von Lager I heraufzuschaffen. Zögernd schilderte ich ihm einige meiner Symptome und erwartete eine weitere Vorlesung über Knei
fen. Statt dessen sagte Jim, noch bevor ich fertig war: »Du solltest runtergehen. Ich helfe dir.« Die Eisfläche schaffte ich aus eigener Kraft, aber als wir die leichteren Hänge erreichten, war ich so schwach, daß ich mich auf zwei Skistöcke stützen mußte und nur ganz langsam einen Fuß vor den anderen setzen konnte. In Lager I ruhte ich mich lange aus, bevor ich mir für die drei Meilen hinunter ins Basislager Skier anschnallte. In der Zwischenzeit befestigten die anderen Seile auf dem Grat. Wick schaffte noch einmal mehrere dreißig Meter steiles, hartes Eis bis zu einem Punkt genau unterhalb der ersten Felsnadel, wo der obere Nordwestgrat in Sicht kam. Der Weg nach oben schien in Ordnung, aber das Gebiet vor Wick auf dem niedrigeren Grat wirkte schwierig. Die vertikale Route war zwar ziemlich hart, doch die horizontale Querung über die erste Felsnadel war noch mühsamer, vor allem für diejeni gen, die mit ihren schweren Lasten versuchten, sich an den Fixseilen vorwärts zu hangeln. Am Abend zog ein Sturm auf, der fünf Tage dauerte. Wegen der akuten Lawinengefahr verließ niemand Lager II. Zum ersten Mal sprach Wick laut von der Möglichkeit, daß unser Versuch, den Berg zu besteigen, fehlschlagen könnte. Dennoch beharrte er unnachgiebig darauf, daß er nicht umkehren werde, bevor die Expedition nicht »alles getan hatte, was in ihrer Macht lag«. Im Basislager stieg mein Fieber drei Tage lang auf über vierzig Grad. Ich mochte gar nicht daran denken, wie diese Tage in dem sturmgeschüttelten winzigen Zelt in 6248 Metern Höhe verlaufen wären. Gut möglich, daß Jim mir das Leben gerettet hatte.
In der Nacht des 20. Juni schrieb ich folgenden Eintrag in mein Tagebuch: Vielleicht einer der größten Schwachpunkte von BergExpeditionen ist, daß sie manchmal einem rücksichtslo sen, ja geradezu militanten Enthusiasmus Vorschub lei sten, der über Freundschaft, Gesundheit, Sicherheit und Vernunft hinweggeht. Angesichts von Stürmen, Lawinen und extremer Höhe müssen sich die Bergsteiger in diesem Zustand eine Zeitlang für unsterblich halten. Viel leicht denken sie nicht bewußt über die Unsterblichkeit nach, doch sie gehen mit ihrem Verstand und ihrem Körper um, als könne der Tod ihnen nichts anhaben. Sie streben nach dem unvergeßlichen Moment, für wenige Augenblicke über allen anderen gestanden zu haben, und um dahin zu gelangen, müssen sie ständig versu chen, sich zu erhöhen und andere zu erniedrigen. So müßte es aber nicht sein. Das Basislager war ein trüber Ort, an dem sich lediglich die Kranken und Entmutigten aufhielten. Nachdem die Freds mit Wick über Funk das Lawinenrisiko erörtert und dabei nur skeptische Aussagen erhalten hatten, sank ihre Stimmung womöglich noch mehr. Lou und Wick glaubten, Stanley habe eine krankhafte Angst vor Lawinen, weil er 1974 im sowjeti schen Pamir Gebirge, wo er an der Expedition von Pete Schoe ning teilnahm, von einer großen Lawine verschüttet worden war. Stanley hingegen hielt seine Vorsicht für vernünftig und keineswegs für neurotisch und behauptete, Lou und Wick seien keinem Vernunftgrund zugänglich. »Ich hätte z.B. La
gerplätze, die die beiden als sicher ausgewählt haben, etwas verlegt, weil ich es aufgrund meiner Erfahrung für sicherer gehalten hätte. Sowohl Lou als auch Wick fanden den Hang am Savoia Paß auch dann noch okay, als der Wind ihn fast weggeblasen hatte. Jetzt sind schon mehrere Lawinen darüber gegangen. Lou meinte, der Hang über dem Paß sei sicher. Später rutschte er ab, und wir verloren die Dinge, die wir dort gelagert hatten.« Leif erinnerte in nichts mehr an den schwachen, sich unter ordnenden Mann, als den wir ihn in den Anfangsstadien der Expedition kennengelernt hatten. Wir alle kannten seine Bergsteiger-Leidenschaft, aber wir hatten auch miterlebt, wie er grobe Beleidigungen schluckte, ohne sich zu verteidigen. Stanley hielt ihn damals für etwas naiv. In meinen Augen war er allzu bescheiden und freundlich. Doch nach all diesen Wochen der Zwietracht und des Zwists entpuppte er sich nun als derjenige mit der größten Charakterstärke. Wenn Demut eine Tugend ist, dann besaß er sie. Immer, wenn es darum ging, Rückgrat zu beweisen, war er es. Er war das einzige Expeditionsmitglied, das von den beiden gegnerischen Lagern voll und ganz akzeptiert wurde. Am 21. Juni besuchte Leif Jim in Lager I, um mit ihm über den »Fanatismus« der Leiter zu sprechen, wie er es bezeichne te. Seine Tagebucheinträge zu diesem Punkt waren zuneh mend emotionaler geworden und gipfelten schließlich in der Frage: »Wollen die denn über Leichen gehen?« Statt seine Gefühle jedoch hinunterzuschlucken, bis er platzte, wie die Freds es taten, brachte er sie so taktvoll wie möglich zum Ausdruck. Jim gab ihm recht, daß hier ein Problem lag und Handlungsbedarf bestand, doch er beurteilte die beiden Män ner, die sich bis hierher jeden einzelnen Schritt Boden auf dem
Grat erkämpft hatten, sehr viel wohlwollender. Jim wurde überhaupt deutlich milder und bewies eine ganz neue Sensibi lität dafür, wie wichtig seine Entscheidungen für die Heilung des Bruchs in unserem Gemeinschaftsgefüge waren. Als Leif zurückkam, unterhielten er und ich uns zwei Abende lang äußerst angenehm über Kunst, Wissenschaft und das Leben im allgemeinen. Ich hatte diese Form des Aus tauschs, wie sie bei anderen Expeditionen, an denen ich teilge nommen hatte, üblich war, bislang schmerzlich vermißt. Als wir jedoch auf die gegenwärtige Expedition zu sprechen kamen, waren wir beide sehr zurückhaltend, aus Angst, zuviel von uns preiszugeben. Wir verbargen unsere wahren Empfin dungen und wogen die Worte des anderen auf einer fein ausbalancierten Skala nach ihrem emotionalen Gehalt. In diesem Punkt waren unsere tiefsten Gefühle allein der Ver schwiegenheit unserer Tagebücher vorbehalten. Eines Abends schrieb Leif zum Beispiel: »Was ist eigentlich aus diesem ganzen Abenteuer geworden? Wo bleibt die Schönheit, wenn ich sie nicht teilen kann? Das Leben ist Liebe, und Liebe heißt teilen. Denn Teilen bedeutet die Entdeckung der universalen Einheit… Mir läßt der Gedanke keine Ruhe, daß nicht der Gipfel des K2, sondern unsere eigene Uneinigkeit uns besiegen wird.« Eine weitere Woche verstrich, ein Tag ging in den anderen über, während ich passiv das Ende meiner Krankheit abwarte te. Der erste Sturm hatte fünf Tage gedauert. Danach unter nahmen Jim, Lou, Wick, Leif und Steve erneut einen Versuch, den Grat zu bezwingen, doch ein weiterer Sturm zwang sie, sich in Lager II zurückzuziehen. Ihr zweiter Versuch war alles andere als ermutigend gewesen. Sie waren spät aufgebrochen, gegen 9.30 Uhr, erklommen sie ihren alten Gipfelpunkt und
hatten danach nicht mehr als ein paar dreißig Meter neues vertikales Terrain gewonnen, als der Wetterumschlag sie erneut zum Abstieg zwang. Wick war den ganzen Tag an der Spitze gewesen und beurteilte den letzten Teil als den bisher schwierigsten der ganzen Expedition. An diesem Abend besprachen Wick, Jim und Lou, welche Möglichkeiten jetzt noch bestanden, den Berg zu bezwingen. In Wicks Tagebucheintrag spiegeln sich die Zweifel, die all mählich auch in ihm aufstiegen: Jim Wickwire: Es war das erste Mal, daß ich Jim offen über einen Fehlschlag reden hörte. So vieles war gegen uns… Ich glaube immer noch, daß wir eine Chance haben, aber dazu muß es ein Ende haben mit dem ewig schlechten Wetter, den Krankheiten und den Routenproblemen so weit unten am Berg. Wenn wir den Gipfel des K2 nicht erreichen sollten, was durchaus möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich ist, sage ich es hiermit noch einmal: Ich möchte diesen Berg ohne Reue verlassen, in dem Wissen, daß ich alles gegeben habe, um auf seinem höchsten Gipfel zu stehen. Doch selbst jetzt noch war die Expedition trotz aller Probleme und Frustrationen eine lohnende Erfah rung: die neue Freundschaft mit Lou (auf Kosten alter Freund schaften); die Herausforderung, auf steilen Hängen, Eis und Schnee in 6400 Metern Höhe zu klettern – das alles war unge heuer befriedigend. Der K2 ist ein Brocken von Berg, und auch nur an seinen Flanken gewesen zu sein ist ein seltenes Privileg.
Rick Ridgeway aus Der letzte Schritt 1978 versuchte die sechste amerikanische Expedition zum K2, von Jim Whittaker angeführt, den Berg auf einer neuen Route zu besteigen. Behindert durch schlechte Witterung, wurden Jim Wickwire und Louis Reichardt gezwungen, über den Abruzzi-Grat zu steigen. Wickwire blieb auf dem Gipfel zurück. Er war am nächsten Morgen noch nicht am obersten Lager erschienen, als Rick Ridgeway (1949 geboren) und John Roskelley das Lager verließen und zu ihrem eigenen Versuch aufbrachen. 7. September. Gipfelpyramide, Schmaler Kamin, circa 8100 Meter, 7.30 Uhr. Ich dachte: Versichere dich, daß es ein fester Griff ist, aus blau gefrorenem Eis. Okay, sieht gut aus. Heb dein Bein an, hoch – es ist schwer, dein Bein anzuheben mit der Lage Unterwäsche aus Angorawolle, den zwei Lagen Vlies darüber, zuletzt der Nylon-Overall. Engt irgendwie ein. So. Jetzt setze deine Steig eisen vorsichtig auf den Stein. Schieb den Eispickel durch den Schulterriemen deines Rucksacks, nimm ihn aus dem Weg. Du brauchst beide Hände für diese nächsten Schritte. Wisch jeden Griff vom Schnee frei, achte auf Kanten im Felsen. Behalte die Balance, bewege dich langsam, jede deiner Bewegungen muß sitzen. Verschwende keine Energie, weil du keine entbehren kannst. Höhe etwa 8100 Meter. Du kannst auf Sauerstoff umsteigen, wenn du erst mal über diesem steilen Abschnitt bist.
John war kaum mehr als einen Meter über mir, als wir be gannen, den schmalen Kamin in Angriff zu nehmen, und ich sah direkt in die Zähne seiner Steigeisen. Nur die vordersten Spitzen lagen auf dem Eis und Gestein auf, so daß die übrigen scharfen Stahlspitzen – zehn unter jedem Stiefel – über mir wie ein Damoklesschwert schwebten. Ich war also nicht gerade erpicht darauf, daß John ausrutschte. Ich wartete, bis er den steilen Engpaß hinter sich gelassen hatte; als er die schwierige Stelle passiert hatte, war ich dran. Ich fand zwei gute Griffe, und während ich mit den Armen die Balance hielt, preßte ich meinen Körper mit meinem Bein hoch, suchte mit den Händen nach höheren Griffen und hob den anderen Fuß an. Zwischen meinen Beinen sah ich den Kamin steil auf den Abruzzi-Grat zum Lager VI abfallen und weitere 3000 Meter darunter auf den Godwin-AustenGletscher. Vergiß nicht, sagte ich zu mir, du darfst dir keinen Fehler erlauben. Du hast kein Seil. Der Wind wehte weiterhin böig und hob Schneedrift in Wirbeln an – kleine Schneeteufel, in denen die Morgensonne glitzerte. Aber der Wind schien sich abzuschwächen, und der Himmel, wolkenlos und heiter, versprach kristallklare Sicht und ließ einen herrlichen Gipfel tag erahnen – wenn nur Wickwire in guter Verfassung sein würde. Es war gegen halb acht. Ich fragte mich: Wo werden wir Wickwire finden? Hat er es vor dem Biwak bis hier unten geschafft, oder war er noch weiter oben? Was, wenn er letzte Nacht den Abstieg versucht hat? Die Nacht war rabenschwarz gewesen. Dieser Abschnitt ist sehr steil, er wäre allein gewe sen, sehr müde; er hätte abgestürzt sein können. Wir würden
nie erfahren, was mit ihm passiert ist. Finstere Gedanken, verschwommene Szenarien, zusam menhangslose Bilder, Träume aus dem Drogenrausch schwin delerregender Höhen. Ich dachte: Ich empfinde nichts. Wick könnte tot sein, er könnte über uns erfroren sein, er könnte einige tausend Meter unter mir liegen, zerschlagen auf dem Gletscher, dennoch empfinde ich nichts. Letzte Nacht war da noch Beunruhigung, da war das Gefühl möglichen Unglücks, möglichen Verlusts, das Gefühl von Leere. Nun fühle ich nichts. Ich realisiere lediglich, daß Wick in Schwierigkeiten sein könnte. Darüber hinaus keine Gefühle, keine weiteren Gedanken; nur, wie der nächste Schritt diesen steilen Kamin hoch zu bewältigen ist. Ich muß gleichmäßig atmen, meine Atmung mit meiner Fußarbeit abstimmen. Das spart Energie. Ich muß mit Präzisi on vorgehen. Es liegt immerhin eine gewisse Ästhetik in dem, was ich mache. Trotz der extremen Höhe, trotz des Gewichts dieser Sauerstoffflasche, kann ich immer noch koordinieren, kann ich mich immer noch mit Eleganz und Effizienz bewe gen. Ich kann immer noch tanzen. Nur noch zwei weitere Schritte, dann werde ich aus dem Kamin raus sein. Stemm das Bein hoch, setz das Steigeisen vorsichtig, teste die Griffe, belaste deine Beine, stemm dich hoch. Immer hoch, noch einen Schritt höher, noch einen Schritt dem Gipfel entgegen. Ich bin über der Schlucht. Wohin jetzt? Es kommt wohl noch eine Traverse, am Eisfelsen über mir entlang, die zu der Schneeschlucht und schließlich zum Schneefeld am Gipfel führt. Wie weit ist John? Sieh hoch, ich mußte ihn jetzt sehen – er mußte gleich hinter der Biegung sein. Da ist er, aber halt! Ich starre wie gebannt auf das Bild
vor mir; ich bin nicht gefaßt auf das, was ich sehe: tanzende Wirbel aus Schneedrift. Regenbogenrotes, blaues und violettes Aufblitzen – Brechungen aus einer Million Kristallfacetten und das unermeßliche Indigoblau eines reinen Himmels. Strahlen des Weiß. Eisfelsen glänzen voll feuchter, sinnlicher Glätte. Extreme Höhe und Schwindelgefühl. Ein Gefühl der Zeitlosig keit: kein Anfang, kein Ende. Zwei Gestalten – eine erstarrte Szenerie. Die eine, unter der anderen, in Blau und sich langsam vorwärtsbewegend – John. Die zweite, darüber stehend, scheinbar bewegungslos, die Beine leicht auseinander, die Arme unten, die Gestalt einer Vogelscheuche und doch auch die eines Gottes, immer noch bewegungslos – erfroren? Jim Wickwire. Ich sah, wie John die letzten paar Meter zu Wick aufstieg, der ohne Bewegung in seiner Vogelscheuchenstellung verharr te. Lebte Wick? Bewegungslos stand er da, uns anstarrend. Dann hob er seinen Arm – ein Gruß. Er lebte; er hatte überlebt. Ich konnte sehen, wie sie miteinander redeten. Ich schaute auf den Schnee und das Eis zu meinen Füßen, um mich auf den Aufstieg zu konzentrieren, bis ich mit dem flacheren Vorsprung, auf dem John und Wick sich ausruhten, auf gleicher Höhe war. Als ich mich näherte, konnte ich ihre Unterhaltung hören. »Ich war an einer kleinen, flachen Stelle ein wenig unter dem Gipfel. Ziemlich kalt.« »Frostbeulen?« »Glaube ja. Schwer zu sagen.« »Schaffst du den Rest des Weges alleine runter?« »Ja. Ich bin ganz okay. Ich hab den schweren Teil hinter mir – die Traverse hier rüber zur Schlucht.«
Wick deutete mit seinem Eispickel in die Richtung. Er sah natürlich ausgezehrt aus, Eis in seinem Bart, die Augen tief in den Höhlen und müde, aber dennoch mit einem gewissen Glanz, einer Entschlossenheit. Es schien uns, als hätte er sich keinen nennenswerten Schaden zugezogen, aber es war uns, wie auch Wick selbst, unmöglich, zu diesem Zeitpunkt den Umfang seiner Verletzungen zu erkennen. Wir redeten und scherzten weiter und nahmen dabei eine Tortur auf die leichte Schulter, an der John und ich – die Empfindungen betäubt durch die Narkose von 8100 Metern – in keiner Weise teilha ben konnten. »Viel Glück, ihr beiden. Ich treffe euch unten im Lager VI.« »Sei vorsichtig, Wick. Du mußt immerhin noch den Kamin runter. Mach langsam.« »Keine Sorge, ich schaff das schon.« Wick kletterte an uns vorbei, und John klopfte ihm liebevoll auf die Kapuze. Eine simple Geste, und weder John noch ich konnten auch nur ahnen, daß sie Wick den Tränen nahe brach te. Es war der erste menschliche Kontakt seit vierzehn Stunden – vierzehn Stunden, von denen er jede Minute gezählt hatte. Es war eine kleine Geste der Zuneigung von Mensch zu Mensch, an die Wick sich sein ganzes Leben lang erinnern würde. Wick stieg langsam hoch bis zur Spitze der Schlucht, drehte nach innen und begann dann seinen Abstieg. Ich beobachtete ihn und dachte: Nicht jetzt, Wick – nicht, nachdem du all das mitgemacht hast. Nicht nach dem Sieg. Sei vorsichtig, mach langsam, mach keine Fehler. Wicks Bewegungen waren mechanisch und steif, wie die
des Blechmannes von Oz1 ohne Öl. Ohne Seil gab es keine Möglichkeit für uns, ihm zu helfen. Wir konnten ihm lediglich die Daumen drücken. John rief ihm nach: »Wick, erinnere mich daran, dich in meiner Kletterschule einzuschreiben, wenn wir zurück sind. Du könntest ein bißchen Nachhilfe gebrauchen.« Wick sah auf, und mit geschlossenem Mund lächelte er die ses offene Lächeln, durch das er Selbstvertrauen signalisierte. Ich wußte, daß er es schaffen konnte, und John und ich nahmen unsere nächste Station in Angriff – den Gipfel. »Laß uns ab hier auf Sauerstoff umsteigen«, sagte ich. Wir sahen unser nächstes Hindernis – eine steile Traverse aus Fels und Eis –, und es war sicher gut, sie mit Hilfe von Sauerstoff zu überqueren. Wir setzten unsere Rucksäcke ab, sie vorsichtig auf der Schräge balancierend. John nahm seine Flasche heraus und grub sie in den Schnee, dann legte er Regler und Maske daneben. Und schulterte er seinen Ruck sack. »Was machst du da?« »Den Sauerstoff hier lassen. Ich gehe ohne.« Ich hielt inne, schaute auf meinen eigenen neun Kilo schwe ren Apparat und ließ mir die Sache durch den Kopf gehen. »Ich schleppe das Ding bestimmt nicht bis an die Spitze«, sagte er und zeigte auf seine Flasche. »Ich weiß, daß ich es auch ohne bis oben schaffen kann.« Ich vermutete, daß John für sich recht hatte; er könnte es bis Blechfigur aus dem »Zauberer von Oz« von Lyman Frank Baum. Für den deutschen Leser verständlicher als R2D2 (Star Wars). (Anm. d. Übers.) 1
oben schaffen, aber ich war mir meiner nicht so sicher. Klar, auch Lou hatte es ohne Sauerstoff geschafft, aber ich hielt sowohl ihn wie auch John für stärker als mich. Ich wollte es nicht riskieren, so nah dran zu sein und aufgrund einer schnel len Entscheidung, meinen Sauerstoff zurückzulassen, zu scheitern – zumal ich ihn schon den ganzen Weg getragen hatte. Die Flasche bei 8100 Metern Höhe in den Schnee einge graben zurückzulassen, mit einem unverbrauchten, reinen Sauerstoffvorrat von 3900 psi2 schien mir absurd. »Ich nehme meinen.« » Okay.« John wartete, während ich den Regler abnahm – behutsam in Plastik verpackt, um ihn gegen die Feuchtigkeit zu schützen –, ihn dann an die Flasche schraubte und das Ventil öffnete. Voller Druck – keine Lecks. Als nächstes zog ich eine Kappe auf, an die Riemen der fliegerähnlichen Maske paßten. Ich mußte den Rucksack schultern, mit der Flasche darin, dann den tragbaren Ventilregler an einer Kordel sichern, die ich zuvor an meinen Parka genäht hatte. Während ich Stürme in den unteren Lagers abwarten mußte, hatte ich mehrmals geübt, die Riemen und Druckknöpfe anzubringen, den Regler mit Seifenlauge auf Lecks zu überprüfen, um sicherzugehen, daß ich, sobald ich auf Sauerstoff umstellen würde, ein funkti onsfähiges Gerät hatte. Aber trotz alledem war etwas nicht in Ordnung. Meine Maske schloß nicht genau mit meinem Gesicht ab. Ihre Riemen schienen in falschem Winkel zu den Druckknöpfen an meiner Kappe zu führen, und mit einer undichten Maske würde ich psi steht für pounds per Square inch (Pfund pro Quadratzoll), und 3900 psi entsprechen 4450 Kilo pro Quadratzentimeter. (Anm. d. Übers.) 2
kostbaren Sauerstoff verschwenden. John sah mit wachsender Ungeduld zu, wie ich die Kappe abnahm und erneut aufsetzte. Wieder saß sie schief. Ich nahm die Kappe noch einmal ab. John verlor die Geduld. »Ich gehe. Ich sehe dich oben.« »Ich komme nach, sobald ich dieses Ding hingebogen krie ge.« John machte sich auf den Weg zur Traverse, was ihm ohne das Gewicht seines Sauerstoffs offensichtlich leichter fiel. Er bewegte sich quer über den von Felsen durchbrochenen Schnee, die Beine kreuzend und seine Steigeisen mit profes sioneller Präzision auf den Stein setzend; Bewegungen, auto matisiert durch die Wiederholung vieler Jahre. Er hielt seinen Eispickel mit einer Hand am Schaft und mit der anderen an der Dechsel und schlug ihn in das Eis zwischen dem Fels. Er erinnerte mich an die alten Sepia-Photographien von Armand Charlet, dem großen französischen Alpinisten, berühmt für seine ballettartige Präzision beim Bergsteigen im Eis. Unter Johns Füßen polterten Eis und Gestein runter, verschwanden im Nichts, und alles, was ich sehen konnte, waren die Zebra streifen des Gletschers gut drei Kilometer darunter. John bewegte sich in perfekter Balance, ein Umstand, der durch das Fehlen eines Seils noch bemerkenswerter war. Nicht schlecht, dachte ich, für über 8100 Meter. Ich bemühte mich weiter um meinen Sauerstoffapparat. John verschwand hinter einem Vorsprung, und meine Frustra tion stieg. Wieder nahm ich Kappe und Maske ab und unter suchte sie. Über Ösen an der Maske veränderte ich die Füh rung der Riemen und setzte die Kappe etwas versetzt auf. Es war noch schlimmer, die Maske fiel mir vom Gesicht. Ich
probierte, die Riemen anders zu schnüren, aber auch das schlug fehl. Meine Finger froren. Je mehr ich dieses Rätsel untersuchte, desto mehr verwirrte es mich. Ich dachte: Verdammt, das ist doch idiotisch. Ich hatte die ses Ding vor Tagen anprobiert. Alles war in Ordnung. Schau es dir jetzt genau an, Ridgeway; denk nach. Stell dir vor, wie hoch mein IQ jetzt wohl wäre. Sogar ein Schimpanse könnte das besser. John ist wahrscheinlich auf seinem Weg zum Schneefeld am Gipfel schon zur Hälfte die Schneeschlucht hoch. Wie lange habe ich an diesem Apparat rumgefummelt? Fünf Minuten? Zwanzig Minuten? Ich komm mir vor wie unter Drogen. Kann nicht richtig denken. Hab noch nicht mal eine Ahnung, wieviel Zeit vergangen ist. Zu blöde, daß meine Uhr kaputtgehen mußte. Laß nicht die Gedanken schweifen; konzentrier dich auf dieses Problem. Gut. Es ist ganz einfach: Es funktionierte vorher, als ich es im Zelt ausprobierte, also muß es jetzt doch auch funktionieren. Versuch, den Riemen durch die andere Öse zu legen, um das Nasenstück der Maske herum, dann wieder durch die untere Öse. Das scheint auch nicht zu gehen. John muß jetzt schon zur Hälfte oben sein. Wenn ich mich nicht beeile, schaffe ich es nie. Er klettert sowieso schneller als ich. Vielleicht bleibe ich noch den ganzen Tag hier, an dieser Maske herumfummelnd, während John zum Gipfel aufsteigt. Der Schimpanse meldet sich zurück. Erinnere mich an ein Bild, das ich mal gesehen habe, von einem sitzenden Schimpansen, der eine Brille trägt und ver blüfft auf ein Buch starrt. Gleicher Gedanke, nur diesmal bin ich es, Rick Ridgeway, der wie ein Affe dasitzt und verblüfft auf seine Sauerstoffmaske starrt. Okay, laß jetzt nicht die Gedanken schweifen; konzentrier dich auf diese Maske. Mal sehen, was habe ich sonst für Möglichkeiten?
Den K2 ohne Sauerstoff besteigen? Kann ich es schaffen? Ich hatte mich bis zu diesem Punkt auch ohne Sauerstoff ganz gut durchgeschlagen und das Gewicht der Flasche dabei nutzlos mit mir rumgeschleppt. Ohne diese Behinderung würde es doch einfacher sein. Aber es waren noch gut drei hundert Meter zu steigen. Wie wird es bei 8400 sein? Kann ich es schaffen? Ich bedachte die Gefahr eines Lungenödems. Wenn das passierte, gäbe es keine Hoffnung. Meine Lungen würden mit Blut vollaufen, und ich würde sterben. Ich mußte bald einen Entschluß fassen. Ich verlor schnell an Körpertemperatur, begann zu zittern. Ich mußte mich bewe gen, um Wärme zurückzugewinnen. Der Wind schwächte weiter ab, aber sogar die direkte Sonne wärmte nicht. Ich schaute noch einmal auf meinen Regler; die Wahrscheinlich keit, die Riemen korrekt anzubringen, schien gering. Was ist mit Hirnschäden? Ich wußte, daß da ein Risiko lag; es war eine reale Befürchtung. Gehirnzellen ersetzen sich nicht von selbst; zerebrale Schäden durch Hypoxie sind medizini sche Realität. Dann noch ein abwegiger Gedanke: Wenn ich überhaupt jemals ein Gehirn besessen hätte, dann wäre ich jetzt nicht hier oben, auf über 8100 Metern auf dem K2 und würde mich langsam zu Tode frieren. Was habe ich also schon zu verlieren? Ich lächelte bei dem Gedanken. Ich merkte, daß mir immer ungemütlicher wurde. Mir war sehr, sehr kalt. Ich legte Maske und Regler in den Schnee, nahm die Flasche aus dem Rucksack. Während ich meinen nun fast leeren Ruck sack schulterte, griff ich meinen Eispickel und marschierte los
auf die Traverse. Ich würde ohne Sauerstoff steigen, und ich würde jedes Quentchen Energie, das ich noch in meinem Körper hatte, darauf verwenden, den Gipfel zu erreichen. Ich dachte: Ich kann es vielleicht gerade schaffen. 7. September. Gipfelpyramide, Schmaler Kamin, circa 8400 Meter, 14.30 Uhr. Nur noch schlimmstenfalls sechzig Meter, obwohl ich nicht sicher bin, daß ich meinen Fuß auch heben kann, und dann wieder und den nächsten, bis ich oben bin. Aber ich darf nicht aufgeben. Nicht, nachdem ich es so weit geschafft habe, so nah dran bin. Also hoch mit Stiefel und Steigeisen. So, das ist besser, atme jetzt ein paarmal durch und denke nur an diesen einen näch sten Schritt. Das wird bald vorbei sein, und je eher ich den Fuß hebe, desto schneller wird es vorbei sein. Denke immer wie der: Ich bin schon so weit gekommen, ich muß es schaffen. Ich kann den nächsten Schritt nicht machen. Ich kann nicht noch höher. Muß mich ausruhen, muß mich ausruhen, muß mich ausruhen. Nein. Ich kann nicht. John ist vor mir. Schau zu ihm auf. Siehst du, er bewegt sich, und er bewegt sich schneller als ich. Er hat den Hauptteil unseres Weges gespurt. Ich kann ihm nicht die ganze Arbeit überlassen. Ich muß meinen Teil dazu beitragen. Ich hebe also meinen Fuß und hol ihn ein und helfe dabei, den Weg zu spuren. So. Das ist besser. Nun mach dir über den nächsten Schritt Gedanken. Wann wird es vorbei sein?
John hält an, um auszuruhen. Er kauert, auf seinen Eispik kel gestützt, Kopf nach unten, dem Abhang zugewandt. Ich muß ihn einholen. Wenn ich noch zehn Schritte mache, kann ich ihn erreichen und mich dann ausruhen, aber nicht vorher. Das ist es: Zehn Schritte, dann ausruhen. Gut, jetzt hoch mit dem Fuß, atme, atme, atme, und noch ein Schritt. Hilft nicht, schaffe es nicht. Muß eine Minute anhalten; wieder schwinde lig. John erholt sich noch. Nur vier oder fünf Schritte, und ich kann mich auch ausruhen. Heb einen Fuß. Jetzt nur noch drei Schritte, jetzt noch einen Schritt, und ich kann mich ausruhen. Vorsichtig, brich nicht zusammen, rutsch nicht den Abhang hinunter. Ruh mich auf meiner Axt aus. »Bist du okay?« »Langsam. Schwer zu atmen. Erzwinge jeden Schritt. Sorry, daß ich nicht mehr Weg spure.« »Kannst du ein bißchen führen?« »Ich versuch’s. Muß erst mal ausruhen.« »Wir sind nah – vielleicht fünfundvierzig Meter.« »Wenn das der Gipfel ist. Wenn nicht, wenn er weiter hinter dem Kamm liegt, weiß nicht, ob ich’s schaffe…« »Keine Sorge, wir haben’s gleich.« John hat recht. Wir haben’s gleich, vergiß das nicht. Wir sind zu nah, um es nicht zu schaffen. Ich muß hoch; ich muß weiter. Das wird bald vorbei sein. Nie wieder um drei Uhr morgens aufstehen, nie wieder bei Aufbrüchen vor Sonnenaufgang frieren. Ich kann in einem heißen Bad sitzen, das Wasser auf meiner Haut fühlen. Nie wieder werde ich in meinem Leben ein Bad nehmen, ohne an diesen Moment zu denken, in dem ich mich nach heißem
Wasser sehnte, also los, und dann geht’s bald ab in die Wanne. Hebe einen Fuß. Setze meine Steigeisen vorsichtig. Diese Oberfläche ist un eben, kleine sichelförmige Muster im Eis, und meine Knöchel schmerzen vom dauernden Verdrehen der Füße längs des Abhangs. Hebe einen Fuß. Geräusche und Stimmen. Als ob viele Leute um mich herum wären, wie in einem vollen Zug, in dem alle reden. Echos, Geräusche, Stimmen. Ein Getöse aus Millionen von Stimmen. Aber das ist verrückt. Hier ist niemand. Hebe einen Fuß. Die Finger sind so steif. Diesmal sind sie bestimmt erfroren. So seltsam, als seien sie aus einem anderen Material gemacht. So müssen sich künstliche Gliedmaßen anfühlen. Hauptsäch lich meine rechte Hand, weil das die Hand ist, in der ich den Eispickel gehalten habe. Ich sollte die rechte schonen. Aber dann würde meine linke erfrieren, und da meine rechte schon erfroren ist, warum sollte ich meine linke auch noch erfrieren lassen? Macht das Sinn? Glaub schon, also behalte ich den Eispickel in meiner rechten Hand. Hebe einen Fuß. Schau dir die Steilwand an, geformt wie ein Krumm schwert, ein sich nach oben wölbendes, strahlendes Weiß gegen den purpurnen Himmel. Die linke Seite der Gipfelwand fällt scharf ab, und ich kann einen steilen Kamm aus Gestein ausmachen, der weiter oben auf die Gipfelwand trifft. Ist das das Ende von Boningtons Route? Es wäre zu schwer, dort entlang zu steigen, so wie ich mich gerade fühle. Kann das überhaupt jemand schaffen? Vielleicht eine kommende Gene
ration von Bergsteigern? Armer Nick Estcourt, irgendwo da unten im Eis begraben. Hebe einen Fuß. Wie schön wäre es, an einem sonnenverwöhnten Strand zu sitzen. Ein tropischer Strand mit weißem Sand und Palmen. Nicht schwer, sich das vorzustellen; schau, da vorne kann ich sogar eine Palme aus dem Schnee wachsen sehen. Hebe einen Fuß. John ist knapp hinter mir. Ich habe nun einige Zeit geführt, aber ich habe nur – wieviel? – sechs Meter gemacht. Es kommt mir jedoch so weit vor. Da ist ein etwas versetzter Vorsprung in der Eisoberfläche – ein willkommener Orientierungspunkt – circa weitere sechs Meter vor mir. Konzentrier mich auf ihn. Steig weiter, bis ich da bin. Denk an nichts anderes. Hebe einen Fuß. Atme, atme, atme, schnappe nach Luft, trotzdem kriege ich nicht genug. Hebe einen Fuß, noch mal, noch mal, hör nicht auf bis zum Orientierungspunkt. Er ist nah. Steig weiter. Mir wird schwindelig, der Kopf dröhnt, Geräusche – die Stimmen, die Stimmen. Geh weiter, erzwinge es, von woher auch immer, zwinge mich, noch einen Schritt zu tun, den Fuß zu heben, der Orientierungspunkt ist so nahe, noch einen Schritt. Ich habe es geschafft. Atme, atme, atme. Wieder ist mir schwindlig, drehe mich, kann nicht genug Luft kriegen. Kann nicht schnell genug atmen. Keine Panik, behalt die Kontrolle, atme schnell. Fühle mich, als ob ich ertrinke, werden meine Lungen explodieren?
Keine Panik. Stütze mich auf meinen Eispickel. Atme schnell. Da, das Schwindelgefühl verschwindet, aber die Stimmen, die Stimmen. »Alles klar? « »Muß ausruhen. Bin zu schnell gegangen. Halluziniere.« »Ich übernehme die Führung.« Ruhe mich aus, während John steigt. Er ist stärker als ich. Wie schafft er das? Er trat die meisten Stufen in die Eiskruste. Ich kann meinen Teil nicht schaffen. Nicht genug Kraft. Aber wir sind nah dran. Vielleicht fünfzehn Meter zum Gipfel kamm. Bete, daß der Gipfel gleich dahinter ist. Wenn er noch weiter dahinter liegt… Hoch mit dir, John hinterher. Es ist so viel leichter, seinen Schritten zu folgen. Zuweilen ist das Eis hart, und es macht keinen Unterschied, wer führt, aber manchmal bricht die Kruste ein, und dann leistet John Schwerstarbeit. Hebe einen Fuß. Nicht so schlecht, die ersten paar Schritte nach dem Ausru hen. Aber mein Körper schreit nach Sauerstoff. Jeder Schritt wird nun wieder schwerer, muß tiefer atmen. Immer schwe rer, aber ich kann jetzt nicht ausruhen. Jetzt nicht. Hebe einen Fuß. So nah. Bald wird es vorbei sein. John ist vielleicht vierein halb Meter vor mir, jetzt vielleicht sechs. Er bewegt sich schneller. Er ist fast am Gipfelkamm. Sein Kopf ist auf gleicher Höhe mit dem Kamm, jetzt ist er auf ihm. Was sieht er? Wie weit ist der Gipfel? Er sagt nichts. Liegt er weiter dahinter? Haben wir noch Weg vor uns? Wie kann ich das nur schaffen?
Hebe einen Fuß. Hole auf, John. Er ruht sich auf dem Kamm aus. Nah dran jetzt, nur noch wenige Meter. Er sagt nichts; und ich kann nichts sagen, weil ich schnell atmen muß. Halt. Er ist drei Meter entfernt. Schau ihn an. Er schaut zu mir herunter. Atme ein paarmal durch, damit ich reden kann. »Kannst du sehen? Wie weit? Wie weit bis nach oben?« John schaut mich an. Jetzt lächelt er. Gute Nachrichten? »Fünfzig Meter. Ein Spaziergang von fünfzig Metern leichte Steigung, und wir sind auf dem Gipfel.« 7. September. Der Gipfel des K2, 8611 Meter, 15.30 Uhr. Kein Wind. Keine Wolken. Azurblauer Himmel, gleißende Sonne, und unmittelbar dringt ein Gefühl der Wärme durch den dicken Parka, und auch eine seltsame Kälte. Nichts Reales, ein Traumgefühl. Unter mir eine Welt, die in alle Richtungen abfällt. Schneekappen zu zahlreich, als daß man sie erkennen könnte, und Gletscher erstrecken sich bis zum fernen Hori zont. Stille, aber ein inneres Geräusch, ein Klingeln im Ohr. Ein Gedanke: Als alter Mann werde ich mir oft diesen Moment ins Gedächtnis rufen; ich muß versuchen, mich an ihn zu erinnern. So was ist wohl wichtig. Aber viel an Gefühl kann ich nicht aufbringen. Die einzige Empfindung ist totale Er schöpfung. Wir waren auf dem Gipfel. Wir hatten die letzten Schritte zusammen gemacht, Arm in Arm. Ab dem Gipfelkamm war es ein leichter Weg bis zum höchsten Punkt, aber kurz davor hielt John inne.
»Es könnte eine Wächte sein. Gipfel sind das meist. Ich gehe da nicht hoch.« Er sprach mit großer Entschlossenheit. Keiner von uns schien sich daran zu erinnern, daß Lou und Wick gestern hier oben waren und nichts von einer Wächte gesagt hatten. Aber wir waren jenseits von möglicher Erinnerung, von rationalem Denken, gingen rein instinktiv vor. Ich dachte: Es mag eine Wächte sein, aber wir sind nicht zu weit gekommen, um die absolute Spitze nicht zu erreichen. Ich bot an, bis zum höchsten Punkt zu robben. John stand hinter mir und hielt mich bei den Knöcheln. Ich glitt vorsichtig zum Rand und schaute hinüber. Unter mir war fester Schnee, und die Südseite fiel so steil hinab, um die 3600 Meter, daß ich ein solches Glücksgefühl verspürte, als würde ich fliegen. John kroch hinter mir hoch, und zusammen saßen wir auf der Spitze, einander in den Armen, zu erschöpft, um zu sprechen. Ich sagte einige Male zu mir: Erinnere dich an diesen Mo ment. Erinnere dich daran, wie es ist. In meinem späteren Leben, in vielen Jahren, werde ich oft auf diese Szene zurück blicken; dieser Tag wird über allem anderen stehen. Genießen konnte ich ihn jedoch nicht. Im Moment war ich nur dankbar, mich auszuruhen, zu atmen und das Schwindel gefühl loszuwerden; und das Wissen, nicht noch höher zu müssen, riß mich zu wahren Begeisterungsstürmen hin. Das war es; es gab keinen höheren Ort mehr zu besteigen. Wir ruhten uns aus. Der Himmel war ruhig; bei 8611 Metern regte sich kein Lüftchen, und die Sonne schien durch eine wolkenlose Atmosphäre. Wir konnten die Erdkrümmung sehen. Im Norden und Osten zwei entfernte Gipfel in den wilden Weiten des chinesischen Turkestans; im Westen die
Gipfel von Hunza, Shangri-La, dem geheimen Tal, im Westen und Süden das große Karakorum – eine stürmische See aus endlosen Gipfeln und Gletschern. Einzeln und weiter entfernt im Süden der Nanga Parbat. Näher die Gasherbrums und unter uns der Gipfel des Broad Peak, ein flacher, breiter Strei fen wie eine Flugzeuglandebahn. Broad Peak, der erste Acht tausender, der ohne Sauerstoff bestiegen wurde, 1957, und jetzt, 1978, schauten wir, ebenfalls ohne Sauerstoff, auf seinen Gipfel hinab. Im Osten die braunen Hügel von Sinkiang, und weit, weit weg, an entfernten und geheimnisvollen Orten, einzelne vergletscherte Gipfel. Sechs Meter unter dem Gipfel, Richtung Nordwesten, gab es einen flachen, steinernen Absatz, und wir stiegen hinunter, um uns auszuruhen. Der Stein war warm, und ich lehnte mich zurück, meine Atmung normalisierte sich, und ich schloß die Augen und versank in halbe Bewußtlosigkeit. Vor meinem geistigen Auge nur Bilder von Stiefeln und Steigeisen und Schnee und nicht endenwollenden Schritten. Ich öffnete meine Augen. Ich dachte: Ich muß mir klarmachen, wo ich bin. Ich bin auf dem zweithöchsten Punkt der Erde. Ich muß mir das klarma chen. Wie hart habe ich dafür gearbeitet, hier hochzukommen. Ich hatte den Einfall, ein paar Stücke vom Gipfel mitzu nehmen, um mich besser an ihn erinnern zu können. Ich nahm meinen Hammer heraus und begann, ein kleines Stück aus dem Felsen herauszuschlagen. John sah zu mir herüber. »Was machst du da?« »Souvenirs. Nimm ein paar Stücke Gestein mit zurück. Bald ist Weihnachten, und sie werden nette Geschenke abgeben.« »Gute Idee.«
Bald saßen John und ich da und schlugen mit unseren Hämmern auf den Stein, um kleine Stücke herauszubrechen. »Wir sollten auch ein paar Photos machen«, sagte John. »Ja, das hab ich ganz vergessen.« Ich legte mich zurück auf den Stein, auf einen Arm gestützt, während John knipste. »Wir sind jetzt fast eine Stunde hier oben«, sagte er. »Eine Stunde?« »Wir sollten noch einige Photos direkt auf dem Gipfel schießen und uns dann an den Abstieg machen.« Wir kletterten zurück zum höchsten Punkt auf dem Schneekamm und machten einige Photos voneinander. Ich erinnerte mich daran, wie Gipfelphotographien normalerweise aussehen: Der Bergsteiger steht da, seinen Eispickel über seinem Kopf schwenkend, in Siegerpose, die Brust herausge drückt, während die Fahnen wehen wie bei einem Ge brauchtwagenhändler. Ich fühlte nichts dergleichen. Ich hatte nicht das Gefühl, irgend etwas erobert zu haben. Ich dachte an die Worte von Barry Bishop nach seiner Besteigung des Eve rest: »Es gibt keine Eroberer – nur Überlebende.« Wie wahr. Wir waren zwei kleine Menschen auf der Spitze eines giganti schen Berges, dem Bergsteigerei egal war. Ich stand auf dem höchsten Punkt, ließ meine Arme fallen und hielt den Pickel über meine Taille. Ich konnte nicht winken; ich konnte kein Siegeslächeln aufsetzen; ich konnte meine Augen nur über die Leere unter mir schweifen lassen. John machte die Aufnahme, und wir begannen mit dem Abstieg.
7. September. Lager VI Abruzzi, 7850 Meter, 17.00 Uhr. Sosehr er es auch versuchte, Wick konnte nicht schlafen. Nachdem er John und mich auf unserem Weg nach oben getroffen hatte, war er morgens gegen neun zurück im Lager VI und wurde von seinem Gefährten mit warmen Getränken und warmherzigen Umarmungen empfangen. Lou war sehr erleichtert, daß Wick diese Qual halbwegs weggesteckt hatte; anscheinend hatte er nur einige Frostbeulen an Fingern und Zehen. Lou war die Entscheidung nicht leicht gefallen, Wick auf dem Gipfel zurückzulassen, obwohl das zu dem Zeitpunkt noch sehr vernünftig schien: Ohne Parka war Lou fürchterlich kalt gewesen, es war spät am Tage, Wick hatte gesagt, daß er den Gipfel bald nach Lou verlassen würde. Trotzdem wußte Lou, daß, wenn Wick ernsthafte Probleme beim Biwak gehabt hätte – wenn er die Nacht nicht hätte überleben können –, er mit dieser Entscheidung für den Rest seines Lebens hätte leben müssen. Mit diesem Gedanken, der schwer auf seiner Seele lastete, hatte Lou an diesem Morgen Wicks verwitterten Kopf im Zelteingang auftauchen gesehen. Abgesehen von einer Stunde Schneewehen-von-denZeltwänden-Schaufeln und Minuten, die Lou brauchte, um einen irgendwie verlorengegangenen Eispickel aus einer Gletscherspalte zu angeln (während Wick ihn an den Knö cheln hielt), verbrachten sie den Tag in Schlafsäcken. Sie waren erschöpft, körperlich verbraucht, aber es war ihnen nicht möglich zu schlafen; in trägem Halbschlaf lagen sie da, während die Stunden ineinanderschmolzen. Es war gegen fünf, als John ankam, eine Stunde schneller als ich. Sie boten John heiße Limonade an, die er begeistert trank.
John kroch in unser gemeinsames Zelt, und im allerletzten Zwielicht kam auch ich an. Es hatte meiner gesamten inneren Reserven für die letzten Schritte zum Lager VI bedurft. Knapp über dem Lager hatte ich den Halt verloren und war fast sechs Meter gerutscht, bevor ich meinen Eispickel in harten Schnee schlagen konnte. Ich hatte das Mißgeschick kaum zur Kennt nis genommen, auf das hin ich mich normalerweise selbst scharf zurechtgewiesen und zur Vorsicht gemahnt hätte; zu dem Zeitpunkt war ich jedoch so müde, daß ich der Leichtig keit kaum gewahr wurde, mit der so ein Ausrutscher zum Tode hätte führen können. Als ich eintraf, tranken Lou und Wick schon wieder heiße Limonade. Zuerst kostete ich das Gefühl des Bechers in meiner Hand aus (die Fingerspitzen waren zu taub, um auch nur die heiße Flüssigkeit zu fühlen), dann wie das kräftige, dampfen de Getränk meinen Mund umspülte, wie es meine Kehle, meinen Magen und schließlich meinen gesamten Körper erwärmte. Abgesehen von Erholung und einer verqueren Hoffnung, bald vom Berg runter zu sein – sicher im Basislager mit dieser Tortur hinter mir –, war heiße Flüssigkeit das einzi ge Verlangen, das in mir überdauert hatte. Noch während ich meine heiße Limonade austrank, tapste ich zu unserem Zelt und kroch hinein zu John. Das Tageslicht war nun endgültig verschwunden, und die Sterne glänzten scharf am klaren, schwarzen Himmel. Alles, was ich wollte, war, meinen Schlaf sack zu finden und hineinzukriechen. Alles andere war mir gleich. »Warum schläfst du nicht im Denali«, bot John an. »Ich kann heute nacht den McKinley nehmen.« Der Denali ist ein wärmerer und dementsprechend auch
schwererer Schlafsack als das weniger komfortable Modell von McKinley. John und ich hatten uns beide für den leichte ren Schlafsack entschieden; ursprünglich wollten wir ihn für das Biwak auf dem direkten Weg benutzen, aber da sich die Pläne geändert hatten, schlief einer im warmen und einer im deutlich kälteren Schlafsack. Drei Nächte hatte ich den leichte ren Schlafsack genommen, und drei Nächte lang hatte ich gefroren. Johns Angebot kam meinem Verlangen, so schnell wie möglich warm zu werden, sehr entgegen. Außerdem hatten wir seit drei Nächten je eine, höchstens zwei Stunden gehabt, in denen wir auch nur versuchen konnten zu schlafen, also erschien mir eine Nacht, in der wir nicht um halb zwei morgens geweckt würden, darüber hinaus im warmen Schlaf sack, wie eine komplette und verdiente Wiedergutmachung der Entbehrungen des Tages. »Danke, Kumpel«, sagte ich. Ich brauchte einige Minuten, um meine Stiefel auszuziehen. Mein Atem ging schwer und langsam; mir schien, als meldete sich der pulmonale Blutstau zurück, den meine Lungen auf dem Everest hatten durchmachen müssen, und für einen Moment dachte ich, es könnte ein Lungenödem sein. Ich überprüfte die Symptome: kein Gurgeln in meiner Lunge – das Anzeichen eines Ödems –, und so nahm ich an, daß ich wahrscheinlich nur einen vorübergehenden Blutstau hatte, der dennoch die generelle Belastung, überhaupt in solcher Höhe zu atmen, vergrößerte. Die Stiefel waren runter, nun zog ich mir Parka und Overall aus, und nur in wollener Unterwäsche schlüpfte ich schnellstens in den dicken Daunenschlafsack, bevor mein Zittern noch schlimmer wurde. Für mehrere Minuten lag ich wie ein Fötus zusammengerollt, schüttelte mich, wurde aber allmählich warm, und meine Atmung
verlangsamte sich. Gedankenlos lag ich da. »Wir sollten mehr Flüssigkeit trinken«, sagte John. Ich rührte mich nicht. Er hatte natürlich recht, aber ich hatte einfach nicht die Kraft, den Kocher anzumachen, um Schnee für die Getränke zu schmelzen. »Ich werf den Kocher an«, erklärte er. »Danke, John. Ich bin zu sehr außer Puste, um mitzuhel fen.« Ich dachte: Und erst gestern war ich sauer auf John, weil ich meinte, er hätte beim Graben der Zeltebene nicht genügend geholfen. Es ist so leicht, seine Geduld unter dem extremen Höheneinfluß zu verlieren. Die Wärme kehrte langsam in meinen Körper zurück, und ich hörte auf zu zittern. Ich lag da und lauschte dem Zischen des Kochers, beglückt durch die pawlowsche Erkenntnis, daß wir bald heiße Getränke haben würden. John fummelte an einem zweiten Kocher, anscheinend um die Kartuschen zu wechseln, aber ich achtete wenig darauf. Ich war nur dankbar, daß er soviel Durchhaltevermögen bewies, um jetzt noch Schnee zu schmelzen; ich konnte ihm einfach nicht helfen. Und ich war so erschöpft, daß ich eine gute Sekunde brauchte, um auf die laute, die Luft aus dem Zelt saugende Explosion zu reagieren. »Raus aus dem Zelt,« schrie John. Ich öffnete die Augen. Überall waren Flammen, alles ver zehrend. Mein Haar brannte, die Zeltwände brannten, und mein Schlafsack stand in Flammen. Der Kocher war explo diert. Ich dachte sofort – panisch –, bei lebendigem Leibe verbrennen zu müssen, und dann fühlte ich diese unglaubli che Enge, keine Luft mehr zu bekommen. In der nächsten
Sekunde hatte ich nur einen einzigen Gedanken: aus dem Zelt herauskommen. Welche Öffnung? Ich sah den Umriß von Johns Körper schon halb zum Vordereingang raus; das ließ mir nur das gegenüberliegende Ende, das Vorzelt. Ich schoß aus meinem Schlafsack und durch den zugeknebelten Hinter eingang des brennenden Zelts. Draußen sah ich, wie John bereits dabei war, durch die klaffenden Löcher in den Zeltwänden Stiefel und Ausrüstung zu retten – deren Verlust würde unseren Abstieg nahezu unmöglich machen. Ich riß meinen immer noch brennenden Schlafsack heraus. Er war fast vollkommen verbrannt, und ohne nachzudenken, schmiß ich ihn den Abhang hinunter. Er schien das Feuer am meisten angeheizt zu haben, und, die Situation nun unter Kontrolle, sahen John und ich, wie der Schlafsack brennend über hundert Meter den Abruzzi-Grat hinunterstürzte und über dem dreitausend Meter hohen Steilhang runter zum Gletscher verschwand. Es erinnerte mich daran, wie ich als Kind der Feuerfall-Vorstellung in Yosemite zusah. »Seid ihr okay?« schrie Lou. »Ja, aber das Zelt ist hin. Die Ausrüstung ist wohl auch teilweise beschädigt, aber wir werden das nicht vor dem Morgen wissen.« Wieder fing ich an zu zittern. Unser Schicksal schien jeder Beschreibung zu spotten: Da stand ich, nur in wollener Un terwäsche, erschöpft, nachts auf 7850 Metern Höhe, bei einer Temperatur von dreißig Grad unter Null, ausgetrocknet und hustend und kaum fähig zu atmen, mit lediglich einem Paar Wollsocken an den Füßen – inzwischen höllisch frierend –, auf die verkohlten Überreste unseres Zeltes starrend, in dem ich
nur einen Moment zuvor glücklich in einen warmen Schlaf sack gemummelt gelegen hatte. Und es war außerdem meine Nacht in dem Denali. Irgendwie erschien mir das alles ziem lich ungerecht. »Ricks Schlafsack ist verbrannt«, berichtete John den beiden anderen. Es kam keine Antwort von ihnen, während sie sich die Bedeutung dieses Umstands vergegenwärtigten. »Keine andere Wahl«, fuhr er fort. »Wir müssen zu euch ins Zelt.« Zwei Tage zuvor, als Lou und Wick mit Terry zusammen Lager VI Abruzzi aufgebaut hatten, hatten sich die drei in das Zelt gezwängt, das ohne jeden Komfort gerade mal für zwei Personen ausgelegt war. Es war keine einfache Nacht. Nun, bei nochmals geschwächter körperlicher Verfassung, zogen Wick und Lou den fast unerwägbaren Gedanken von vier im Zelt in Erwägung. »Vielleicht passen wir nicht alle rein«, sagte Wick. »Keine Wahl«, erwiderte John. »Sonst erfrieren wir, mit nur einem Schlafsack – zumal mit dem McKinley.« John wühlte in den Überresten unseres Zeltes nach dem re lativ unversehrten McKinley-Schlafsack, und ich fand meinen Parka. Das waren genug Gänsedaunen, um uns die Nacht überstehen zu lassen, und eng würde es sowieso im anderen Zelt werden. John zog den uns verbliebenen Schlafsack hervor und gab ihn mir. »Du solltest besser hier reinkriechen«, sagte er. »Sieht so aus, als war dir ziemlich kalt.« Trotz meines inzwischen unkontrollierbaren Zitterns fühlte ich die warme Kameraderie zwischen mir und meinem Gip felpartner, der mir freiwillig seinen Schlafsack überließ, auf
den er eigentlich allen Anspruch hatte. Mit einem Gefühl von Demut nahm ich das Angebot an. »Danke, Mann. Das ist nett.« Ich kletterte zuerst hinein, und quetschte mich gegen Wick, der gegen die Zeltwand gepreßt wurde. Ich verbog mich gerade, um mich der Lage von Wicks verrenktem Körper anzupassen. John kroch hinein. Es war unmöglich, die Körper nicht irgendwie stapeln zu müssen. Wir wanden uns in dem Versuch, für jeden eine relativ bequeme Lage zu finden. »Ich muß meine Schulter bewegen.« »Warte. Ich muß zuerst meinen Arm aus dem Weg neh men.« »Dann muß ich meinen auch bewegen. Halt, mein Bein ist eingeklemmt.« Schließlich erreichten wir, wenigstens für eine kurze Zeit, eine Art Ausgeglichenheit. Es war extrem ungemütlich. Mein Kopf war unter Wicks Arm; meine Brust fest gegen Johns Rücken gepreßt. Wieder bekam ich dieses Gefühl von un glaublicher Enge. Meine Lungen zogen sich zusammen, und ich atmete heftiger – immer schneller nach Luft schnappend –, um genügend Sauerstoff zu bekommen. Ich hatte das Gefühl zu ertrinken. Meine Kehle war voll Schleim, und ich dachte, ich würde jeden Moment ohnmächtig. Panik. In Verzweiflung quetschte ich mich durch den Zelteingang, brachte die wie Puzzleteile ineinander verhakten Körper ganz schön durch einander und steckte meinen Kopf nach draußen und schnappte nach Luft. Die anderen rangierten, um ihre Körper zurück in die ursprüngliche Lage zu bringen. »Alles klar, Rick?« fragte Wick. »Könnte das ein Ödem sein?« »Weiß nicht. Blutstau. Kann nicht atmen. Huste Dreck
hoch.« Ich fing an, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Ich hustete jetzt harte, blutige Klümpchen hoch. Meine Lungen schmerz ten; mein Körper schrie nach Wasser. »Noch Wasser da?« »Nein,« sagte Wick. »Wir müssen bis zum Morgen warten.« Ich drehte mich wieder rein, und wieder rangierten wir, ein ander unvermeidbar mit Ellbogen und Knien stoßend. Schließ lich fanden wir wieder eine gewisse Übereinstimmung. Keiner konnte schlafen. Wir lagen still da und wünschten uns, die Stunden der Nacht würden schnell vergehen. John war kalt ohne Schlafsack, aber er beklagte sich kaum. Er hatte sich ebenfalls ziemlich verrenkt und versuchte, diesen Umstand aus seinen Gedanken zu verbannen. Aber es funktionierte nicht. Irgendwann mitten in der Nacht konnte er es nicht länger aushalten. »Ich muß anders liegen,« sagte er. »Was?« »Ich muß an die andere Seite vom Zelt. Ich bin sowieso schon halb erfroren, und das gibt mir den Rest.« John kroch über mich hinweg, um mit Wick den Platz zu tauschen. Es gab ein Durcheinander von Armen und Beinen und Daunenzeug, und das Gefühl der Beengtheit stellte sich wieder ein. Wieder konnte ich nicht mehr atmen. Mit zwei Körpern quer über meinen, bemühte ich mich, mich aufzurich ten und meinen Kopf zu heben, um den Schleim aus meiner Luftröhre abzuhusten. Ich versuchte, meinen Kopf durch den Zelteingang nach draußen zu stecken. »Was soll das zum Teufel? Warte doch mal, Ridgeway.« »Ich kann nicht atmen. Ich muß raus.« »Könnt ihr beiden euch nicht irgendwo hinlegen und da bleiben?!« beklagte sich Lou, der so langsam die Geduld verlor. Ich steckte meinen Kopf nach draußen, schnappte nach
Luft. Dann tauschten John und ich die Plätze. Durch die Kör per, die gegen die Wände drückten, beulte und zog sich das winzige Zelt hin und her. John fand eine Lage, in der er we nigstens ruhig liegen konnte. Ich blieb zur Hälfte draußen, hustete mir ekliges Zeug aus der Lunge. Mein Kopf und meine Schultern froren, und mein Durst wurde schlimmer. Immer und immer wieder mahnte ich mich zur Geduld. Die Nacht wird vorbeigehen. Am Morgen können wir den Kocher anma chen und eine Gallone Limonade machen. Eine ganze, volle amerikanische Gallone.3 Sei geduldig! Trotz meiner Atembeschwerden zwang mich die Kälte zu rück ins Zelt. Ich versuchte, stillzuliegen, meine Klaustropho bie zu überwinden, nicht an meinen Durst zu denken, gedul dig den Morgen zu erwarten. Es war unsere vierte Nacht ohne Schlaf, unsere vierte Nacht in der Hölle. Ich fing an, die Hun derte von Minuten bis zum Sonnenaufgang zu zählen, bis wir rauskriechen und uns strecken könnten, Getränke zubereiten und dann endlich Anstalten machen könnten, dem Berg zu entkommen. Ich hoffte nur, daß ich die Kraft für den Abstieg haben; ich hoffte, daß das, was auch immer den blutigen Auswurf verursacht hatte, sich nicht verschlimmerte. Ich wollte die anderen nicht belasten, denn ich wußte, sie würden ohnehin bis an ihre Grenzen gehen müssen, nur um selbst heil runterzukommen. Von uns allen schien ich am schlimmsten dran zu sein. In der vormorgentlichen Kälte machte ich mir klar, daß immerhin vier von uns den Gipfel geschafft hatten, daß die Expedition doch jetzt ein Erfolg war, aber auch, wie viel Spielraum es noch für Fehler gab, wie leicht sich dieser Erfolg noch in eine Tragödie verwandeln könnte. 3
Eine U.S. Gallone entspricht knapp 3,8 Liter. (Anm. d. Übers.)
8. September. Lager VI, 7850 Meter, 11.00 Uhr. Ich lag halb bewußtlos auf der warmen Iso-Matte, die auf dem Zeltboden ausgebreitet war, die Sonne schien direkt durch die großen Löcher in den verbrannten Wänden. Ich hatte dieselbe wollene Unterwäsche an, in der ich die fürchterliche Nacht verbracht hatte, und meinen Overall. Mein Kopf lag auf mei nem Parka, und ich trug nur einen Stiefel. Der andere lag neben meiner Hand, die Lasche schon offen, aber in der letzten Sekunde hatte ich die Kraft verloren, mich weiter anzuziehen, und war auf meinem Parka zusammengebrochen. Daß der Tag unerbittlich vorüberging – daß es schon fast Mittag war – und wir immer noch nicht alle Vorbereitungen getroffen hatten, mit dem langen Abstieg zu beginnen, schien überhaupt nicht wichtig. Ich war total apathisch; mein Geist und Körper schmolzen im warmen Sonnenlicht. John lag neben mir und schlief an scheinend. Wir waren von den verkohlten Überresten unseres Zeltes umgeben. Glücklicherweise war die zum Abstieg nötige Ausrüstung nicht verbrannt, aber es hatte einige Zeit gedauert, die Überreste zu durchwühlen, und wir waren noch nicht ganz fertig damit. In der Zwischenzeit hatten Lou und Wick genug Schnee für fast zwei Liter Wasser geschmolzen, und ich hatte meine Ration unter christlichen Dankesworten getrun ken. Wick und Lou schienen nun auch zu schlafen, oder sie dösten wie ich; aus ihrem Zelt waren keine Stimmen zu hören. Früh an diesem Morgen, während wir darauf warteten, daß die Sonne die Luft ausreichend erwärmen würde, so daß wir aus dem Zelt kriechen konnten, waren wir noch von der
Wichtigkeit eines schnellen Abstiegs überzeugt, im Hinblick auf unsere sich verschlechternde Verfassung und der Unsi cherheit, wie lange das gute Wetter anhalten würde. Wir hatten geplant, an diesem Tag bis zum Lager IV hinunterzu steigen und den folgenden Tag bis Lager II, vielleicht sogar Lager I. Es würde teilweise darauf ankommen, wo die anderen sich aufhielten, um unseren Abstieg zu erleichtern; deren Hilfe, uns einen Weg zu spuren, würde unser Fortkommen beschleunigen. Jetzt allerdings redeten wir uns ein, daß, wenn wir vor Mit tag aufbrechen würden, wir immer noch genügend Zeit hät ten, Lager IV zu erreichen. Es war weniger eine vernünftig Überlegung als ein Nachgeben des Dranges nach Erholung. Die Sonne schien auf mein Gesicht, und ich fühlte, wie mei ne Haut brannte. Meine Lippen waren schon aufgesprungen und bluteten, im Nacken pellte sich die Haut, und ich wußte, daß ich Schutzcreme auftragen sollte, aber ich hatte nicht die Kraft, danach zu suchen; ich ließ die Sonne einfach weiter brennen. Mein Atem schien regelmäßiger, und auch mein Husten und der erstickende Schleim waren zurückgegangen. Ich dachte daran, es noch mal zu versuchen, meinen anderen Stiefel anzuziehen, aber ich konnte mich einfach nicht dazu aufraffen. Ich döste, warm im gleißenden Sonnenlicht, dankbar für die Windstille, und träumte von entfernten Orten und einer tropischen Sonne. »Wir sollten uns bald auf den Weg machen. Es ist fast Mit tag.« Es war Lous Stimme, und es klang so, als bereiteten Lou und Wick unseren Aufbruch vor. Ich hob eine Hand, setzte mir die Gletscherbrille auf die Augen und ließ die Hand
wieder fallen. Ich öffnete die Augen. John bewegte sich nicht. Ich fragte mich, ob es mir gelingen würde, meinen anderen Stiefel anzuziehen. Ich wußte, daß ich keine Wahl hatte; ich wußte, daß wir los mußten. Aber die Apathie war allesverzeh rend. Ich fühlte mich wie unter Drogen. Schließlich schaffte ich es, mich aufzusetzen und langsam meinen Stiefel zu schnüren. Ich fand meine Steigeisen und befestigte sie über dem dicken, isolierenden Stiefel. »Zeit loszugehen?« fragte John. »Ja, wir sollten uns besser auf den Weg machen, denke ich.« John richtete sich müde auf und begann, seine Steigeisen zu schnüren. Ich war immer noch sehr durstig, aber es war keine Zeit, um noch Schnee zu schmelzen. Wir würden bis zum Abend warten müssen, im Lager IV. Die Steigeisen angelegt, zwang ich mich, aufzustehen und die Trägheit abzuwerfen. Ich fand meinen Rucksack und sortierte, was ich mitnehmen mußte und was ich hierlassen konnte. Zweites Paar Wollhosen – hierlassen. Kamera – mitnehmen. Zweites Paar Handschuhe – hierlassen. Beutel mit Gipfelgestein – mitnehmen. Kocher und Geschirr – hierlassen. Ich fand den Sauerstoffregler, den ich gestern beim Abstieg wieder eingesammelt hatte. Er koste te über tausend Mark. Aber er wog auch einige Kilos – also hierlassen. Die Rucksäcke geschultert, ließen wir erschöpft das Lager hinter uns und überließen Zelte sowie den restlichen Kram den Berggöttern, und zweifellos auch den Goraks, die wahr scheinlich sogar so hoch fliegen würden, nur um die Überreste unseres Lagers zu plündern. Der Himmel war klar und wol kenlos, und bei unserem Abstieg sahen wir die Gipfel des Broad Peak und der Gasherbrums zu unserer Rechten. Das
Godwin-Austen-Tal war von Eis- und Gesteinswänden einge grenzt, und die Bogenformen auf den Eiswänden muteten wie Furchen in einem senkrechten weißen Feld an. Eine Wand war von einem scharfen Strich durchschnitten, der auf eine abge rutschte Eisplatte schließen ließ. Ich dachte an Nick Estcourt. Der Abstieg vollzog sich in langsamem Tempo und war nur mäßig anstrengend, erforderte auch kaum besondere Vorsicht, bis wir zu einer Steilwand aus hartem Eis kamen, kurz vor der Biegung, an der die Traverse zur Schneekuppe begann, auf der Lager V lag. Wir drehten uns zur Eiswand und stiegen vor sichtig hinab, indem wir die Spitzen unserer Steigeisen und Pickel tief ins Eis schlugen. Uns allen war bewußt, nicht durch ein Seil gesichert zu sein. Und uns war unsere Erschöpfung bewußt und die Notwendigkeit, jetzt vorsichtig zu sein, um nach allem, was wir durchgemacht hatten, kein Unglück mehr zu riskieren. Mit diesen Gedanken arbeiteten wir uns gerade zu millimeterweise nach unten. Als ich mit dem letzten Schritt den sicheren und weniger steilen Schnee betrat, wurde mir klar, daß der letzte schwere Abschnitt ungesicherten Kletterns hinter mir lag und ich bedeutend näher dran war, in Sicherheit zu sein. Die verbliebene Strecke bis zum Lager V ließ sich leichter bewältigen, aber wir wurden stets daran erinnert, daß wir immer noch einen Platz am Roulettetisch gebucht hatten. Wir überquerten einen fünfundvierzig Meter breiten Lawinen schuttkegel; ein großer Serac war irgendwann in den letzten Tagen aus dem überhängenden Gletscher herausgebrochen. Wir bahnten uns einen Weg durch das Durcheinander von Eisblöcken, wohl wissend, daß, wenn wir beim Niedergang der Lawine hier gewesen wären, wir keine Überlebenschancen gehabt hätten.
Wir bewegten uns im Schneckentempo. John führte an, spurte den weichen Schnee. Lou folgte, dann Wick und schließlich ich. Ich war am langsamsten. Wir kamen zu einer kleinen Erhöhung, die, wie wir wußten, die Rückseite der Schneekuppe war. Lager V war nur noch dreißig Meter ent fernt. Bei den Zelten angelangt, drehte Wick sich um und sah mir bestürzt zu, wie ich versuchte, die letzte Steigung zum Lager zu bewältigen. Ich konnte nicht mehr gehen. Ich kroch auf Händen und Füßen. »John, sieh dir Ridgeway an,« sagte Wick. »Ich fasse es nicht. Er kriecht.« »Keine Sorge«, antwortete John. »Er hat es bis hierher ge schafft. Er wird es auch weiter schaffen.« Aus Wicks Tagebuch: 8. September. Lager V. Schwierigkeiten beim Schreiben. Frostbeulen an Fingern. Zurück im Lager V mit Lou, John und Rick. Vom Lager VI herunterzukommen war eine Tortur. Die drei Stunden, die wir dafür brauchten, bewegten wir uns wie Zombies – wie Schlafwandler. Wir hätten schon nachmittags im Lager IV sein sollen, aber Rick und ich hatten uns Frostbeulen zugezogen, und wir wollten an der schattigen Steilwand unterhalb von Lager V keine weiteren Verletzungen riskieren. Wir sind alle erschöpft, aber John und Lou haben mehr Kraft als Rick und ich. Später mehr, denn ich habe absolut keine Kraft. 10. September. Lager III. Sturm. Ein neuer, gewaltiger Sturm hat uns erwischt, nachdem uns der lange Spät sommer die Besteigung des K2 ermöglicht und uns den Abstieg bis hierher erleichtert hat, aber unsere Versuche,
nun bis zum Lager I abzusteigen, waren vergebens. Wir konnten die unterhalb von Lager III befestigten Seile nicht finden. Sie sind irgendwo im tiefen Schnee begra ben. Wir brauchen sie als Markierung. Keine Sicht. John und Terry sind gerade draußen, um die Seile zu suchen. Gestern war ein langer Tag. Wir stiegen vom Lager V hierher runter mit einem kurzen Halt im Lager IV, um aufzutauen. Immer noch sehr schwach. John, mit mehr Energie als der Rest von uns, führte, folgte dem Weg von Terry und Cherie, den sie sich tags zuvor gebahnt hatten. Wir kamen am Spätnachmittag an. Herzliche Begrüßung durch die Bechs, die im Lager III auf uns warteten (alle anderen waren im Lager I). Getränke, Durststrecke vor bei. 13.20 Uhr. John und Terry sind gerade zurück. Kein Glück mit dem Seil. Scheint, als säßen wir bis spätestens morgen hier fest. Jim und Rob (über das Funkgerät in Lager I) rieten uns eindringlich abzusteigen. Unmöglich bei dieser Witterung, sagten wir. Sie sind in Sorge, daß wir geistig und körperlich zu sehr abbauen. Eigentlich sammeln wir hier neue Kraft, verglichen mit dem, was wir oben durchstehen mußten. Aber wir müssen vom Berg runter, um uns endlich richtig zu erholen. Jim und Rob scheinen pessimistisch über die vorhergesagte Dauer des neuen Sturms. Sieben Tage. Ungeachtet des Wetters werden wir morgen mit oder ohne Seil absteigen. Wir werden morgen runterkommen. Wir müssen.
11. September. Die Abhänge unterhalb von Lager III, 6750 Meter, gegen 10.00 Uhr. Bitterkalter Wind aus dem Osten. Nebel und Wolken. Meine Begleiter kaum sichtbar, obwohl weniger als eine Seillänge entfernt. Schneedrift legt sich schnell um meine Beine. Füße in tiefem, weißem Puder eingegraben. Erschöpfung; die perma nente Not, sich weiterzuzwingen, neue Schritte zu machen. Mein Körper ausgezehrt, abgemagert durch den Verlust von Muskelgewebe. Wunde Lungen, Atmen fällt schwer. Finger jetzt grau und schwarz. Das Verlangen, die Sehnsucht danach, daß alles vorbei ist. Ich dachte, wenn das Wetter sich nur einen Tag länger gehalten hätte, wären wir jetzt vom Berg runter. Aber so waren wir gezwungen worden, uns einen Tag im Lager III zu verkriechen, und nun zog es uns nach unten, obwohl der Sturm nicht aufgehört hatte. Wir hatten das befestigte Seil unterhalb von Lager III nicht finden können; also brauchten wir ein anderes Seil für den Abstieg. Terry und ich hatten gestern mehrere Stunden damit zugebracht, wieder hoch in Richtung Lager IV zu steigen, um zwei Längen aus dem dort befestigten Seil zu schneiden (dies war nicht eingegraben, weil auf dem steileren Messerkamm kein Schnee liegenblieb). Damit hatten wir uns angeseilt und nach unten vorgetastet, durch die dicken, vorbeiziehenden Wolken manövrierend und ständig nach Orientierungspunkten suchend. Wir mußten es runter schaffen. Es war ein Gefühl von Heimkehr gewesen, Terry und Che rie in Lager III anzutreffen, die auf unsere Rückkehr warteten. Es gab heißen Kakao und viele Umarmungen, als wir ins Lager kamen. Jemanden zu haben, allein zum Schneeschmel
zen, war schon eine große Hilfe, und die Gesichter von Terry und Cherie waren voll Mitgefühl ob unserer schlechten Ver fassung. Eigentlich hatte sich unsere Verfassung in den zwei voran gegangenen Tage verbessert; das gestrige Ausharren im Lager III war eine willkommene Ruhepause gewesen. Wick und ich waren sicherlich am schlimmsten dran, und so war es haupt sächlich an John und Lou gewesen, den Weg runter zum Lager IV und dann längs zum Lager III zu spuren. In den zwei Nächten seit dem Beginn unseres Abstiegs hatte ich mit Hilfe von Sauerstoff geschlafen, und das Gas hatte meinen Blutstau deutlich abgebaut. Das Atmen fiel leichter, wenn es auch noch schmerzvoll war. Meine Finger waren von grauen und schwarzen Flecken überzogen, aber ich glaube, der Sauerstoff linderte sogar die Schäden der Frostbeulen ein wenig. Und ich hatte einen bösen Abszeß gehabt – der nach einer Entzündung aussah und mich bei jedem Schritt auf der Traverse auf die Probe stellte – Cherie hatte ihn im Lager III verarztet; er schmerzte jetzt weniger. Es war peinlich gewesen, sie darum zu bitten, sich um die Entzündung zu kümmern – eher auf grund der Infektionsgefahr als wegen meiner Blöße. Aber sie hatte meine Bedenken mit dem nachsichtigen Lachen einer Krankenschwester abgetan, und ihre Fürsorge ließ in mir eine große Wärme für beide, für sie wie auch für Terry aufsteigen, beide waren trotz ihrer eigenen geschwächten Verfassung, oben auf dem Berg geblieben, um unseren Abstieg zu beglei ten. Wick schien es inzwischen schlechter zu gehen. Er hatte beim Schlafen keinen Sauerstoff benutzt und war an diesem Morgen mit Atemproblemen und Schmerzen in der linken Seite aufgewacht. Er sagte, daß es sich nach einer gebrochenen
Rippe anfühlte, aber da er sich weder angestoßen hatte, noch gefallen war, meinte Cherie, daß es wohl eher eine Lungenent zündung sein müsse. Es war schwer einzuschätzen, ob Wicks Schmerzen ernsthafter Natur waren, denn er war stoisch veranlagt und jammerte kaum. Wir gingen in zwei Gruppen: Zuerst Lou, Wick und John an einem Seil, sie spurten den tiefen Schnee, und Terry, Cherie und ich folgten an einem anderen Seil. Niemand sprach. Wir stapften schweigsam bergab, jeder in Gedanken versunken. Weiter unten am Kamm, am Lager II, war weniger Schnee gefallen, und wir fanden das befestigte Seil schnell wieder. Nachdem wir das Kletterseil abgelegt hatten, waren wir nicht mehr aneinander gebunden. Ich ging als letzter. Mir war bewußt, daß es das letzte Mal sein würde, daß ich an diesen Seilen nach unten stieg; ich verließ Orte, mit so vielen Erinne rungen versehen, mit so vielen Gefühlen, daß ich Zeit für mich allein haben wollte. Während ich darauf wartete, daß sich die anderen etwas entfernten, ruhte ich mich in einem der zurückgelassenen Zelte aus und knabberte, was ich an Nahrungsresten fand: eine Peperami, ein paar Erdnüsse, ein Stück Trockenfleisch. Das Trockenfleisch erinnerte mich an einen Vorfall bei der Everest-Expedition vor zwei Jahren. Kurz bevor wir nach Nepal aufbrechen wollten, entdeckten wir, daß unsere Zollpa piere fünfundvierzig Pfund Trockenfleisch verzeichneten. Da es gesetzlich verboten ist, Rindfleischprodukte nach Nepal einzuführen, und wir die Zeit nicht hatten, die zweihundert vierzig Seiten umfassenden Papiere umzuschreiben, kamen wir auf die Idee, jeweils das 1 und das e in Fleisch zu strei chen, so daß wir fünfundvierzig Pfund Trockenfisch einführ ten.
Bei dem Gedanken mußte ich lächeln. Erinnerungen. Eve rest, K2 – alles lag hinter mir, alles Erinnerungen. Ich kroch aus dem Zelt, befestigte meine Karabiner am Seil und begann den anstrengenden Abstieg zum Gletscher hinab, mich langsam, Länge um Länge abseilend. Ich dachte daran, wie Lou und ich diese Seile vor so vielen Wochen befestigt hatten (genausogut hätte ich die Zeitspanne in Monaten ausdrücken können). Die Bewölkung war an einigen Stellen aufgebrochen und zeigte einen strahlend blauen Himmel. An der steilsten Stelle hielt ich inne, sicherte das Seil und ließ mich daran hängen, still die Gegend betrachtend. Über die Rückseite des Gletschers hinaus waren die bekannten Züge des Skyang Kangri in verhaltene Pastelltöne von grün, lila und hellbraun eingefärbt. Die Felswand war in zwei monolithische Abschnitte gespalten, einer aus hellgrauem Gestein, eine Quelle des Sonnenlichts, des Positiven: das Yang; der andere aus dunklem Stein, Farbe der Erde und des Mondes: das Ying. In messerscharfem Kontrast dazu waren beide Seiten mit langen, geraden Furchen aus wieder anderem Gestein durch schnitten. Die Felswände waren zart von Schnee aus dem letzten Gestöber gesäumt. Der Berg ragte imposant gegen einen grau und braun gescheckten Himmel, mit einigen azur blauen Stellen. Skyang Kangris nordöstlicher Kamm fiel in Richtung Windy Gap ab, dem Paß nach Shaksgam, und über dem Paß konnte ich die Spitzen tiefer gelegener Höhenzüge sehen, das letzte Aufbäumen des Karakorum, bevor es die Sicht auf die endlosen braunen Hügel Chinas freigab. Erinne rungen. Ich dachte: Meine Gefährten werden etwa jetzt im Lager I angekommen sein. Da wird es große Wiedersehensfreude geben, Umarmungen, Glückwünsche, Tränen. Die Erleichte
rung. Ja, die Erleichterung wird gewaltig sein. Ich blickte am Seil aufwärts, die Schneeschlucht hoch, dann nach unten zum Gletscher. Es war Zeit zu gehen. Die anderen würden sich Sorgen machen, wenn ich nicht bald käme. Aber es dauerte noch einige Minuten, bevor ich das Seil entsicherte und mich abseilte. Es war die Erleichterung, daß wir es ge schafft hatten. Wir waren alle wieder unten und am Leben. Es lag hinter uns; wir waren bis zum Gipfel aufgestiegen, und nun waren wir alle wieder unten und am Leben. Wir hatten den K2 in siebenundsechzig Tagen bestiegen. Und wir haben es geschafft. Das war die Erleichterung. Das war es, was mich zu Tränen rührte, die meine Wangen herunterrannen – Trä nen, die ich wegwischen mußte, bevor ich mich ins Lager aufmachte. Ich wollte nicht, daß meine Gefährten mich so gerührt sahen.
Reinhold Messner An meiner Grenze: Erste Alleinbesteigung des Mount Everest Im August 1980 bestieg Reinhold Messner das erste Mal al lein den Gipfel des Mount Everest. Tückische Gletscherspal ten auf der Nordseite, Sauerstoffmangel und Erschöpfung brachten Messner, geboren 1944, an die Grenzen seiner Kraft. Aber selbst das Wissen, daß schon einige Bergsteiger dabei ihr Leben verloren hatten, konnte ihn nicht von seinem tollkühnen Versuch abhalten. Plötzlich gab der Schnee unter mir nach. Meine Stirnlampe erlosch. Ich fiel in die Tiefe – zeitlupenartig, so erlebte ich es –, einmal mit dem Rücken, einmal mit der Brust an den Eiswän den anschlagend. Mein Zeitgefühl war weg. Stürzte ich nur Sekundenbruchteile, oder waren es schon Minuten? Plötzlich hatte ich wieder Halt unter den Füßen. Jetzt wußte ich: Ich war gefangen. Vielleicht für immer! Ich hätte doch ein Funkgerät mitnehmen sollen. Dann hätte ich jetzt Nena rufen können, die ich fünfhundert Meter weiter unten in unserem vorgeschobenen Basislager auf 6500 Meter Meereshöhe um fünf Uhr morgens verlassen hatte. Nena war eine erfahrene Bergsteigerin. Sie hätte jetzt vielleicht bis hier her aufsteigen, mir ein Seil herunterlassen und mich aus diesem eisigen Gefängnis befreien können. Aber ein Funkgerät wog soviel wie drei Gaskartuschen, und Brennstoff für meinen
Kocher erschien mir wichtiger als die Möglichkeit, um Hilfe rufen zu können. Ich fingerte an meiner Stirnlampe herum, und plötzlich war es hell. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah etwa acht Meter über mir ein baumstammdickes Loch, darüber ein paar Sterne. Die Eiswände, etwa zwei Meter weit auseinanderklaf fend, schillerten blaugrün und liefen nach oben hin zusam men. Da würde ich nicht mehr herauskommen. Mit meiner Stirnlampe versuchte ich, den Grund der Spalte auszuleuch ten. Doch es gab kein Ende. Die Schneebrücke, die meinen Sturz gestoppt hatte, war nur etwa einen Quadratmeter groß. Glück, dachte ich und spürte, wie ich am ganzen Körper zitterte. Ich hatte Angst. Ich überlegte, ob ich auf der morschen Schneeunterlage meine Steigeisen anziehen konnte. Aber bei jeder Bewegung überkam mich die Furcht, tiefer zu fallen. Da entdeckte ich eine Rampe, die schräg nach oben leitete. Das war der Ausweg. In wenigen Minuten war ich wieder an der Oberfläche – aber immer noch auf der Talseite. Wie in Trance ging ich zum Loch zurück, durch das ich zehn Minuten vorher verschwunden war. Das erste Dämmer licht erhellte den Nordsattel des Mount Everest. Ich schaute auf meine Uhr: Es war kurz vor sieben. Der Sturz in die Glet scherspalte hatte mich hellwach gemacht. Ich wußte, es gab nur diese eine Stelle, wo ich die Spalte, die die dreihundert Meter hohe Eiswand unterhalb des Nordsattels quer durchriß, überschreiten konnte. Vor vier Wochen, bei meinem ersten Erkundungsmarsch zum 7000 Meter hohen Nordsattel, hatte ich diese knapp zwei Meter breite Schneebrücke entdeckt. Damals hatte sie mich getragen. Sie mußte auch jetzt kurze Zeit halten, denn ich hatte bei meinem Alleingang keine Alu miniumleitern und Seile dabei, mit deren Hilfe sich vielköpfi
ge Expeditionen über derartige Hindernisse halfen. Zwei Skistöcke und der Eispickel aus Leichtmetall waren meine einzigen Hilfsmittel. Ich war vorsichtig. Jenseits der Spalte stand eine steile Schneewand. Ich beugte mich vornüber und schlug die Skistöcke – Handknauf voraus, bis zu den Tellern – hoch in die Wand. Dann schwang ich mich mit einem Kraftakt nach drüben. Ich wußte: Mehr als zehn Bergsteiger hatten in den Hängen zum Nordsattel ihr Leben verloren. Es wurde Tag. Weit im Osten stand das mächtige Massiv des Kangchenjunga über einem graubläulichen Nebelmeer. Es war richtig gewesen, den Versuch im Juli abzubrechen. Der Schnee, aufgeweicht durch den warmen Monsun, war damals grundlos tief gewesen und die Lawinengefahr groß. Jetzt, am 18. August, war der Schnee festgefroren und gut zu begehen. Über dem Gipfel des Mount Everest lag eine leichte Mor genröte. Er stand so klar gegen den tiefblauen Himmel, daß ich den freistehenden Felsturm am Nordostgrat klar erkennen konnte. Dort waren George Mallory und Andrew Irvine 1924 bei ihrem kühnen Gipfelvorstoß zum letzten Mal gesehen worden. Niemand wußte, ob die beiden beim Aufstieg oder erst während des Abstiegs umgekommen waren. Hatten die beiden damals den Gipfel erreicht? Waren sie die Erstbesteiger des höchsten Berges der Welt, den die Tibeter Tschomolung ma nennen, »Göttin der Mutter Erde«? Die Engländer hatten sich als erste die Eroberung des Mount Everest in den Kopf gesetzt. Nach einer großangelegten Erkundung 1921 war ein Jahr später der erste Angriff über die Route, an der jetzt auch ich kletterte, gefolgt. Mit einer für heutige Begriffe kärglichen Ausrüstung, mit der ich nicht einmal mehr aufs Matterhorn steigen würde, hatten Mallory
und seine Freunde Norton und Somervell erstmals in der Geschichte des Bergsteigens die 8000-Meter-Grenze über schritten. Und der Feuergeist George Mallory hatte schon damals erkannt, daß der Mount Everest nach gründlicher Vorbereitung und einer sechswöchigen Akklimatisationsspan ne vom Basislager beim Rongbuk-Kloster (5100 Meter) in sechs Tagen zu erstürmen sein müßte. Zwei Jahre später war Mallo ry tot. Doch erst 1953 – Tibet und damit die Nordseite des Mount Everest war inzwischen von den Chinesen für Auslän der gesperrt worden – bestiegen Edmund Hillary und der Sherpa Tenzing Norgay den Berg über die nepalesische Süd seite. In diesem Frühjahr 1980 hatten die Chinesen die Grenzen geöffnet. Die ersten Ausländer, die kamen, waren Japaner. Mit einer Großexpedition schafften sie als erste nach den Chinesen den Gipfel über die Nordroute. Kurz nach ihnen hatte ich über Lhasa und Shigatse das Basislager erreicht. Sieben Wochen waren vergangen. Auf dieser Reise hatte ich auch vielfältige Eindrücke von Tibet gewonnen, von diesem Land mit seiner schier endlosen Weite. Die Pastellfarben der Hügelketten hatten mich gefangengenommen. Dies war das Land, von dem ich bisher nur geträumt hatte. Gleichzeitig hatte es mich oft deprimiert. Vor den weiß gekalkten Lehmhäusern mit den schwarzen Fensterlöchern wehten keine tibetischen Gebets fahnen mehr, dort hingen nur noch rote Tücher. Das Kloster Rongbuk, früher von vierhundert Mönchen bewohnt, war leer. Geplündert. Tausende von Wandmalereien bröckelten von den morschen Wänden. Die Dächer der Tempel waren einge stürzt. In den Bergdörfern hatte ich arme, stumpfe Gesichter gesehen. Hier lachten die Leute nicht wie in den Bergen Nepals. Und wo war die so reiche tibetische Kultur geblieben?
Der Potala in Lhasa, der ehemalige Palast des Dalai Lama, stand noch, aber in ihm war kein Leben mehr. Die wenigen Mönche fungierten als Statisten. Ein Volk hatte seinen Gott verloren. Der Höhenmesser zeigte 7360 Meter. Es war etwa neun Uhr. Ich stieg jetzt langsamer. Die Strecke bis zum Nordsattel hatte ich in zwei Stunden geschafft und mir so ein Biwak sparen können. Ab und zu war der Schnee knöcheltief, und die Schneeverwehungen kosteten Kraft. Ich durfte mich nicht verausgaben. Morgen und übermorgen würde es viel anstren gender werden. Die zwei ausziehbaren Skistöcke waren eine große Hilfe. So konnte ich mein Gewicht auf Beine und Arme verteilen. Die Nordflanke rechts von mir war eine riesige Schneeflä che mit dunklen Felsinseln. Deutlich waren Lawinenstriche zu erkennen. Ich blieb vorerst auf dem stumpfen Nordgrat. Das war die sicherste Route. Keine Spur von meinen Vorgängern. Alles war unter einem dicken Schneemantel begraben. Nur einmal, auf 7500 Meter etwa, sah ich ein rotes Seil im Schnee, »Müll« der vorhergehenden Expedition. Es war an einer Felsinsel verankert. An diesen Seilen waren die Bergsteiger ins Basislager abgestiegen, wenn das Wetter schlecht geworden war, und an ihnen hatten sie sich hochhangeln können, um die Aufstiegsroute weiter zu präparieren. Stufe um Stufe. Mit dieser Taktik hatte auch ich 1978 den Mount Everest über die Südroute bestiegen. Diesmal hatte ich niemanden, der mir tragen half, der mir die Biwaks vorbereitete. Keinen Ka meraden, der mir im tiefen Schnee spuren half, und keine Sherpas, die meine Ausrüstung schleppten. Wie eine Schnecke ihr Haus auf dem Rücken trug ich mein
Zelt im Rucksack. Ich wollte es aufbauen, darin schlafen und es wieder mitnehmen für die nächste Nacht. Ein zweites Zelt wäre zu schwer gewesen, gar nicht erst zu reden von den Sauerstoffgeräten, die meine Last verdoppelt hätten. Meine fünfzehn Kilo drückten in dieser Höhe so schwer, daß ich nach einem Dutzend Schritten stehenblieb, nach Atem rang und alles rings um mich vergaß. Die Strecken zwischen den Rast pausen wurden immer kürzer. Oft, sehr oft setzte ich mich jetzt hin, um zu verschnaufen. Es kostete mich jedesmal größere Willensanstrengung, wie der aufzustehen. Schritt für Schritt quälte ich mich bis auf 7800 Meter. Ich hatte das Gefühl, als wäre da jemand hinter mir, der mich ermunterte. Der erste Lagerplatz, auf dem ich den Schnee festtrat, gefiel mir nicht. Ich mußte an einem Felsen lagern, um das Zelt gut verankern zu können. Wenige Meter unter mir sah ich ein ideale Stelle. Aber mir fehlte die Kraft, meinen Rucksack auszupacken und das Zelt aufzustellen. Ich saß da und schau te hinunter zum vorgeschobenen Basislager, wo ich um fünf Uhr früh aufgebrochen war. Jetzt war es nach drei Uhr nach mittags. Ich erkannte einen winzigen roten Fleck. Nena hatte wohl den Schlafsack auf das Zeltdach gelegt, um sich vor der Hitze zu schützen. Die Hitze war bisher schlimmer gewesen als die Kälte. Nachts sank im Basislager das Thermometer nur auf minus zehn Grad. Hier oben auf minus zwanzig Grad. Untertags dörrte die Sonne mich aus. Die sauerstoffarme Höhenluft rieb den Rachen förmlich auf. Ich erinnerte mich, daß ich ein winziges Fläschchen mit japanischem Heilpflan zenöl bei mir hatte und nahm zwei Tropfen auf die Zunge. Das spendete für eine Weile Erleichterung und öffnete die Atemwege. Neben Aspirin war dieses Pflanzenmittel das
einzige Medikament, das ich nahm. Nena mußte mich mit ihrem Fernglas sehen können. Ich hoffte, sie war beruhigt. Vor dem Start hatte ich ihr erklärt, daß es keine Probleme geben dürfte, wenn ich am ersten Tag mehr als 1200 Höhenmeter schaffte. Beim Alleingang auf den Nanga Parbat zwei Jahre vorher, der mir den psychischen Rückhalt für diese Solo-Tour auf den Everest gegeben hatte, konnte ich am ersten Tag zwar 1600 Höhenmeter klettern, aber damals war ich bei 4800 Metern gestartet. Und es war ein himmelweiter Unterschied, ob man in 6000 oder 7000 Metern Meereshöhe kletterte. Hier wurde jeder Handgriff zur Über windung. Mein winziges Zelt, keine zwei Kilogramm schwer und doch so gebaut, daß es Stürme mit bis zu hundert Stundenki lometern Geschwindigkeit standhalten konnte, brauchte nicht viel Platz. Es war gerade so groß, daß ich mit angewinkelten Knien darin liegen konnte. Ich hatte Mühe, es aufzuspannen, weil immer wieder eine Windböe hineinfuhr und es hochhob. Mit Skistöcken, Eispickel und dem einzigen Felshaken, den ich dabei hatte, fixierte ich es. Ich legte eine fingerdicke Schaum gummimatte auf den Boden und kroch hinein. Eine Zeitlang lag ich nur da und hörte dem Wind zu, der die Eiskristalle auf die Zeltwand warf. Er kam aus Nordwesten. Das war ein gutes Zeichen: Das Wetter blieb gut. Ich sollte kochen. Aber von den vielen kleinen Vorbereitun gen für das Nachtlager war ich so müde, daß ich mich nicht dazu aufraffen konnte, obwohl ich seit dem Morgen nichts gegessen hatte. Mit Bewunderung dachte ich an Maurice Wilson, einen re ligiösen Fanatiker, der 1934 bereits einen Alleingang auf den
Everest gewagt hatte, obwohl er kein Bergsteiger gewesen war. Er war felsenfest davon überzeugt gewesen, daß Gott ihn auf den Everest führen würde. Er hatte auch nach schlimmsten Schneestürmen und mehreren Abstürzen nicht aufgegeben. Beim ersten Anlauf zum Nordsattel hatte er die Strecke vom vorgeschobenen Basislager bis auf den Paß in 7000 Meter Meereshöhe in vier Tagen nicht zurücklegen können. Am Ende seiner Kräfte war er zurückgekrochen in sein letztes Lager, wo zwei Träger auf ihn gewartet hatten. Sie hatten gewußt, daß es Wilson nicht schaffen konnte und versucht, ihn zum Aufgeben zu überreden. Als er sich wieder auf den Beinen hatte halten können, war der Besessene wieder aufge stiegen. Ein Jahr später hatte man am Fuße des Nordsattels seine Leiche gefunden. Die letzten Zeilen seines Tagebuches lauteten: »Herrlicher Tag, auf geht’s.« War ich genauso verrückt wie Wilson, besessen von einer Idee, die niemand verstand, nicht einmal die Bergsteiger? Ich hatte den Mount Everest schon einmal bestiegen. Warum ein zweites Mal das Risiko, die Schinderei? Diesmal war ich auf einem anderen Berg, auch wenn er denselben Gipfel hatte. »Fai la cucina«, sagte jemand neben mir, »kümmere dich um die Küche«, und ich dachte wieder ans Kochen. Ich redete halblaut vor mich hin. Das starke Gefühl, mit einem unsicht baren Begleiter zu sein, ließ mich hoffen, daß der andere kochte. Ich fragte mich, wie wir wohl Platz haben würden beim Schlafen in diesem winzigen Zelt. Ich wollte das erste Stück Trockenfleisch, das ich aus dem Rucksack holte, in zwei gleiche Hälften teilen. Ich redete Italienisch, obwohl für mich als Südtiroler Deutsch die Muttersprache war und ich mit meiner kanadischen Freundin Nena seit drei Monaten nur Englisch sprach.
Der Wind war so stark geworden, daß das Zelt flatterte, und immer, wenn ich den Eingang zwei Handbreit öffnete, um mit dem Deckel meines Kochtopfes Schnee hereinzuschaufeln, blies er die Flamme meines Gasbrenners aus. »Das wird eine schlimme Nacht«, dachte ich. Es brauchte eine Menge Schnee, bis ich einen Liter Wasser geschmolzen hatte. Zuerst machte ich eine Tomatensuppe. Dann zwei Töpfe mit tibetischem Salztee. Von Nomaden hatte ich gelernt, ihn zuzubereiten. Eine Handfläche voll Kräuter für einen Liter Wasser, dazu zwei Prisen Salz. Ich mußte viel trinken: vier Liter am Tag, wenn ich nicht austrocknen wollte. Mein Blut würde zu dick werden, wenn ich nicht genug Flüs sigkeit zu mir nahm. Das Kochen dauerte einige Stunden. Ich lag nur da, hielt den Kochtopf und schob ein Stück Trockenfleisch oder Parme sankäse in meinen Mund. Dazu kaute ich hartes Südtiroler Bauernbrot. All die kleinen Handgriffe summierten sich zu einer körperlichen Qual. Ich lag mit meinen Kleidern im Schlafsack und döste vor mich hin. Wenn ich die Augen aufschlug, wußte ich nicht, ob es Abend oder Morgen war. Aber auf die Uhr sehen wollte ich nicht. Ganz tief drinnen in mir saß die Angst. Es war nicht Furcht vor etwas Bestimmtem, die mich packte, es war die ganze Erfahrung meines Bergsteigerlebens, die Anstrengung von dreißig Jahren Kletterei, die in mir wach wurde. Lawinen, Erschöpfungszustände, die ich erlebt hatte, verdichteten sich jetzt zu einer breiten, tiefen Angst. Ich wußte, was mir alles zustoßen konnte da oben. Ich wußte, wie groß die Schinderei unter dem Gipfel sein würde. Hätte ich es nicht gewußt, wie hätte ich mich später Stunde um Stunde, Schritt für Schritt
überwinden können, weiterzugehen. Als die Sonne am Morgen mein Zelt traf und den Rauhreif von der Innenwand leckte, packte ich alles wieder ein. Zwei Sardinenbüchsen und eine Gaskartusche sowie die Hälfte der Suppen und des Tees ließ ich zurück. Ich mußte mit dem Rest der Nahrungsmittel auskommen. Das Wetter war gut, andern tags mußte ich auf dem Gipfel sein. Die ersten fünfzig Meter war ich langsam. Dann fand ich meinen Rhythmus wieder. Ich kam ganz gut voran. Ich kletter te jetzt etwas rechts vom Nordgrat, das Gelände wurde steiler und steiler. Ich blieb im Schnee stecken. Es ging unendlich langsam. Bis ich an eine Lawinenbruchstelle kam. Rechts in der Nordwand sah ich eine Chance. Die ganze Flanke war ein einziger Lawinenstrich. Dort könnte ich mich schnell genug bewegen. Ich redete mir ein, daß nach den zwei Schönwetter wochen keine Lawinengefahr bestand, daß der Schnee sich da oben verfestigt hatte. Zwei Tage würde das Wetter schon noch halten. So begann ich eine lange, leicht ansteigende Querung nach oben, mit vielen Pausen, aber gleichmäßig. Über der Anstren gung und Konzentration hatte ich nicht bemerkt, daß das Wetter schlecht geworden war. Ringsherum war alles mit Nebel verhangen. Die Berge unter mir hatten sich verflacht. Ich selbst ging mit dem Gefühl, nicht mehr zur Welt da unten zu gehören. Als ich um drei Uhr nachmittags nahe der Norton-Schlucht auf den Höhenmesser schaute, war ich enttäuscht. Er zeigte nur 8220 Meter. Ich wäre gern weiter hinaufgekommen. Aber da gab es keinen Biwakplatz. Im übrigen war ich zu müde. Also blieb ich.
Auf einem Felsvorsprung stand eine Stunde später mein Zelt. Das Fotografieren hatte ich aufgegeben. Es kostete zuviel Anstrengung, die Kamera auf den Eispickel zu schrauben, auszulösen, zehn Schritte wegzugehen und auf das Klicken des Selbstauslösers zu warten. Es war viel wichtiger, daß ich mir etwas zu trinken machte. Der Schnee war am Rand des Felsens zu Eis geworden. Ich war sicher, es taute im Hochsommer, wenn es windstill und nebelig war, sogar auf dem Gipfel des Mount Everest. Ich durfte trotzdem nicht leichtfertig werden, weil in dieser Höhe schon einige Grad unter Null Erfrierungen verursachen konnten. Was wäre, wenn sich morgen der dichte Nebel nicht auflöste? Sollte ich abwarten? Nein, das war sinnlos. Auf dieser Höhe gab es keine Erholung mehr. Übermorgen wäre ich so geschwächt gewesen, daß es für einen Gipfelangriff nicht mehr gereicht hätte. Ich mußte entweder hinauf oder hinunter. Es gab keine andere Wahl. Zweimal maß ich während des Schneeschmelzens meinen Puls. Weit über hundert Schläge in der Minute. Diese Nacht dauerte lange. Ich behielt meine plumpen, doppelschichtigen Plastikstiefel an, damit sie nicht auskühlten. Am Morgen des 20. August ließ ich alles zurück. Auch der Rucksack blieb im Zelt, aber schon nach kurzer Zeit vermißte ich ihn wie einen treuen Freund. Er war mein Gesprächspart ner geworden, er hatte mich aufgemuntert weiterzugehen, wenn ich völlig erschöpft gewesen war. Sauerstoffmangel und die ungenügende Durchblutung des Gehirns waren wohl die Ursache für diese rational nicht erklärbaren Erlebnisse, die ich auch bei meinem Alleingang auf den Nanga Parbat kennenge lernt hatte. Hier oben hatte schon der Engländer Smythe 1933
seinen Keks mit einem imaginären Partner geteilt. Der Rucksack war mein Begleiter gewesen. Aber ohne ihn ging es viel leichter. Und mein zweiter Freund, der Eispickel, war ja noch da. Der Weg hinein in die Norton-Schlucht war nicht allzu schwierig. Die Einbildung, hier schon einmal geklettert zu sein, half mir, die einzig richtige Route zu finden. Eine Schnee rinne führte zu einer Steilstufe, die mit hellerem Fels durch setzt war. In der Mitte ein schmales, durchgehendes Schnee band, das den Aufstieg erleichterte. Hier war vor nicht allzu langer Zeit eine Lawine abgegangen, und deshalb trug der Schnee. Aber er wurde weicher und mein Tempo immer langsamer. Auf Händen und Knien kletterte ich nach oben, wie ein Vierbeiner, völlig apathisch, unendlich weit der Weg. Als ich auf einem Band unterhalb des Gipfels stand, war der Nebel so dicht, daß ich mich kaum orientieren konnte. Eine dunkle, senkrechte Felsmauer über mir riegelte den Weg ab. Aber irgend etwas in mir zog mich nach links. In einer kleinen Schleife umging ich das Hindernis. Die nächsten drei Stunden nahm ich als Zeit nicht mehr wahr. Immer, wenn der blaue Himmel zwischen den dicken Wolken durchkam, glaubte ich, den Gipfel zu sehen. Und dann war ich doch erstaunt, als plötzlich das Aluminiumsta tiv, das kaum noch aus dem Schnee ragte, das Gipfelzeichen des Everest, vor mir stand. Die Chinesen hatten es 1975 am höchsten Punkt verankert, um genaue Vermessungen durch führen zu können. Aber jetzt in der Monsunzeit war alles anders hier oben. Schneewächten türmten sich nach Süden hin, die mir höher erschienen als mein Standort. Ich hockte mich hin, fühlte mich schwer wie ein Stein. Ein
Stoffetzen, um die Stativspitze gewickelt, war gefroren. Ich mußte einige Bilder machen. Das sagte ich mir wie eine Formel vor. Aber ich konnte mich lange nicht dazu aufraffen. In diesem Augenblick war ich nicht enttäuscht, daß ich wieder keine Fernsicht hatte. Zum zweiten Mal war ich auf dem höchsten Punkt der Erde, und wieder konnte ich nichts sehen. Dafür war es völlig windstill. Die Wolken quollen rundum, als ob die Erde darunter pulsierte. Ich wußte noch nicht, wie ich es geschafft hatte, aber ich wußte, daß ich mehr nicht konnte. Ich konnte nur noch aufstehen für den Abstieg.
Ed Webster aus Schnee im Königreich: Meine Sturmjahre am Everest Ed Webster (geboren 1956) und drei Gefährten bezwangen im Jahr 1988 die gefährliche Kangshung-Wand am Everest – ohne Sauerstoff und ohne Sherpas. Drei Mitglieder der Gruppe machten sich auf den Weg zum Gipfel, nachdem sie von der Kangshung-Wand zum Südcol aufgestiegen waren, doch nur der Engländer Stephen Venables schaffte es. Nach einer entsetzlichen Nacht im Freien stieß er wieder zu den Amerikanern Webster und Robert Anderson, und sie stiegen gemeinsam vom Kangshung ab. Wir standen draußen vor dem japanischen Zelt in 8382 Metern Höhe, und es war lebenswichtig für uns, daß wir so schnell wie möglich zu unseren eigenen Zelten, Schlafsäcken und Öfen am Südcol zurückkehrten, um unsere müden, zerschla genen Körper aufzuwärmen und ihnen Flüssigkeit zuzufüh ren. Ich hatte mir bis dahin nicht klargemacht, wie schwierig der Abstieg über unsere Route am East Face werden würde, doch nun zeigte sich, daß wir bis an unsere äußersten Grenzen gegangen waren. Durch unser Sieben-Millimeter-Seil verbun den, stiegen wir zum Col hinunter. Robert ging an der Spitze und führte Stephen, der sehr unsicher auf den Beinen war. Ich bildete den Schluß und fragte mich, ob ich das Seil würde halten können, wenn jemand ausrutschte. Glücklicherweise wurde das Terrain rasch einfacher, und bald befanden wir uns
wieder in der flachen, erstarrten, windverwehten Eiswüste am Südcol. Während wir zu unseren beiden Zelten in Lager III zurückstolperten, ging mir langsam auf, wie ausgeliefert wir waren. In dieser extremen Höhe in 7894 Metern gab es keiner lei Hoffnung auf Hilfe von außen. Helikopter können nicht über 6096 Meter hoch steigen. Auf der nepalesischen Seite des Berges hielten sich zwar momentan mehrere Expeditionen auf, doch keine war nah genug, um uns zu Hilfe zu kommen; ja, sie wußten nicht einmal, daß wir hier waren. Wir waren drei völlig auf sich allein gestellte Menschen, im Zustand äußerster Erschöpfung, praktisch von der Außenwelt abgeschnitten. Ganze 2438 Meter tiefer – in Tibet – harrten Mimi, Joe und Paul, so hofften wir wenigstens, im vorgeschobenen Basislager unserer Rückkehr. Als Stephen und Robert stehenblieben, um sich einen Au genblick auszuruhen, stapfte ich nach vorn und zog meine Nikon heraus, um sie zu fotografieren, während sie auf mich zukamen. Von meinen Erfrierungen spürte ich zu diesem Zeitpunkt noch kaum etwas. Ich machte zwei Aufnahmen von meinen halberfrorenen Gefährten. Auf dem ersten Bild stützte Stephen sich müde auf Robert, auf dem Foto Nummer sieben unddreißig stand er allein da, den Eispickel in Siegerpose erhoben. Es war ein besonders stolzer Moment. Der Rest des Tages verwischt sich in meiner Erinnerung. Sauerstoffmangel und überwältigende Müdigkeit, dazu Nahrungs-, Wasser- und Schlafmangel machten uns völlig lethar gisch. Wir lebten gleichsam in Zeitlupe. Daß wir uns in den Zelten auf dem Col hinlegten und ausruhten, daß wir unsere Anzüge auszogen und aufatmend in die wohlige Wärme unserer Schlafsäcke krochen und daß wir uns später Tee kochten, weiß ich nur, weil es mir irgendwie gelungen sein
muß, auch davon Aufnahmen zu machen. Ich erinnere mich schwach, daß ich meine Über- und Un terhandschuhe auszog und meine Finger inspizierte. Die Fingerspitzen meiner linken Hand waren grau, kalt, taub, hölzern, in entschieden schlechterem Zustand als die der rechten. Ich grübelte, was zu tun war, und beschloß schließ lich, sie in unserem winzigen Topf mit Tee aufzutauen. Ste phen machte dasselbe mit seinen erfrorenen linken Zehen. Wir wußten zwar, daß die Erwärmung erfrorenen Gewebes erst vorgenommen werden sollte, wenn keine Gefahr erneuter Erfrierungen mehr bestand, aber wir waren zuversichtlich, daß der Abstieg über das East Face uns vor keine ernsthaften Probleme stellen würde. Was konnte schlimmer sein als der Alptraum, den wir gerade überlebt hatten? Wir rechneten damit, in spätestens zwei Tagen in der Obhut der Expeditions ärztin Mimi im vorgeschobenen Basislager zu sein. Dann sackten wir, zu Tode erschöpft, weg und fielen in Schlaf. Selbst wenn uns bewußt war, daß wir hätten versuchen sollen, Lager II noch am selben Tag zu erreichen, so wurde nicht darüber geredet. Besonnene, rationale Überlegungen schienen keine Bedeutung mehr zu haben. Im Unterbewußt sein war uns, glaube ich, klar, daß der dritte Tag über achttau send Meter gefährlich, vielleicht sogar tödlich sein konnte, doch unsere Körper sehnten sich nur noch nach Schlaf und Ruhe. Der Aufstieg zum Gipfel hatte schier übermenschliche Kräfte erfordert. Jetzt wollten wir nach Hause. Die Frage war nur: Würden wir es noch schaffen? Die Zeit verstrich. Ich tauchte aus tiefem Schlaf empor und starrte auf das Leuchtzifferblatt meiner Armbanduhr. Es war 2.30 Uhr – morgens oder nachts? Ich wußte es nicht mehr.
Mein Verstand funktionierte nicht. Welchen Tag hatten wir? Wo waren wir überhaupt? Wir sind am Südcol auf dem Mount Everest… Nach der quälend langen Nacht, zusammenge pfercht im japanischen Zelt, war es so herrlich warm, hier in meinen Schlafsack gekuschelt… Konnten wir nicht einfach noch ein Weilchen liegenbleiben? Ich wollte mich nicht bewe gen und schlief wieder ein, für den Rest des Tages und der Nacht. Am nächsten Morgen hatten wir nichts mehr zu essen, was unseren physischen und psychischen Zustand noch ver schlimmerte. Die Hoffnung auf einen leichten, raschen Abstieg war verflogen. Heute war unser vierter Tag oberhalb 8000 Meter ohne Sauerstoff… Unsere Körper reagierten nicht mehr auf die Signale unseres Gehirns… Wir konnten uns kaum noch rühren…Jede Anstrengung lief auf einen geradezu über menschlichen Kampf hinaus. Stephens und mein letzter Gas kanister waren gestern leer geworden, aber glücklicherweise funktionierte Roberts Kocher noch. Stephen und ich lagen träge in unseren Schlafsäcken, unfähig, eine Hand zu bewe gen, um uns zum Abstieg zu rüsten, und warteten stunden lang darauf, daß Robert uns eine einzige, halbgefüllte Tasse heißes Wasser brachte – unser Frühstück. Wir mußten ein mitleiderregender Anblick sein, apathisch, lustlos, langsam verlöschend, zeitweise ohne jedes Interesse, irgend etwas zu unternehmen, um uns vor dem zu retten, was mit Sicherheit eintreten würde, wenn wir hier einfach liegenblieben. Allmäh lich dämmerte mir, daß wir um unser Leben kämpften. Die beiden Zelte in Lager III auf dem Col waren zu schwer, um sie zu tragen. Wir würden sie hier zurücklassen und in Lager II im Freien in unseren Schlafsäcken biwakieren müssen. In Lager I befanden sich zwei Zelte und Nahrungsmittel. Auch
meine wunderbar warme Daunenweste zog ich aus. Schließ lich redete ich mir, in dem Bestreben, noch mehr Gewicht abzulegen, ein, daß der Abstieg nur mit Wollhandschuhen am Seil leichter sei, und ließ auch meine gut isolierten Überhand schuhe weg – im Rückblick ein weiterer Irrtum, der mich teuer zu stehen kam. Ich kroch aus dem Zelt und brachte, abwechselnd im Schnee liegend und sitzend, die letzte, schwierigste Aufgabe hinter mich, nämlich die Steigeisen an den Stiefeln zu befesti gen. Würde ich überhaupt stehen können? Ich schaute zu Robert hinüber, der flach auf dem Rücken im Zelt lag, die Stiefel ragten aus dem Eingang hervor wie die Füße eines Toten. Doch alle paar Augenblicke erwachte er zum Leben, setzte sich auf und kämpfte mit seinen Steigeisen, bevor er wieder zusammenbrach… Auch Stephen bereitete sich auf den Aufbruch vor und lag vor unserem Zelt auf dem Boden, hingestreckt wie ein Leichnam. Ich zog meine automatische Kamera heraus, um ein Bild von ihm zu machen, und er winkte mir halbherzig zu, um zu zeigen, daß er noch am Leben war. Tatsächlich, ich konnte aufstehen, wenn auch unter Schwie rigkeiten. Ich wankte zur Ostseite des Col hinüber, tat vorsich tig den ersten Schritt den steilen Hang hinunter und versank bis zum Bauch im frischen Pulverschnee. Gut zum Skifahren, weniger gut zum Hindurchwaten! Diese Bescherung hatten wir den Nachmittagsstürmen der beiden letzten Tage zu verdanken; der Schnee war von den heftigen Winden über den Col auf die Leeseite geblasen worden. Die Bedingungen im oberen Teil der Schneeschüssel hätten schlechter nicht sein können. Es bestand akute Lawinengefahr. Zu allem Überfluß vernebelten uns auch noch dicke Monsunwolken die Sicht.
Wir hatten keine Wahl, als weiter in Richtung Lager II zu marschieren. Anfangs hatten wir noch über die Möglichkeit gesprochen, nach Nepal, in die westliche Cwm, abzusteigen, wenn die Bedingungen entsprechend waren. Dieser Ausweg mochte nun, da die Schneeverhältnisse derart schlecht waren, gerechtfertigt sein, doch die paar Schritte die Ostseite hinunter waren genau die paar Schritte zuviel, um noch umkehren zu können. Ich stolperte weiter den Abhang hinunter, mit jedem Schritt tief in den Pulverschnee einsinkend. Meine Ohren schmerzten beinahe vom angestrengten Lauschen auf das leiseste Knistern oder Knacken im Schnee. Ich horchte ange spannt und wartete auf die Katastrophe. »Wie sieht’s da unten aus?« rief eine Stimme von oben. Es war Robert. Ich sah ihn als Silhouette auf dem Kamm des Südcol einhundertfünfzig Meter über mir. »Gefährlich! Rutsch auf keinen Fall aus«, schrie ich zurück. »Schlitter nicht den Hang hinunter. Bleib in meinen Spuren!« Minuten später schüttelte ich ungläubig den Kopf. Weit links sah ich Robert, fast auf einer Höhe mit mir! Eine kleine, einsame Gestalt, stand er mitten in einem riesigen Schneefeld direkt unterhalb des Col. Wie war er so schnell dahin gekom men? »Was machst du da?« rief ich hinüber. »Ich bin geschliddert. Es sah eigentlich ganz gut aus«, ant wortete Robert. »Aber dann bin ich, glaube ich, ein bißchen zu schnell geworden. Und… ich habe beide Eispickel verloren. Kannst du mir vielleicht deinen zweiten Skistock borgen?« Seine Stimme klang jetzt doch etwas erschrocken; immerhin war er über neunzig Meter weit abgerutscht. Stephen verließ Lager III zehn Minuten nach Robert, des halb hatte er seine Rutschpartie nicht miterlebt. Als er die
Kante des Grats erreichte, sah er lediglich Roberts erste Schlidderspur im Schnee. Unter ihm hatten die Wolken Robert und mich bereits verschluckt. Also beschloß er – unglückseli gerweise –, ebenfalls zu rutschen. Auch er verlor die Kontrolle über die Geschwindigkeit und rutschte gefährlich weit ab. Sowohl Robert als auch Stephen hatten dabei ihre Eispickel verloren. So kam es, daß ich für den Rest unseres Abstiegs von der Kangshung-Wand des Everest der einzige war, der einen Eispickel besaß. Robert benutzte meinen zweiten Skistock, und Stephen hatte nichts mehr in der Hand, was ihm Sicherheit und Halt geben konnte, weder Eispickel noch Skistock. Ich stapfte weiter den sanften Schneehang hinunter, bemüh te mich, die alles verhüllenden Nebelwolken mit meinen Blicken zu durchdringen, und hoffte und betete, daß ich den Weg zum Lager II finden würde – das nach den Schlidderpar tien meiner Kameraden sehr weit weg schien. Jeder Schritt in dem tiefen weichen Schnee kostete mich größte Anstrengung. Die Kraft dazu floß mir aus einem bisher unentdeckten Reser voir tief in meinem Innern zu. Ich war dankbar, daß es dieses Reservoir gab, aber wie lange würde es wohl vorhalten? Völlig unerwartet hörte ich ein dumpfes Brüllen über mir, dessen rasch anschwellende Schallwellen durch den grauen Wolkenvorhang den Hang hinunterrasten. Eine Lawine! Glücklicherweise kam sie nicht direkt auf mich zu, sondern war links über mir losgegangen. Doch dann merkte ich zu meinem Entsetzen, daß das Krachen von dem riesigen, instabi len Schneehang herkam, auf dem ich Robert zum letzten Mal gesehen hatte. Mein Magen krampfte sich zu einem harten, schmerzenden Knoten zusammen. Der Nebelvorhang war so dicht, daß ich die Lawine gar
nicht sah. Ich konnte nur das fallende Gestein, die vielen tausend Tonnen Schnee und Eis hören, jetzt links neben, jetzt unter mir, die einen Menschen mit sich rissen – hinaus über den Kamm des ungeheuren Lhotse-Eisfelsens. Ich stellte mir vor, wie Robert mitten in dem Schneefeld stand, während die riesige weiße Welle über ihn hereinbrach, ihn hinabtrug, weiter und weiter, über den Abgrund in den Tod. Ich wandte mich, heiser atmend, bergabwärts und nahm meinen Marsch wieder auf. Nur Stephen und ich waren noch übrig. Robert war fort. Wie sollten wir den anderen begreiflich machen, daß Robert beim Abstieg umgekommen war? Ich wußte es nicht. Mein Atmen ging in schluchzenden Stößen. Stephen und ich mußten diesen Abstieg überleben. Wir durf ten dem Berg nicht nachgeben. Nein, wir durften nicht ster ben. Minuten später sah ich mich um, um meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt zu finden. Nur ein Pünktchen, eine kleine schwarze Gestalt vor dem weißen Schnee, folgte in meiner Spur. Nicht zwei Punkte, nur einer. Das Adrenalin trug mich die nächsten paar dreißig Meter hinab. Als ich stehenblieb, um auszuruhen, und mich umdreh te… waren da wieder zwei Punkte, nicht einer! Ich zählte sie einmal, zweimal, ein drittes Mal, um sicherzugehen, daß meine Augen mich nicht trogen. Robert war nicht in der Lawine umgekommen! Ein heißes Glücksgefühl stieg in mir auf, als mir klar wurde, daß er noch lebte, aber ich fragte mich auch ungläubig, wie mein Hirn mich wohl so hatte täuschen können. Hatte ich wieder Halluzinationen? Ich glaubte immer noch, wir könnten noch vor dem Abend den Flying Wing und die Schneeplattform von Lager II errei
chen. Vorsichtig schritt ich über die teilweise verborgene Randspalte eines Gletschers und versuchte mich zu erinnern, auf welcher Höhe wir die Talsohle des ungeheuren Schnee beckens unter dem Südcol diagonal gequert hatten. Nachdem ich noch ein paar dreißig Meter in vertikaler Linie abgestiegen war, wandte ich mich langsam nach links. Wir hatten beim Aufstieg eine lange Traverse von der rechten Seite des Flying Wing nach links gelegt; nun mußte ich dasselbe in umgekehr ter Richtung machen. Leider hatten sich die Schneeverhältnis se seit unserem Aufstieg vollkommen verändert. Jetzt watete ich durch hüfthohen, instabilen Pulverschnee, der jederzeit in einer Lawine ungeheuren Ausmaßes niedergehen konnte. Als ich mich anschickte, das Schneefeld zu überqueren, war ich mir bewußt, daß es eine schwere, gefährliche Last trug. Es konnte jede Sekunde ohne Vorwarnung abbrechen. Ich querte fast horizontal hinüber, wohl wissend, daß ich eine der wich tigsten Bergsteigerregeln brach, indem ich einen Lawinenhang direkt querte, aber in diesem Fall blieb mir einfach keine andere Wahl. Wenn der Hang ins Rutschen kam, was meiner Ansicht nach fast unausweichlich war, würde ich in eine der vielen tiefen Gletscherspalten stürzen oder in den Witches’ Cauldron am Fuß des Lhotse, 2134 Meter unter uns, gerissen werden. Für mich gab es kein Entrinnen, wenn der Hang nachgab, aber vielleicht würden die anderen überleben. Vielleicht würde der Schnee unterhalb von ihnen abrutschen, und nur ich würde fortgerissen werden. Ich setzte also meine Füße so sacht wie möglich auf; die schweren Stiefel versanken tief im frisch gefallenen Schnee. Ich erreichte die andere Seite des Schneefelds rechts über
dem Flying Wing und sackte vor Erleichterung nach vorn. Das nächste Hindernis war eine große tiefe Spalte, die von der abgewandten oberen Seite des Flying Wing-Schneeblocks gebildet wurde. Ich wußte, daß die potentiell tödliche Falle direkt unter mir lag. Beim Aufstieg hatten wir sie über eine zerbrechliche Schneebrücke passiert, aber wo? Als ich auf den Bergschrund zustolperte, drang plötzlich ein alarmierender Gedanke durch den Nebel meines Hirns. Warum waren wir in dieser Situation eigentlich nicht aus Sicher heitsgründen angeseilt? Wo war überhaupt das Kletterseil? Ich hatte es nicht, Robert und Stephen meines Wissens auch nicht. Vor unserem Aufbruch am Südcol hatten wir nicht darüber gesprochen, ob wir uns anseilen sollten oder nicht, vermutlich weil wir uns beim Aufstieg auf den Gipfel daran gewöhnt hatten, allein, unangeseilt, zu klettern. Wir hatten wohl ge meint, wir würden unterhalb des Südcol auch kein Seil nötig haben. Erst Monate später entdeckte ich das fehlende Seil auf einem Foto. Es lag aufgerollt im Schnee vor Stephens und meinem Zelt auf dem Col. Wir hatten es ganz einfach vergessen. Wegen der dichten Wolken konnte ich allenfalls fünfzehn Meter weit sehen, immerhin genug, um ziemlich weit links von mir die zerklüftete Oberlippe des Flying Wing zu erken nen. Dann materialisierte sich aus den Wolken eine Erschei nung. Es war eine winzige orangefarbene Flagge am höchsten der Bambusstöcke, die ich vor vier Tagen hier aufgepflanzt hatte, um die Route über die Gletscherspalte zu kennzeichnen. Ich stolperte durch den Schnee vorwärts und griff nach dem Stock; er war real! Auf Zehenspitzen ging ich vorsichtig auf die Schneebrücke zu. Ich war nicht sicher, ob sie fest genug war, um mich zu tragen, deshalb sprang ich hinüber.
Nach der Landung auf der anderen Seite hörte ich hinter mir ein Umpf – das typische Geräusch brechenden Schnees, der absackt und in unergründliche Tiefen stürzt. Ein schwar zes Loch gähnte an der Stelle, an der die Brücke nachgegeben hatte, anderthalb Meter links von der Stelle, an der ich stand. Hier war die Spalte sehr viel breiter. Die anderen würden das Loch sehen und wissen, daß sie sich vorsehen mußten. Lager II war nun schon fast in Sicht. Ich stieg den nächsten Schneehang hinunter, umging die überhängende Eisschroffe auf der rechten Seite des Flying Wing und stapfte hinüber zu unserer Plattform. In der Dämmerung fegte ich losen Schnee von der Stelle, an der wir beim Aufstieg gezeltet hatten. Dann entdeckte ich vier oder fünf Brennstoffpatronen in einem Vorratsbeutel, den wir hier deponiert hatten. Robert trudelte als nächster ein. Wir zogen unsere Schlaf säcke heraus und warfen den Kocher an. Stephen erschien erst, als es schon dunkel wurde. Robert zauberte ein paar Tütchen japanischen Instantkaffees mit Milch hervor, die er vor zwei Tagen gefunden hatte, und wir tranken genüßlich. Leider hatten wir keinen Zucker, keine Teebeutel und auch keine Suppe hiergelassen. Es klarte auf, und zwischen den aufrei ßenden Wolken kamen der Makalu und der Chomo Lonzo in Sicht, während der kalte schwarze Himmel über uns stand. Ein paar Tassen heißes Wasser stillten unseren Durst, dann fielen wir in Schlaf, tief in unsere warmen, weichen Daunen höhlen gekuschelt. Am Morgen des 15. Mai konnten wir uns einfach nicht von unseren Schlafsäcken trennen. Das Aufsetzen, ganz zu schweigen vom Aufstehen, überstieg unsere Kräfte. Wir un terhielten uns träge, sackten aber immer wieder weg. Zweimal
versuchte Stephen, Schnee zu Trinkwasser zu schmelzen, doch der heiße Kocher schmolz ein Loch in den Schnee – und als wir einschliefen, kippte er um, und die mühsam gewonnene Flüssigkeit lief aus. Aber was machte das schon? War über haupt noch etwas wichtig? Es schien keine Notwendigkeit mehr zu bestehen, noch irgend etwas zu tun, auf jeden Fall nicht abzusteigen. Wir hatten Zeit im Überfluß. Die Sonne war aufgegangen, und die Temperatur stieg deutlich. Die Drohung, die über uns hing, wurde immer mehr zur unleugbaren Realität: Wenn wir den Flying Wing nicht schleunigst verlie ßen, würden wir hier sterben. Ich, der ich noch nie zu Temperamentsausbrüchen geneigt hatte, wurde zunehmend wütender über unsere Situation. Ich spürte die Nähe des Todes. Überwältigt von der allgemeinen Lethargie, lagen Stephen und Robert in ihren Schlafsäcken und schliefen, nur ich war aus irgendeinem Grund noch etwas wacher. Ich weiß auch nicht, warum. Während ich mit meinen erfrorenen Fingerspitzen unbeholfen am Kocher herumfum melte, den Schalter andrehte und mit dem Anzünder hantier te, um den Brenner in Gang zu setzen, spürte ich, wie die Wut in mir hochkam. Ich schrie Robert und Stephen an, daß wir losgehen, uns bewegen, etwas unternehmen müßten. Wir konnten uns doch nicht einfach hinlegen und sterben. Ich glaube, daß ich mir bewußt war, vorübergehend die Führungsrolle übernommen zu haben, aber es war eine aus Verzweiflung geborene Führerschaft. Ich wollte diese Pflicht nicht. Mir war sehr viel wohler bei einer gemeinsamen, demokratischen Führung, aber ich wußte auch, daß ich nicht mehr lange durchhalten würde. Noch ein, allerhöchstens zwei Tage ohne Nahrung, dann wär’s aus. Wenn es also an mir war, uns durch die Schrecken des heutigen Tages zu bringen, dann
müßte ich das tun. Wenn meine Wut und meine Erbitterung über den drohenden Tod dazu beitragen konnten, Stephen und Robert auf die Beine zu bringen, um so besser. Wir hatten alle drei am 12. Mai, dem Gipfeltag, und bei un serem erzwungenen Biwak in jener Nacht Erfrierungen da vongetragen, doch Stephen und Robert schien es weniger schwer erwischt zu haben als mich. Wundersamerweise waren Stephens Hände und Finger in der langen Nacht in 8717 Metern Höhe nicht erfroren – dank Eric Shiptons kompetenter Fürsorge und dem Feuer eines Yaktreibers; hilfreiche Halluzi nationen, wie Stephen erklärte. Seine Nasenspitze, die dem Wind ausgesetzt gewesen war, war dagegen in Mitleiden schaft gezogen und hatte mittlerweile ein gesprenkeltes Asch grau angenommen. Stephen und ich hatten unsere Stiefel nicht ausgezogen, weil wir extra wärmeisolierende Gamaschen darüber trugen, und konnten daher über den Zustand unserer Zehen nur Vermutungen anstellen. Stephen meinte, die Zehen seines linken Fußes seien taub. Von Roberts Fingerspitzen waren neun mit dick geschwollenen schwarzen Frostbeulen bedeckt, wie auch meine, und die Zehen von Roberts linkem Fuß fühlten sich eiskalt an, wie er sagte. Gegen Morgen zogen Wolken auf. Sie hielten die Mittags hitze ab, während wir versuchten, uns für den Abstieg bereit zumachen. Wir wollten eigentlich um elf Uhr aufbrechen, doch dann wurde es zwölf, dreizehn, vierzehn, ja fünfzehn Uhr. Wir mochten uns noch so anstrengen, wir schafften es einfach nicht, unsere Sachen zusammenzupacken, die Steigei sen anzulegen oder auch nur aufzustehen – die größte Heraus forderung von allen. Jede Bewegung erforderte eine ungeheu re Anstrengung unserer Sauerstoff- und energieentwöhnten Hirne. Robert sagte später: »Wir besaßen die kollektive Ener
gie einer Maus.« Wir sprachen wenig. Hatten Joe und Mimi gesehen, daß wir abstiegen? Sollten wir ihnen ein Signal geben? Stephen meinte, sie hätten letzte Nacht unsere Stirn lampen sehen müssen, und wenn nicht, würden sie heute bestimmt durch das Teleskop im vorgeschobenen Basislager schauen. Die Stunden verstrichen… Ein dritter Versuch, etwas Was ser zu erhitzen, gelang. Dann entdeckte Stephen ein Päckchen Instant-Kartoffelbrei und gefriergetrocknete Suppe aus Mee resfrüchten und schlug vor, davon zu essen. Bei der bloßen Erwähnung von Essen wurde mir schlecht. Ich lehnte ab, aber er und Robert aßen etwas Kartoffelbrei. Ein einziger Gedanke beherrschte mich: »Ich muß ins vor geschobene Basislager, damit Mimi mich verarzten kann.« Meine Fingerspitzen sahen immer schrecklicher aus; die Frostbeulen wurden zunehmend dicker. Nachdem ich mich zuerst auf einen Ellbogen gestützt hatte, gelang es mir, mich unter größter Anstrengung aufzusetzen. Zwei Stunden später, nachdem ich wiederholt zusammengebrochen war, hatte ich meinen Schlafsack eingepackt. Wieder drängte ich Robert und Stephen zum Abstieg. Als ich um 15.45 das Lager verließ, befestigten sie noch ihre Steigeisen. Um achtzehn Uhr würde es dunkel werden. Beinahe zeitgleich mit meinem Aufbruch verwandelte sich der Himmel in ein bleigraues Laken. Um mich herum ballten sich schneegefüllte Monsunwolken zusammen, die gleichmä ßig mit den geschwungenen Schnee- und Eisflächen des Eve rest verschmolzen. Wenigstens hielten sie die Sonnenhitze ab, aber schon bald schneite es wieder. Die Sichtweite reduzierte sich auf zwölf Meter. Der taillentiefe Schnee hüllte mich ein,
irgendwie tröstlich. Es schien so verlockend, sich zu einer langen Ruhepause hinzusetzen. Ohne irgendeine Gefahr geahnt zu haben, rutschte ich plötzlich eine neun Meter lange Eisplatte hinunter, die unter anderthalb Meter hohem Pulver schnee verborgen gewesen war. Ich landete auf einem Pulver schneekissen, klopfte mich ab und begann, mich einen Schneewall zu meiner Rechten hinunterzuhangeln, der in das Gletscherspalten-Labyrinth überging, durch das wir uns beim Aufstieg gefädelt hatten. Nervös taxierte ich immer wieder meine Umgebung. Ich wußte, daß ich mich am Fuß der Schneerampe, oberhalb von einer der größten Spalten, scharf links halten mußte. Wo genau das war, hatten wir leider nicht markiert, weil wir unsere Markierstöcke sparen wollten. Meine Erschöpfung nahm zu. Ich stolperte über eine niedri ge Eisschwelle. Eine Sekunde später machte ich die unange nehme Erfahrung, auf dem Rücken, Kopf voran, den Berg hinunterzusausen. Instinktiv packte ich meinen Eispickel, hieb die Metallspitze in den Schnee, warf meinen Körper aufwärts, rammte meine Stiefel und Steigeisen in den Schnee – und kam schließlich zum Halten – alles innerhalb weniger Sekunden. Zitternd schlug ich meine Steigeisen in das harte Eis unter der Schneeschicht und verschaffte mir wieder einen Halt. Dreißig Meter tiefer gähnte mich eine Gletscherspalte an, deren grundlose blaue Leere darauf wartete, mich zu ver schlingen. Ich schaute aufwärts. Stephen und Robert kamen herunter; durch den Nebel und den leise fallenden Schnee hindurch gewahrte ich ihre geisterhaften Gestalten. Es war bare Unvernunft! In einer Stunde würde es dunkel sein. Was fiel uns überhaupt ein, so spät am Tag noch den Abstieg zu wagen! Es war besser, zu Lager II zurückzukehren, uns mit dem noch verbliebenen Brennstoff etwas heißes Wasser zu
machen, die Nacht durchzuschlafen und morgen in aller Frühe erneut aufzubrechen. Wir hatten einen ganzen Tag vergeudet. »Das ist der helle Wahnsinn! Ich wäre grade um ein Haar in eine riesige Gletscherspalte gefallen!« rief ich zu Robert hinauf. Ein paar Minuten später plumpste er neben mich. Dann kam auch Stephen. »Stephen, beinahe wäre ich weg gewesen. Wir müssen zu rück zu Lager II, sonst müssen wir in einer Schneewehe schla fen!« Uns wurde nun rasch klar, daß wir gar keine andere Mög lichkeit hatten, als in unseren Spuren zurückzugehen, hinauf zum Flying Wing. Den Abstieg bei diesen beschränkten Sicht verhältnissen, unangeseilt, umgeben von Gletscherspalten, fortzusetzen, wäre reiner Selbstmord gewesen. Stephen gab mir schließlich recht; Robert war so müde, daß ihm alles gleich war. Wir fügten uns in unser Schicksal und mühten uns wie der den Hang zum Lager hinauf. Eine Stunde Abstieg kostete nun drei tödliche Stunden in der Gegenrichtung. Unmittelbar unterhalb des Lagers verhielten wir vor der neun Meter langen, sechzig Grad steilen Eisfläche, die wir beim Abstieg hinuntergeschlittert waren. Ich fragte mich, wie wir diesen Abschnitt mit nur einem Eispickel für drei Leute bewältigen sollten. Wie in einer Slapsticknummer balancierten Stephen und ich auf allen vieren nebeneinander und klammer ten uns an den Eispickel zwischen uns. Während ich den Pickel schwang, bis er griff, hielt sich Stephen an meiner Windjacke fest. So erklommen wir zusammen die Eisstrecke. Dann erreichten wir eine weniger steile Schneefläche. Robert sah fragend zu uns hinauf. »Vergeßt nicht, mir die Axt dazulassen!« mahnte er.
»Ich lasse sie hier auf halbem Weg für dich stecken«, sagte ich, kletterte ein kleines Stück hinunter und rammte die Spitze fest ins Eis. Das Problem war nur, daß der Pickel sich immer noch zwei Körperlängen über ihm befand. »Und wie soll ich da hinaufkommen?« fragte er. Ich wußte es auch nicht, aber Robert war erfinderisch. Er würde sich schon etwas einfallen lassen! Stephen und ich setzten unseren Weg zum Lager fort. Es war stockdunkel, als wir alle drei wieder unter den EisBaldachin des Flying Wing krochen. Wir brachen regelrecht zusammen, immerhin hatten wir seit zwei Tagen praktisch nichts mehr gegessen. Ich machte etwas Wasser warm, und wir teilten uns einige wenige, mit Sand vermischte Schlucke. Am nächsten Morgen mußten wir uns unter allen Umständen rechtzeitig auf den Weg machen. Unsere Kräfte schwanden dahin, und unsere Chancen für eine Rettung waren fast gleich Null. Golden ging die Sonne über Tibet auf. Als ich die Wärme durch meinen Schlafsack dringen spürte, riskierte ich einen Blick und sah den hochaufragenden Makalu im frühen Mor genlicht funkeln. So in meinen Schlafsack gekuschelt, war es herrlich warm. Ich hätte für immer so liegenbleiben mögen. Aber genau das war ja das Problem. Ich riß mich zusammen und machte mich an die Vorbereitungen für den Aufbruch. Ich machte Wasser heiß, wobei ich natürlich zweimal den Kocher umwarf. Jede Bewegung wurde mit dem absoluten Minimum an Anstrengung und so langsam wie möglich ausgeführt. Stephen und Robert waren inzwischen ebenfalls wach, doch sie regten sich kaum. Ich trieb sie an.
»Stephen«, meinte ich, halb im Scherz, »du wirst nur be rühmt, wenn du lebend runterkommst.« Wir sprachen über die Bergsteiger, die 1986, vor zwei Jah ren, auf dem K2 umgekommen waren. Von einem Schneesturm in 7894 Metern Höhe auf dem Abruzzi-Grat festgehalten, gingen ihnen die Nahrungsmittel und der Brenn stoff aus. Einige starben in ihren Schlafsäcken, andere wäh rend des mit letzter Kraft in Angriff genommenen Abstiegs. Unter den Opfern befanden sich auch zwei der besten engli schen Bergsteiger, Alan Rouse und Julie Tullis. Wir wollten nicht das gleiche Schicksal erleiden. Ich erinnerte mich an die gestrige Tortur, den Schlafsack zusammenzulegen, und beschloß, sowohl den Schlafsack als auch meinen Parka zurückzulassen. Ein Minimum an Gewicht würde meine Chancen, am Leben zu bleiben, erhöhen, hoffte ich. Allerdings blieb mir, wenn ich meine Überlebensausrü stung aufgab, nichts anderes übrig, als den Abstieg zum vorgeschobenen Basislager an einem einzigen Tag zu schaffen. Wenn mir das nicht gelang, stand ich heute abend ohne Schlafsack und warme Kleidung da. Ich zog meine Thermoun terwäsche, meinen einteiligen Daunenanzug, eine Daunenjak ke, Mütze und wollene Handschuhe an. Im Gepäck hatte ich einen Viertelliter Wasser, meine beiden Kameras und die Kodakfilme mit den Bildern, die ich am Südcol und noch weiter oben aufgenommen hatte. Wieder ging ich als erster los und machte mich gegen 10.00 Uhr in 7467 Metern Höhe an den Abstieg vom Flying Wing. Ab und zu blickte ich über die Schulter zurück, aber in den nächsten Stunden kamen weder Robert noch Stephen in Sicht. Wir alle kämpften um unser Leben. Wir konnten einander Mut
zusprechen und moralischen Halt geben, aber wir konnten den anderen nicht den Mount Everest hinuntertragen. Der Wille zu überleben ist letztlich etwas ganz Individuelles. Robert erzählte mir später, daß er versuchte, auch Stephen in Bewegung zu setzen, als er an diesem Morgen Lager II verließ, aber der hatte sich noch nicht einmal aus dem Schlafsack geschält. Würde er einfach dort liegenbleiben und sterben? Robert kannte die Antwort nicht, aber schließlich zwang sich auch Stephen, aufzustehen und uns zu folgen. Bald kam ich an die bewußte Eisschwelle, an der ich gestern nachmittag gestolpert war, mich aber zu Glück wieder gefan gen hatte. Ich setzte mich zum Ausruhen in den Schnee und überlegte, daß ich gestern wohl zu weit rechts gegangen war. Daher beschloß ich, heute auf der linken Seite um einen steilen Schnee-Vorsprung herum zu queren, um nach einer großen Gletscherspalte Ausschau zu halten, an die ich mich von unserem Aufstieg ins Lager II vor sechs Tagen noch lebhaft erinnerte. Doch wie sehr hatte sich das Aussehen des Berges geändert! Orientierungspunkte wiederzufinden war bei den ungeheuren Schneemassen und den dichten Wolken so gut wie unmöglich. Ich rappelte mich hoch, und indem ich sämtliche Fähigkei ten zum Routenfinden, die ich mir in zwanzig Jahren Berger fahrung erworben hatte, mobilisierte, bahnte ich mir im Schneesturm einen Weg durch die Spalten. Ich grub eine Furt durch einen Tiefschneegraben links von mir, kletterte eine steile Vier-Meter-Böschung hinunter und sah mehrere Spalten vor mir liegen. Keine kam mir bekannt vor. Vorsichtig watete ich auf sie zu, den Eispickel fest umklammert, falls ich hinein fallen sollte. Eine Schneebrücke überspannte die erste; behut sam betrat ich sie und sammelte Kraft, um den wenig tragfä
hig wirkenden mittleren Teil zu überspringen. Als ich die andere Seite erreicht hatte, atmete ich bereits leichter. Ich übersprang eine zweite Spalte und pflügte direkt geradeaus in der Hoffnung, den Weg zum Lager I vor mir zu haben. Dabei bewegte ich mich langsam und vorsichtig und betete, daß eine höhere Macht mich führen möge. Dann sah ich durch die Wolken erneut einen Augenblick lang etwas Orangefarbenes. Durch pures Glück hatte ich den nächsten Bambusstock gefunden! Wir waren auf unserer Route. Der Stock verband mich darüber hinaus aber auch verläßlich mit einer noch gar nicht so fernen Vergangenheit. Ich blieb in meinen alten Spuren stehen. Paul, Mimi, Joe, Pasang und Kasang warteten unten auf uns. Wir waren nicht völlig allein. Die Entdeckung des schlanken Bambusstocks riß mich aus meiner Traumwelt und gab mir neue Kraft, auf die Erde zurückzukehren. Keine Spur von Stephen und Robert. Trotzdem war ich sicher, daß meine Gefährten am Leben waren und bald nach kommen würden. Auch wenn sie heute morgen, als ich das Lager verließ, alles andere als kraftstrotzend gewirkt hatten, dachte ich doch keinen Augenblick, sie könnten tot oder in Bedrängnis sein. Wir hatten schon soviel miteinander überlebt, daß ich anfing zu glauben, daß wir durchkommen würden. Der Tod blieb eine Möglichkeit, aber doch weit weniger wahr scheinlich als gestern, obwohl immer noch über 1524 Meter Abstieg vor uns lagen. Ich stieg weiter ab, auf die nächsten Orientierungspunkte zu, Stephens Eishügel und die nächste große Spalte. Auf halbem Weg nach unten sah ich einen weiteren Stock, halb liegend und halb vom Schnee begraben. »Geh weiter«, sang
ich lautlos, mit wachsender Zuversicht. »Geh weiter… geh weiter… geh weiter… geh weiter.« Die Wolken waren so dick wie Nebel über dem Meer; ich hätte sie mit dem Messer schneiden können. Die einzige Richtung, in die meine Beine mich tragen wollten, war bergab durch die neblige Ungewißheit. Während ich den weichen Schneehang hinunter mehr stolperte als ging, war mein sech ster Sinn in höchster Alarmbereitschaft. Eine typische Lawi nenfalle! Der sanft geschwungene Hang war fast einen Meter hoch mit Neuschnee bedeckt. Hatte der Pulverschnee Zeit gehabt, sich mit den älteren Schichten darunter zu verbinden? Ich stieß mit dem Stiefel in den Schnee. Er wirkte einigerma ßen fest. Ich ging weiter. Was konnte ich sonst tun? Doch bei jedem Schritt gelobte ich, daß ich nie wieder eine Route gehen würde, die dermaßen gefährlich war, falls ich das hier überle ben sollte. Was hätte ich darum gegeben, per Knopfdruck aus dieser eisigen Hölle an irgendeinen beliebigen anderen Ort versetzt zu werden! Ich sah warme weiße Sandstrände vor mir; das sonnige Colorado; den ganz gewöhnlichen Alltag: einen Spaziergang, Abendessen mit Freunden – Dinge, die ich allzu oft als etwas Selbstverständliches hingenommen hatte. Wenn ich lebend von diesem Berg herunterkam, würde ich im Alltag schwelgen. Allmählich verließen mich die Kräfte. Meine Arme fühlten sich leicht, wie schwebend, an, meine Beine schwer wie Blei. Ich atmete aus dem Bauch, aus der leeren Höhle meines hung rigen Magens. Mein Atem gab mir die Kraft, mich zu bewe gen, doch meine Bewegungen waren automatenhaft und langsam, kaum konnte ich einen Fuß vor den anderen setzen,
während ich mich wie ein menschlicher Pflug durch den Schnee arbeitete, der Rettung und Befreiung aus diesem ent setzlichen Gefängnis entgegen. Ich konnte keine Orientie rungszeichen mehr entdecken, wußte aber, daß ich mich dem steilen Abhang von Stephens Eishügel näherte. Auch mein Geist schien sich aufzulösen. Bleib in Bewegung, befahl ich mir selbst. Wage es nicht stehenzubleiben, oder du wirst nie mehr in Gang kommen. Immer einen Schritt nach dem anderen, nicht zu hastig. Du hast nicht mehr die Kraft, schnell zu gehen! Denk an nichts, beweg einfach deine Beine. Geh, geh langsam. Atme, atme langsam. Langsam, atme – atme, langsam… Ich hörte einen Ruf. Robert war knapp hundert Meter über mir. Meine Gefährten waren am Leben! Mit zögernden, unbehol fenen Bewegungen tastete ich mich weiter den Hang hinunter. Ich sah die nächste Spalte, fünfundvierzig Meter entfernt. Sie war breit und endlos tief. Ein einziger Ausrutscher, und du bist weg, ohne eine Spur zu hinterlassen. Der Schneehang war steil wie ein Kirchturmdach und fiel direkt in die Spalte ab. Ich begann nach links zu queren, auf die Schneebrücke zu, auf der wir die Spalte beim Aufstieg überquert hatten. Der Schnee war grundlos. Bei jedem Schritt sank ich ein. Dann merkte ich, daß ich zu weit nach unten gekommen war. Ich mußte wieder aufsteigen und an einer höheren Stelle diagonal queren. Ich begann, in meinen Spuren zurückzustapfen, und schrie Robert zu, sich beizeiten links zu halten. »Links?« antwortete er schwach. Ich nickte, zu erschöpft, um noch mal zu rufen. Seit über zwei Tagen hatte ich nichts
mehr gegessen, und die letzten vier Tage nur ein paar Tassen Tee und eine Schale Nudelsuppe getrunken. Ich dachte, die dreißig Meter zurück bringen mich um. Sich in dieser Höhe und diesem Zustand gegen die Schwerkraft zu stemmen war eine unvorstellbare Qual. Eine zweite stolpernde Gestalt zeichnete sich in Nebel und Wolken ab. Stephen. Du bist also auch am Leben! Gott sei Dank! Wir hatten Stephens Eishügel erreicht, der jetzt unter eini gen Metern Pulverschnee begraben war. Nach links abbie gend, pflügten wir vorsichtig eine Spur den Abhang hinunter. An Robert vorbei, überquerten Stephen und ich quasi auf Zehenspitzen die Schneebrücke und machten uns an die letzte Schinderei, den Weg zu den Fixseilen weitere dreihundert Meter unter uns. Wieder ging ich voran und spurte. Die Schneebrücke war ein zuverlässiges Orientierungszeichen. Wir waren ganz sicher auf der Route, und ich verspürte einen neuen Energieschub. Allerdings hatten wir in diesem Abschnitt viel zu wenig Markierungen hinterlassen, und ich folgte meinem Instinkt über niedrige Felsgrate und kleinere Schneefelder, die diesen Teil der Route kennzeichneten, froh, daß die schlimmste Lawinengefahr endlich hinter uns lag. Meine Augen schweiften unruhig von einer Seite zur ande ren, auf der Suche nach der richtigen Route. Hier? Dort? Oder vielleicht da lang. Meine Beine knickten ein, blieben stehen, gingen wieder weiter. Energie? Was war Energie? Luft war Nahrung. Meine Muskeln fühlten sich fast nutzlos an, doch mit jedem Schritt den Hang hinunter zog ich unsichtbare Nahrung aus dem steigenden Sauerstoffgehalt der Atmosphä re.
Bewege die Beine, beweg sie! Du mußt in Bewegung blei ben! Ich erinnerte mich an die Worte Fritz Wiessners, und murmelte sie wie eine Art Zauberspruch vor mich hin: »Manchmal mußt du es durchkämpfen.« »Du mußt es einfach durchkämpfen.« Pause. Atmen. »Manchmal mußt du es durchkämpfen.« »Du mußt es einfach durchkämpfen.« Noch ein paar stolpernde Schritte. »Du mußt es durchkämpfen.« »Du mußt es einfach durchkämpfen.« Das Atmen wurde mühsam. Nicht aufgeben, Ed! Linker Fuß, rechter Fuß, Schritt. Gut! »Du mußt es durchkämpfen.« »Du mußt es durchkämpfen.« Ich fand einen weiteren Bambusstock am Anfang eines schneebedeckten Vorsprungs. Ich trat auf den Vorsprung heraus, der auf beiden Seiten Simse und Überhänge hatte. Wir mußten auf der einen Seite heraufgeklettert sein. Ich kehrte zum Stock zurück. Stephen und ich gingen zum Ende des Grats, um uns den Weg noch mal anzusehen. »Ich glaube, wir sind hier entlanggegangen«, sagte er mit überraschender Sicherheit und fing an, eine steile Schneerinne hinabzusteigen. Plötzlich hörten wir ein lautes Knacken, ein Wuschsch, und Stephen war mitten in einer kleinen Lawine. Auf der Welle des abrutschenden Schnees reitend, wurde er fünfzehn Meter weit den Hang hinuntergetragen und landete in einem riesigen Hügel weichen Schnees. Wie ein Nilpferd aus einem Schlammloch arbeitete er sich aus der Schneewehe und rief vergnügt: »Ja, ganz bestimmt ist das der richtige
Weg!« Ich schüttelte den Kopf und tappte zum Markierungsstock zurück. Linkerhand führte eine kürzere Rinne nach unten. Ich tat ein paar Schritte und geriet ebenfalls in eine Lawine, wurde aber nur sechs Meter weit mitgerissen. Wir marschierten weiter. Stephen spurte. Von Robert sahen wir nichts mehr, doch Stephen versicherte mir, daß er ihn hatte nachkommen sehen. Auf einmal blieb Stephen stehen. Ich stapfte zu ihm. »Meinst du, wir sollten es lieber dort drüben versuchen?« schlug ich vor und deutete nach rechts zum nächsten Schnee hang. »Was?« fragte Stephen, offenbar völlig perplex. »Na ja, ich finde, da drüben sieht es besser aus«, sagte ich. »Ed! Da sind die Fixseile!« platzte er heraus und deutete auf ein Stück orangefarbenes Acht-Millimeter-Seil, das aus dem Schnee herausragte. Mein Blick ruhte liebevoll auf dem orangefarbenen Seil. Ich konnte es nicht fassen. Wir würden leben! Ich umarmte Ste phen und schüttelte ihn vor Freude. Jetzt mußten wir uns nur noch neunhundert Meter weit zum Gletscher abseilen. Viel leicht erreichten wir das vorgeschobene Basislager sogar noch heute abend. Als wir uns an den Seilen auf den Weg nach unten machen wollten, sahen wir Robert in einiger Entfernung über uns. »Bist du okay?« rief ich. »Bis nachher im Lager I«, brüllte er, und fügte hinzu, daß er in Ordnung sei, nur eben langsam. »Nein! Wir müssen zum vorgeschobenen Basislager, egal,
wie!« rief ich. Robert winkte zurück, und wir begannen den Abstieg. Wir gruben unsere Ausrüstung, die unter fast einem Meter hohen Neuschnee begraben waren, aus (wir hatten sie hier deponiert, damit wir das Gewicht nicht noch höher zu schleppen brauchten). Ich legte sie an und ließ mich an den Seilen hinabgleiten, immer von einem Anker zum nächsten. Ich war so damit beschäftigt gewesen, am Leben zu bleiben, daß ich meinen steifen Fingern überhaupt keine Beachtung geschenkt hatte. Es dauerte eine Weile, bis ich mich daran gewöhnt hatte, das Seil zu halten, und jetzt merkte ich auf einmal, daß meine Finger, vor allem die meiner linken Hand, sehr, sehr kalt waren. Nun begann ich mir ernsthaft Sorgen zu machen. Sie wurden nicht besser, wie ich gehofft hatte, son dern im Gegenteil immer schlimmer. Mühsam befreite ich die Fixseile von ihrer Schneehülle. Ich sah mit Erleichterung, daß die Jaws-of-Doom-Spalte sich nicht verbreitert hatte und auch nicht eingestürzt war. Auch die Seile über die Tiroler-Quere waren intakt, nur viel straffer gespannt! Ich seilte mich weiter ab zu der Hochfläche über der Webster-Wand. Hier verschwand das Seil im Schnee, deshalb hakte ich mich los und tastete mich ohne Sicherung zur Kante der dreiundzwanzig Meter hohen überhängenden Wand vor. Das rosafarbene Elf-Millimeter-Seil hin zur Webster-Wand war tief im Schnee vergraben, doch als ich mir eine Plattform zurechttrampelte und vorsichtig über den Rand spähte, sah ich, daß es frei an der Wand herunterhing. Ich grub das Seil aus dem Schnee und seilte mich ins Lager I ab. Es war 17.30, als Stephen mich einholte. Wir diskutierten kurz, ob wir weitergehen oder hier übernachten sollten. Das bißchen Körperwärme, das ich noch besaß, schien langsam aus mir zu entweichen. Da ich keinen Schlafsack und keinen Parka
mehr hatte, mußte ich unter allen Umständen in Bewegung bleiben, um Wärme zu produzieren und mich warm zu halten. Als wir Lager I vor fast neun Tagen auf dem Weg zum Gip fel verlassen hatten, hatten wir die Zelte bewußt zusammen gepackt. Sie waren jetzt unter mehreren Schneeschichten begraben. Ich hatte die Lagerstätte kaum wiedererkannt. Stephen deutete auf eine große Rinne, offenbar das Resultat eines Eisfalls neueren Datums, direkt über der Stelle, an der unsere Zelte gestanden hatten. Es hätte uns eine Stunde Schwerstarbeit gekostet, die Zelte auszugraben, und da der Abstieg von Lager I zum vorgeschobenen Basislager unter guten Bedingungen knapp zwei Stunden dauerte, war ich sehr dafür, weiterzugehen. Zögernd willigte Stephen ein. Ich stieg den Schneehang unterhalb des Lagers hinunter. Das Fixseil hier war ebenfalls vollständig unter dem Schnee begraben. Unsere Neun- und Elf-Millimeter-Fixseile waren unklugerweise weiß (wir hatten sie zum Sonderpreis gekauft!) und deshalb vor einem weißen Schneehang praktisch nicht zu sehen. Wo war nur das verdammte Seil? Vorsichtig kletterte ich unangeseilt so weit hinunter, wie ich es wagen konnte, und fing an, mit meinem Eispickel zu graben. Unten mir gähnte der sechshundert Meter tiefe Sturz ins Big Al Gully. Noch während ich im Schnee herumwühlte, hörte ich plötzlich ein deutliches Knacken – direkt über mir ging eine Lawine ab. Einen halben Meter hoher, seidiger Schnee ergoß sich zwi schen meinen Beinen hindurch in den fürchterlichen Abgrund. Mein Adrenalinspiegel schoß in die Höhe, ich umklammerte meinen Eispickel. Und wirklich, ich stürzte nicht. »Da ist ja endlich das Seil«, sagte ich, als ich es am Rand des Lawinenabrutsches erblickte. Stephen erklärte sich bereit
vorauszugehen, und wir seilten uns zum Fuß von Paul’s Eishügel ab, wobei Stephen jede Seillänge unter dem Schnee hervorgraben mußte. Es war ein friedlicher Abend, das Wetter klarte auf, und ich weiß noch, daß ich wehmütig dachte, als ich mich am Greyhound Bus – dem ersten Cauliflower Tower – vorbei abseilte, daß ich ihn nie wieder aus solcher Nähe sehen würde. Wieder sah es so aus, als sollte uns die Dunkelheit am Berg überraschen. Meine Nervosität wuchs, aber ich befahl mir, ruhig zu bleiben und nicht die Beherrschung zu verlieren. Bald würden wir unten sein. Paul, Mimi und Joe würden uns verpflegen. Es wurde dunkel, daran war nun einmal nichts zu ändern, und wir mußten die Situation bewältigen, so wie wir den Rest dieses höllischen Abstiegs gemeistert hatten. Als es endgültig dunkel war, stellten wir fest, daß unsere Stirnlampen nicht funktionierten. Darauf ließ Stephen auch noch seine Ersatzbirne für die Lampe fallen. Als er den näch sten Abschnitt des Fixseils nicht losmachen konnte, seilte ich mich zu ihm ab. Er nahm meinen Eispickel, seilte sich weiter ab und legte dabei jede Seillänge einzeln frei, schälte sie Zen timeter für Zentimeter aus einer fünf Zentimeter dicken Eis schicht, die sich in der letzten Woche um das Seil gebildet hatte. Es war eine mühselige und heikle Arbeit – ein einziger schlecht gezielter Schlag konnte das Seil durchtrennen. Ich hatte geglaubt, schlimmer könnte es nicht mehr kommen, aber ich hatte mich getäuscht. Ich schlotterte am ganzen Körper. Alles, was ich hörte, war das kratzende Geräusch des Pickels und Stephens ersehntes »Okay!« oder »Los!«, das bedeutete, daß er den nächsten Anker erreicht hatte und ich mich eben falls abseilen konnte.
Dann löste sich der Zehenbügel meines rechten Steigeisens. Das Eisen baumelte nutzlos unter meinem Fuß, um den Knö chel war es noch befestigt. Mit meinen froststarren Fingern konnte ich es nicht wieder anlegen. Das Abseilen an den Fixseilen in der Dunkelheit, mit erfrorenen Fingern, ohne Stirnlampe und mit nur einem Steigeisen wurde zum Alp traum, der kein Ende nehmen wollte. An vielen Stellen war das Seil so stark vereist, daß wir es nicht genügend lockern konnten, um uns richtig einzuhaken. Die schmerzhafte Alter native bestand im Abseilen per Hand. Dabei sichert man sich mit einer Schlinge und mit einem einfachen Karabinerhaken und wickelt das vereiste Seil um Handgelenke und Unterar me, damit es Reibung hat. So fest zupackend, wie ich es mit meinen erfrorenen Fingern vermochte, begann ich langsam am Seil abwärtszugleiten. Mehrmals konnte ich mich nicht mehr halten, ließ los, fiel hin, schlitterte ein Stück und purzelte den Hang hinunter, bis meine Sicherungsschlinge vom nächsten Anker am Fixseil gestoppt wurde. Ich hoffte und betete, daß ich nicht noch so kurz vor dem sicheren Hafen durch irgend ein dummes Mißgeschick ums Leben kommen möge. Stephen führte während des ganzen Abstiegs. Wir waren mehr tot als lebendig, als wir gegen ein oder zwei Uhr morgens den Kangshung-Gletscher erreichten. Wir fanden unser kurzes Elf-Millimeter-Seil unter dem Felsen, unter dem wir es versteckt hatten, und seilten uns erneut an. Das warme Wetter und die Monsunwolken hatten ein Überfrieren des Gletschers in der Nacht verhindert, so daß die Kruste in schlechtestem Zustand war. Statt einer überfrorenen Harsch-Schneefläche, die unser Gewicht tragen konnte, bedeckte eine dünne, brü chige Haut einen Brei aus instabilem, angefrorenem und wieder getautem, losem Schnee, der an große Styroporflocken
erinnerte. Wenn diese Kruste brach, wie es etwa alle neun Meter geschah, hatte man das Gefühl, mit beiden Füßen in ein Gefäß mit Murmeln geraten zu sein. Sich wieder daraus zu befreien war extrem schwierig, zumal in unserem geschwäch ten Zustand. Wir bemühten uns zwar, unseren Sinn für Humor auch jetzt nicht zu verlieren, aber bald war uns auch das nicht mehr möglich. Hoffnung und grimmige Entschlossenheit wichen dem Gefühl der Erbitterung und plötzlichen Zornausbrüchen. Ich fiel in mein altes Verhalten zurück und wurde zunehmend wütender auf Stephen, weil er zu schnell ging und zu fest am Seil zog, so daß es mich von den Füßen riß. Stephen seinerseits ärgerte sich über mich, weil ich nicht schneller ging, damit wir endlich ins Lager kamen. Etwa auf der Hälfte der noch verbleibenden Strecke zum vorgeschobenen Basislager fing Stephen an, nach einer Tasse heißem Tee zu schreien: »Paul! Mimi! Joe! Tee!!!« brüllte er alle fünf Minuten aus vollem Hals. Ich gierte nach einem heißen Orangensaft, und Stephen wollte seinen gottverdammten Tee haben. Das war doch wohl nicht zuviel verlangt! Wir stolper ten über den Gletscher, verliefen uns, fanden schließlich den Weg durch die Gletscherspalten und näherten uns langsam, aber sicher dem Lager… Sicherheit… Wärme… Freunde. »Paul! Mimi! Joe! Tee!!!« Wieder fiel ich in ein Schneeloch. Wir waren angeseilt und standen etwa fünfzehn oder achtzehn Meter voneinander entfernt, um uns wegen der verborgenen Gletscherspalten zu sichern. Stephen verlor langsam die Geduld, während ich mich abkämpfte, aus der Falle freizukommen. Mein rechtes Bein steckte in dem Loch fest wie angeschmiedet, während das
nutzlos unter meinem Fuß baumelnde Steigeisen förmlich in den hafermehlartigen Schnee einbetoniert war. Ich bekam diesmal das Bein einfach nicht heraus. Mein Stiefel rührte sich nicht. »Ed, tu doch endlich was!« fluchte Stephen, nachdem er fünfzehn Minuten lang meinem vergeblichen Kampf zugese hen hatte. »Ich stecke fest, ich kriege meinen Fuß nicht raus!« schrie ich. Ich wußte, daß er mit seiner Geduld am Ende war. »Du siehst aus wie ein blöder zappelnder Vogel«, brüllte er. Wir befanden uns mittlerweile in einer sternklaren Nacht auf dem Everest, kaum noch lebensfähig, und es hatte den Anschein, als würden wir das Lager nie erreichen, obwohl die Rettung nur noch ein paar Minuten entfernt war. Stephen war wütend, ich steckte fest, und er wollte bloß noch eine Tasse heißen Tee. Ich wußte nicht mehr, was ich noch tun sollte. Ich konnte meinen Fuß nicht rühren. Ich war zu Tode erschöpft. Ich lehnte mich zurück in den Schnee und japste nach Luft. Wir waren so nah beim Lager, und ich kam nicht aus diesem verdammten Loch heraus! Ich warf einen Blick zu Stephen hinüber – aber Stephen war fort. Nachdem er sich wortlos von seinem Ende des Seils losge macht hatte, marschierte er aufs Lager zu. Ich sah, wie er in der Ferne verschwand. Dann begann sich auf der Moräne zu meiner Linken plötzlich etwas zu rühren. Stimmen wurden laut, die Stimmen von Freunden, Pauls und Mimis Stimmen, rufend, schreiend, und ich wußte, daß wir in Sicherheit waren. Wieder mühte ich mich ab, mein Bein aus seiner eisigen Um klammerung zu befreien, aber es ging einfach nicht. Ich ließ mich zurückfallen, wartete und sah zu den Sternen hinauf.
Ein paar Augenblicke später geisterte ein Lichtstrahl über die Moräne neben mir, und eine vertraute, beruhigende Stim me rief meinen Namen. Es war Paul Teare. Noch nie in mei nem Leben war ich so glücklich gewesen, die Stimme eines Freundes zu hören, eine Stimme, von der ich noch vor ein oder zwei Tagen nicht wußte, ob ich sie je wieder hören würde. Ich rief seinen Namen, und Paul kam über den Schnee auf mich zugelaufen, tief darin einsinkend und wieder daraus hervor schnellend wie eine Gazelle, bis er bei mir war und seine Arme um mich schlang. »Warum habt ihr uns kein Zeichen gegeben, daß ihr am Leben seid?« fragte er. »Wir haben es versucht… einmal… vor zwei Tagen. Ich habe von Lager II aus Blinksignale mit meiner Stirnlampe gege ben…« »Aber du bist in okay?« erkundigte sich Paul »Eigentlich nicht. Meine Hände sehen ziemlich schlimm aus. Erfrierungen. Meine Füße sind in Ordnung, glaube ich wenigstens…« »Ich bin so froh, daß ihr heil da seid!« sagte er. »Aber wo ist Robert?« »Ihm geht’s gut, er ist nur langsam… Jedenfalls sagte er uns, es sei alles in Ordnung. Wir haben uns an der TirolerQuere per Zuruf verständigt.« Mit Pauls Hilfe zog ich meinen rechten Stiefel aus dem Schnee, und wir gingen in seinen Spuren zurück zur Moräne, wo das Gehen leichter war. Es war vier Uhr morgens, der 17. Mai. Einige Minuten später, zurück im Lager, wurde ich mit einer freudigen Umarmung von Mimi willkommen geheißen. Joe war im Basislager und forderte bei den Chinesen einen
Hubschrauber für uns an… Ich brach in meinem Zelt neben Stephen zusammen, unend lich dankbar für Schlaf und Ruhe und Wärme, dafür, mich einfach hinlegen und ausruhen zu dürfen und warm zu wer den, etwas Heißes zu trinken, auch wenn es nur Grapefruitsaft war, ihn an meinen ausgedörrten Lippen und durch meine sandpapierrauhe Kehle hinabrinnen zu spüren. Mehr weiß ich nicht. An die folgenden beiden Tage habe ich keine Erinne rung. Da sind nur ein paar undeutliche Träume; Paul, der mich an warm zischenden Sauerstoff anschloß; die durchsich tige Plastikmaske vor meinem Gesicht, während Mimi Ste phens und meine Finger und Zehen sorgsam in sterilem warmem Wasser badete und uns dabei mit Suppe und Cracker fütterte; Kasang, der uns später am Morgen erstaunt anstarrte, nichts begriff und sich große Sorgen machte; und Ang Chus Bruder, Sonam, neben Kasang kauernd, zutiefst erschrocken und besorgt; und dann Pasangs väterliches Gesicht über mir, lächelnd, die Hand sanft auf meine Schulter gelegt, mir immer wieder versichernd, daß alles gut würde; und Robert, der endlich, am Nachmittag, zusammen mit Joe, der ihm entge gengegangen war, heil im Lager eintraf. Vor dem Zelt in der Sonne stehend, beugte er sich fragend hinunter zu Stephen und mir, die wir drinnen lagen und aussahen wie der Tod, und sagte mit seinem vertrauten Grinsen: »Na Jungs, wie geht’s uns heute?« Am deutlichsten aber erinnere ich mich an das süße, köstli che Gefühl, am Leben zu sein, auf der weichen Schaumstoff matte in meinem warmen Schlafsack im gelben Zelt zu liegen und an die Wahnsinnsfreude, das große Geschenk, überlebt zu haben. Und einen heißen Grapefruitsaft zu trinken.
Brummie Stokes aus Soldaten und Sherpas: Aus Freude am Abenteuer Erfrierungen sind bei Everest-Besteigungen so verbreitet, daß die Versuchung naheliegt, das Übel als geringfügig ab zutun. Aber das ist es nicht. Der britische Bergsteiger Brummie Stokes (geboren 1945) und sein Partner überlebten ein Biwak unter freiem Himmel, nachdem sie im Jahre 1976 den Gipfel über die Südcol-Route erstiegen hatten. Doch sie trugen schlimme Erfrierungen davon. Stokes beschreibt die Peinlichkeiten und die Schwierigkeiten, denen er sich nach seiner Rückkehr in England gegenübersah. In der Zwischenzeit mußten wir uns um unsere Erfrierungen kümmern. Die Ärzte hatten mittlerweile unsere Zehen und Broncos Finger gründlich untersucht, und es stand fest, daß amputiert werden mußte. Blieb nur zu entscheiden, wieviel ab sollte und wann. Eine vorläufige Entscheidung kam von Dr. Michael Ward, eine der führenden britischen Autoritäten, was Erfrierungen angeht. Freundlicherweise erklärte er sich bereit, nach Hereford zu kommen, um sich mit uns zu treffen. Sein Rat war, zwei Monate abzuwarten. Bis dahin würde offen sichtlich sein, welche Gewebeteile absterben würden und welche man retten könnte. Das erschien mir ein annehmbarer Vorschlag. Es bedeutete nur, daß wir zwei recht belastende Monate vor uns haben würden. Der Sommer des Jahres 1976 war besonders heiß, und schon
bald, als die Zehen immer schwärzer wurden und sich vom guten Fleisch absonderten, begannen sie auch furchtbar zu stinken. Schließlich waren es nur noch Klumpen fauligen Fleisches, die an den vorderen Enden unserer Füße hingen. Nach dem ersten Monat bemerkte ich, daß winzige Maden an dem toten Gewebe nagten, zwischen den Erfrierungen, die hart geworden waren, und dem gesunden Fleisch an meinem Fuß. Es bildete sich ein Spalt, in dem der Knochen meiner mittlerweile abgestorbenen Zehen zu sehen war. Natürlich fand ich das ziemlich ekelig, und zunächst versuchte ich, die Maden abzusammeln. Bald mußte ich jedoch einsehen, daß sie dazu beitrugen, all das faulige Fleisch loszuwerden. Und wenn mich das auch schockieren mochte – sie sollten bei ihrer schauderhaften Arbeit am besten in Ruhe gelassen werden. Alle paar Tage kam der Regimentsarzt in meinem Quartier vorbei, um Fotos von meinen verwesenden Füßen zu machen. Er wollte dafür sorgen, daß für Unterrichtszwecke in der Zukunft auf alle Fälle eine Bildaufzeichnung der verschiede nen Zerfallsstadien zur Verfügung stände. Eine solche Gele genheit konnte er sich einfach nicht entgehen lassen! Während ich herumsaß und kaum etwas anderes tat, als auf die Operation zu warten, beschloß ich, eine weitere Sprache zu lernen, um wenigstens einige Stunden des Tages auszufüllen. Arabisch ist meine Hauptfremdsprache. Da ich jedoch auf meinen Touren in die Alpen ein paar Brocken Deutsch aufge schnappt hatte, sollte dies die nächste Sprache sein, die ich mir aneignen wollte. Der Bildungsoffizier des Regiments versorgte mich freundlicherweise mit einer Reihe von Büchern und Bandaufnahmen, die mir erste Grundlagen vermitteln sollten. Das half ein wenig gegen die Langeweile. Doch da ich noch unter dem Ende meiner Ehe litt, freute ich mich schon immer
auf die Abende, wenn Freunde vorbeischauten und mich in die Stadt mitnahmen, auf ein Bier oder zu einer Party. Eine dieser Parties sollte eine recht amüsante, aber auch schmerzli che Erfahrung mit sich bringen. In einer Wohnung in der Stadt waren ungefähr zwanzig Leute versammelt – der Ort war für wilde Parties bekannt. An diesem Abend saßen wir jedoch alle still auf dem Boden im Kreis, unterhielten uns, tranken und erzählten einander Lü gengeschichten. Mehrere der Mädchen waren Krankenschwe stern aus dem Krankenhaus am Ort, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt hatte. Sie waren eine nette Truppe, und es war lustig, mit ihnen zusammen zu sein. Aber Krankenschwestern haben so eine Art, den Dingen auf den Grund zu gehen – sehr direkt. Und als ich so auf dem Boden saß, die Füße von mir gestreckt, aber wohlweislich in Mullbinden gehüllt, um die verfärbten Zehen zu verbergen, wandte sich eine von ihnen mir zu und fragte, ob sie sich das einmal ansehen dürfe. Sie habe noch nie Erfrierungen gesehen, sagte sie. Ich warnte sie, daß das nicht gerade ein hübscher Anblick sei, aber das schien ihr egal zu sein. Um ihr also den Gefallen zu tun, und betäubt von der Wirkung des Alkohols, fing ich vorsichtig an, die Verbände abzunehmen. Als frische Luft an meine Füße kam, bemerkte ich, daß sie bei dem Geruch ein wenig zurückwich. Die anderen Leute machten inzwischen schon einen ziemlich angewiderten Eindruck, aber – das muß man ihr lassen – meine Krankenschwester zuckte nicht mit der Wimper, als sie sich hinkniete, um meine brandigen Zehen zu untersuchen. »Um Himmels willen, pack die Dinger wieder ein!« rief jemand, als ein Servierwagen hereingerollt wurde, auf dem ein Currygericht stand.
Es roch lecker, und ich war hungrig, doch anstatt mir beim Verbinden zu helfen, fing das Mädchen an, sich nach den Maden zu erkundigen, und ob sie vielleicht meine Zehen einmal anfassen dürfe, damit sie wüßte, wie sie sich anfühlten. Mittlerweile waren die Zehen ganz hart und schrumpelig geworden und völlig abgestorben. »Manche Frauen kriegen nie genug«, murmelte ich bei mir, als sie vorsichtig das tote Gewebe berührte. »Würde es weh tun, wenn ich darauf drückte?« erkundigte sie sich, und da ich ohnehin mit Schmerzmitteln und Alkohol vollgepumpt war, sagte ich, sie solle tun, was sie nicht lassen könne. Im nächsten Moment schoß ein scharfer Schmerz durch meinen Knöchel aufwärts, und als ich nach unten blickte, sah ich sie zu meinen Füßen in Ohnmacht fallen. Sie hatte meinen großen Zeh fest gekniffen, und er war in ihren Fingern zerbrö selt. Jetzt lag sie da auf dem Teppich – wenn auch nicht für lange. Der Hund kümmerte sich schon darum. Zwei weitere Mädchen wurden ohnmächtig, und mehreren Leuten wurde schlecht. Ziemlich peinlich, das Ganze! Das einzig Gute dabei war, daß es nicht viele Interessenten für das Currygericht gab. Ich bediente mich gleich zweimal, bevor ich auf dem Fußbo den tief und fest einschlief. Bronco und ich waren bewußt nicht zur Behandlung ins Militärkrankenhaus gegangen. Wir wußten, daß wir wahr scheinlich als behindert in den Ruhestand geschickt würden, wenn wir das täten – nach unseren Operationen nicht mehr zum Wehrdienst tauglich. Um das zu vermeiden, hatten wir über Freunde von Dick Hardie, den Arzt der Expedition, dafür gesorgt, daß ein Chirurg vor Ort, im Krankenhaus von Here
ford, den Eingriff vornehmen sollte. Erfrierungen sind nicht gerade das, womit sie in kleinen Marktflecken viel zu tun haben, besonders nicht mitten im Sommer. Weil bei Bronco neben allen seinen Zehen auch die Finger der rechten Hand amputiert werden mußten, beschlossen wir, daß es nur ge recht sei, wenn ich mich als Versuchskaninchen zur Verfü gung stellte und meine Operation zuerst machen ließe. Keiner wußte genau, wieviel von den Zehen und dem Vorderfuß entfernt werden mußte, damit genug gesundes Gewebe für eine ordentliche Naht übrigblieb. Das konnte der Chirurg, ein Schotte, nur durch praktische Erfahrung herausfinden, und Erfahrung sammeln mußte er an mir. Am Abend vor der Operation veranstalteten meine Freunde eine großartige Party für mich, um von meinen zerstörten Zehen Abschied zu nehmen. Am nächsten Morgen steuerte ich ganz verkatert meinen Rollstuhl auf die Station und meldete mich bei der Schwester. Sie war äußerst charmant und teilte mir mit, sie hätten alle schon auf mich gewartet. Dann zeigte sie mir mein Bett und warnte mich im Scherz vor der Gefahr, daß ihre Krankenschwestern mir auch noch den Rest meiner Zehen abknipsen könnten, bevor ich in den Operationssaal gelangte. Sie hatte offensichtlich von der Geschichte gehört. Den Rest des ersten Tages verbrachte ich damit, die anderen Patienten und die Angestellten kennenzulernen; sie machten alle einen fröhlichen Eindruck, und mir war klar, daß ich selbst unter den obwaltenden Umständen einen angenehmen Aufenthalt haben würde. Zur Besuchszeit kamen ungefähr zwanzig Leute, um nach mir zu sehen, alle mit einem Sechser pack Bier. Die Theorie sagt, daß Alkohol eins der besten Mittel gegen Erfrierungen ist, weil es die Blutgefäße erweitert und so die Durchblutung geschädigter Gewebepartien fördert. Es war
das erste Mal, daß ich tatsächlich dazu aufgefordert wurde, zum Wohle meiner Gesundheit Bier zu trinken. Die Stations schwester war eine gute Seele und protestierte erst, als einer meiner Besucher eine Gitarre herauszog und begann, Volks lieder zu intonieren. Daraufhin ließ sie mich – im Interesse der anderen Patienten, wie sie es darstellte – in ein separates Nebenzimmer verlegen; dort gab es sogar einen Kühlschrank, um das Bier kalt zu stellen. Am nächsten Morgen bekam ich eine vorbereitende Spritze, zur Beruhigung vor der Operation, dann wurde ich von einer der Krankenschwestern, die ich von meinen Parties kannte, in den Operationssaal geschoben. Ich streckte dem Anästhesisten meinen Arm entgegen, er steckte eine Nadel hinein, und die Welt versank um mich. Mein Kopf schien von einer Seite zur anderen zu fallen; in meinen Ohren rauschte es, und ich bilde te mir ein, ich sähe mich selbst eine staubige Straße entlang humpeln, auf Krücken, meine nutzlosen Füße hinter mir herschleifend. Auf mich zu kam der Chirurg mit seinem Hund an der Leine. Er blieb stehen und unterhielt sich eine Weile. »Ich weiß nicht, wieviel ich von Ihren Füßen wegschneiden muß«, sagte er, »bis wir Sie wirklich auf meinen Tisch haben. Ich nehme natürlich nur so viel, wie ich muß, aber Sie sollten sich darauf einstellen, daß Sie möglicherweise den Rest Ihres Lebens auf Krücken oder in einem Rollstuhl verbringen müs sen.« Meine Stimme klang giftig und gehässig, als ich ihn an schrie: »Nein, nein, das will ich nicht! Mir egal, was Sie sagen, aber ich nehme keine Krücken.« »Was ist denn, Mr. Stokes? Nun los, wachen Sie auf. Tun Sie mir den Gefallen, wachen Sie auf!« Die Stimme der freundlichen Stationsschwester erreichte
meine Ohren von ganz weit weg. Sie hüllte mich ein, als ich blinzelnd die Augen öffnete und in ihr lächelndes Gesicht schaute. Ich begriff, daß ich wieder in dem kleinen Neben zimmer war und in meinem Bett. Ich bewegte den Kopf und sah mich um, dann richtete ich mich auf den Ellenbogen auf. Plötzlich durchzuckte mich ein sengender Schmerz von den Füßen bis zu den Knien. Das letzte Mal hatte ich etwas ent fernt Ähnliches gefühlt, als mir in Dhofar durchs Knie ge schossen wurde, aber ich war mir nicht mal sicher, daß das so weh getan hatte wie jetzt. Ich wollte wissen, wieviel weggenommen worden war – oder wichtiger noch: Wieviel war mir geblieben? Die Kranken schwester erklärte mir, daß ich noch die Hälfte meiner Füße hätte und daß der Doktor mit der Operation sehr zufrieden gewesen sei. Ich sank zurück in die Kissen, während die Wirkung eines Medikaments den brennenden Schmerz ver trieb. Jetzt, nachdem alles vorüber war, fühlte ich mich besser. Ich war wieder sauber, das madenzerfressene schwarze, ekelhaft brandige Fleisch war weg; und mit einem Seufzer der Erleichterung fiel ich in einen erschöpften Schlaf. Ich hatte es geschafft, auch wenn der arme Bronco es noch vor sich hatte. Als ich das nächste Mal aufwachte, war Be suchszeit, und unter den Leuten an meinem Bett waren meine Mutter, mein Vater, meine Brüder und meine Schwester, die aus Birmingham hierhergekommen waren. Ich sah, wie sehr meine Mutter sich sorgte, und wollte sie beruhigen, indem ich ihr erklärte, alles würde gut werden und, ehe sie sich’s versah, würde ich schon wieder klettern gehen. Sie attackierte mich mit Worten, wie es nur Mütter können, und sagte mir, ich dürfe auf keinen Fall wieder bergsteigen, ich solle mir ein ruhigeres Hobby suchen.
F. S. Smythe aus Lager VI: Ein Bericht von der Everest-Expedition 1933 Nach drei Everest-Expeditionen Anfang der zwanziger Jahre kehrten die Briten erst 1933 auf den Berg zurück. Wieder versuchten sie, ihn über die Nordseite zu bezwingen. Am 1. Juni brachen Frank Smythe und der junge Eric Shipton von Lager VI auf, um in einem zweiten Versuch zum Gipfel vor zustoßen. Sie hofften, eine Route durch bisher unbekanntes Gelände zu finden. Shipton sollte einer der großen Bergstei ger unseres Jahrhunderts werden – aber dieser Tag gehörte Smythe. Bei Tagesanbruch war der Himmel klar. Wir hatten am Abend vorher beschlossen, um fünf Uhr früh aufzubrechen, doch der aufkommende Wind und die beißende Kälte ließen es nicht zu. Die Kälte allein hätte uns nicht abhalten können, doch in Verbindung mit dem Wind wird es lebensbedrohlich auf dem Everest. Unser Vorhaben schien aussichtslos, bis sich der Wind eine Stunde später plötzlich vollkommen legte und auch nicht zurückkehrte. Bang lauschten wir auf das Wiederaufleben des verhaßten Brausens und Tosens, aber alles blieb still. Also schälten wir uns nach dem Frühstück aus unseren Schlafsäcken und zogen unter großer Mühe und mit viel Gekeuche und Gejapse unsere winddichten Anzüge an. Unsere Stiefel hätten ebensogut aus harten Stein sein kön
nen, sie glitzerten innen von der Feuchtigkeit unserer Füße. Vergeblich versuchte ich, sie über einer Kerze etwas aufzutau en und weicher zu machen. Irgendwie gelang es mir trotzdem, meine Füße hineinzuquetschen, aber ich mußte immer wieder innehalten und die Hände aneinanderreiben oder in die Ho sentaschen stecken. Wir zogen jeden Fetzen Kleidung an, den wir mithatten. Ich trug ein Unterhemd aus Shetlandwolle, ein dickes Flanell hemd, einen schweren Kamelhaarpullover, sechs leichte Shetlandpullover, zwei Paar lange Unterhosen aus Shetland wolle, eine Flanellhose und über all diesen Schichten einen seidengefütterten, winddichten »Grenfell«-Anzug. Eine Woll mütze und darüber eine Mütze aus »Grenfell« schützten meinen Kopf, und meine Füße steckten in vier Paar Wollsok ken und Strümpfen. Handschuhe sind stets ein Problem auf dem Everest; der ideale Handschuh, der wärmt, den Händen zugleich Bewegungsfreiheit läßt und gut am Fels haftet, muß erst noch erfunden werden. Ich hielt meine Hände mit einem Paar Fausthandschuhen aus Wolle und Fausthandschuhen aus südafrikanischem Lammfell, die ich darüber trug, wenigstens einigermaßen warm. Ein Stück Minzkuchen als Wegzehrung mußte genügen. Es war ein Fehler gewesen, daß wir nicht mehr Nahrungsvorräte mitgenommen hatten, und unsere Reue darüber wuchs wäh rend unseres erzwungenen Aufenthalts im Lager VI. Außer dem führten wir ein leichtes Kletterseil mit, und mich begleite te zudem wie gewöhnlich meine kleine »Etui«-Kamera. Um sieben Uhr krochen wir aus dem Zelt und verschnürten die Klappen hinter uns. Leider war nicht zu übersehen, daß Eric bei weitem nicht in seiner üblichen hervorragenden
Verfassung war. Er hatte, seit wir im Lager waren, weniger gegessen als ich. Jetzt klagte er über Magenschmerzen und bat mich, langsamer zu gehen – eine Bitte, die sonst vielleicht ich geäußert hätte, wenn er so kräftig gewesen wäre wie sonst. Eine flache, schneegefüllte Rinne führte uns diagonal gut dreißig Meter nach oben und über das Gelbe Band. Die Strecke bot keinerlei Schwierigkeiten, trotzdem mußten wir alle ein, zwei Minuten pausieren und uns, nach Atem ringend, auf unsere Eispickel stützen. Die Rinne verlor sich in einem Gewirr von Felsspalten. Auch hier lagen keine Schwierigkeiten; es ging lediglich darum, vorsichtig zu balancieren und jeweils den einfachsten und sichersten Weg zu finden. Insgesamt ist das Areal am Gelben Band allerdings so steil, daß ein Fehltritt sicher in einem tödlichen Rutsch enden würde, vor allem, weil man wahr scheinlich nicht mehr die Kraft hätte, den Sturz zu stoppen. Glücklicherweise griffen unsere breiten, leicht genagelten Schuhe auf dem Sandstein gut. Von vielen Felsplatten war der Schnee, den der gestrige Sturm gebracht hatte, bereits wieder heruntergeweht worden, doch hier und da, wo er sich auf den schrägen Kanten aufgehäuft hatte, mußten wir Vorsicht wal ten lassen. Obwohl wir das Lager anderthalb Stunden später als Wyn und Waggers verlassen hatten, war die Kälte immer noch unerträglich, und die Sonne, die gerade über dem Nordostgrat sichtbar wurde, wärmte kaum. Den ersten und nachhaltigsten Eindruck am Everest hinter läßt zweifellos das rauhe, ungastliche Wesen des Bergriesen. Am Gelben Band gibt es keine Felsnadeln, Grate oder Pfeiler, die interessant wirken oder die Phantasie anregen, es gibt aber
auch keine ebenen Flächen, und der Bergsteiger muß eine endlose Abfolge abschüssiger Vorsprünge erklettern, an denen ihm das Seil nichts nützt. Nie habe ich eine ödere Bergland schaft erlebt. Und über allem – eine beschwerliche Wegstrecke weiter oben – ragt die Gipfelpyramide empor, rechtwinklig auf dem First dieses riesigen Felsdaches thronend – eine letzte, unerhörte Herausforderung für unsere schwindenden Kräfte. Traversierend und langsam an Höhe gewinnend, gelangten wir an den Fuß der ersten Stufe, die in dem Augenblick, in dem wir aus der ersten Rinne heraustraten, dicht vor uns aufzuragen schien. Ihre Form erinnerte mich irgendwie an den Gipfel eines Berges im Lake District, den ich an einem taufri schen Frühlingsmorgen noch vor dem Frühstück erklettert hatte, um mir Appetit zu machen. Damals hatte ich eine Stunde gebraucht, um die siebenhundert Meter hohe, torfige, moosbedeckte Wand emporzuklettern, und jetzt, wo wir noch elf Stunden Tageslicht zur Verfügung hatte, zweifelte ich, ob die Zeit und unsere Kräfte ausreichen würden, vierhunder tundachtzig Meter auf- und wieder abzusteigen. Doch es ging besser, als ich erwartet hatte. Die Bewegung lockerte meine steifen, verkrampften Glieder, und zum ersten Mal seit unse rer Ankunft in Lager VI spürte ich, daß warmes Blut kraftvoll in meinen Adern kreiste. Leider ging es Eric nicht genauso. Er marschierte gleichmäßig, aber sehr langsam, und es war überdeutlich, daß etwas mit ihm nicht stimmte. Nicht weit von der ersten Stufe kreuzten wir eine fast ebe ne, geröllbedeckte Plattform, eventuell ein guter Lagerplatz, und querten dann fast horizontal hinauf. Wir befanden uns beinahe unmittelbar unter der Stufe, als ich hinter mir einen Ausruf hörte. Ich drehte mich um und sah, daß Eric stehenge blieben war und sich schwer auf seinen Eispickel stützte. Im
nächsten Augenblick sank er in sich zusammen. Wir hatten auf unserem Marsch durch Tibet oft darüber ge sprochen, was zu tun war, wenn ein Mitglied einer Seilschaft nicht mehr weiter konnte, und waren übereingekommen, daß, solange jener nicht zu erschöpft war, um aus eigener Kraft umzukehren, sein Gefährte allein weitergehen sollte – eine Entscheidung, die von allen Expeditionsteilnehmern und dem Leiter befürwortet wurde. Es war eine weitere Maxime der Expedition, daß niemand solange weitergehen mußte, bis er völlig erschöpft war, und Eric war ein viel zu guter Bergstei ger, um so etwas zu tun. Glücklicherweise gibt es bei der Hochgebirgskletterei immer einen Punkt, an dem man zwar nicht weiter aufsteigen, wohl aber immer noch relativ leicht und sicher absteigen kann. Es ist dies eine Art automatische Sicherheitssperre der Natur.1 Ich fragte Eric, ob er sich stark genug fühle, um sicher wie 1
Ich bin überzeugt, daß diese automatische Sicherheitssperre verhindert, daß ein Mann in unmittelbarer Gipfelnähe auf dem Everest zusammenbricht – eine erschreckende Vision, die laut Tests der R.A.F. in einer Dekompressionskammer durchaus Wirklichkeit werden könnte. Die Tests ergaben, daß bei einem Druck, der einer Höhe von 8534 bis 9144 Metern entspricht, viele Menschen plötzlich, ohne Vorwarnung, in Ohnmacht fallen. Diese Tests sind jedoch insofern nicht ohne weiteres auf die Realität übertragbar, als sie keine Akklimatisationszeit berücksich tigen, und ich glaube nicht, daß sie irgendeine Relevanz für die Begehung des Everest haben. Es scheint mir restlos unplausibel, daß die Natur unter natürlichen Bedingungen so willkürlich agieren sollte. Natürliche Prozesse führen normaler weise langsam und unfehlbar zu einem logischen Ergebnis. Sie widersetzen sich allenfalls künstlichen Bedingungen. Vielleicht ist dies einer der tieferen Gründe dafür, warum vielen Bergsteigern Sauerstoffgeräte ein Greuel sind. Es ist etwas Künstliches, Unnatürliches und deshalb Gefährliches daran, sich auf dem Everest solcher Mittel zu bedienen. Das Argument, daß sie bei hohen Flügen etc. nötig seien, greift insofern nicht, als solche Bedingungen unnatürlich sind, weil Men schen nicht die Fähigkeit von Vögeln haben, die selbstverständlich keine Sauer stoffgeräte zum Überleben brauchen. (Anm. d. Autors)
der ins Lager zurückzukehren. Er antwortete, ohne zu zögern, ja und fügte hinzu, daß er mir langsam nachkommen wolle. Diese letztere Versicherung entsprang, was ich damals nicht wußte, reiner Großherzigkeit. Er hatte keineswegs vor, weiter aufzusteigen, und sagte das nur, um mir Mut zu machen und mir die Sorge um seine Sicherheit zu nehmen. Es war ein weiteres Beispiel für die gute Kameradschaft, die die Men schen eines Tages auf den Gipfel des Everest bringen wird. Ich ließ ihn, auf einem Felsen sitzend, zurück und ging weiter. Nach einer Minute etwa sah ich zurück, aber er hatte sich noch nicht gerührt. Es gab keinen Zweifel über die beste Route. Der Kamm des Nordwestgrats, der zum Fuß der zweiten Stufe führte, war steil, zerklüftet und offensichtlich schwierig. Diese zweite Stufe, die nun unmittelbar über mir aufragte, wirkte völlig unbezwingbar; ich konnte sie nur mit dem steilen Bug eines Schlachtschiffes vergleichen. Einzig die Norton-Route schien einigermaßen erfolgversprechend; sie folgt dem Gelben Band unter einer steilen Wand zum oberen Ende der großen Schlucht. Anfangs gab es keine Schwierigkeiten. Eine Reihe von Fels vorsprüngen oben am Gelben Band führten mich um eine Ecke und aus Erics Blickfeld. Nun folgte ein Schneefleck von etwa dreißig Meter Ausdehnung. Um es zu umgehen, hätte ich etwa dreißig Meter absteigen müssen, doch glücklicherweise war der Schnee nicht von der erwarteten üblen, mehlartigen Beschaffenheit. Der Wind hatte die Schichten so fest zusam mengepreßt, daß ich Stufen herausschlagen mußte. Das Anlegen von Stufen in 8534 Metern Höhe ist ein ermü dendes Unterfangen, und der Pickel schien unmäßig schwer
und alles andere als bereit, seine Arbeit zu tun. In den Alpen hätte ein kraftvoll geführter Schlag pro Stufe gereicht, doch in 8534 Metern Höhe sind solche plötzlichen Anstrengungen tunlichst zu vermeiden, und ich zog es vor, jeweils mit mehre ren leichten, kurzen Schlägen zu arbeiten. Ich muß ausgesehen haben wie ein Huhn, das nach Würmern pickt, aber selbst so mußte ich nach jeder Stufe ausruhen und nach Luft ringen. Große Höhe führt zu Entschlußlosigkeit. Aus dem Schnee ragte ein Gesteinsblock heraus, der auf den ersten Blick einen guten Halt für die Füße zu bieten schien. Dann dachte ich, er sei zu abschüssig, und ich sollte ihn wohl besser seitlich um gehen. Kaum hatte ich meinen Entschluß umgestoßen, da fand ich auch schon wieder, daß er mir letztlich wohl doch genü gend Halt bieten und dazu noch ein oder zwei Stufen ersparen würde. Ich muß Minuten damit zugebracht haben, dieses lächerliche Detail zu überdenken, bevor ich tat, was auf der Hand lag – ich umging den Felsen. Es ist seltsam, wie kleine Probleme im Rahmen eines großen Unternehmens ein Gewicht bekommen, das in keinem Verhältnis zu ihrer eigentlichen Bedeutung steht. Als ich den Schnee hinter mir hatte, schaute ich wieder zu rück, konnte aber keine Spur von Eric entdecken und setzte meinen einsamen Weg fort. Im Gegensatz zur hergebrachten Bergsteigerpraxis stellte ich fest, daß die leichteste und zugleich auch sicherste Metho de zum Überwinden der Felsplatten darin bestand, den Eis pickel in der äußeren Hand zu halten, da dort immer kleine Spalten und Ritzen waren, in die man ihn hineintreiben konn te. So war er gleichsam mein drittes Bein und ein unschätzba rer Begleiter durch den Tag.
Jenseits des Schneefeldes waren die Gesteinsformationen aber immer wieder mit losem Pulverschnee bedeckt, den ich erst entfernen mußte, bevor ich es wagen konnte, den Fuß auf die abschüssigen Kanten zu setzen. So kam ich zwar langsam, aber stetig voran, und als ich schließlich die Gipfelpyramide über dem Felsband aufragen sah, unter dem ich entlangmar schierte, packte mich zum ersten Mal an diesem Tag ein Schauder der Erregung und Hoffnung. Ich war jetzt gut im Rhythmus, besser als nach dem Abschied von Eric, und einen Augenblick lang schien die Chance eines Erfolgs tatsächlich greifbar. Das breite Bett der großen Schlucht war meinen Blicken verborgen, doch eine schmalere Seitenschlucht und eine Felsrippe, die sie von der großen Schlucht trennte, lagen gut sichtbar vor mir. Das Areal war windgeschützt, deshalb lag noch dick der Schnee vom gestrigen Schneesturm. Meine Hoffnungen erfuhren einen Dämpfer, als ich die Felsrippe genauer betrachtet. Sie war sehr viel steiler als die Felsen, die ich gerade überwand. Schnee saß in jeder Spalte und lag dick auf jedem Felsvorsprung. Konnte man sie unter diesen Um ständen erklettern? Vielleicht in den Alpen, aber nicht in 8534 Metern Höhe und nicht von einem Mann, der jetzt schon an die Grenzen seiner Kraft stieß. Und wie stand es mit der Seitenschlucht? Selbst wenn die Querung der Felsrippe sich als machbar erwies, auf was für Schnee würde ich wohl in dem engen Spalt stoßen? Höchstwahrscheinlich auf lockeren Pul verschnee, der jeden Schritt behinderte und in dem kein siche res Auftreten möglich war. Ich konnte sie zwar umgehen, wenn ich die Felsen auf der einen Seite hochkletterte, doch auch die waren größtenteils schneebedeckt. Instinktiv hielt ich Ausschau nach einer Alternative. Konnte
ich direkt hochklettern bis zu einem Punkt über der zweiten Stufe und die Gipfelpyramide ohne diese lange, ermüdende und zwecklose Kletterpartie in Angriff nehmen? Die Wand über mir ragte auf wie eine Klippe aus dem Meer. Teilweise wies sie drohend vorragende Überhänge auf, und jeder Halt, jeder Ritze, jede Spalte waren voller Schnee. Es war nirgends ein Durchbruch zu erkennen, bis zu der Felsrippe; dort klaffte eine Lücke – möglicherweise die Stelle, die Norton 1924 ge nutzt hatte und die sich als Alternative zur Seitenschlucht erweisen könnte. Ein direkter Aufstieg war auf jeden Fall unmöglich. Doch eins machte mir Mut: War erst einmal die Seitenschlucht erklettert und das Felsband passiert, so bestand aller Grund zu der Annahme, daß die größten Schwierigkeiten damit überwunden waren. Ich konnte von meinem Stand punkt aus die Flanke der Gipfelpyramide sehen, sie wirkte unproblematisch. An ihrem Fuß erstreckte sich eine Geröllhal de und weiter oben eine Halde mit hellfarbigen Felsblöcken. Es würde lediglich Kraft kosten, sie zu überwinden. Die Pas sage konnte natürlich noch manche Überraschung bereithal ten, denn der Everest wird sich bis zuletzt als ein hartnäckiger Gegner erweisen. Doch ich bin zuversichtlich, daß der Über gang von schwierigem und gefährlichem Gelände in einen sicheren und leichten Anstieg die Bergsteiger, wenn erst einmal das Felsband hinter ihnen liegt, so motivieren wird, daß sie ihre Erschöpfung und die Anstrengung durch die große Höhe vergessen und die verbleibenden einhundertacht zig Meter bis zum Gipfel förmlich beflügelt zurücklegen. Der Neigungswinkel des Gelben Bandes wurde steiler, als ich mich der großen Schlucht näherte. Im allgemeinen verlie fen die Vorsprünge parallel zum Gelben Band, doch sie waren an manchen Stellen unterbrochen, und ein- oder zweimal
mußte ich ein paar Schritte zurückgehen und mir einen ande ren Weg suchen. Doch das Klettern war an keiner Stelle wirk lich schwierig. Es erforderte lediglich ständige wache Auf merksamkeit, die Füße auf den vorspringenden Felssimsen richtig zu plazieren, besonders, wenn sie mit Pulverschnee überzogen waren. Nun wurde das Bett der großen Schlucht sichtbar. Sie war so flach, daß sie keinen steilen Abstieg nötig machte, mit Schnee gefüllt, etwa neun bis zwölf Meter breit, und endete unter dem Felsband. Ein paar dreißig Meter tiefer befand sich eine Erhebung, deren Höhe schwer zu schätzen war, unterhalb derer sich die Schlucht zu einem hängenden Gletscher erwei terte, um danach steil zum Rongbuk-Gletscher abzufallen, von meiner Position aus etwa 2438 Meter. Es war ein wilder Ort. Unter mir war die steile, verschneite Felsrippe, die mich von der Seitenschlucht trennte, und nach oben war ich von dem erbarmungslosen Felsband eingeschlos sen. Noch weiter oben schnitt die Gipfelpyramide in ziemli cher Entfernung scharf in den blauen Himmel. Ich arbeitete mich auf einem Felssims an die Schlucht heran, der eine scharfe kleine Biegung machte. Bis dahin war er bequem breit gewesen, nun verengte er sich auf einmal extrem. Bis zur Ecke war es einfach, doch um die Biegung zu schaffen, mußte ich mich mit dem Gesicht zum Berg krebsartig vorwärtstasten. Die Felsen über mir sprangen bedrohlich vor, doch für jemand, der des alpinen Kletterns kundig war, stellte das Ganze kein wirkliches Problem dar. Es bedurfte nur eines einzigen Schrittes, um mich um die Kante zu bringen. Doch genau vor diesem Schritt hatte ich Angst. Ich durfte auf keinen Fall das Gleichgewicht verlieren. Mit ausgebreiteten Armen
suchten meine Hände über mir nach festen Haltepunkten. Sie waren nicht wirklich wichtig, eine gute Balance hätte völlig ausgereicht. Aber ich hatte das Gefühl, nicht ohne diesen Halt auszukommen. Ich fand keinen. Jede Falte in dem Felsen wölbte sich nach außen. Für ein paar Augenblicke stand ich so wie ein Gekreuzigter, während mein Herz pumpte und meine Lungen nach Sauerstoff japsten, und die Gefahr eines Sturzes nach hinten in die Schlucht ging mir blitzartig durch den Kopf. Ein unaufhaltsames Fallen in ein langes Vergessen. Ich retirierte ein paar Schritte und schalt mich selbst einen Narren. Ich wußte, daß der Übergang möglich war, und wenn Eric dabeigewesen wäre, hätte ich keine Sekunde gezögert. Jetzt, allein, war alles ganz anders. Ich versuchte es noch einmal und klebte wieder mit flügel artig ausgebreiteten Armen am Fels, fand jedoch einfach nicht den Mut, den einen Schritt zu tun, der mich um die Ecke herum und damit in Sicherheit gebracht hätte. Der einzige gangbare Umweg führte über einen Vorsprung etwa sechs Meter unterhalb von mir. Ich hatte wenig Lust, auch nur sechs Meter Höhe zu verlieren, aber mir blieb nichts anderes übrig, als abzusteigen. Die Felsfläche, die mich von dem Vorsprung trennte, war vertrauenerweckend rauh, und auch wenn sie keine wirklichen Haltegriffe bot, so wies sie doch genügend Winkel und Risse auf. Für den Rest würde die Reibung sorgen. Mich mit dem Gesicht nach außen niederset zend, ließ ich mich behutsam, unter Zuhilfenahme der Hände, von dem Vorsprung hinunter. Die Reibung war sogar noch stärker, als ich gehofft hatte, und die Sitzfläche meiner Hosen reichte schon fast aus, um mir auch ohne Hände Halt zu geben. Der untere Felsvorsprung hatte keine gefährliche
Kurve, er war breit und sicher, und obwohl er sich nach außen bog und ein ungefähr ein Meter starkes Schneebrett trug, brachte er mich doch ohne Schwierigkeiten in das weiche Bett der Schlucht. Wyn und Waggers hatten wie Norton 1924 den gleichen unzuverlässigen Schnee in der Schlucht vorgefunden. Doch ich vermute, daß sie den höheren, oberen Vorsprung über wanden und damit an einer höheren Stelle querten. Auf mei ner Höhe war der Schnee, wie die Prüfung mit dem Eispickel ergab, vom Wind verharscht, so daß ich, wiederum Stufen schlagen mußte. Ein Schritt, dann eine Pause, um Luft zu schnappen, wobei der Schnee zu meinen Füßen und die Felsen dahinter vor mir verschwammen. Dann ein weiterer Schritt und ein weiteres Nach-Atem-Ringen. Der Schnee war äußerst hart, und die Neigung der großen Schlucht betrug an dieser Stelle volle fünfzig Grad. Noch etwa ein Dutzend Schritte, dann war ich endlich drüben. Wie sollte ich aber die Felsrippe überwinden? Ich mußte etwa fünfzehn Meter fast senkrecht an ihm hinauf klettern, bevor ich in einer mehr oder weniger horizontalen Linie zur Seitenschlucht kam. Die Felsen waren steil, der Schnee auf ihnen noch unberührt. Wie konnte der Wind den Schnee in die Schlucht wehen und die Felsen auf dieser Seite verschonen? Ohne Schnee stellen sie wahrscheinlich keine größere Schwierigkeit dar als die Felsen im Osten der großen Schlucht. Dort sind zahllose Vorsprünge, und auch wenn die Steigung im allgemeinen viel steiler ist, kommt man doch gut mit normalem Frei-Klettern zurecht, und ich glaube zuver sichtlich, daß sich der Erreichung der Seitenschlucht kein unüberwindliches Hindernis entgegenstellt. Jetzt hatte sich jedoch hoher Schnee auf den Simsen angehäuft, und zwar
Schnee von der schlimmsten Sorte. Weich wie Mehl, lose wie raffinierter Zucker und keinerlei Halt für die Füße bietend. Als ich ihn mit dem Pickel testete, wußte ich sofort, daß das Spiel aus war. Bis hierher war das Klettern eher gefahrvoll als schwierig gewesen. Jetzt war es beides: schwierig und gefähr lich, eine fatale Kombination am Everest. Ich konnte nun nur noch soweit wie möglich voranstapfen, das Wetter und die Kraftreserven, die ich brauchen würde, um sicher zurückzu kehren, ständig im Auge behaltend. Immerhin war das Wetter schön. Im Schutz der Felsrippe wehte nicht das leiseste Lüftchen, und dabei schien die Sonne kräftig – fast zu stark, denn meine Kraft und Entschlossenheit schienen unter ihr zusammenzuschmelzen. Ich kam mir vor wie ein Gefangener, der sich vergeblich abmüht, aus einem riesigen Loch, umschlossen von kerkerartigen Wänden, zu entkommen. Wohin ich die Augen auch wandte, von überall blickten feindselige Felsen ernst auf meine ohnmächtigen Bemühungen herab, und die Wand über mir erschien mir fast wie eine Drohung mit ihren übereinandergelagerten dunklen Gesteinsschichten, die Verkörperung statischer, erbarmungs loser Stärke. Die Gipfelpyramide war nicht zu sehen. Wenn ich nur schon auf ihr wäre, fort von diesem schrecklichen Ort mit seinen starren Felsformationen. Wer diese Strecke überwinden will, hat genausosehr mit einem Nachlassen seines Mutes zu kämpfen wie mit seiner körperlicher Schwäche. Beide Arme in Brusthöhe vorgestreckt, fing ich an, den Schnee vor mir wegzuschaufeln. Er strömte hinter mir mit einem leisen, wispernden Geräusch die Schlucht herunter. Mehrere Minuten vergingen, bis ein Vorsprung gesäubert war, dann hievte ich mich hinauf, bis ich erst mit einem, dann mit beiden Knien oben war. In dieser Haltung mußte ich verhar
ren, wie ein Bittsteller vor einem Priester, während meine Lungen, die von der Anstrengung unerträglich keuchten, nach Sauerstoff rangen. Dann, mit einer weiteren Anstrengung, richtete ich mich vorsichtig auf. Und wieder mußte Schnee weggeräumt werden, bevor ich einen kleineren Vorsprung auf der Felsplatte darüber betreten konnte. Dann kam zu meiner Erleichterung ein Schritt ohne die ungeheure Mühe des Schneewegräumens. Doch Erleichte rung ist am Everest eine kurzlebige Sache, und der folgende Vorsprung war schon wieder hoch mit Schnee bedeckt, der zu einem abschüssigen Brett zusammengepreßt, dabei aber völlig lose war. Hier mußte ich innehalten, weil der Schnee meine Hände, obwohl sie in Handschuhen steckten, so ertauben ließ, daß ich fürchtete, meinen Eispickel fallen zu lassen. Abgesehen davon, daß mein Herz und meinen Lungen dringend eine Ruhepause brauchten. Das Freischaufeln war so langsam und mühselig, daß ich anfing, mich allein auf das Gefühl zu verlassen. Das heißt, wenn ich konnte, vertraute ich darauf, daß mein Fuß einen Halt unter dem Schnee finden würde, statt ihn wegzufegen. Ich erkannte wohl die Gefahr dieses Vorgehens, und wann immer es möglich war, setzte ich meinen Eispickel als zusätz lichen Halt ein, indem ich ihn in irgendwelche Risse rammte. Diese letztere Vorsichtsmaßnahme rettete mich zweifellos vor einer Katastrophe. Da war ein abschüssiger Fels, hoch mit weichem Pulverschnee bedeckt, in den ich bis zu den Knien einsank, doch mein tastender Fuß entdeckte zunächst einen runden Vorsprung darunter. Er wirkte ziemlich fest, und mit dem Pickel ausholend, verankerte ich die Spitze ein kleines
Stück in einer dünnen Felsspalte. Dann schob ich vorsichtig auch meinen anderen Fuß auf den kleinen Vorsprung, wobei ich gleichzeitig mein gesamtes Körpergewicht auf meinen vorderen Fuß verlagerte, doch da brach der Vorsprung ohne jede Vorwarnung plötzlich weg. Einen Augenblick rutschten mir beide Beine weg, und mein ganzes Gewicht hing am Eispickel. Im nächsten Moment hatte ich meine Füße schon wieder herangezogen und einen anderen Halt gefunden. Das Ganze ging so schnell, daß mein träges Hirn gar nicht die Zeit hatte, auch nur einen Anflug von Angst zu verspüren. Ich hatte rein instinktiv gehandelt, und der Vorfall war vorbei, bevor ich ihn überhaupt bewußt registriert hatte. Nicht einmal hinterher fühlte ich Angst. Ich kletterte jetzt in einer merk würdig distanzierten, kühlen Geistesverfassung. Es war bei nahe so, als ob ein Teil von mir neben mir stünde und zusah, wie der andere sich voranmühte. Sauerstoffmangel und Er müdung führen zu diesem Abstumpfen der geistigen Fähig keiten, wobei der Sauerstoffmangel die Hauptursache ist. Es ist ein gefährlicher Zustand, der sich mit der Reaktionsfähig keit eines Betrunkenen vergleichen läßt, der sich ans Steuer eines Wagens setzt. Er glaubt ja, daß seine Urteilsfähigkeit ungetrübt sei, ja daß er sogar besser fährt als sonst. Tatsächlich aber ist er in dieser Verfassung sehr viel stärker unfallgefähr det, wie Statistik und Polizeiberichte zeigen. Kurz vor der Überquerung der großen Schlucht hatte ich auf meine Uhr geschaut. Es war 10.00 Uhr. Nun schaute ich wieder darauf. Eine Stunde war vergangen, und ich hatte nicht mehr als fünfzehn Meter an Höhe gewonnen. Mindestens neunzig Meter schwierige Felsen, alle mit Schnee bedeckt, mußten noch erklettert werden, bevor das leichtere Gebiet um die Gipfelpyramide erreicht war. Ich hielt vielleicht noch eine
Stunde oder auch zwei durch, aber was brachte das schon. Ich würde mich nur völlig verausgaben und keine Kraft mehr für den Rückweg haben. Ich schaufelte den pulvrigen Schnee weg, bis ich einen Platz geschaffen hatte, auf dem ich stehen konnte, wagte aber nicht, mich hinzusetzen. Ich befand mich hoch oben auf der Felsrip pe, die die große Schlucht von der Seitenschlucht trennt. Über mir war das Felsband, unterhalb dessen ich eine Querung versucht hatte und noch versuchte. Es sah unüberwindbar aus, bis auf die Stelle, wo es von der Seitenschlucht durchbrochen wurde, und den bereits erwähnten Ort ein paar Meter östlich von dieser Schlucht. Im übrigen ist es der stärkste Verteidi gungswall des Everest, der sich unbesiegt über die Nordflanke des Berges zieht. Die geriffelten Kalksteinfelsen, aus denen er besteht, bilden stellenweise Überhänge, und der Abschnitt oberhalb der großen Schlucht erinnerte mich an den wohlbe kannten Gipfel im Central Gully am Lliwedd in Nordwales. Es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß die Müdigkeit und die Höhe mein Urteilsvermögen beeinträchtigten. Doch ich bin von zwei Dingen überzeugt: erstens, daß Nortons Route gangbar ist, daß die »Dachziegel«, wie er die Felsplatten mit ihren Vorsprüngen bezeichnet, wenn sie schneefrei sind, ohne besondere Schwierigkeit zur Seitenschlucht hin überquert werden können und daß man durch diese bis zum Face der Gipfelpyramide gelangen kann. Zweitens glaube ich, daß die Route nicht passierbar ist, wenn die Felsplatten schneebedeckt sind. In jedem Fall aber steht außer Zweifel, daß dieser Teil dem Kletterer selbst unter optimalen Bedingungen das Äußer ste abverlangt. Die Gefährdung durch die Felsschichten, das stundenlange Abhängigsein von einer guten Haftung der genagelten Sohlen und die physische und geistige Erschöp
fung und Lethargie, bedingt durch die große Höhe, fordern vom Bergsteiger mehr als bloße Kraft und Geschicklichkeit, wenn er hier bestehen will. Der Gipfel war über dem Felsband gerade sichtbar. Er lag nur noch etwa dreihundert Meter über mir und war doch ein Unendlichkeit an Erschöpfung von mir getrennt. Bastion über Bastion, Felsschicht über Felsschicht türmten sich die Brocken übereinander, die blaßgelben Kanten schimmerten gespenstig gegen den blauen Himmel. Vom Gipfelkamm wehte eine weiße Nebelfahne wie nie versiegen der vulkanischer Dampf. Doch da, wo ich stand, regte sich kein Windhauch, und die Sonne schien intensiv in den Hohl raum, ohne die kalte Luft wirklich zu erwärmen. Wolken zogen sich zusammen, doch sie befanden sich Tausende von Metern unter mir. Zwischen ihnen konnte ich den RongbukGletscher ausmachen, reinweiß im oberen Teil, dann zerklüftet und uneben, wo er sich in eine Vielzahl von Eisspitzen und noch weiter unten in ein gigantisches Geflecht von Moränen auflöst, als ob sämtliche Kanalarbeiter der Welt ohne Sinn und Zweck wild gegraben hätten. Jenseits davon erstreckte sich das Rongbuk-Tal nordwärts zu den goldenen Hügeln von Tibet, und ich konnte das Rongbuk-Kloster erkennen, eine winzige Anhäufung von Miniatur-Gebäuden, dabei in allen Details deutlich gezeichnet durch die kristallklare Luft. Von dieser einen Ausnahme abgesehen, erinnere ich mich an keine besonderen Eindrücke. Mein Standort war zu hoch und mein Gehirn zu ermüdet, um Einzelheiten zu registrieren. Die Erde schien so weit unter mir, daß es mir unmöglich vorkam, jemals zu ihr zurückzukehren. Das menschliche Fassungsvermögen bedarf göttlicher Inspiration, um einen solchen Blick begreifen zu können, und das meine war an einen Körper gekettet, der erschlafft war von der Anstrengung und verlangsamt in all
seinen lebenswichtigen Prozessen durch den Sauerstoffman gel. Somervells Beschreibung der gigantischen Szenerie ist fraglos die schlichteste und die beste. »Es ist der Blick eines Gottes.« Es war eher Instinkt, daß ich meine Kamera aus der Tasche zog. Die Aufnahme, die ich machte, ist von trauriger Unzu länglichkeit. Ich mag mich nicht weiter über die Bitterkeit der Niederlage auslassen. Alle, die am Everest gescheitert sind, stimmen in einer Sache überein: Die Erleichterung, nicht weiter zu müs sen, überwiegt zunächst alles andere. Die letzten dreihundert Meter des Everest sind nicht für Fleisch und Blut gemacht. Wer immer den Gipfel erreicht, wird sich, wenn er ohne künstliche Hilfe auskommen will, gottähnlich über seine eigene Schwäche und die Ungeheuerlichkeit seiner Umwelt hinwegsetzen müssen. Nur durch eine besondere Macht in ihm und außerhalb von ihm wird er die tödliche Müdigkeit überwinden und zum Erfolg gelangen. Der Abstieg selbst über schwieriges Gelände in großer Hö he ist fast so einfach wie ein Abstieg in den Alpen, und in wenigen Minuten erreichte ich wieder die große Schlucht. Als ich sie erneut durchquerte, hielt ich auf dem breiten, beque men Vorsprung inne, um ein weiteres Bild zu machen. Merk würdigerweise erinnerte ich mich nicht an dieses Foto und auch nicht an das, das ich auf dem höchsten Punkt gemacht hatte, bis der Film entwickelt war. Ich glaube daher, daß meine Handlungen zu diesem Zeitpunkt eher automatisch als be wußt waren, weil ich mir vor der Expedition immer wieder vorgenommen hatte, soviel wie möglich zu fotografieren. Das bestätigt eine These, die ich schon lange vertrete, nämlich, daß
sich der Bergsteiger beim Klettern in großen Höhen, wenn Geist und Körper im Banne heimtückischer Lethargie liegen, darauf verlassen muß, daß ihn sein Unbewußtes vorantreiben wird. Aus diesem Grund ist es ganz wesentlich, daß der Wille, den Gipfel des Everest zu erreichen, von einer ihm vorange henden Entschlossenheit, dorthin zu gelangen, unterstützt wird. Vielleicht kann man so tatsächlich sagen, daß der Eve rest in England bezwungen wird. Nachdem ich die Aufnahme gemacht hatte, kam mir in den Sinn, daß ich etwas essen sollte. Ich war nicht im geringsten hungrig, im Gegenteil, der Gedanke an Essen widerstrebte mir geradezu, besonders, weil mein Mund völlig ausgetrocknet war und meine Zunge sich anfühlte wie Leder. Trotzdem holte ich pflichtschuldigst ein Stückchen Minzkuchen aus der Ta sche. An dieser Stelle muß ich von jenem merkwürdigen Phäno men erzählen, von dem in Everest 1933 die Rede ist. Seit ich Eric zurückgelassen hatte, beherrschte mich das merkwürdige Gefühl, daß mich jemand begleitete. Ich habe schon jenes distanzierte Empfinden erwähnt, bei dem es mir schien, als ob ich neben mir stünde und mir selbst zusähe. Schon einmal vorher, bei einem Sturz in den Dolomiten, hatte ich das gleiche Gefühl. Es ist keine ungewöhnliche Erfahrung für Bergsteiger, die einen langen Sturz erleben. Vielleicht hing das Gefühl, daß ich begleitet wurde, wiederum mit dem Sauerstoffmangel und der geistigen und körperlichen An strengung, allein in großer Höhe zu klettern, zusammen. Ich will damit nichts erklären, es ist nur eine Vermutung. Diese »andere Gegenwart« war stark und freundlich. In ih rer Gesellschaft konnte ich mich nicht allein fühlen, noch
konnte mir irgend etwas zustoßen. Sie war ständig da, um mich bei meiner einsamen Klettertour die schneebedeckten Vorsprünge hinauf zu unterstützen. Jetzt, während ich dastand und den Kuchen aus der Tasche zog, war sie so nah und so stark, daß ich das Kuchenstück instinktiv in zwei Hälften teilte und mich mit der einen Hälfte in der Hand umdrehte, um es meinem »Gefährten« anzubieten. Als ich die Schlucht wieder durchquerte, zeigte sich, daß ich besser auf einer tiefer gelegenen Route über das Gelbe Band zurückging. Die Neigung des Bandes westlich vom ersten Einstieg ist ganz leicht konkav, und bei solchen Felswänden machen ein oder zwei Grad Unterschied im Neigungswinkel viel aus. Das westliche Ende des Bandes mündet unterhalb in einen großen Abbruch. Ein jäher Abgrund, der den Blick zum Rongbuk-Gletscher freigibt. Meine Abstiegsroute verlief etwas oberhalb und parallel zur Kante dieses Abgrunds. Sie hatte keine große Schwierigkeiten. Es kam lediglich darauf an, aufmerksam zu sein, besonders bei der Überquerung einiger kleinerer Schneefelder, die im Gegensatz zu denen im oberen Teil des Bandes, trügerisch weich und instabil waren. Schon bald befand ich mich unterhalb des Punkts, an dem ich mich von Eric getrennt hatte, doch beim Blick hinauf konnte ich keine Spur von ihm entdecken. Ich mußte mich nun entscheiden, ob ich wenigstens dreißig Meter aufwärts klettern und die aufsteigende Route nehmen oder direkt zum Lager queren wollte. Erneut aufsteigen zu müssen war mir in mei nem erschöpften Zustand eine Horrorvorstellung. Ich war todmüde, und meine Beine waren wie Blei. Sie konnten noch ohne weiteres absteigen oder horizontal queren, doch ich zweifelte, ob sie ohne äußerste Anstrengung noch einmal bergauf zu bewegen waren. Ich mußte daher mit aller Kraft
der Versuchung widerstehen, das Gelbe Band auf Norton und Somervells Route weiter bergab zu verfolgen. Sie war sehr viel leichter als die lange, mühsame Traverse über eine Reihe von Felsvorsprüngen zum Lager VI. Ich hätte in zwei oder drei Stunden Lager V erreichen und sogar noch weiter hinunter zu den Annehmlichkeiten von Lager IV gelangen können, doch leider wartete Eric in Lager VI auf mich, und wenn ich nicht kam, würde er natürlich annehmen, daß mir etwas zugestoßen war. Am Anfang war der Aufstieg noch recht einfach, wurde dann aber schwieriger. Statt der relativ leicht zu bewältigen den Felsplatten, die vom Lager zum Fuße der ersten Stufe hinaufgeführt hatten, fand ich mich nun mit schmalen, ab schüssigen Felssimsen konfrontiert, die von unvermittelt aufragenden kleinen Mauern unterbrochen wurden. Sie er streckten sich nie über eine längere Distanz, und wenn sie zu Ende gingen, mußte man auf den nächsten Vorsprung hinun terklettern. Ich konnte es mir allerdings noch leisten, etwas Höhe zu verlieren, ohne unter die Höhe von Lager VI zu kommen. Die Route führte mich in einiger Entfernung unterhalb der Stelle vorbei, an der Wyn und Waggers den berühmten Eis pickel gefunden hatten. Ich konnte jedoch keine weiteren Spuren von Mallory und Irvine entdecken. Ich weiß noch, daß ich auf eine weite, sanft abfallende Fläche von Schnee, Geröll und Felsbrocken unterhalb des Bandes hinabblickte und dachte, daß ihre Körper, wenn der Eispickel tatsächlich die Stelle markierte, an der sie abgestürzt waren, vielleicht dort begraben lagen. Einige der Vorsprünge waren ein wenig breiter, und ich
ruhte mich in regelmäßigen Abständen aus. Bei einer dieser Pausen wurde beobachtete ich ein ungewöhnliches Phäno mens. Als ich über die Nordostschulter blickte, die nun direkt vor mir lag, gewahrte ich zwei dunkle Objekte am Himmel. Ihre Form erinnerte an Fesselballons, und meine erste Reaktion war, mich zu fragen, was um alles in der Welt Fesselballons am Everest verloren hatten – ein schlagender Beweis dafür, daß der Sauerstoffmangel meine geistigen Fähigkeiten deut lich getrübt hatte. Doch schon einen Augenblick später wurde mir klar, wie absurd der Gedanke war. Gleichzeitig stand ich vor einem Rätsel. Die Objekte waren schwarz, und ihre Sil houetten hoben sich scharf gegen den Himmel oder vielleicht auch gegen eine Wolke ab; in diesem Punkt ist meine Erinne rung unscharf. Sie waren bauchig geformt, und das eine besaß so etwas wie rudimentäre Flügel, während das andere einen schnabelartigen Auswuchs wie der Ausgießer eines Teekessels aufwies. Doch am unheimlichsten war, daß sie deutlich in einer Ein-Aus-Bewegung pulsierten, als ob sie irgendeine phantastische Art von Leben besäßen. Interessant ist, daß dieses Pulsieren sehr viel langsamer war als mein Herzschlag. Das weiß ich mit Sicherheit und erwähne es im Hinblick auf die später vorgebrachte Vermutung, daß es sich um eine optische Täuschung gehandelt und das scheinbare Pulsieren meinem eigenen Pulsschlag entsprochen hätte. Nach meiner ersten törichten Vermutung, es seien »Fessel ballons«, schien mein Gehirn wieder normal zu funktionieren, und die Sache faszinierte mich so, daß ich bewußt einige Tests durchführte, weil ich die Erscheinung für Trugbilder meiner Phantasie hielt. Zunächst einmal schaute ich weg. Die Objekte folgten meinem Blick nicht, doch als ich ihn zur Nordostschul
ter zurückwandern ließ, schwebten sie immer noch dort. Ich schaute wieder weg und identifizierte eine Reihe von Gipfeln, Tälern und Gletschern im Umkreis mit Namen, um meine Geistesverfassung noch genauer zu überprüfen. Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten mit der Benennung des Cho Oyu, Gyatschung Kang, Pumori und des Rongbuk-Gletschers, doch als ich wieder hinschaute, befanden sich die Objekte noch an genau derselben Stelle. Da weitere Versuche sinnlos schienen und ich mich nach dem endlosen Überklettern von Felsstufen sehr erschöpft fühlte, beschloß ich, zu Lager VI weiterzugehen. Ich war gerade im Aufbruch, als sich eine kleine Nebelwolke formte, die Nordostschulter entlangwanderte und über die Objekte glitt. Schnell waren sie nur noch undeutliche Schatten, dann, als der Nebel sich verdichtete, verschwanden sie ganz. Der Nebel dauerte nur ein paar Sekunden, dann löste er sich auf. Ich hatte erwartet, die Objekte erneut zu sehen, aber sie waren nicht mehr da. Sie waren auf genauso geheimnisvollem Weg verschwunden, wie sie gekommen waren. War es eine optische Täuschung oder eine Luftspiegelung? Man muß bedenken, daß ich mich in einer Höhe von ungefähr 8412 Metern befand und daß die Objekte sich wenige Grad über dem Nordostgrat, etwa auf halbem Wege zwischen der Position von Lager VI im Jahr 1924 und dem Kamm der Nord ostschulter befanden, das heißt, in ungefähr 8290 Metern Höhe. Wenn man eine imaginäre Linie zwischen den Objekten und meinem Standort zog, hoben sie sich also nicht vom Himmel ab, sondern schwebten vor einem Hintergrund von Wolken und Fels. Es ist daher möglich, daß meine Einbil dungskraft irgendeinen Effekt des Zusammenspiels von Nebel, Berg und Schatten vergrößert hatte. Doch was immer es
auch gewesen sein mag, es war auf jeden Fall ein merkwürdi ges und recht unheimliches Erlebnis. Die erste zarte Nebelwolke war die Vorläuferin weiterer Schwaden gewesen, die sich rasch zusammenballten und vertraute Orientierungsmarken verbargen. Es konnte schwie rig werden, Lager VI inmitten dieser Felswüste im Nebel zu finden, und mir wurde etwas angst, weil ich das Zelt immer noch nicht ausmachen konnte. Glücklicherweise tauchten jedoch die hochaufragenden Türme am Nordostgrat ab und zu aus dem Nebel auf, die, wie ich wußte, unmittelbar oberhalb vom Lager aufstiegen. Stellenweise war der Sandstein horizontal von glatten, schlüpfrigen Streifen Quarzit durchzogen. Einen ersten Vorge schmack davon, wie glatt sie tatsächlich waren, bekam ich, als ich mich über eine steile kleine Mauer auf einen abschüssigen Quarzitvorsprung herunterließ. Er war sehr viel rutschiger als die Sandsteinsimse, und ich traute meinen Nagelsohlen nicht besonders. Mir blieb nur die Wahl, zu einem Sandsteinvor sprung hinaufzuklettern, aber dieser kurze Aufstieg, der nicht mehr als sechs Meter betragen haben kann, brachte mir erst so richtig zu Bewußtsein, wie müde ich war. Nun ragten die beiden Felstürme fast unmittelbar über mir auf. Ich blieb stehen und blickte mich hoffnungsvoll nach dem Lager um. Es war immer noch nicht zu sehen. War ich ober halb oder unterhalb von ihm? Hatte ich mich in der Route geirrt? Ich befand mich inmitten eines riesigen Labyrinths konkaver Felsen. Ab und zu schwebte ein Wölkchen eisigen Nebels herab und glitt geisterartig den Berg hinauf bis an die Spitze des Nordostgrats, wo es sich auflöste und mit dem unaufhörlich in Bewegung befindlichen Dunst vermischte, der
sich über dem südöstlichen Abgrund ballte. Noch ein paar Schritte. Irgend etwas an den Felsen war auf einmal vertraut. Plötzlich stand ich vor einer engen, sanft geneigten, schneegefüllten Rinne. Im Schnee waren Fußspuren zu erkennen. Es war die Rinne unmittelbar oberhalb des Lagers. Im nächsten Moment sah ich schon das kleine Zelt, das sich in eine Ecke schmiegte. Kein Wunder, daß ich es vorher nicht gesehen hatte. Was für eine Erleichterung! Ich stieß einen heiseren Freudenschrei aus und krabbelte schnell hinunter auf das Zelt zu. Eric war da. Es bedurfte kaum eines Wortes von mir, um ihm von meinem Fehlschlag zu berichten. Er hatte genügend Erfahrung, um die Bedingungen richtig einschätzen zu kön nen. Er selbst war ohne Schwierigkeiten heruntergekommen, und mit seinem Magen war es sehr viel besser geworden. Wir unterhielten uns flüsternd, weil mein Mund und mein Hals von der kalten Luft völlig ausgetrocknet waren. Ein heißes Getränk war jetzt das Allerwichtigste. Ich hatte gar nicht gewußt, wie durstig ich war. Die starke Austrocknung in großer Höhe versetzt den Körper in einen Zustand, in dem der Durst kaum noch eine Rolle spielt. Und erst die Wärme des Getränks! Es war wahrlich ein lebenspendendes Labsal. Anschließend besprachen wir unsere Pläne. Nach unserem Fehlschlag sehnten wir uns nur noch nach Ruhe und Bequem lichkeit. Beides gab es nicht in Lager VI. Eric war ausgeruht und stark genug, um zu Lager V abzusteigen. Ich dagegen fühlte mich äußerst erschöpft. Jene eine Stunde jenseits der großen Schlucht hatte mich mehr Kraft gekostet als viele Stunden normales Klettern. Wir kamen deshalb überein, daß Eric absteigen sollte, während ich in Lager VI bleiben und am
nächsten Morgen nachkommen wollte. Es war kein besonders glückliches Arrangement; man sollte am Everest möglichst zusammenbleiben. Doch eine weitere schlaflose Nacht in der Enge des winzigen Zelts wäre unerträglich gewesen. Eine Stunde später, gegen 13.30 Uhr, brach Eric auf. Das Wetter verschlechterte sich rasch. Nebel hatte sich gebildet, und ein aufkommender Wind blies eine Schneefontäne von der Flanke des Berges. Ein paar Minuten sah ich Eric zu, wie er methodisch den Abhang querte und Jack Longlands Abstiegs route folgte. Dann entzog ihn ein Vorsprung meinen Blicken, und ich kroch in meinen Schlafsack, um endlich die dringend nötige Ruhe zu genießen. Die nächste Stunde lag ich halb bewußtlos vor Müdigkeit im Zelt. Hin und wieder fiel ich wohl sogar in Schlaf. Dann wurde ich plötzlich davon wach, daß das Zelt von starken Sturmböen geschüttelt wurde. Die Ruhe hatte mir gutgetan, und mein Geist begann wieder die Herrschaft über meinen erschöpften Körper zu erlangen. Ich zog den Zelteingang auf und schaute nach draußen. Ein Schneesturm tobte. Es war nichts zu sehen als ein paar Felsbrocken, über die die Schnee böen hinwegfegten. Der Sturm steigerte sich. Ich spürte, wie das kleine Zelt an seinen Halteleinen riß, und zwischen dem Knattern der aufs äußerste strapazierten Zeltplanen hörte ich die salvenartigen Kaskaden von Eiskristallen, die mit bösarti ger Heftigkeit gegen das Tuch prallten. Was war mit Eric? Ich machte mir große Sorgen. Er mußte einen schrecklichen Abstieg haben. Aber er würde es schaffen. Er war nicht der Mann, der irgendwelche Unfälle herausfor derte. Sein ruhiges, nüchternes Selbstvertrauen war eine Lebensversicherung. Trotzdem konnte ich die Angst und die
quälenden Bilder, die mir durch den Kopf gingen, nicht ab schütteln: Schnee und Sturm; erbarmungslos tobender Schneesturm, kalt wie der Tod; und mitten drin eine einsame, sich abmühende, eisverkrustete Gestalt. Gegen Abend ließ der Wind beträchtlich nach, und die Wolken zogen sich vom Everest zurück. Wieder spähte ich nach draußen. Alle anderen Gipfel waren unter einem Meer von Wolken verborgen. In dieser Höhe blies ein sturmartiger Wind, und ab und zu kochte eine Wolkenmasse nach oben wie gewaltsam von unten getrieben und zerstob in nichts. Der Himmel über dem Wolkenmeer war blaugrün. Nie habe ich eine kältere Farbe gesehen. Die sinkende Sonne entbehrte jeglicher Wärme. Immer wieder tanzten kleine Schneewirbel vorüber. Kein Wunder, daß die Tibeter an eine kalte Hölle glauben. Hier leckten die Flammen dieser Hölle über die Felsen des Chamalung. Es war nur noch wenig Brennstoff da, und die Hälfte davon verbrauchte ich für die Zubereitung meines Abendessens. Um 18.00 Uhr hatte ich mein Mahl beendet. Ich war glücklich über den Komfort, den ich hatte. Immerhin hatte ich nun sogar zwei Schlafsacklagen, um mich warm zu halten, und bald war ich so weich eingepackt, daß mir nicht einmal die spitzesten Steine etwas anhaben konnten. Es kam mir gar nicht in den Sinn, daß mein Schlafplatz höher lag als der aller anderen Menschen. Ich empfand nur ein animalisches Bedürfnis nach Wärme und Bequemlichkeit. Ich fühlte mich auch nicht im geringsten einsam. Ja, es erschien mir genauso natürlich, eine Nacht allein in einem Zelt auf 8351 Metern Höhe zu verbrin gen wie in einem Hotel auf Meereshöhe. Dann erinnere ich mich erst wieder an den nächsten Mor
gen. Etwas Schweres lag auf mir, als ich aufwachte, und ich war erstaunt, mich in einer Schneewehe wiederzufinden, die die untere Hälfte meines Körpers bedeckte und fast bis zum Zeltdach reichte. Wie war sie hier hereingekommen? Dann fiel mir das kleine Loch ein, das Eric und ich bei unseren Kochma növern in eine Zeltplane gebrannt hatten. Es hatte nur einen Durchmesser von etwa zweieinhalb Zentimetern und war doch groß genug gewesen, daß der Pulverschnee die ganze Nacht hereinrieseln konnte wie Sand durch eine Sanduhr und eine Wehe bildete, die fast ein Viertel des Zelts ausfüllte. Der Schneesturm mußte ungewöhnlich schwer gewesen sein. Ich schaute auf meine Armbanduhr: 7.00 Uhr. Ich hatte zum ersten Mal seit Verlassen des Basislagers eine Nacht durchge schlafen, wenn nicht überhaupt zum ersten Mal auf der ganzen Expedition, und war wirklich ausgeruht. Solange ich bewegungslos dalag, fühlte ich mich beinahe wie auf Meeres höhe. Mein Herz schlug ruhig und rhythmisch, und mein Hirn war aktiver, als es je seit dem Verlassen von Lager IV gewesen war. Vielleicht war ich imstande, die vertrackte Frage der zweiten Stufe ein für allemal zufriedenstellend zu beantwor ten, bevor ich ins Lager IV abstieg. Mit diesem tatendurstigen Gedanken rappelte ich mich in eine sitzende Position und begann energisch, den Schnee von meinem Schlafsack zu fegen. Doch sofort stellte sich wieder das gewohnte Keuchen ein, und im gleichen Moment wurde ich mir der beißenden Kälte bewußt, der grausamsten Kälte auf der ganzen Expediti on. Schon nach wenigen Sekunden waren meine Hände fühl los, und ich mußte sie in den Schlafsack stecken und zwischen meine Beine halten, um sie wieder zu wärmen. Die Sonne hatte das Zelt noch nicht erreicht. Vielleicht steckte sie hinter Wolken, und es war sinnlos, irgend etwas
unternehmen zu wollen, bevor sie da war. Ein paar Minuten später erreichten die ersten Sonnenstrahlen das Zelt. Ich zog meine Handschuhe an und wühlte im Schnee nach Brennstoff und Vorräten. Es dauere einige Zeit, bis ich eine Dose fand, die letzte Dose Kondensmilch, und mir eine Tasse Café au lait zubereiten konnte. Der Anblick von Essen verursachte mir Übelkeit, aber es gelang mir, etwas hinunterzuwürgen. Dann spähte ich nach draußen. Ein Blick genügte. Selbst wenn ich die Kraft oder Neigung (mein Tatendrang war mittlerweile schon wieder stark abgeebbt) für einen Erkundungsgang gehabt hätte, so machte das Wetters, ganz zu schweigen von dem Mangel an Brennstoff, einen sofortigen Abstieg unum gänglich. Graue Wolken zogen von Westen heran, und über mir sammelte sich eine gestaltlose, trübe Masse, gegen die die Sonne mit rasch nachlassender Kraft ankämpfte, während der frisch gefallene Schnee ein stumpfes, lebloses Aussehen an nahm. Ein weiterer Schneesturm war im Anzug.
Lene Gammelgaard aus Die letzte Herausforderung: Wie ich die Tragödie am Mount Everest überlebte »Die wirkliche, letztgültige Regel ist eigentlich, daß die Na tur sich eben nicht kontrollieren läßt.« Mit dieser Erkennt nis überlebte Lene Gammelgaard die tragische EverestExpedition von Scott Fischer. Am 10. Mai 1996 hatte die Dänin den höchsten Gipfel der Welt erstürmt, ohne zu ah nen, daß unter ihr ein Sturm heranzog, der den Abstieg in einen Alptraum verwandeln würde. Zusammen mit sieben anderen Kletterern verirrte sie sich im Schneetreiben auf dem Südsattel. Völlig entkräftet von Kälte und Sauerstoff mangel, überstand sie eine eisige Nacht in der Todeszone. Erst am nächsten Tag gelang der mühsame Abstieg zu den Lagern IV und II. Doch Scott Fischer sollte ihn nicht erle ben. Abstieg vom Gipfel 10.5.1996, Nachmittag Ich beeile mich, um die anderen einzuholen. Es sieht so aus, als ob Klev jemandem drüben am Südgipfel hilft, oder ruhen sie sich nur aus? Runter, runter, Gleichgewicht halten – die meisten, die auf dem Mount Everest ihr Leben lassen, tun das beim Abstieg.
Setz die Füße sorgfältig, bring den Eispickel an, und mach nur einen Schritt. Hak dich am Seil fest, und steig den Hillary Step hinunter. Ich hab’s geschafft. Verdammt noch mal, ich hab’s geschafft! Jetzt muß ich nur noch die Stunden bis zum Südsat tel überleben, dann bis zum Lager III… Runter, runter, vorbei an der Querung, an der ich beim Aufstieg nicht weiterkonnte. Jetzt erkenne ich sie kaum wieder – wirkt gar nicht so steil. Dann das Sauerstofflager. Wie steht es um meinen Sauerstoff? Fast leer. Wie viele sind wir? Wie viele volle oder weniger leere Flaschen? Ich überprüfe mehrere Flaschen auf dem Stapel: leer, fast voll, voll – es gibt hier kein System mehr. Ordnung ist zu Chaos geworden. Ich tausche meine Sauerstoffflasche aus und berechne, daß der Inhalt der neuen kaum reichen wird, um den Südsattel zu erreichen, aber je weiter ich nach unten komme, desto weniger gefährdet werde ich sein. Also steige ich ab, entlang der schlechten Fixseile, um die Ecke und BUMM! Orkanartiger Wind, und Schnee! SCHEISSE! Das ist kein Spaß. Die Wolken, die ich von oben gesehen habe, müssen ein Schneesturm gewesen sein, der sich weiter unten zusammen braute, und jetzt geraten wir direkt hinein. Tim zeigt, aus welchem Stoff er gemacht ist. Ruhig und überlegt beweist er, daß er hervorragend reagiert, wenn die Situation kritisch wird. Charlotte hat wirklich Glück mit ihm. Ich hänge am Seil und eile hinter Sandy und ihr nach unten. Tim ist hinter mir. Plötz lich setzt Sandy sich hin und will sich nicht mehr bewegen. Jemand ruft: »Wenn du dich nicht sofort zusammenreißt, wirst du sterben!«, und Charlotte macht ihren Daunenanzug auf, holt ihr Notfallset heraus und verpaßt Sandy einen Schuß Dex, genau wie vorgeschrieben, durch die Kleidung und den ganzen Krempel hindurch in den Hintern. Es hilft ein bißchen.
Wir beraten uns und stellen fest, daß Sandys Sauerstoffbehäl ter so gut wie leer ist. Da ich die Stärkste von uns bin, tauschen Sandy und ich unsere Sauerstoffbehälter, und ich eile weiter. Ich will nach unten, und es ist schon spät. Ich hake mich an dem Seil fest, das über die gelbe Felsmasse nach unten führt. Wo vor fünf Stunden noch nackter Fels war, liegt jetzt eine scheinbar un endliche Schneedecke, wie Seifenschaum. Der Schnee ist seltsam, wie Treibsand unter meinen Füßen. Obwohl ich nicht mehr sehr weit sehen kann, weiß ich, daß ein Abgrund ir gendwo links von mir liegt und daß Kletterer in dieser Gegend buchstäblich spurlos verschwunden sind. Ich hoffe, die Fixsei le halten unser Körpergewicht aus – wir haben uns alle fest gehakt. Neal hat Sandy gepackt. Sie scheint nicht ganz dazu sein, oder doch? Bald stelle ich fest, daß es nicht möglich ist, in diesem Schnee zu gehen. Es ist zu gefährlich, also setze ich mich auf den Hintern und rutsche den Mount Everest hinunter. Wenn das Tempo außer Kontrolle zu geraten droht, lehne ich mich mit dem ganzen Körper gegen das Fixseil und versuche, mit dem Karabiner ein wenig zu bremsen. Wenn das Fixseil reißt, bin ich erledigt. Wir stolpern, stürzen, kriechen, rutschen, schwimmen den Berg hinunter. Um uns herum wird unser schlimmster Alptraum wahr. Schlechtes Wetter! Jetzt geht es nur noch ums Überleben. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis wir nach unten kommen. Neal hat Probleme mit Sandy. Charlotte, Tim und ich sind den Umständen entsprechend gut in Form. Innerhalb weniger Stunden sind wir hinunter zu der Plattform auf dem Südostgrat gelangt, wo wir bei Sonnenaufgang eine Pause
gemacht hatten. Dort sitzt jemand – Klev! Er hat vor, die Felsflanke hinabzusteigen, die direkt zum Lager führt. Bei gutem Wetter würde es anderthalb bis zwei Stunden dauern, um zu unseren Zelten zu gelangen – aber bei diesen Verhält nissen läßt sich überhaupt nichts voraussagen. Einbruch der Dunkelheit Es ist wohl schon fast 18.00 Uhr, also müssen wir einfach los. Der Körper ist beinahe am Ende. Erschöpft. Seit wann nichts mehr gegessen oder getrunken? Seit gestern nachmittag. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Neal ist bei Sandy. Tim und Charlotte kommen gut zurecht, also beeile ich mich, um mich Klev anzuschließen. Wir wollen direkt die Schneeflanke hinunter, wo Lawinengefahr besteht – besonders bei diesem Schneefall. Langsam, mühselig. Ich bekomme Schwierigkeiten und stelle fest, daß mein Sauerstoff verbraucht ist. SCHEISSE! »Stop, Lene, Sauerstoff! Atme tief ein, und atme weiter. Nimm noch etwas!« Der plötzliche Sauerstoffstop hat mich offensichtlich hyperventilieren lassen. Klev sieht, wie blau mein Gesicht ist, während ich selbst gar nichts bemerke. Wir kämpfen uns hinunter, und Klev besteht – trotz meines Protests – darauf, seinen restlichen Sauerstoff mit mir zu teilen. Eine Zeitlang klettert er voran, und ich rutsche auf dem Hintern hinterher. Mein Daunenanzug reißt, und die Daunen lassen es zusätzlich schneien. Das ist jetzt egal – ein Daunen anzug läßt sich ersetzen, und auf diese Weise fühle ich mich am sichersten. Die Sicht wird immer schlechter, weil es dunkel wird und der Schneesturm zunimmt. Wenn ich auf dem Hintern rutsche, kann ich wenigstens nicht über meine eige
nen Füße stolpern. Da ist ein Fixseil, also sind wir zumindest irgendwo, wo vor uns schon Menschen gewesen sind. Was ist das da vor uns, was im Unwetter auftaucht? Es entpuppt sich als Yasuko Namba bei ihrem Abstieg am Seil. Daß wir jemand anderes treffen, gibt uns Hoffnung. Ich bin froh, daß sie auf dem Weg nach unten ist. Nach einiger Zeit überholen Klev und ich sie. Es ist jetzt fast vollkommen dunkel. Ich habe noch eine Bat terie für meine Stirnlampe im Rucksack, aber wir meinen beide nicht, daß es der Mühe wert wäre, sie in die Stirnlampe zu legen. Der Vorteil der Stirnlampe ist, daß man im Lichtke gel besser sehen kann, der Nachteil ist, daß sich die Augen an das Licht gewöhnen und man die Umrisse der umgebenden Landschaft nicht mehr erkennen kann. Ich muß abwägen, wie ich mich am besten zurechtfinde – mit oder ohne Licht. Das Licht scheint vom Schnee reflektiert zu werden und das dichte Schneegestöber in eine Schneewand zu verwandeln, also ist es im Augenblick ohne Lampe besser. »Klev, ich glaube, wir sollten uns am Couloir rechts halten – siehst du dort unten nicht auch etwas, das Lichtschein vom Lager sein könnte?« »Ja, laß uns darauf zuhalten.« Wir kämpfen uns nach unten. Der Whiteout und die orkan artigen Böen machen es beinahe unmöglich, sich zu orientie ren. Jede Kontur der Landschaft ist ausgelöscht. Die Müdigkeit und der Sauerstoffmangel sind auch nicht gerade förderlich. Schon früher haben sich hier Bergsteiger in schlechtem Wetter verirrt. Viele verlieren einfach die Orientierung und stürzen auf der tibetanischen oder der nepalesischen Seite in den Abgrund. Das Tosen des Sturms verhindert, daß wir Rufe aus
Lager IV hören können, und Klev und ich wollen unsere verbleibende Kraft nicht dafür opfern, daß wir selbst rufen. Wir sind beide von kühler Ruhe erfüllt. Überleben!
Auf dem Südsattel verirrt »Was ist das da links?« Klev und ich spüren, daß der Boden unter unseren Steigeisen weniger steil geworden ist, ein Zei chen dafür, daß wir wahrscheinlich die Ausläufer des Südsat tels erreicht und den steilsten Abstieg hinter uns haben. Wir versuchen verzweifelt, etwas zu entdecken oder wiederzuer kennen, das uns einen Hinweis darauf liefern könnte, wo sich das Lager befindet. Warum hat niemand daran gedacht, am steilsten Stück Seile anzubringen? Und ein Seil zu unserem Lager hätte angebracht werden sollen! Aber es ist nicht schwer, im nachhinein schlau zu sein, und es hilft uns jetzt nicht weiter. Wir bleiben stehen und überlegen, wie wir am besten zum Lager zurückfinden können, damit wir nicht als ständige Bewohner des Südsattels enden. »Da drüben ist irgendwie ein Licht. Aber ich glaube, das Lager liegt eher rechts.« »Ganz deiner Meinung.« Und trotzdem beschließen wir, das Licht auf der linken Seite anzusteuern, und kämpfen uns durch das schlimmer wer dende Unwetter. Es ist außerordentlich anstrengend, auch nur sicheren Halt zu finden und meine Stiefel in dieser Mondland schaft vorwärtszubewegen. Das Licht kam von unseren Teams – da sind Tim, Charlotte,
Neal, Sandy, zwei Sherpas und zwei Daunenanzüge, von denen einer vermutlich Yasuko ist. Klev und ich beugen uns der Erfahrung der Sherpas. Schließlich sind sie nicht zum ersten Mal hier. Auf der Suche nach vertrautem Terrain boh ren sie ihre Eispickel in den Neuschnee und untersuchen, was darunter liegt – Fels oder Eis. Wie lange folgen wir alle den Sherpas – eine Viertelstunde? eine halbe Stunde? länger? –, bevor uns klar wird, daß wir uns verirrt haben? Jetzt scheinen sie nicht mehr die leiseste Ah nung zu haben, wo sie sind, und beginnen, verwirrt und völlig planlos umherzulaufen. Nacht Es ist jetzt sehr dunkel, stürmisch, eigentlich ein Blizzard. Wenn die Sherpas den Weg nicht finden können, dann bedeu tet das, daß das Schlimmste geschehen ist: Wir haben uns alle verirrt. »Okay, was nun? Wir sollten zusammenbleiben und einen Aktionsplan vereinbaren, damit wir nicht unnötig Energie vergeuden«, sage ich zu Klev. Ich denke an einen Satz, den ich im Kopf habe – er klingt wie ein Witz, aber er hilft, in solchen Situationen Ruhe zu bewahren: »Nein, ich habe mich nicht verlaufen; ich weiß im Augenblick nur nicht, wo ich bin.« Klev und ich sind uns einig. Wir brauchen kaum Worte, um zu wissen, was der andere denkt, und wir tun, was wir für das beste halten. Ich überlasse es Klev, mit Neal zu reden. In Katastrophen ist Ruhe das einzige, was hilft. Wir machen uns daran, den Südsattel abzusuchen, wobei wir zusammenbleiben. Yasuko ist eindeutig kurz davor, das Bewußtsein zu verlieren, aber wir können nur nach Kräften
versuchen, sie dazu zu bringen, daß sie uns anderen folgt. Wir bewegen uns im tosenden Sturm im Schneckentempo vor wärts, sehen nichts, können nichts machen. Ein wenig auf wärts, ein wenig abwärts. Es verlangt äußerste Anstrengung, auch nur aufrecht zu bleiben, geschweige denn, die Füße zu bewegen. Auf diesem Gelände läßt es sich nur schlecht gehen. Niemand darf sich setzen oder zurückbleiben. Wir wissen, daß das hier oben den Tod bedeutet. Der Sturm, die Hoffnung auf Rettung, die Unwirklichkeit dieses wahr gewordenen Alp traums läßt uns wieder und wieder ausrufen: »Dort ist Licht. Ich kann Stimmen hören.« Aber wieder und wieder – Enttäu schung. Die Sherpas sind nicht mehr bei uns: Wo sind sie? Das Gelände unter meinen Füßen fühlt sich ganz falsch an. Zuviel Fels, zu steil und der falsche Winkel. Gestern nacht, als ich aufbrach, ging ich auf Eis, und hier gibt es zu wenig Eis und zu wenig leere Sauerstoffflaschen, als daß wir überhaupt in der Nähe des Lagerbereichs sein könnten. Ich glaube, all mählich wird uns klar, daß wir uns auf den Abgrund an der Kangshung-Flanke zubewegen, und wir entscheiden uns für Notplan Nummer 2. Wir sind nun herum und herum gelaufen und haben Überlebenskraft auf die Suche nach dem Lager verwandt. Wir haben keinen Erfolg gehabt und dürfen keine weitere Kraft verschwenden. Unsere einzige Überlebenschan ce besteht darin, daß wir eine Senke, einen Felsbrocken oder so etwas – irgend etwas – finden, das ein wenig Schutz bieten kann gegen den rasenden Schneesturm, und uns dann anein anderschmiegen und darauf warten, daß das Wetter später am Abend ruhiger wird. Oder uns schlimmstenfalls so warm und wach halten, daß wir eine Chance haben, die Nacht zu überle ben. Zumindest einige von uns. Ich liege neben Klev, nein, halb auf ihm. Klev hat einen Arm
um mich gelegt. Neal und Tim sind rechts neben uns. Ober halb von mir liegt Sandy und stöhnt: »Ich weiß, daß ich sterbe. Mein Gesicht und meine Hände frieren ab.« Charlotte liegt neben ihr, reglos. Sie hat aufgegeben. Vor einiger Zeit hat sie gesagt: »Laßt mich einfach, ich will in Frieden sterben.« Etwas weiter weg in der Dunkelheit befinden sich das YasukoBündel und ihr unbekannter Begleiter. Ich weiß nicht mehr, wo die Sherpas sind. »Bewegt eure Hände und Füße. Sagt etwas, ruft, haltet die Person neben euch wach!« Neal, Tim, Klev und ich wechseln uns damit ab, zu rufen und uns zu bewegen. Klev schüttelt mich. Ich schüttele ihn und trete Sandy alle paar Minuten: »Bist du wach? Du darfst nicht einschlafen. Halte durch!« Sandy stöhnt: »Ich will nur sterben.« Tim ist einfach phantastisch. Er macht alles richtig und kümmert sich um alle in der Gruppe. Ruhig, überlegt, trotz der Umstände beherrscht. Neal versucht, die Führung zu übernehmen, aber aus seinen Worten höre ich Angst heraus. Der Orkan bläst weiter. Es ist jetzt sogar noch dunkler, da die meisten Stirnlampen aufgegeben haben. Niemand hat mehr Sauerstoff. »Charlotte, bist du wach?« ruft Tim unbarm herzig. Charlotte ist leblos. Auf Klev und mir sammelt sich Schnee an. Bald werden wir nur ein weiterer Hügel in der Landschaft sein. Ich richte mich etwas auf und schüttelte das meiste ab. Schneekristalle drin gen durch meinen Daunenanzug, sammeln sich in den Nähten und schmelzen – langsam und unaufhörlich durchtränken sie meinen letzten Schutz. Ich überlege, ob ich genug Kraft habe, um den Rucksack abzunehmen. Auf dem Gipfel ist der Ver schluß zerbrochen, daher ist der Beckengurt um meine Taille
geknotet. Ich müßte mir Handschuhe und Fäustlinge auszie hen und ihn mit bloßen Händen aufknoten… aber es könnte sich lohnen, denn ganz unten liegt mein Windanzug. Der würde den Orkan eine Weile abhalten… Aber ich müßte auch den Klettergurt ablegen… und die Steigeisen… Ich habe nicht so viel Kraft, und die Gefahr, einen Handschuh zu verlieren oder… zu groß… also lege ich mich wieder hin. »Sandy, wach auf. Du wirst nicht sterben.« »Meine Hände«, schreit der gelbe Anzug neben meinem Körper. »Sie frieren ab.« Wie tragisch. Hat diese Frau den Gipfel erreicht, nach dem sie sich so lange gesehnt hat, nur um zu sterben oder zum Krüppel zu werden? Ich fürchte um Yasuko und ihren Begleiter dort hinten. Ab solut kein Lebenszeichen. Wie lange liegen wir schon hier? Ich weiß, daß ich heute nacht nicht sterben werde. Ich weiß es einfach… ich habe keine Angst. Ich begreife unsere Situati on, ohne Panik oder Angst. Meine Zeit ist noch nicht gekom men… ich werde jetzt nicht sterben… Ich kann die Zehen in den Stiefeln noch bewegen. Ich glau be, sie sind in Ordnung, warm genug – beuge sie – strecke sie – beugen – strecken – weiter und weiter… Meine Finger sind kalt… ich bewege sie, schlage sie gegeneinander, wenn ich die Kraft dazu habe… Beugen, strecken… Verfluchte Handschu he. Nicht gut genug für den Mount Everest. Das Außenmate rial ist hart wie ein Brett. Zu Eis gefroren. Aber es schützt vor dem Wind. Versuche, die Fäustlinge unter die Achseln zu stecken, um meine Hände vor dem Sturm zu schützen. Aber zuviel Schnee sammelt sich – läßt mich noch mehr frieren…
Beugen, strecken… beugen, strecken… »Klev, bist du wach?« Natürlich ist er das. Trete Sandy. »Sandy, sieh nach, ob Charlotte wach ist.« Tim arbeitet unablässig. Er und Neal versuchen, Charlotte und Sandy dazu zu bringen, daß sie sich hinsetzen. Egal was, nur das leiseste Anzeichen für Lebenswillen statt dieser apa thischen Kapitulation. Yasuko reagiert schon lange nicht mehr. In gewisser Weise ein Segen für sie. Ist die Person, die neben ihr sitzt, tot? Beugen, strecken, beugen, strecken… Ich liege über Klev und zittere unkontrollierbar vor Kälte. Die Zähne klappern mir im Mund, und das Zittern ist nicht von dieser Welt… Beugen, strecken, beugen, strecken… balle die Hände in den Fäustlingen zu Fäusten. Bewege die Zehen. Wie lange liegen wir schon hier… eine Stunde, zwei Stunden? Ich weiß nicht, wie, aber durch wortlose Kommunikation nehmen Klev und ich das zusammen, was höchstwahrschein lich unsere letzte Kraft ist. Irgendwie wissen wir, ohne es auszusprechen, daß unsere letzte Chance – und folglich die einzige Chance der Gruppe –, diese Situation zu überleben, darin besteht, sofort das Unmögliche zu leisten: aufzustehen und das Lager zu finden. Neal ist zum selben Schluß gekom men, und genau jetzt sind die Wettergötter uns gnädig. Der Orkan und der Schneesturm lassen gerade so lange nach, daß zu unserer Rechten ein Bergmassiv zum Vorschein kommt. Und ich glaube, einen Stern zu sehen. Neal meint, er wisse jetzt die ungefähre Richtung. Unser Trio beginnt, vorwärtszustolpern. Klev versucht, je manden zu ziehen. Yasuko? Charlotte? Er kann nichts machen. Er muß die Person abschütteln; sonst wird er hier sterben.
Man braucht alle Kraft, um sich nur aufrecht zu halten, und noch mehr, um sich zu bewegen. »Ich weiß, wo wir sind, und ich weiß, wo das Lager ist«, sagt Klev, und die Bestimmtheit in seiner Stimme und die Gewißheit seiner Bewegungen lassen mich ihm glauben. Neal ist auf meiner anderen Seite. Die Anstrengungen, die hinter ihm liegen, und der Sauerstoffmangel scheinen ihm sehr zuzusetzen. Er ist verwirrt, bemüht sich jedoch, sich im Griff zu behalten. Ich weiß, daß ich auf den Beinen bleiben muß, nicht stol pern und verschwinden darf. Geh! Jetzt sehe ich den Mount Everest zu meiner Rechten und den Lhotse? Links… »Klev, Licht! Vor uns, links… Ich bin mir ganz sicher.«
Lager IV 11.5.1996 Hoffnung… vorwärtsstolpern… um zu überleben… nur noch der Überlebensinstinkt existiert… der Wille zu leben. Dort ist ein Zelt, zwei… Ich muß pinkeln und pinkele in meinen Dau nenanzug. Ich kann es nicht verhindern. Ich bin erschöpft. Und dann ist Anatoli da. Seine Stirnlampe hatten wir gese hen. Neal verschwindet in seinem Zelt. Klev stürzt in unseres, fällt zu Boden wie ein Baumstamm. Ich sehe Anatoli durch den Sturm an. Er sieht mich an – weiß, daß es schlimm steht –, beugt sich vor und nimmt mir die Steigeisen ab. »Anatoli, die anderen sind da draußen. Sie sterben.« »Wo?«
»Nicht weit. Geh direkt geradeaus. Dort lang.« Ich krieche ins Zelt. Weiß, daß das die Zeit ist, zu der Men schen sterben. Martin schläft. Klev hat alles getan, was er konnte, und jetzt ist er erledigt. Ich friere, zittere, winsele wie ein geprügelter Hund. Mein Körper reagiert, und mein Hirn kümmert sich um… Sauerstoff! Wo ist eine Sauerstoffflasche, in der noch etwas drin ist? Ich nehme Klevs leere Flasche, schraube den Schlauch ab und montiere ihn an eine volle Flasche. Schaffe es irgendwie, ihn meinem Helden anzulegen. Mehr kann ich jetzt nicht für ihn tun, er schläft. Flüssigkeit! Kein Schnee, nur ein Eisklumpen im Topf, und ich kann den Gasbrenner nicht anzünden. Zittere und stöhne… Sauerstoff für mich. Muß tun, was ich kann, um meinem erschöpften Körper zu helfen. Bereite einen Platz vor, an dem Anatoli schlafen kann, wenn er zurück kommt. Wo ist Scott? Der Sturm dringt direkt durch den Zeltstoff und hinterläßt eine feine Schneespur in der Luft. Ich liege zitternd im Schlaf sack, schlottere vor Kälte. Meine Finger beginnen zu schmer zen. Tauen sie auf? Weine ich? Ich stöhne und kann es nicht ändern. Der Körper spricht seine eigene Sprache. Finde ir gendwie trockene Fäustlinge, um meine Hände zu schützen. »Wo sind sie?« Anatoli ist zurück und verlangt wütend eine Antwort von mir. »Du mußt direkt geradeaus über den Felsen, nicht hinauf über das Eis. Direkt über den Felsen. Nicht länger als eine halbe Stunde.« Und weg ist er. Konnte sie beim ersten Versuch nicht finden. Hoffe, daß er nicht auch verlorengeht. Ich muß die Zelt öffnung schließen. Ich muß! Ich versuche es, ohne meine
schmerzenden Finger zu benutzen. Der Schnee darf nicht hereinkommen! Ich mühe und mühe mich und habe schließ lich Erfolg. Schüttele mich in Krämpfen und heule… das Geräusch eines menschlichen Tieres. Wie spät ist es? 2.00 Uhr morgens? 3.00 Uhr morgens? Pemba, der einzige unserer Sherpas in Lager IV, der noch einsatzfähig ist, kommt mit so viel Tee, daß der Boden eines der großen Töpfe bedeckt ist. Ich bin zutiefst dankbar und angerührt von der unglaublichen Mühe, die es für ihn gewesen sein muß, das Wasser für diese Tasse Tee zu kochen. »Kein Gas mehr«, sagt er. Soll ich Klev wecken? Den Tee, den Pemba mir einge schenkt hat, verschütte ich auf meinem Schlafsack. Mein Zittern macht es mir unmöglich, die Tasse still zu halten. Aber ich muß ein wenig in meinen Körper bekommen – wie lange ist es her, seit ich etwas getrunken habe? Ich höre, wie Anatoli mit Charlotte zurückkommt. Gott sei Dank, er hat sie also gefunden – und auch den Rückweg! Der Sturm geht weiter. Ich döse ein, zittere und winsele. Der Sauerstoff hilft mir, und ich habe ihn voll aufgedreht. Plötzlich kommt Lopsang halb durch die Öffnung gekrochen. Selbst in dieser gespenstischen Atmosphäre besteht kein Zweifel daran, daß er es ist. Der weiße Sherpa-Anzug! Es muß drei oder vier Uhr morgens sein. »Wo ist Scott, Lopsang? Und wie geht es dir?« »Mir geht es gut. Scott hat beschlossen, in Lager I zu biwa kieren. Das Wetter ist zu schlecht für den Abstieg.« Dann ist Lopsang wieder weg. »Lager I« ist der Name, den die Sherpas unserem ersten morgendlichen Stop auf dem
Südostgrat gegeben haben. Wie will er dort oben biwakieren? Aber Scott ist schon früher in schlimmes Wetter geraten, also weiß er, wie man überlebt. Merkwürdige Entscheidung, aber bei diesem Wetter nicht unverständlich – und Lopsang wirkt ziemlich ruhig. Ich schlafe, wache auf. Anatoli ist zurück. Es wird schon hell. Ich sehe Anatoli an. Er ist am Ende. Leer. Ausgelaugt. Am Ende! Wir müssen keine Worte wechseln. Ich weiß, daß er Char lotte, Sandy und Tim »heimgeholt« hat, die beiden Frauen, mit denen Tim zurückgeblieben war, halb gezogen, halb getragen hat, und ich glaube, daß »der Russe« zurück zu Yasuko und dem anderen dort draußen gegangen ist und wohl nichts mehr für sie tun konnte. Seine Nase sieht schlimm aus, und seine Hände sind enorm geschwollen. Anatoli kriecht in seinen Schlafsack. Ich muß ihm ihn mit meinen angeschwollenen Fingern zuziehen. Küsse ihn auf die Stirn. Anatoli ist am Ende, und er ist sehr still – tief in sich gekehrt. »Anatoli, Scott ist noch oben. Wir müssen Sherpas nach ihm schicken«, sage ich. Lopsang kriecht ins Zelt. »Lopsang, du mußt ein paar Sherpas nehmen und hinauf, um Scott zu holen«, beharre ich. Jetzt versucht Lopsang, Anatoli wachzurütteln. »Anatoli, das letzte, was Scott zu mir gesagt hat, war: ›Hol Anatoli, er ist stark, er kann mich runterholen.‹« Anatoli ist am Ende. Lopsang ist am Ende, und im Augen blick können keine Sherpas hinaufklettern. Objektiv gesehen ist es zu gefährlich. Die Gefahr, ums Leben zu kommen, ist zu groß. Ich würde wahrscheinlich zusammenbrechen, wenn ich
eine größere Anstrengung unternehmen würde. »Wir müssen jemanden dort hinaufschicken.« Warum zum Teufel hat Scott beschlossen, die Nacht dort oben zu verbringen? Wenn er sich nur so warm halten kann, daß er keine schweren Verletzungen erleidet! Lopsang wirkt ruhig, also kann wohl nichts Ernstes passiert sein. Wir können nichts unternehmen, bis sich jemand ausgeruht und der Sturm nachgelassen hat. Ich mühe mich wieder ab, die Zeltöffnung zuzubinden. Morgen »Wach auf! Wach auf, Lene, wir müssen runter.« Pemba steckt den Oberkörper durch die Tunnelöffnung. »Um zehn Uhr müssen alle fertig sein«. Es stürmt noch immer. Ich will einfach hier liegenbleiben. Muß mich ausruhen, nur noch vierundzwanzig Stunden. Aber mein Hirn weiß, daß Ruhe hier oben nicht hilft, sondern mich nur weiter schwächt. Ich friere und zittere noch immer. Kon trolliere die Sauerstoffanzeige – die Flasche ist leer. Ich winsele wie ein erschöpftes Kind. Weiß, daß wir zum Überleben run termüssen, habe jedoch nicht die leiseste Ahnung, woher ich die Kraft nehmen soll, mich zu bewegen. Ist Scott in der Nacht runtergekommen? Vielleicht ist er jetzt, wo es hell ist, auf dem Weg nach unten? Wir müssen ein Team mit Sauerstoff zu ihm hochschicken, damit wir ihn runterholen können. Wie weit oben ist er? »Martin, Klev – wacht auf! Wir müssen runter. Um zehn Uhr geht’s los!« Frage mich, ob wir überhaupt durch den Sturm kommen
werden! Mir gehen Gedanken an andere durch den Kopf, die an Erschöpfung gestorben sind, in großer Höhe von einem Unwetter überrascht wurden. Wir müssen runter. Es ist 8.00 Uhr. Ich knie im Schlafsack und versuche, uns etwas Wasser zu schmelzen. Der Topf ist komplett gefroren, der Anzünder funktioniert nicht, und meine Finger wollen mir nicht gehorchen. Ich schreie – meine Unterschenkel verkrampfen sich. Ich suche verzweifelt nach einer Sauerstoffflasche, in der noch ein kleiner Rest ist, aber die Flaschen scheinen alle leer zu sein. Klev ist aufgewacht, kann aber die Augen nicht öffnen. Er ist schneeblind. »Lene, hast du Ingrids Salbe in der Nähe? Würdest du mir eine Augenbinde machen?« Die Zeit schleppt sich dahin. Es stürmt noch immer, und meine Hände sind zu nichts zu gebrauchen – wie sollen wir nach unten kommen, frage ich mich. Wir müssen einfach! Endlich finde ich eine Sauerstoffflasche, in der noch etwas ist, und lege die Maske an. Mein unfreiwilliges Winseln hört auf. Eine Augenbinde für Klev. Aber wie soll ich meine Innenta sche öffnen? Dort ist die Salbe, im Zahnbürstenbehälter. Ob wohl ich Bänder an den Reißverschluß gebunden habe, kön nen meine Finger ihn nicht richtig packen. Es scheint ewig zu dauern, doch schließlich gelingt es mir. Salbe, Toilettenpapier und Sporttape. Unter anderen Umständen würden wir über Klevs »Augenbinde« vor Lachen heulen, aber im Augenblick heult nur der Wind. Anatoli ist still, liegt einfach nur da. Lopsang taucht auf. Er trägt noch immer den weißen Sherpa-Anzug. Er ist jetzt weniger ruhig – weniger beherrscht. »Wir müssen jemanden hinauf zu Scott schicken. Er ist krank,
sehr krank. Er kann nicht alleine runterkommen. Ich mußte ihn und Makalu Gau zurücklassen, um nicht selbst zu sterben. Scott sagte: ›Geh runter und hol Anatoli. Sag ihm, er soll kommen und mich runtertragen. Er ist stark. Er kann es schaf fen‹«. Aber Anatoli ist zu gar nichts in der Lage. Die Rettungsak tionen haben ihm alles abverlangt. Trotzdem sagt er: »Lopsang, ruf ein paar von den anderen Sherpas zusammen. Wir müssen rauf zu Scott.« Anatoli ist im Augenblick vollkommen k. o. aber ich weiß, daß er auf dem Südsattel bleiben wird, bis er wieder genug Kraft hat, um hinauf zu Scott zu klettern. Ich weiß es einfach… so ist er eben. »Klev, Martin – wir müssen runter!« Keiner von uns will sich bewegen. Aber wir müssen. Wenn wir können. Unendlich anstrengend, aus dem Schlafsack zu kriechen. Unendlich anstrengend, den Daunenanzug anzuzie hen. Die anderen haben ihre noch an, aber ich mußte meinen ausziehen. Ist er jetzt trocken? Egal. Mein Körper zeigt deut lich, daß er erledigt ist, daher muß ich ihn so gut wie möglich schützen. Windanzug an. Eine Ewigkeit scheint zu vergehen. Wir sind so müde. Keine Nachricht von Scott. »Wie weit oben sind sie, Lopsang?« »Dort droben – vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei Stunden von hier.« Scott, du Idiot. So nah am Lager, und dann kommst du nicht. Schon andere Bergsteiger haben eine Nacht im Freien überlebt – aber nicht, ohne Finger oder Zehen zu verlieren. Ich bin ausgelaugt. Alles, was ich tun kann, ist, lebendig hinunterzusteigen und energisch genug dafür zu sorgen, daß
die Sherpas wieder hinaufklettern. Aber grundsätzlich habe ich nicht das Recht, von jemandem zu verlangen, daß er in 8000 Meter Höhe sein Leben riskiert. Die Sherpas haben ihre eigenen Prinzipien, wenn es um Kletterer geht, die den Anfor derungen der »Erdgöttin« nicht gewachsen sind, und die kann und will ich nicht beeinflussen. Sie wollen überleben – und das ist das einzig Richtige. Ich respektiere ihre Entscheidung. Lopsang wird das Richtige tun. »Kommt, wir müssen runter.« Aus dem Zelt. Klev wird Hilfe brauchen, um den Weg vom Berg hinunter zu finden.
Von Lager IV zu Lager II 11.5.1996 Pemba packt mich und sagt etwas, das ich nicht richtig verste he, weil der Wind seine Worte wegweht. Irgend etwas wie: »Alle Sherpas lieben dich, darum will ich dir hinunterhelfen.« Aber ich kenne ihn kaum, diesen jungen Mann, der sich heute zu meinem Schutzengel ernannt hat. Pemba geht los, zieht an meiner Hand, und ich muß ihm einfach durch das Unwetter folgen. Martin ist dicht hinter uns. Von Lager IV bis Lager III unterstützt mich dieser junge Sherpa. Er wechselt meinen Karabiner von einem Seil zum anderen. Meine Finger sind noch immer zu nichts zu gebrau chen, also hakt er mich an jedem Seil fest und macht mich wieder los – schnell und geschickt. Ich folge ihm in einem Tempo, das ich in meinem Zustand ohne den Schutz meines
Engels nie geschafft hätte. Was hatte er dort oben gesagt? Habe ich richtig gehört? Je weiter wir den Berg hinuntergelan gen, desto mehr läßt der Sturm nach. Wie seltsam, plötzlich hören zu können, wie Martin hinter mir etwas sagt. Ich frage mich, wie es Klev gehen mag? Die Sonne scheint. Pemba ist gut. Sehr gut. Macht nur die unbedingt erforder lichen Bewegungen. Erst sichert er sich, dann sichert er mich. Ich darf meine Hände nicht benutzen. Er ist ruhig. Alles, was er tut, hat einen Zweck, nichts ist überflüssig. Ich trage die Sauerstoffmaske, um meinen Körper so gut wie möglich vor dem Zusammenbruch zu schützen. Vor Rob Halls Lager III kommen Leute auf uns zu, um uns zu begrü ßen, mit Tränen in den Augen. »Willkommen hier unten. Wie wunderbar, daß ihr lebt.« Offenbar sind Leute auf dem Weg nach oben, um zu helfen, so gut sie können – dort oben, wo wir herkommen. Lager III. Ich stolpere in unser Zelt, Martin hinter mir. Klev, Sandy und die anderen sind auf der Route nicht zu sehen. Pemba wartet eine Zeitlang, dann macht er sich an den Ab stieg. Ich versuche, mich auszuruhen, fange aber wieder an zu winseln. Komisch, ich habe es nicht unter Kontrolle. Keine Worte werden gewechselt. Es gibt nichts zu sagen. Martin und ich würden gerne bleiben und uns erholen, aber in einer Höhe von 7315 Metern gibt es keine Erholung. Wir müssen runter, also brechen wir zusammen auf. Martin ist schneller als ich, und wir trennen uns. Ich achte darauf, mich immer an den Seilen festzumachen. Ich weiß, daß in dieser Lage die Müdig keit zur Unachtsamkeit und möglicherweise zu einem tödli
chen Fehler führen kann. Langsam, ganz langsam bewege ich mich über die Lhotse-Flanke hinunter, mit mehr Pausen, als ich je zuvor gemacht habe. »Lene, wie schön, dich zu sehen. Können wir irgend etwas für dich tun?« Es sind David Breashears und Ed Viesturs auf dem Weg nach oben. Wie stark und normal sie aussehen. »Habt ihr etwas zu trinken? Ich bin so durstig. Ausgedörrt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal etwas getrunken habe.« David drückt mir die Hand. »Wir dachten, ihr wärt alle tot. Gestern nacht wurden einundzwanzig als vermißt gemeldet.« Deswegen freuen sich die Leute also so, uns zu sehen. »Wie geht es Sandy?« »Sie ist auf dem Weg nach unten. Sie muß unterwegs zum Lager III sein. Sie hat wahrscheinlich Erfrierungen, aber sie lebt.« Ich trinke und trinke – vorsichtig, in kleinen Schlucken, damit mir nicht übel wird. »Rob Hall liegt mit einem toten Klienten direkt unterhalb des Südgipfels. Seine Füße sind erfroren, darum stürzt er jedesmal, wenn er aufstehen will. Aber er hat die meiste Zeit über Funkkontakt. Sie fürchten, daß Scott tot ist. Sherpas sind von Lager II mit mehr Hilfe unterwegs«, berichtet David. Wir trennen uns. Ed und David sind auf dem Weg nach oben, um zu helfen. Sie haben ein Sauerstofflager am Südsattel und sind in ausgezeichneter Verfassung, da werden sie ein willkommener Anblick sein. Denk nicht nach. Ich werde erst glauben, daß Scott tot ist, wenn ich es direkt von jemandem höre, der ihn tot gesehen
hat. Ich hoffe noch immer insgeheim, daß er mit seinem übli chen schelmischen Grinsen ins Lager kommen wird. Sowohl Lopsang als auch Anatoli sind noch oben – sie haben nicht aufgegeben. Ich kann eine Reihe ameisenähnlicher Punkte unter mir sehen, die sich auf dem Pfad durch die Western Cwm auf die Lhotse-Flanke zubewegt. Freue mich darauf, selbst dort unten zu sein. Brauche jemanden, der mir den Rucksack trägt, und mehr zu trinken. Das letzte steile Eisstück hinunter. Mein Körper will nicht mehr. Ups! – einer meiner Überfäustlinge fliegt davon. Ist jetzt egal; er liegt unten in einer tiefen Gletscherspalte, und ich habe nicht den Drang, dorthinunter zu klettern, um ihn zu holen! Ich wandere durch Lager II, muß unbedingt einen der anderen Dänen sehen: Henrik, Bo oder Jan. Ich weiß nicht, wo Michael ist. Ich brauche Henriks Berufserfahrung, damit er meinen Händen hilft. Ich erfahre, daß die Dänen in Rob Halls Speise zelt eine Behelfsklinik eingerichtet haben. Um mich herum ertönen Glückwünsche. Köpfe tauchen in Zeltöffnungen auf. Ein »Gut gemacht!« mit gedämpfter Stim me. Eine Atmosphäre voller Trauer und angestauter Gefühle herrscht zwischen den bunten Zelten. Henrik, Jan, Bo, da sind sie, alle drei. Bekannte Gesichter aus der Heimat. Unter diesen Umständen beinahe meine Familie. Ich werde hineingeführt und fühle mich sofort will kommen und gut versorgt. Auch Mal Duff ist hier. Er sieht verzweifelt aus. Ich glaube, Rob ist sein bester Freund. Henrik diagnostiziert leichte Erfrierungen, verordnet Medi
kamente und verbietet mir, meine Hände längere Zeit für irgend etwas zu gebrauchen. »Ab in den Schlafsack und trin ken, trinken, trinken«, ordnet er an. Bo ernennt sich zur Flo rence Nightingale und verspricht, mit in mein Zelt zu kommen und mir zu helfen. Jan Mathorne scherzt und erzählt. Henry Todd steht draußen. Heftige Umarmung und tröstli ches Lachen. »Ach, diese Finger sind gar nichts. Meine haben schon oft so ausgesehen. In sechs Monaten sind sie wieder in Ordnung.« »Bist du okay, Henry?« »Ja, mir geht’s ganz gut. Mein Team ist am Südsattel, aber ich habe allen befohlen, runterzukommen, mit Ausnahme der beiden Stärksten, die dort bleiben und helfen werden.« Fotos werden gemacht. Und dann bin ich endlich wieder zu Hause. Gyalzen mit Fertignudelsuppe. Aber wo sind die anderen? Anatoli? Lopsang? Der Rest des Teams ist langsam auf dem Weg herunter hilfsbereite Sherpas gehen ihnen ent gegen. Doch was ist mit Scott?
Lager II 12.5.1996 Unser Team hat sich versammelt. Wir sehen aus, als sei je mand durchs Lager gezogen und habe uns mit einem Base ballschläger zusammengeschlagen: Geschwollene Augen. Boxernasen. Schwarze Wangen und Lippen. Fleisch, das sich ablöst. Lachen und Weinen wechseln sich ab, als wir die Situation überdenken. Und wir sind noch immer nicht unten:
Wir müssen noch durch die Western Cwm. Und hinunter durch den Eisbruch – zum letzten Mal. Die monatelange Anspannung weicht dem Bewußtsein, wie unzählig viele Dinge noch schiefgehen können. Berichte aus den oberen Lagern bestätigen immer wieder, daß Scott tot ist. Lopsang ist auf dem Weg nach unten, und ich warte, was er zu berichten hat, bevor ich Scott für mich per sönlich für tot erkläre. Lopsang kommt die Klippe hinunter. Wir warten, die Sherpas warten. Ich gehe auf ihn zu, und er fällt in meine Arme und schluchzt. Am Samstagmorgen, gegen zehn Uhr, war ein Sherpa-Team hinaufgeklettert, um Scott zu suchen, darunter Lopsangs Vater, der alte Ngawang. Sie fanden Scott und Makalu Gau, den taiwanesischen Expeditionsleiter, dort, wo Lopsang in der Nacht zuvor eine Plattform für sie gegraben hatte. Das Wetter war noch immer scheußlich, und Scott atmete kaum noch und reagierte fast gar nicht auf den Sauerstoff oder die heißen Getränke, während Gau bei vollem Bewußtsein war. Die Sherpas kümmerten sich um den Stärkeren der beiden und mußten Scott zurücklassen. Am Samstagnachmittag kletterte Anatoli zu Scott hinauf und fand ihn tot. Anatoli tat, was er unter diesen Umständen tun konnte, bedeckte Scotts Leichnam und nahm ein paar Kleinigkeiten mit, um sie seiner Frau und seinen beiden Kin dern mitzubringen.
Charles S. Houston/Robert H. Bates aus K2: Der wilde Berg Als acht Teilnehmer der amerikanischen K2-Expedition 1953 auf fast 8000 Metern in einen Sturm gerieten, bekam einer von ihnen, Art Gilkey, Blutgerinnsel im Bein. Der Versuch, ihn abzuseilen, endete in einem Sturz, bei dem sich fünf wei tere Kletterer, einschließlich des Bergführers Charles Hou ston, verletzten. Nachdem Gilkey wahrscheinlich von einer Lawine erfaßt worden war, kämpften seine Weggefährten um ihre eigene Rettung, wie Robert Bates berichtet. Während der langen Stunden der Dunkelheit hatten wir viel zum Nachdenken und schätzten morgens nüchtern unsere Lage ein. Art Gilkey, der hier noch vor wenigen Tagen so gutgelaunt kampiert hatte, war fort. Houston schien körper lich zum Bergsteigen imstande, war aber schwach und noch immer nicht bei sich, er hatte eine Brustverletzung und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ob er innere Verletzungen davongetragen hatte, wußten wir nicht. Bald größere Sorgen noch machten wir uns um George Bell. Erfrierungen hatten seine Hände mit Blasen überzogen und dunkle Male an seinen Füße hinterlassen. Er war sich nicht sicher, ob er die geschwol lenen Füße überhaupt noch in seine Stiefel zwängen konnte. Zudem sah er ohne seine Brille nur schlecht. Wir wußten nicht, ob er und Houston in der Lage waren abzusteigen, aber es war uns klar, daß uns die Kräfte fehlten, um die beiden andernfalls zu tragen. Schoenings Brust schien sich über Nacht gebessert zu ha
ben, blieb aber weiterhin ein möglicher Grund für Besorgnis. Zum Glück hatten seine Hände, die er sich geschnitten hatte, als er den Sturz abfing, keine größeren Schäden davongetra gen und bereiteten ihm keine Schwierigkeiten. Molenaar hatte eine angebrochene Rippe und eine Schnittwunde am Schenkel, die ihn behindern würden, doch seine Moral war gut, und er war bestrebt aufzubrechen. Auch Craig sah erschöpft aus, aber im Licht des frühen Morgens schien er in offensichtlich besse rer Verfassung als den Abend zuvor. Tony Streather, der mit Craig und Schoening zusammen die ganze Nacht hindurch für uns alle Tee gekocht hatte, war am fitesten von uns. Wieder machten sich Craig und Streather gemeinsam daran, das Frühstück zuzubereiten, und obwohl wir keinen rech ten Hunger hatten, tranken wir den Tee, flößten uns den dicken Brei aus Getreideflocken ein und brachten Houston dazu, etwas zu sich zu nehmen. Eine Menge Probleme standen uns ganz sicher noch bevor, bis wir das Basislager wieder erreichten, aber jetzt hatte es keinen Zweck, allzu weit voraus zuschauen. Hauptsache, wir schafften es aus der Lawinenge fahr heraus und bis zum Lager VI. Einmal dort, hätten wir die tückischste Kletterei hinter uns, wären wir auch dem Nah rungsvorrat im Lager V nahe, und selbst kurze Spannen guten Wetters würden uns den Abstieg zu tiefer liegenden Lagern ermöglichen. Der Wind frischte bereits auf, als wir mit dem Frühstück fertig wurden, und es kostete uns einige Willenskraft, steif und halb krank in den rauhen Morgen hinauszukriechen und anzufangen, unsere Rucksäcke für den Abstieg zu packen. Houstons Steigeisen ließen sich nur schwer befestigen, denn es gab keine ebene Stelle, auf die sich jemand hätte stellen oder seinen Fuß hätte setzen können. Trotzdem müssen sie fest
angeschnallt werden. George Bell kämpfte mit ähnlichen Schwierigkeiten. Die beengte Lage im Zelt hatte seinen Nak ken so steif werden lassen, daß er den Kopf nicht heben konn te, und angstvolle Minuten lang schien es so, als könnte er seine angeschwollenen und erfrorenen Füße nicht mehr in die doppelwandigen Gummistiefel zwängen. Zum Glück sind die meisten Gummiarten dehnbar, und nach viel Ziehen und Zerren ließen sich die Stiefel überstreifen. Schoening und Craig wollte sich um Houston kümmern, da er noch immer an der Gehirnerschütterung litt und wir uns alle große Sorgen machten, wie er klettern würde. Sollte er beim Absteigen plötzlich halten, eigenmächtig zu handeln beschließen oder abrutschen, könnte er die ganze Gruppe, die zu retten er alles riskiert hätte, in eine Katastrophe stürzen. Wir wußten, daß der heutige Abstieg der gefährlichste war, der uns bevorstand. Falls wir die ganze Gruppe zum Lager VI hinunterführen konnten, hatten wir guten Aussichten, alle sicher vom Berg herunterzukommen. Deshalb wurde Hou ston, als alle ihre Steigeisen angelegt hatten, sorgfältig in die Mitte des Seils zwischen Craig und Schoening gebunden, und die drei fingen an, vorsichtig zu den schneebedeckten Felsplat ten hinunterzusteigen. Schoening, dessen Fähigkeit zum Festmachen unbestritten war, ging zuletzt und verankerte das Seil. Diejenigen unter uns, die am zweiten Seil nachfolgen sollten, schauten ihrem Aufbruch atemlos zu. Wir wußten, wie dicht am Rand der Erschöpfung jeder stand, und machten uns Sorgen, ob Houston überhaupt klettern konnte. Während wir zuschauten, kam er zwar gut in Gang, setzte sich aber nach wenigen Metern mitten in ein steil ansteigendes Schneefeld, stützte das Kinn in die Hände und sah sich um, als wollte er sagen: »Was machen wir eigentlich hier?« Schoening schaute
ratlos drein. Nach ein paar Augenblicken ruckte er am Seil und rief hinunter: »Los jetzt, Charlie. Gehn wir!« Und Charlie, der noch immer verstört wirkte, stand auf und setzte den Abstieg fort. Es war an der Zeit, alle Bedenken abzulegen, denn wir standen einem Problem gegenüber, als müßten wir ein wind umtostes, fünfhundert Meter steil aufragendes Hausdach hinunterklettern, dessen Schindeln vielfach von Schnee und Eis bedeckt waren. Wir waren derart exponiert, daß jedes Ausrutschen schwer aufzuhalten gewesen wäre und die ganze Seilschaft den Berg hinabreißen konnte. Wir wußten, wie ausgelaugt wir alle waren, und unter Bedingungen kletterten, die selbst bei bester Form äußerst gefährlich gewesen wären. Jeder von uns mußte seine ganze Kraft und seine Fertigkeit aufbieten. Keiner durfte ausrutschen. Die erste Seilschaft war hundert Meter abgestiegen, und alle kamen gut voran, als wir übrigen dem Lager VII den Rücken kehrten und uns anschickten, die unbarmherzig abschüssigen Hänge abzusteigen. Die Gewitterwolken hatten ein wenig an Höhe gewonnen, aber der Wind wirbelte große Schneefahnen über die Felsplatten. Die Tritte waren schrecklich unsicher, und da Streather kräftig wirkte, ließen wir ihn als Seilersten gehen. Als nächster kam Bell, dessen durch fehlende Brille, erfrorene Hände und Füße unsicherer Schritt besorgniserre gend war, und zum Schluß gingen Molenaar und ich. Molen aars Bein machte ihm Schwierigkeiten, aber er belegte hinter Bell so fest wie er konnte und tat offensichtlich alles, was in seiner Kraft stand, um mich als letzten abzusichern. Wir hatten uns erste zwei Seillängen bergab begeben, als wir dreißig Meter entfernt zu unserer Rechten einen Eispickel ausmach ten, der in einem merkwürdigen Winkel aus einem Schnee
hang hervorstak. Molenaar querte vorsichtig darauf zu. Es war Houstons Pickel, der beim Sturz verlorengegangen war, und wir reichten ihn rasch an Bell weiter, der bei seinem Sturz kopfüber den Hang hinunter den eigenen Eispickel gleichfalls eingebüßt hatte. Dieser Zufallsfund war für Bell eine ungeheu re Hilfe, denn nun konnte er mit dem Eispickel Stellen sondie ren, die er nicht klar zu sehen vermochte; aber George dabei zu beobachten, wie er sich über den Hang hinauslehnte und mit der Spitze des Pickels herumstocherte, war alles andere als beruhigend für die anderen drei Männer am Seil, die auf Felsplatten im Pulverschnee standen und die Gruppe zu sichern versuchten. Unter diesen Umständen waren Bells Haltung und sein ruhiges, sicheres Klettern, trotz seiner Be hinderungen, großartig. Er wußte, daß sein und unser aller Leben auf dem Spiel standen, denn wir waren alle der Er schöpfung so nahe, daß ein Ausrutschen uns leicht Hunderte Meter tief hinabreißen konnte. Und sollte Bell an den Punkt kommen, an dem er selbst nicht mehr gehen konnte, wären wir womöglich zu geschwächt, um ihn nach unten zu schaf fen. Im Hinterkopf hatten wir die furchtbare Lehre vom tod bringenden Sturm am Nanga Parbat. Wir hatten auf dem K2 mehr Nahrung als beispielsweise die Deutschen, doch was nützte das, wenn man sie nicht erreichte?! Unsere Füße und Hände waren taub, während wir den Schnee wegwischten, um Griffe und Tritte zu finden. An manchen Stellen half uns sogar der grausame Wind, da er den Schnee derart verfestigt hatte, daß wir Tritte in ihn hineinstoßen konnten, doch in der Regel hielt der pulvrige Überzug auf den Platten schlecht, und das Klettern auf dieser unsicheren Grundlage zerrte auch an den stärksten Nerven. Der Unfall am vorangegangenen Tag und
unsere wundersame Rettung schienen bei den meisten von uns eine Schicksalsergebenheit angesichts unserer gefährlichen Lage ausgelöst zu haben. Wir hatten das Gefühl, daß die Dinge unserer Kontrolle entzogen waren. Wir schienen Puppen zu sein, die von Fäden bewegt werden, als sei den Dingen vorherbestimmt, auf eine bestimmte Weise zu geschehen, gleich, was wir taten, und nichts auf der Welt konnte daran etwas ändern. Unter den jetzigen Bedingungen war dieser zweifellos von der Unfallserie der vergangenen Tage hervor gerufene Fatalismus beinahe tröstlich, denn wir verloren keine Kraft an nervöses Grübeln. Wir gaben schlicht unser Bestes. War das nicht gut genug, blieb uns nichts zu tun übrig, um etwas daran zu ändern. Was sein würde, würde sein. Nie zuvor hatte ich dieses fatalistische Empfinden gehabt, aber ganz gewiß hatte ich es, als wir auf den exponierten Bergsattel (Paß) an der Spitze des steilsten Hangs hinaustra ten. In einem wahren Strudel aus Wind und wirbelndem Schnee mußten wir hier unsere Steigeisen ablegen, um an den glatten, steil gewinkelten Felsen abzusteigen. Uns war bereits kalt, als wir die Gesteinsplatten ins Auge faßten, die hier zu steil waren, daß Schnee daran haftenblieb, und stellten uns in einen Wind, der wütend den Berg emporbrandete, uns direkt entgegen. Selten habe ich so gefroren. Mit tauben Fingern bekamen wir George Bells Steigeisen los, streiften unsere eigenen ab, und dann kletterte Streather über die Kante und verschwand. Gott sei Dank waren dort unsere fixierten Seile schneefrei! Doch trotz ihres Beistands würde dieser steile Abschnitt des Abstiegs Stunden in An spruch nehmen, und aus meinen Füßen war alles Gefühl gewichen, bevor der dritte Mann am Seil, Molenaar, eine gute Belegstelle erreichte und mich aufforderte abzusteigen. Wie
die anderen konnte ich mich nur langsam bewegen, aber die gesegneten Fixseile halfen, und ich setzte mein Vertrauen in die Felshaken, die sie führten, ließ mich ungelenk vom sturm umtosten Sattel herab und war in der fast senkrecht abfallen den Wand. Ich war noch immer zuversichtlich, daß wir diese Klippe bezwingen und zum Lager VI gelangen würden. Ich hatte keine Angst, sondern war nur furchtbar besorgt, uns alle endlich im Trockenen zu wissen, damit wir an die Rettung unserer Füße gehen konnten. Einer nach dem anderen bewegten wir uns einzeln über die steilen Felsplatten abwärts, den Grat entlang und auf der anderen Seite an einem weiteren Fixseil hinunter. Dort hatten wir auf losem Gestein, unsicher Gleichgewicht haltend, für kurze Zeit Ruhe vor dem Wind. Unsere Kraft ließ rasch nach, und Molenaar, der oben so gut belegt hatte, kletterte nun mit letzten Reserven und war kaum noch in der Lage, auf sich Obacht zu geben. Sechzig Meter vom Lager entfernt, stieg Streather, der Stärkste in unserer Seilschaft, an der falschen Stelle sechs Meter abwärts und mußte wieder hochsteigen. Der neuerliche Aufstieg kostete ihn fürchterliche Anstrengung! Vor uns lag eine weitere rutschige Querung, doch niemand rutschte ab, und nachdem wir eine flache Rinne durchstiegen hatten, stolperten wir fast über die Zelte von Lager VI. Die anderen waren bereits da. Sie hatten beide Zelte voller Schnee vorgefunden, eines davon bis zum Rand, weil ein paar kleine Steine herabgefallen waren und das eine aufgeschlitzt hatten, während ein nicht richtig schließender Reißverschluß im anderen für eine winzige Öffnung gesorgt hatte. Durch diese kleinen Einlässe hatte der Druck des Monsuns Pulver schnee gezwängt, bis die Zelte vollgeweht waren.
Als unsere zweite Seilschaft ankam, waren die anderen zu unserem Glück gerade damit fertig geworden, den Pulver schnee rauszuräumen, und hatten einen Kocher in Gang gesetzt. Kaum hatten wir uns in die Zelte gezwängt, überkam uns ein herrliches Gefühl von Erleichterung. Wir hatten es sicher nach unten geschafft. Wir hatten den schlimmsten Teil der Route hinter uns. Hier waren Schutz und Nahrung. Gleich wie erschöpft wir jetzt waren, glaubten wir nun hoffnungsvoll, heil ganz hinunter zu kommen. So unbequem wir es auch hatten, schienen uns die Stunden im Lager geradezu luxuriös. Charlie Houston war nun wieder fast er selbst. Schoening und Craig betonten, daß er für einen Mann in seinem Zustand außergewöhnlich gut gestiegen sei und sich nur gelegentlich an den unwahrscheinlichsten Stellen hingesetzt und umgesehen hätte, als fragte er sich, was er da täte. Wir alle sahen um Jahre älter aus, doch aus unseren Stimmen klang eine Hoffnung, die am Morgen noch nicht dagewesen war. Niemand gab optimistische Äußerungen von sich, aber die Moral hatte sich gehoben. Während der Schnee für den Tee schmolz, bliesen wir die Luftmatratzen auf, die wir nicht oben gelassen hatten, legten einige Schlafsäcke von 1939 aus, die wir dort gefunden hatten, und zogen unsere Stiefel aus, um unsere Füße zu bearbeiten. Meinen Zehen fehlte jedes Gefühl, doch den anderen ging es genauso, und ich war froh, mich zu erinnern, daß meine Füße mir beim Abstieg keine Schwierigkeiten gemacht hatten. Da das von mir und Houston geteilte Zelt im Lee des anderen stand und keine Löcher aufwies, die den Wind hineinließen, riefen wir zu George Bell rüber, den Platz mit Bob Craig zu tauschen und in das wärmere Zelt umzuziehen, denn wir machten uns um Bells Füße große Sorgen, sie waren in einem
schlimmen Zustand. George rief »Okay« zurück und begann, über das Gelände zwischen den beiden Zelten zu kriechen. Dabei stieß er auf einen kleinen Beutel zwischen den beiden Zelten. »Wo kommt der denn her?« fragte er, hob ihn auf, ohne auf Antwort zu warten, und schob ihn vor sich her in unser Zelt. »Nun, Tony hat ihn etwa dreihundert Meter unter Lager VII gefunden«, sagte ich. »Er glaubt, daß er Art gehört hat. Ich hab’s mir noch nicht angesehen, aber ich werde es seiner Familie mitbringen.« »Er gehört nicht Art«, sagte George heiser. »Es ist meiner. Er war in meinen Rucksack, den ich beim Sturz verloren hab.« Ungeduldig zog er am Reißverschluß, öffnete den Beutel und fing an, hektisch darin herumzukramen. Und dann stieß George zu unser aller Verblüffung einen freudiges Ächzen aus und zog seine Ersatzbrille hervor – ganz! Was die Entdeckung für Bells Moral bedeutete, konnten wir nicht ermessen, aber sein Entzücken tat uns allen mächtig gut. Außerdem enthielt der Beutel die Rechnungsführung für die Expedition, da George unterwegs den Kassenwart machte, doch zu der Zeit hatten wir kein Interesse an derlei Angele genheiten. Sein Rucksack jedoch mit Kamera, belichtetem Film und Tagebuch blieb wie der von Charlie Houston spurlos verschwunden und war nie mehr gesehen. Den ganzen Weg nach unten hatten wir natürlich nach der Leiche Art Gilkeys Ausschau gehalten, sie aber nicht entdek ken können. Allerdings sahen wir ein Knäuel aus Seilen und einen zerbrochenen Eispickel etwa dreihundert Meter unter halb der Eisrinne, wo wir Art zuletzt gesehen hatten. Der hölzerne Stiel des Pickels war beim Fall den Berg hinunter
zerbrochen und zwischen zwei Felsen eingeklemmt. Unser Freund muß einen schnellen und gnädigen Tod gefunden haben, den raschen Tod, der auch der beste ist, bevor sein Leichnam für immer von den Schneemassen des Karakorum verschlungen wurde. An jenem Abend um sechs Uhr hatte sich Charlie Houston soweit erholt, daß er das Ersatz-Walkietalkie benutzen konnte, das sich im Lager VI befand, um Colonel Ata-Ullah im Basislager anzufunken. Die Stimme dieses braven Mannes klang ungeheuer erleichtert, als er erfuhr, daß wir alle am Leben waren. »Gott sei Dank«, sagte er und verstummte für einige Augenblicke. Er hatte unablässig am Gerät gesessen, seit wir tags zuvor um drei Uhr versäumt hatten, uns zum vereinbar ten Zeitpunkt zu melden, und uns inzwischen praktisch für tot gehalten. An nächsten Tag hätte er den Gletscher nach uns abgesucht und wäre dann, sobald das Wetter es zuließ, hoch gestiegen, um uns zu suchen, bevor er die Tatsache hinge nommen hätte, daß wir tot seien. Er hatte seine Befürchtungen den Hunzas mitgeteilt, und gemeinsam hatten sie traurige Stunden zugebracht. An jenem Abend im Lager VI bereiteten wir ein herrliches Nachtmahl aus Tomatensuppe, Dosenschinken, Reis und Tassen Tee ohne Ende, doch die Dunkelheit brach über uns herein, bevor die Tassen gesäubert und die Schlafsäcke ausge legt waren. Houston und ich schoben den Kocher und das Geschirr beiseite und sanken in Schlaf, kaum daß wir in die beiden Teile meines Schlafsacks geschlüpft waren, da Hou stons Schlafsack beim Sturz verschwunden war. Obwohl ich vor Erschöpfung fast narkotisiert war, blieb mein Schlaf den noch unruhig, weil sich Houstons Geist erneut verwirrte und er die ganze Nacht hindurch immer wieder aus dem Schlaf
sack stieg und im Zelt umherkroch. Er war jedoch bedacht darauf, mich nicht aufzuwecken, und entschuldigte sich beständig für die Unruhe, die er verursachte. »Ich muß nur aus dieser Lagerhalle raus«, gab er von sich, »dann geht alles in Ordnung.« Anschließend suchte ich im Dunkeln so gut ich konnte die Öffnung seines Schlafsacks und mühte mich ab, ihn hineinzumanövrieren. Kurz darauf wurde ich erneut von Houston, der am Fußende meines Schlafsacks herumkroch, aus dem Schlaf gerissen. »Es tut mir schrecklich leid, dich zu stören«, sagte er. »Wenn ich doch bloß aus dieser Lagerhalle rauskomme…« Am nächsten Morgen hatte der Sturm an Wucht zugenom men, und wir scheuten den Abstieg hinunter zum Lager V, aus Angst, daß sich George Bells Füße noch verschlimmern würden. Wir machten uns große Sorgen um seinen Zustand. Wir befürchteten, daß er an den Punkt gelangen könnte, da er nicht mehr zu gehen imstande war, und wir verdrängten den Gedanken daran, was dann geschehen würde, denn in unserer körperlichen Verfassung und beim Wüten eines solchen Sturms könnten wir niemanden hinuntertragen, schon gar nicht den schwersten von uns. Da Nahrung und Benzin im Lager VI knapp waren, lag uns viel daran, daß einige von uns abstiegen, und Schoening und Streather nutzten die Gunst einer kurzen Wetterberuhigung, um sich zum nächsten Lager durchzuschlagen, doch wir übrigen blieben zurück. Der Brennstoffvorrat ging zur Neige, und in jener Nacht legten wir uns mit einem kalten Abendbrot im Bauch und der Erkenntnis schlafen, daß wir am folgenden Tag aufbrechen mußten. Bell war das größte Problem, während Houston erstaunlich schnell Kraft und gedankliche Klarheit zurückgewann. Der 13. August war kalt und windig bei leichtem Schneefall
und ähnelte stark dem Tag unseres Abstiegs zum Lager VI. Craig und Molenaar hatten in dem aufgerissenen Zelt eine kalte Nacht verbracht, schulterten nach einem Frühstück, das aus kalten Fleischstreifen bestand, ihre Rucksäcke und machten sich auf den Weg. Nachdem wir George Bell in den Schutz des Zeltes von Craig und Molenaar gebracht hatten, fingen Houston und ich an, den Boden unseres Zeltes vom Eis frei zu machen, denn es war für uns notwendig, ein Zelt nach unten mitzunehmen. Uns froren die Hände fürchterlich, als wir auf das Eis einhackten und an den Knoten zerrten. Inzwischen machte sich der Wind am Zelt zu schaffen. Als es so weit war, daß wir das Zelt freigelegt hatten, hatte der Wind das andere der Länge nach aufgerissen, und es war auf dem besten Wege, völlig zerfetzt zu werden, während wir uns darin zusammen kauerten und bemühten, wieder Gefühl in unsere eiskalten Finger zu bekommen. Dann wuchteten wir uns unsere schwe ren Rucksäcke auf den Rücken und brachen zum Lager V auf. Zu unserer großen Freude kletterte Bell gleichmäßig und sicher. Die Route zwischen den Lagern VI und V war norma lerweise nicht sonderlich schwierig, doch bei Neuschnee auf den Felsen war ein Teil der Strecke, vor allem in einer Rinne, von gefährlich losem Schnee bedeckt. Hier leistete Houston beste Arbeit, als er das Seil verankerte, während ich vorging. Er schien beinahe wieder der alte zu sein, als wir uns abwärts über eine winzige Schutthalde bewegten, eine Ecke umrunde ten und ins Lager V gelangten. Craig und Molenaar waren bereits da, rückten zusammen und machten einen Platz frei, wo Schoening und Streather den Kocher rotglühend anfachten und eine Tasse Tee mit Orangensaftgeschmack nach der anderen unseren noch immer ausgetrockneten Kehlen zu kommen ließen. Sie hatten am Tag zuvor gegen den Sturm
gekämpft und waren froh gewesen, sicher im Lager gelandet zu sein. Unser Abstieg verlief nun gut, das Unwetter hatte ein we nig nachgelassen, doch es gab keine Garantie dafür, daß wir von einen weiteren erschütternder Schlag verschont blieben. »Wenn wir nur Houses Kamin hinter uns hätten«, sagte je mand, »dann muß das Wetter schon verdammt mies sein, um uns noch aufzuhalten.« Wir zehrten immer noch von unseren Kraftreserven, und es war inzwischen zwei Uhr dreißig nach mittags, doch der Gedanke daran, das letzte große Hindernis zu überwinden, spornte uns an. Normalerweise konnten wir in fünf Minuten vom Lager V zur Spitze von Houses Kamin steigen und von dort aus beinahe unmittelbar auf die Zelte von Lager IV schauen. Jetzt kostete es aber mehr als eine Stunde härtester Arbeit, zur Spitze des Kamins zu gelangen. Craig und Molenaar führten und riefen zurück, daß wir auf das Eis achten sollten, da alles verglast war und große Gefahr bestand, daß die ganze Seilschaft vom Berg gerissen würde, wenn nur einer abrutsch te. Unsere Lasten waren nun schwerer geworden, insbesonde re die von Houston, und wir konzentrierten uns verbissen darauf, diesen gefährlichen Abschnitt sicher zu durchsteigen. Dennoch hatten Houston und ich eine Reihe unerfreulicher Augenblicke zu gewärtigen und schlugen eine Menge Tritte ins Eis, bevor wir zum Fuß des A-Gestells kletterten und am Fixseil hinunterblickten, das Craig und Molenaar in Houses Kamin festgemacht hatten. Fünfzig Meter unter uns konnten wir sie bereits bei der Arbeit an den Zelten von Lager IV sehen. Die Zeit war schon recht weit fortgeschritten, und wir durf
ten keinen Moment vergeuden, um vor Einbruch der Dunkel heit abzusteigen. Houston bestand darauf, abwechselnd jeden Mann auf seinem Weg nach unten zu belegen, und dann fingen wir an, die Rucksäcke zu Schoening herabzulassen, der den Schneehang gegenüber dem Fuß des Kamins erklommen und sich dort eine Stelle geebnet hatte. Das kostete Zeit, da jeder Rucksack sorgfältig gesichert werden mußte, und es war beinahe dunkel, als ich den Kamin hinabstieg und, von Schoe ning gelotst, die Eisstufen zum Schichtenkopf nahm, auf den wir drei Wochen vorher Lasten emporgezogen hatten. Hou ston war der erste Mann im Kamin gewesen und wollte letzter beim Abstieg sein, doch es war schon fast stockdunkel, als er das winzige Plateau verließ, auf dem er so lange gehockt hatte, und sich von der steil nach unten fallenden Klippe weg ins Nichts schwang. Ein derartiges Gewirr aus alten und neuen Seilen hing in der Schwärze des Kamins, daß ihn der schreck liche Gedanke durchfuhr, er könnte am falschen Seil hängen! Sich über diese blanke Klippe mit dem atemberaubenden Abgrund darunter hinauszuschwingen ist zu jeder Zeit eine nachhaltig Erfahrung, doppelt so für Houston, der sich mit tauben Händen ins Dunkel katapultierte und hoffte, daß das Seil das richtige sei und bis zu den Stufen reichte, die am Fuß in den Schnee gehauen waren. Das Seil hielt, und bald half Schoening, Houston über den Hang zu führen. Ein paar Minuten später waren wir alle auf der ebenen Zeltfläche von Lager IV und nur noch in der Lage, etwas Tee zu schlürfen, einen kalten Fleischstreifen zu essen und in unsere Schlafsäcke zu kriechen. Daß wir Houses Kamin geschafft hatten, gab unserer Entschlossenheit Auftrieb, die gesamte Gruppe sicher nach unten zu bringen. In jener Nacht teilten sich Molenaar, Houston und ich ein Zelt, und ich erin
nere mich, daß ich unablässig rubbelte, um wieder ein Gefühl in die Zehen zu bekommen. Weder schmerzten sie, noch waren sie geschwollen, aber sosehr ich mich auch bemühte, in einige meiner Zehen kehrte einfach keine Empfindung zurück. Trotzdem, der Kamin lag nun hinter uns, der unsere Gedan ken so lange beherrscht hatte, und wie wir so dalagen, merk ten wir kaum, wie klamm die Schlafsäcke waren. Als am 14. August ein weiterer grauer Morgen dämmerte, stolperten ausgemergelte, hohläugige Männer zögerlich auf die rutschige Schutthalde hinaus, um Eisstücke zum Schmel zen zu sammeln. Craigs Füße bereiteten ihm große Schmerzen, doch George Bell war Anlaß zu noch größerer Sorge, da ihn nun offenbar nur noch ein eiserner Wille aufrechthielt. An jenem Morgen waren seine Füße derart geschwollen, daß er nicht mehr in seine Stiefel kam, wie sehr er sich auch anstreng te, schließlich war er gezwungen, sie mit einem Messer aufzu trennen, um sie anziehen zu können. Das war für seine Erfrie rungen nicht gerade günstig, aber er hatte wenigstens etwas an den Füßen. Diesmal machten sich Streather und ich als erste auf den Weg, um die Route zu finden und womöglich leichter zu machen. Wir fanden von Pulverschnee verhüllte lose Ge steinsbrocken vor, was einen Teil unserer Aufstiegsstrecke unbegehbar machte. Schlimmer noch, die meisten unserer Fixseile waren vollständig vergraben, und wir mußten drauf loshacken, um Stufen in das glatte Eis zu schlagen, das die Hänge überzog, die wir zuvor mit Leichtigkeit hinuntergestie gen waren. Das Ausmeißeln von Stufen den ganzen Weg nach unten ist mühselige Arbeit, und Streather und ich spürten die Anstrengung der vergangenen Tage. Einige hundert Meter oberhalb des Lagers III konnten wir ein Abrutschen gerade
noch abfangen, und dann übernahm Schoening die Führung, um uns eine Pause zu gönnen, und begann, die letzten Stufen zu schlagen, die wir brauchten, um zum Lager zu gelangen. Wie satt uns die Luft schien! Vom Lager VIII abwärts waren wir eine Distanz geklettert, die fünf Eiffeltürmen oder zehn Washington-Monumenten entsprach, und dieser Teil des Bergs kam uns schon unglaublich fern vor. Im Gegensatz dazu schienen New York und unser Zuhause fast schon um die Ecke zu liegen. Doch wir waren noch keineswegs unten. Gewitterwolken verschleierten die Hänge über uns, und wir wußten, falls das Eis, das wir knapp oberhalb von Lager III angetroffen hatten, auch die Route zum Lager II bedeckte, der nächste Teil des Abstiegs ein besonders gefährlicher sein würde, denn die unablässige Anspannung hinterließ ihre Spuren. In Lager III befand sich ein großer Vorrat an Nahrungsmit teln, und da der Wind abgeflaut war, aßen wir dort ausgiebig zu Mittag: Wie Verhungernde schlangen wir Dattelriegel mit Mandeln hinunter, dicke Brocken aus Gruyerekäse, getrockne te Aprikosen, Kekse und Schokolade. Wir mischten eine Dose konzentrierten Orangensaft mit Schnee, schlugen die eisige Mischung mit einem Löffel, bis sie breiig wurde, und stürzten dann der Reihe nach gehäufte Löffel davon hinunter. Unsere Körper lechzten nach einem warmen Essen und nach Schlaf, doch Lager II rief uns, denn wir wußten, daß unsere treuen Hunzas dort sein würden. Außerdem mußte Bell so schnell wie möglich nach unten, denn wir sahen, daß er, gleich wie nervenstark er war, bald nicht mehr auf seinen erfrorenen Füßen würde gehen können. Eis auf den Felsen würde die Strecke unterhalb Lager III
sehr gefährlich machen, und während wir erwogen, ob wir absteigen oder bis zum nächsten Tag warten sollten, kletterte Schoening nach unten zur Querung über die erste Rinne, traf dort jedoch auf kein Eis, sondern auf festen Schnee. Das be eindruckte uns sehr, da wir mehr Eis erwartet hatten. Unsere Moral bekam stürmischen Aufwind. Wir stopften in unsere Rucksäcken sogar noch einiges, was im Lager III in Seesäcken zurückgeblieben war, und setzten dann unseren Abstieg fort. Diesmal gingen Houston, Bell und Schoening als Seilerste, gefolgt von Streather und mir, während Craig und Molenaar die Nachhut bildeten. Mehr denn je waren wir entschlossen, nicht abzurutschen, und trotz einiger notwendiger und eines schwieriger Manöver stürzte keiner. Zum Glück war das Eis nicht so schlecht, wie wir befürchtet hatten, und unsere Zuver sicht stieg, während wir abstiegen. Zum Abschied hatte es der Berg jedoch noch einmal auf uns abgesehen, denn gerade, als Schoening, Bell und Houston vom Haupthang in den Schutz einer sicheren Rinne abbiegen wollten, sauste ein Felsbrocken, der von hoch oben am Berg mit großer Geschwindigkeit polternd herabstürzte, ein paar Zentimeter an ihren Köpfen vorbei. Streather hatte das Walkietalkie und versuchte Punkt sechs Uhr Ata-Ullah anzufunken. Es gab keine ebene Stelle in unse rer Nähe. Vielmehr stand ich Punkt sechs Uhr nur auf einem Fuß, querte eine steile Felswand und wagte nicht, mich zu bewegen, aus Angst, Streather aus dem Gleichgewicht zu bringen, der mit einer Hand am Walkie-Talkie eine nur wenig sicherere Stellung hatte. Wir hofften, Ata-Ullah mitzuteilen, daß er am nächsten Tag Träger zum Gletscher nahe dem Lager I schicken sollte, um Bell nach unten zu helfen, aber Ata konn te uns nicht empfangen, und Streather legte schließlich die
Funkantenne zusammen und stieg weiter. Als wir die letzte Rinne vor dem Lager II in Angriff nahmen, konnten wir die Hunzas rufen hören, und als wir auf den letzten Schneehang hinaustraten, stürmten uns Ghulam, Vilyati und Hidayat, aneinandergebunden mit etwas, das wie Schnur aussah, auf dem steilen Hang entgegen und umarmten uns unter Tränen. Es war ein überwältigendes Willkommen und in gewisser Hinsicht fast zuviel für uns, da wir uns an kleine Griffe klammerten und an einer steilen Rinne standen, die fast fünfhundert Meter tief zum Gletscher hin abfiel. Eine solche Lage ist für enthusiastische Umarmungen nicht geeig net! Uns wurden unsere Rucksäcke abgenommen, und diese abgehärteten Pioniere halfen uns mit tränenverschmierten Wangen von Fels zu Fels nach unten, als hätten sie Angst, daß wir im letzten Augenblick zusammenbrechen könnten. Als wir nacheinander das Lager II erreichten, wo Schlafsäcke für uns zum Sitzen in die Felsen gelegt worden waren, umarmte jeder Hunza mit viel Gefühl reihum jeden einzelnen von uns. Das Unwetter war verebbt, der Wind abgeflaut und die ersten Sterne, die wir seit Wochen zu Gesicht bekamen, glitzerten am Nachthimmel, als Craig und Molenaar das letzte Gesteinsge fälle vor dem Lager herabstiegen. Unser Gefühl von Erleichterung und Wohligkeit in diesem Augenblick kann man kaum in Worte fassen. Das Schiff war gerettet worden; die Verlorenen hatte man gefunden. Alle, die vom fürchterlichen Biwak im Lager VII nach unten aufgebro chen waren, hatten die Sicherheit des Lagers II und den Schutz unserer Hunzas erreicht. Jener Abend war einer der herrlich sten wohl für jeden von uns, da sich eine Ahnung erhabener
Friedlichkeit auf uns herabsenkte. Doch wir waren auch trau rig. Wir redeten über Art Gilkey, und die Hunzas weinten um ihn und beteten für ihn. Sie wollten wissen, was geschehen war und wie wir uns durch den Sturm geschlagen hatten. Und während wir dort auf Schlafsäcken mit ausgezogenen Stiefeln in der warmen, gesättigten Luft lagen, während ein Öfchen zu unseren Füßen im Freien fröhlich vor sich hin brummte, fingen wir langsam an, ins Leben zurückzukehren. Zuerst fütterten uns die Hunzas mit Milchreis; dann fingen wir bei drei brennenden Kochern an, Tee zu schlürfen. Brenn stoff und Feuer gab es hier reichlich, und wir nutzten es reich lich. Stapelweise wurden flache Pfannkuchen namens Chupat tis gebacken, und wir tranken eine Kanne Tee mit Milch nach der anderen, während wir dalagen und redeten, uns entspann ten, unsere Füße rieben, aber zu aufgewühlt waren, um schla fen zu gehen. Dazu die sanften Hände der Hunzas, die unsere müden Muskeln kneteten, wie das nur Asiaten können, und uns ins Leben zurückriefen. In diesen herzerwärmenden Stunden bedeuteten die Unterschiede von Rasse und Sprache nichts. Wir teilten beim Licht einer flackernden Fackel ein großartiges Erlebnis, während wir redeten und redeten. Wer Not und Gefahr begegnet ist, kann unsere Gefühle nachvoll ziehen und die Bande zwischen uns, die wir so dalagen, ver stehen. Nach Stunden köstlicher Ruhe quälten wir uns hoch, stolperten zu unseren Zelten und krochen dankbar in unsere Schlafsäcke. Wir hatten es geschafft.
David Roberts Rätsel am K2 Der Schriftsteller und Bergsteiger David Roberts hat Fritz Wiessner »den größten Bergsteiger des Jahrhunderts« ge nannt. Dieser Ehrentitel beruht im wesentlichen auf Wiess ners erstaunlicher bergsteigerischer Leistung als Leiter der amerikanischen Expedition zum K2 im Jahre 1939. Doch am Ende dieser Expedition fanden vier Menschen den Tod: Ein Resultat, das jahrzehntelang den Ruf des gebürtigen Deut schen überschattete. David Roberts hat 1984 mit seinem Ar tikel für die Zeitschrift Outside versucht, Klarheit zu schaf fen – und so die alte Auseinandersetzung wieder angefacht. Es war der 19. Juli 1939. Um neun Uhr an jenem Morgen hatten Fritz Wiessner und der Sherpa Pasang Lama Lager IX auf einer Höhe von 7925 Meter am K2, dem zweithöchsten Berg der Welt, verlassen. Den ganzen Tag lang waren sie bergauf gestiegen, über Hänge aus Schnee, Eis und Fels, die nie zuvor begangen worden waren. Keiner der beiden Männer hatte Sauerstoff gebraucht. Den ganzen Tag über war Wiessner vorausgestiegen. Mit seinen neununddreißig Jahren war er so fit wie noch nie in seinem Leben. Und damals, zu jenem historischen Zeitpunkt, gab es keinen besseren Bergsteiger auf der ganzen Welt. Ein Teil der Route war außerordentlich schwierig gewesen, wenn man die Höhenlage bedachte. Mit seinen Steigeisen, dem Pickel und einer Handvoll Haken hatte Wiessner nach
einander ein Couloir aus schwarzem Eis, einen kurzen Über hang aus vereistem Fels und zwei Seillängen zerklüfteten Fels, bedeckt mit einer trügerischen, »Verglas« genannten Schicht Eis, gemeistert. Immerhin ging kein Wind, und Wiessner konnte die Handschuhe ausziehen und die schwierigsten Bewegungen mit bloßen Händen ausführen. Jetzt traversierte er ein kurzes Stück nach links, dann klet terte er acht Meter eine schwierige Felswand hinauf. Am oberen Ende dieses Abschnitts angekommen, schlug er zur Sicherheit zwei Haken ein. Mit wachsender Hochstimmung betrachtete er das darüber befindliche Gelände. Die Felswand reichte noch weitere acht Meter in die Höhe, die zwar nicht leicht waren, aber doch weniger steil als die Wand, die er gerade durchklettert hatte. Er wußte, er konnte dieses Hindernis ohne große Schwierigkeiten überwinden. Über der Fels wand erstreckte sich ein allem Anschein nach leichter Schnee hang, der zum Gipfel führte. Es war spät am Nachmittag. Die beiden Männer hatten eine Höhe von mehr als 8380 Meter erreicht. Der Gipfel des K2 ragte allerhöchstens noch zwei hundertdreißig Meter höher auf. In jenem Moment stand Fritz Wiessner an der Schwelle zu einer Tat, die, hätte er sie vollbracht, heute als der herausra gende Triumph in der langen Geschichte der Bergsteigerei zu betrachten wäre. Erst im Jahr zuvor war die siebte große Expedition zum Everest gescheitert, gute sechshundert Meter unter dem Gipfel, und ein massiver amerikanischer Versuch am K2 war auf 7900 Metern abgebrochen worden. Viele Exper ten begannen zu bezweifeln, daß die höchsten Berge je ohne Sauerstoff bezwungen werden könnten. Im Himalaja gibt es vierzehn Gipfel, die über 8000 Meter hoch sind. Das Bezwin gen eines Achttausenders sollte zur »Vier-Minuten-Meile« des
Bergsteigens werden. Erst im Jahre 1950 wurde mit den Fran zosen am Annapurna diese Großtat vollbracht. Der Everest wurde 1953 bezwungen; der K2 im darauffolgenden Jahr. Doch an jenem Julitag des Jahres 1939 war für Wiessner und Pasang Lama der Gipfel des K2 in greifbarer Nähe. Sie würden nachts absteigen müssen, aber das Wetter hielt sich großartig. Der Mond würde scheinen, und die beiden Männer waren in ausgezeichneter Verfassung. Wiessner hatte keine Bedenken, den leichten Grat vom Gipfel, wenn nötig, bei Nacht hinunter zusteigen. Er begann, die letzten acht Meter der Wand zu erklettern. Es gab einen Ruck an seiner Taille, als das Seil sich straffte. Wiessner wandte sich zu seinem Partner um und sah Pasang fast entschuldigend lächeln. Als buddhistischer Lama glaubte Pasang, daß nachts böse Geister um den Gipfel lauerten. »Nein, Sahib, morgen!«, sagte der Sherpa. Als Wiessner sah, daß die Entschlossenheit seines Begleiters durch nichts zu erschüttern war, dachte er einen Moment lang daran, sich loszubinden und allein zum Gipfel aufzubrechen. Doch 1939 hinderte die Moral des Bergsteigers den Anführer einer Seilschaft daran, seinen Partner allein zurückzulassen. Es war noch Nahrung und Brennmaterial für zwölf Tage in Lager IX, und das gute Wetter sah so aus, als würde es ewig andau ern. Wiessner gab nach und stimmte dem Abstieg zu. Der nächste Tag würde sicher den Erfolg bringen. Niemals wieder sollte Fritz Wiessner eine derartige Höhe am K2 erreichen. Statt einen großen Triumph genießen zu können, sollte er sich den Rest seines Lebens in eine der schärfsten Kontroversen der Bergsteigergeschichte verwickelt finden. Aus Gründen, die heute noch unklar sind, waren die
Lager, die man so sorgfältig eingerichtet hatte, als das Team den Berg hinaufstieg, systematisch ausgeräumt worden: Die Schlafsäcke waren fort, und ein Großteil der Nahrungsmittel lag draußen im Schnee. Als indirekte Folge dieser Katastrophe starben vier Mitglieder der Expedition von 1939 am K2. Wiessner kehrte in die Vereinigten Staaten zurück und erntete nicht etwa Lorbeeren für seinen heldenhaften Versuch, den großen Berg zu bezwingen, sondern wurde überschüttet mit ungerechten Schmähungen von seiten seiner Bergsteigerkolle gen. Fritz Wiessner war im Februar 1984 vierundachtzig Jahre alt geworden1. Er geht noch regelmäßig klettern, und das mit beachtlichem Schwierigkeitsgrad. Fritz Wiessners langes Leben war gekrönt von Erfolgen, sowohl inner- wie außerhalb der Berge, und von Glück und Zufriedenheit. Anderen Berg steigern gegenüber hat Wiessner sich immer großherzig ge zeigt. Für mehrere Generationen von Bergsteigern auf der ganzen Welt war er ein Held. Aber der K2 blieb die große Enttäuschung seines Lebens, und wenn er darüber sprach, zitterte seine Stimme aus einem Gefühl von Verrat, das für ihn immer mit der Erinnerung an jene Expedition verbunden geblieben ist.
Fritz Wiessner starb im Jahre 1988. Der Autor hat ihn vier Jahre vor seinem Tod in Stowe, Vermont, besucht. (Anm. d. Übers.) 1
Teil I: Berg und Bergsteiger Der K2 erhebt sich am oberen Ende des Baltoro-Gletschers im Karakorum-Massiv in Pakistan, etwa 1500 Kilometer nord westlich des Everest. Aus der Entfernung betrachtet, ist er ein beeindruckender, pyramidenförmiger Gipfel, schöner als der Everest und gleichzeitig schwieriger zu besteigen. Ein erster Versuch wurde im Jahre 1902 von einer kleinen Gruppe Berg steiger unternommen; unter ihnen war der außergewöhnliche Oskar Eckenstein. Ein zweiter Besteigungsversuch im Jahre 1909 durch ein italienisches Team fand unter der Leitung des unvergleichlichen Entdeckers Luigi Amedeo, Herzog der Abruzzen, statt. Beide Expeditionen mußten etwas oberhalb von 6400 Metern umkehren; sie kamen nicht einmal in die Nähe des 8611 Meter hohen Gipfels. Doch für jene frühe Zeit waren beide Unternehmungen bemerkenswert. Erst 1938 wurde ein erneuter Versuch unternommen, den K2 zu besteigen, als ein kleines, aber leistungsstarkes amerika nisches Team von vier Bergsteigern einen späten, aber muti gen Ansturm auf dem Abruzzi-Grat unternahm – über jene Route, die zuerst von den Italienern erprobt worden war. Paul Petzoldt, ein Cowboy aus Wyoming, und Charles Houston, ein Medizinstudent von der Harvard-Universität, schafften es bis auf eine Höhe von 7925 Metern, bevor sie aufgeben mußten. Auch das war wiederum eine Ausnahmeleistung. Wiessners Versuch sollte der nächste sein. Seine Referenzen waren ausgezeichnet: 1900 in Dresden ge boren, unternahm er seine ersten Klettertouren als Teenager im Elbsandsteingebirge. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden die vielleicht schwersten reinen Felsklet
tereien der Welt an diesen Felsnadeln von Wiessner und seinen Kameraden ausgeführt – ein Umstand, der erst in den sechziger Jahren wirklich gewürdigt wurde, dank der an schließenden Isolation Ostdeutschlands, das von der Haupt strömung der Bergsteigerkultur abgeschnitten war. Nach dem Ersten Weltkrieg zog es Wiessner weiter in die Alpen, wo ihm einige der glänzendsten Erstbesteigungen der zwanziger Jahre gelangen. Besonders beachtlich waren seine Erfolge an der Südostwand der Fleischbank, die ein deutscher Kommentator später »das große Problem ihrer Zeit« nannte, und an der immer wieder in Angriff genommenen Nordwand der Furchetta. 1932 brach Wiessner zu seiner ersten HimalajaExpedition auf, einem bahnbrechenden Versuch am Nanga Parbat, wo er eine Höhe von 7000 Metern erreichte. Bereits 1929 war Wiessner in die Vereinigten Staaten emi griert, wo er erfolgreich eine Chemiefirma betrieb. Er begann, mit amerikanischen Freunden klettern zu gehen, wobei er ihnen praktisch beibrachte, was es mit dem europäischen Alpinismus auf sich hatte. Wiessners späterer Freund Richard Goldstone drückt es so aus: »Als er nach Amerika kam, schraubte er seinen Standard möglicherweise etwas herunter im Vergleich zu dem, was er in Deutschland gemacht hatte. Aber er war den Leuten hier so weit voraus, daß sie gar nicht verstanden, was er da eigentlich tat.« Eine von Wiessners glänzendsten Leistungen in Amerika war die Erstbesteigung des Devils Tower in Wyoming 1937, bei der er auf allen schwierigen Seillängen führte. (Goldstone sagt dazu: »Fritz nahm seine üblichen drei Haken mit. Im Grunde ging er solo.«) Eine andere großartige Leistung war die Erstbesteigung des Mount Waddington in der Coast Range
von British Columbia, gewiß die schwierigste Route, die bis zu jenem Tag in Nordamerika begangen worden war. Es war Wiessner, der 1937 als erster die offizielle Genehmi gung erhielt, eine amerikanische Expedition zum K2 zu füh ren, aber geschäftliche Verpflichtungen hinderten ihn daran, im nächsten Sommer nach Pakistan zu reisen. Charles Hou ston übernahm die Leitung der Expedition von 1938, während Wiessner sich die Genehmigung für 1939 vorbehielt, sollte Houstons Gruppe nicht erfolgreich sein. Als er dann begann, die Expedition für 1939 zu planen, war Wiessner enttäuscht, daß keiner der vier, die im Jahr zuvor am Besteigungsversuch teilgenommen hatten, wieder mitgehen konnte. Bis zum Frühjahr hatte er zwei andere erstklassige Bergsteiger gewonnen, von denen einer die zweite Besteigung des Mount McKinley angeführt hatte. Doch nur vier Wochen vor der Abreise des Teams mußten beide einen Rückzieher machen. Die übrige Besetzung war so schwach, daß Wiessner erwog, den Besteigungsversuch um ein weiteres Jahr zu verschieben. Doch der amerikanische Alpenverein American Alpine Club (AAC) drängte ihn, an seinem Plan festzuhalten, und so schiffte sich das Team im späten Frühjahr nach Europa ein. Zwei der Beteiligten, Chappell Cranmer und George Sheldon, waren Studenten aus Dartmouth und beide einundzwanzig Jahre alt. Eaten Cromwell hatte viele Berge in den Alpen und in Kanada bestiegen, aber keine der Touren war besonders schwierig gewesen; er war jetzt zweiundvierzig Jahre alt. Dudley Wolfe war mit seinen vierundvierzig Jahren ein guter Skiläufer und Bergsteiger, aber er hatte wenig technische Erfahrung. Nach dem das Team sich eingeschifft hatte, überredete ein Mentor
des AAC den achtundzwanzigjährigen Jack Durrance, Bergführer in den Tetons und einer der besten Bergsteiger des Landes, sich der Expedition anzuschließen. Zu Wiessners großer Überraschung tauchte Durrance in Genua auf, einen erklärenden Brief des wohlmeinenden AAC-Mitarbeiters in der Tasche. »Ich habe mir damals einige Sorgen gemacht«, sagte Wiess ner später. »Ich kannte Jack als einen großartigen Sportler, und ich wußte, daß er gut war. Er hatte einige Touren in München gemacht, als er dort lebte, und er besaß gute Klettererfahrung aus den Tetons. Aber ich wußte auch, daß er sehr ehrgeizig war, was zu Schwierigkeiten führen konnte. Ach, eigentlich mochte ich Durrance damals und hoffte, er würde gut mitzie hen.« Wiessner hatte sich auf einem idyllischen Landsitz in Sto we, Vermont, zur Ruhe gesetzt. Er war ein kleiner Mann, knapp einen Meter siebzig groß. Er wirkte ausgesprochen fit, und der kräftige Brustkorb und die starken Arme waren nicht zu übersehen. Sein kahler Schädel und die Stirn mit den dich ten Augenbrauen beherrschten ein ausdrucksvolles Gesicht: Wenn Wiessner redete, bildeten sich starke Furchen auf seiner Stirn, und seine Augenbrauen wölben sich bedeutungsvoll. Er sprach mit klarer, nachdrücklicher Stimme, noch immer mit deutlichem deutschem Akzent. Die Art und Weise seines Auftretens war von altmodischer Höflichkeit; sein Lächeln konnte ganze Salons bezaubern. Sein Wesen blieb genauso einnehmend, wenn er die Schwierigkeiten der Vergangenheit beschwor. Und die Schwierigkeiten 1939 begannen, als Wiess ner und Durrance aufeinandertrafen. »Nachdem wir das Basislager erreicht hatten«, erzählte
Wiessner, »unternahmen wir einen Ausflug den Gletscher hinauf. Ich wollte ein wenig Sicherheit und Seiltechnik über prüfen. Wir hatten zwei Seile. Bald wurde Jacks Seilschaft immer schneller – er wollte schneller sein als die anderen. Cromwell und Wolfe sagten zu mir: ›Was ist los? Müssen wir hier im Laufschritt rauf?‹ Als wir wieder im Basislager waren, hielt ich einen langen Vortrag. Ich sagte: ›Hört mal, ihr Lieben, ich kann euch gleich jetzt sagen, daß wir diesen Berg nie besteigen werden, wenn es unter den Teilnehmern Konkur renz gibt. Streicht das aus euren Köpfen. Wir müssen uns wirklich sehr anstrengen, und wir müssen das gemeinsam tun.‹ Jack sagte nichts, aber er schien mir zuzustimmen.« Wie auch immer – in den ersten fünf Wochen oberhalb des Basislagers ging die Expedition im großen und ganzen wie geplant voran. Die Gruppe von 1939 hatte den Vorteil, daß sie wußte, wo die Lager 1938 angelegt worden waren, und in einigen Fällen profitierte sie von Steinplattformen, die im Jahr zuvor angelegt worden waren. Langsam begann sich eine Art Nachschubleiter mit Versorgungsmaterial den Berg hinaufzu ziehen. Die Sherpas erwiesen sich bei der Einrichtung der Lager als enorm nützlich. Jedes Lager wurde mit drei Schlaf säcken ausgestattet, außerdem mit Luftmatratzen, Kochern und Brennstoff. »Ich war der Ansicht«, sagte Wiessner, »daß man bei einer solchen Bergbesteigung auf Nummer Sicher gehen muß: Falls etwas schiefgeht oder jemand krank wird, sollte man es in jedem beliebigen Lager mindestens zwei Wochen aushalten können. Sollte ein Mann bei extrem schlechtem Wetter absteigen müssen, mußte alles so vorberei tet sein, daß er nur noch ins Zelt hineinfallen brauchte, und alles wäre einfach da.« Doch in anderer Hinsicht bestand Wiessner auf einem spar
tanischen, »leichtgewichtigen« Stil. Sauerstoff gehörte zur Standardausrüstung am Everest, aber Wiessner lehnte es ab, überhaupt welchen ins Basislager am K2 mitzunehmen. »Mein Ideal ist immer das Freiklettern gewesen«, erklärte er. »Ich haßte technische Hilfsmittel. Ich wollte nicht einmal Walkie talkies am Berg haben.« Bereits während die Nachschubkette eingerichtet wurde, hatten einige der Bergsteiger Probleme. Weil er so spät dazu gestoßen war, mußte Durrance noch auf das Eintreffen seiner Bergstiefel warten, die eigens in München angefertigt wurden. Cranmer erkrankte fast sofort, und zwar ernsthaft, wahr scheinlich an Lungenödemen. Durrance, der Medizinstudent war, pflegte ihn im Basislager wieder gesund. Nach Wiessners Darstellung war Cromwell der Ansicht, es sei ungesund, allzulange in großer Höhe zu verweilen, und bald wollte auch er absteigen. Wiessner vermutete, daß all diese Sorgen, die ständig im Raum standen, Durrance nervös machten. Sheldon bekam Frostbeulen an den Zehen und kam nur bis Lager IV mit. Von den Sahibs konnte in der Höhe schließlich nur noch Dudley Wolfe mit Wiessner und den besten Sherpas mithalten. Als Durrances Stiefel endlich eingetroffen waren, machte er sich ungeduldig zusammen mit Wiessner und Wolfe auf den Weg. Beim Lastentragen nach Lager VI wurde er jedoch im mer langsamer. Am 12. Juli, nach fünf Tagen Sturm, bereiteten sich Wiessner, Wolfe und Durrance zusammen mit sieben Sherpas darauf vor, Vorräte von Lager VI nach Lager VII zu schaffen. Wiessner erzählte darüber: »Ein ganz kurzes Stück oberhalb von Lager VI sagte Jack zu mir: ›Fritz, etwas stimmt nicht mit mir. Ich bin krank. Vielleicht ist mein Körper nicht gut genug akklimatisiert. Ich gehe nach Lager VI zurück und komme morgen oder am Tag danach rauf.‹« Durrance kehrte
um und stieg nach Lager VI ab. Wiessner, Wolfe und drei Sherpas blieben in Lager VII. Die anderen kehrten zu Durrance nach Lager VI zurück. Sie woll ten am nächsten Tag weitere Vorräte nach oben bringen. Doch statt am 14. Juli mit Lasten den Berg heraufzukommen, stieg Durrance sogar noch weiter ab und nahm dabei – was aus Wiessners Sicht mehr als bedauerlich war – zwei Sherpas mit, darunter den besonders erfahrenen Pasang Kikuli, der eigent lich für die Gipfelbesteigung vorgesehen war, aber unter Erfrierungen litt. Wiessners prinzipielle Weigerung, Walkie talkies zu verwenden, bedeutete, daß er nun keine Möglichkeit hatte, mit Durrance in Verbindung zu treten, der ohne einzu halten bis Lager II abgestiegen war. Die Vorhut drang weiter vor und richtete Lager VIII auf 7710 Metern Höhe ein. Von dort schickte Wiessner zwei Sher pas hinunter nach Lager VII, die Durrance und mehreren Sherpas entgegengehen sollten. In Lager VIII blieben Wolfe, Pasang Lama und Wiessner zurück. Nach zwei Tagen Sturm machte sich dieses Trio wiederum auf den Weg, versank aber praktisch sofort in extrem tiefem, losem Schnee: Wiessner mußte buchstäblich durch die Schneewehen schwimmen. Wolfe, der schwerste von den dreien, verausgabte seine Kräfte bei dem Versuch, eine Furche hinaufzustrampeln, die Wiess ner in die Wehen gepflügt hatte. Er beschloß, ins Lager zu rückzukehren und am nächsten Tag zusammen mit den ande ren einen neuen Versuch zu wagen. (Loser, frisch gefallener Schnee wird nach einem Tag Sonnenschein oft fester.) Wiessner und Pasang Lama stiegen weiter und richteten Lager IX ein. Aus Sicherheitsgründen bauten sie eine Steinwand um das Zelt herum. Am nächsten Tag, dem 19. Juli,
unternahmen sie ihren ersten Gipfelversuch. Er endete damit, daß Pasang es aus Angst vor der hereinbrechenden Nacht ablehnte, weiter Seil zu geben. »Nein, Sahib, morgen!«, bat er, und Wiessner gab nach. Als Pasang sich auf dem Weg nach unten über eine Klippe abseilte, verhedderte sich das Seil in den Steigeisen hinten auf seinem Rucksack. (Er trug die Eisen beider Männer.) Mit einer wütenden Anstrengung gelang es dem Sherpa, das Seil frei zu bekommen, doch die Steigeisen lösten sich ebenfalls. Unglück lich sah Wiessner zu, wie sie ins Leere davonsprangen. Der Abstieg wurde schwieriger, und erst um 2 Uhr 30 am frühen Morgen erreichten die Männer wieder Lager IX. Zu Wiessners Bestürzung war von unten noch niemand eingetroffen. Doch das Lager war gut ausgestattet, und das Wetter blieb hervorragend. Wiessner hatte sich für den zweiten Versuch einen leichteren Weg ausgesucht. Es war eine Route durch eine Rinne, die er ursprünglich geplant hatte, aber aufgeben mußte, als Lawinen von einer gewaltigen Eisklippe in Gipfel nähe darüber hinweggedonnert waren. Am 18. Juli, beim Aufstieg nach Lager IX, hatten Wiessner und Pasang Lama die dreißig Meter breite Spur einer solchen Lawine gequert, und daraufhin hatte Wiessner beschlossen, die schwierigere EisFels-Route des ersten Versuchs zu wählen. Dabei hatte er jedoch einen guten Blick auf die Rinne gehabt und gesehen, daß es in nächster Zeit wohl keine Lawinenabgänge mehr geben würde. Die Route war demnach jetzt sicher. Die Männer ruhten sich den ganzen nächsten Tag aus. Es war so warm in der dünnen Luft, daß Wiessner nackt ein Sonnenbad nahm! Um 6 Uhr morgens am 21. Juli – drei Stunden früher als bei ihrem ersten Versuch – verließen die beiden
Bergsteiger Lager IX und machten sich auf den Weg zum Gipfel. Die neue Route führte über harten Schnee, der in der Sonne zu Eis geworden war. Der Verlust der Steigeisen rächte sich nun gewaltig. Über den Aufstieg durch die alles entschei dende Rinne schrieb Wiessner später: »Mit Steigeisen hätten wir sie praktisch hinauflaufen können, aber so wie die Dinge lagen, hätten wir dreihundert oder vierhundert Stufen schla gen müssen. In dieser Höhe hätte das mehr als einen Tag gedauert.« Zum zweiten Mal stiegen die beiden Männer nach Lager IX ab. Wiessner blieb dennoch zuversichtlich. Die Angehörigen des Teams, die von unten zur Unterstützung heraufkommen sollten, würden bestimmt Steigeisen dabei haben und weitere Vorräte. Weil er annahm, daß seine Gefährten sich wahr scheinlich in Lager VIII aufhielten, beschloß Wiessner, am 22. Juli hinunterzusteigen und Wolfe zu holen, außerdem mehr Nahrungsmittel und Brennstoff sowie die überaus wichtigen Steigeisen. Pasang nahm den Schlafsack mit hinunter, aber Wiessner ließ seinen in Lager IX im Zelt zurück, in der siche ren Annahme, daß er wiederkommen würde. Ohne Steigeisen war der Abstieg heikel, besonders weil die Tricouni-Nägel (die Bergsteiger in den Sohlen ihrer Schuhe trugen, bevor es Vibramsohlen gab) am Schuhwerk beider Männer abgelaufen waren. »Pasang war hinter mir«, erinnerte sich Wiessner. »Ich hätte ihn vor mir haben sollen, aber dann hätte ich ihm erklären müssen, wie man Stufen schlägt. Ich hielt gerade meinen Pickel in der Hand, um ein paar Kratzer zu machen, als er plötzlich stürzte. Ich bemerkte es sofort, weil er ein seltsames Geräusch von sich gab. Ich stellte mich in Position, grub meine Füße so tief wie möglich ein – und hielt ihn am Seil. Wäre ich nicht in so guter Verfassung gewesen
und hätte ich nicht die Erfahrung all der Viertausender in den Alpen hinter mir gehabt, hätte ich nicht über die nötige Tech nik verfügt, um ihn zu halten.« Bei Wiessner hört es sich an, als sei eine solche Mannsicherung Routine, dabei war es eine außergewöhnliche Leistung. Wiessner hatte erwartet, in Lager VIII Durrance und die anderen Sherpas mit den wertvollen Lasten zu finden. Statt dessen war Dudley Wolfe allein dort. Der freute sich natürlich, Wiessner zu sehen, war aber wütend darüber, daß von unten keiner heraufgekommen war. Zwei Tage zuvor waren ihm die Streichhölzer ausgegangen, und er hatte nur ein wenig Schmelzwasser trinken können, das auf einer Zeltunterlage zusammengelaufen war. Mittlerweile konnte Wiessner sich überhaupt keinen Reim mehr darauf machen, warum von unten keine Verstärkung kam. Er wußte jedoch, daß in Lager VII der Großteil der Nah rungsmittelvorräte schon eingelagert war. Ein kurzer Ausflug hinunter nach Lager VII, um Nachschub zu holen, würde es den drei Männern vielleicht immer noch ermöglichen, den K2 auch ohne die Hilfe der anderen zu besteigen. Wiessner konn te Wolfes Steigeisen benutzen, um im Eis voranzusteigen. Daher brach das Trio am 23. Juli hinunter nach Lager VII auf. Wolfe, selbst in seinen guten Tagen nicht der eleganteste Bergsteiger, war in der Mitte ins Seil eingebunden. Pasang Lama ging drei bis vier Meter vor ihm, Wiessner um die gleiche Entfernung hinter ihm. Wieder wurde der Schnee zu Eis, und Wiessner mußte vorangehen, um Stufen zu schlagen. Als er sich in riskanter Stellung vorbeugte, trat Wolfe verse hentlich auf das Seil. Der Ruck riß Wiessner die Füße weg. »Ich rief sofort nach hinten: ›Haltet mich auf! Haltet mich
auf!‹«, erinnerte sich Wiessner. »Nichts passierte. Dann straffte sich das Seil bei Wolfe, und er wurde weggerissen. Auch für Pasang dahinter wurde das Seil zu stramm, und er stürzte ebenfalls. Alle drei rutschten wir abwärts, und ich wurde ziemlich schnell und überschlug mich. Ich hatte keine Angst. Alles, was ich dachte, war: Wie blöd, daß das jetzt so kommen muß. So weit sind wir nun, könnten den Berg bezwingen und müssen auf diese blöde Art und Weise scheitern und vielleicht zu Tode stürzen. Ich dachte nicht an meine Familie, und natürlich habe ich nie an den lieben Gott geglaubt. Doch durch das Überschlagen und weil ich der erste im Seil war, konnte ich etwas Zeit gewinnen. Ich hatte noch meinen Pickel – ich habe immer eine Schlaufe um mein Handgelenk –, und gerade da wurde der Schnee etwas weicher. Ich hielt den Pickel bereit und setzte ihn mit aller Kraft ein. Mit der linken Hand kriegte ich das Seil zu fassen, fand schließlich Halt, stemmte meine Füße gegen den Boden und legte mich über den Pickel. Dann: Bäng! Eine gewaltige Last riß an mir. Ich konnte sie aufhalten, aber sie zog mich mit sich nach unten. Doch damals war ich ein wirklich starker Kerl – wenn ich heute noch ein Drittel jener Kraft hätte, wäre ich glücklich. Ich stand da und wollte das Ding zum Halten bringen. Ich muß einfach alles richtig gemacht haben, und außerdem hatte ich Glück.« Wiessners Pickelrettung ist Legende geworden. Nur wenige Männer in der ganzen Bergsteigergeschichte haben etwas Ähnliches geschafft: Bereits vom Hang hinuntergerissen, sich orientieren, einen Stand finden und mit lediglich der Haue eines Eispickels als Halt den sonst tödlichen Sturz von drei
Männern aufhalten, die aneinandergeseilt sind! Die Männer setzten ihren Weg hinunter nach Lager VII auf 7530 Metern fort. Dort erwartete sie ein schwerer Schock: Kein Mensch war im Lager und, schlimmer noch, die Zelte standen offen. Eins war voller Schnee, das andere halb zusammenge brochen. Die Vorräte, die sie neun Tage zuvor so mühsam heraufgetragen hatten, lagen verstreut im Schnee. Ein Großteil der Nahrungsmittel fehlte, ebenso fehlten alle Schlafsäcke. Bestürzt und verwirrt säuberten die Männer ein Zelt vom Schnee und stellten es wieder auf. Es war zu spät, um weiter abzusteigen. Mit einem Schlafsack und ohne Luftmatratzen drängten sie sich eine bitterkalte Nacht hindurch aneinander. Das Wetter am anderen Morgen war rauh und windig. Wolfe beschloß, mit dem einen Schlafsack in Lager VII zu bleiben, während Wiessner und Pasang nach Lager VI absteigen soll ten. Trotz aller Rückschläge waren die drei immer noch ent schlossen, den Berg zu besteigen. Sicher würde es Schlafsäcke und Nahrungsmittel in Lager VI geben, und dort sollten auch mindestens sechs Sherpas sein. Am 23. Juli stiegen die beiden Männer weiter ab. In Lager VI fanden sie einen Haufen aus zwei nicht aufgestellten Zelten und einigen wenigen Vorräten: Wieder waren die Schlafsäcke und Luftmatratzen verschwunden. Erbittert setzten Wiessner und Pasang den Abstieg fort. Lager V, IV, III… immer noch keine Schlafsäcke. Bei Einbruch der Nacht erreichten die Männer Lager II, das vermeintlich bestausgestattete Lager am Berg. Keine Schlafsäcke! Völlig erschöpft bauten Wiessner und Pasang ein Zelt ab und wickelten sich darin ein, während sie versuchten, in dem anderen zu schlafen. Ihre Finger und Zehen erfroren, und sie fanden keinen Schlaf.
Als die Männer am nächsten Tag den ebenen Gletscher er reichten, schleppten sie sich nur noch mühsam vorwärts und stolperten oft. Wiessner erinnerte sich an diese Anstrengung: »Wir waren absolut erschöpft. Wir konnten gerade hundert oder zweihundert Meter gehen, und schon setzten wir uns einfach hin. Auf einmal blicken wir auf, und da kommt eine Gruppe Menschen den Gletscher hinauf. Es war Cromwell mit einigen Sherpas. Mein Hals tat sehr weh, und ich konnte kaum sprechen, aber ich war unheimlich wütend. Ich fragte ihn: ›Was soll das denn?‹ Er erklärte mir, daß sie uns für tot gehalten hätten. Er sei jetzt nur aufgebrochen, um zu sehen, ob er irgendwelche Spuren von irgend etwas auf dem Gletscher finden könne. Ich sagte: ›Das ist wirklich ein starkes Stück. Wolfe wird euch wegen Unterlassung verklagen.‹ Wir gingen weiter ins Basislager. Der Koch und der Verbindungsoffizier kamen heraus, umarmten mich und brachten mich in mein Zelt. Pasang Kikuli und alle Sherpas kamen und umarmten mich ebenfalls. Aber Durrance brauchte mehr als eine halbe Stunde, ehe er auftauchte. Als er kam, fragte ich sofort: ›Was ist mit unseren Vorräten passiert? Wer hat die Schlafsäcke mit nach unten genommen? Und warum wurden sie mitgenommen?‹ Durrance sagte: ›Na ja, die Sherpas…‹ Die Schuld bekamen also die Sherpas.« Das große Engagement Wiessners am K2 zeigte sich darin, daß er selbst nach einem solchen gewaltigen Rückschlag immer noch die Hoffnung hegte, einen zweiten Gipfelversuch unternehmen zu können. Es schien ihm lediglich nötig, die Schlafsäcke wieder zurück in die Lager zu bringen und die Nahrungsmittelvorräte aufzustocken, um die Nachschubleiter
wieder herzustellen. Außerdem wartete Dudley Wolfe ja allein in Lager VII. Am 26. Juli machten sich Durrance und drei Sherpas auf den Weg. Sie hatten vor, bis Lager VII aufzustei gen. Wiessner wollte zwei Tage später nachkommen, wenn er sich von den Strapazen erholt haben würde. Durrance schaffte es jedoch nur bis Lager IV, die Höhen krankheit zwang ihn, am dritten Tag wieder abzusteigen. Er ließ zwei Sherpas in Lager IV mit der Anweisung zurück, nach Lager VII aufzusteigen und Wolfe die Lage der Dinge ausein anderzusetzen. Doch Wiessner hatte sich nicht von seinem kräftezehrenden Abstieg erholen können, und Pasang Lama war in noch schlechterer Verfassung. Als Durrance wieder auftauchte, wurde Wiessner klar, daß schließlich doch alle Hoffnung aufgegeben werden mußte, den K2 zu bezwingen. Es ging nur noch darum, Wolfe herunterzuholen. Trotz seiner Erschöpfung wollte Wiessner den Versuch un ternehmen, selbst nach Lager VII zu gehen, aber Pasang Kikuli hielt ihn davon ab. Statt dessen schlug er vor, er selbst werde hinaufklettern, um Wolfe zu holen und ins Basislager zu bringen. Folglich kletterten am 29. Juli Kikuli und ein anderer Sherpa vom Basislager bis Lager VI hinauf – ein Höhenunter schied von 2000 Metern an einem einzigen Tag. Diese gewalti ge Leistung ist ohne Beispiel in der Geschichte des Himalaja. Unterwegs nahm Kikuli die beiden Sherpas mit, die Durrance in Lager IV zurückgelassen hatte. Wolfe war in einem schlechten Zustand, als das vierköpfige Rettungsteam zu ihm stieß. Er hatte offenbar den Überlebens willen verloren. Er hatte keine Streichhölzer mehr und lag apathisch im Schlafsack, ohne etwas gegessen zu haben. Ja, er war so teilnahmslos geworden, daß er nicht mal aus dem Zelt gegangen war, um seinen Darm zu entleeren. Die Sherpas
versuchten, ihn aufzurütteln, aber er erklärte, er brauche noch einen Tag Ruhe, bevor er den Abstieg schaffen könne. Aber ohne Schlafsäcke konnten die Sherpas nicht in Lager VII bleiben, daher stiegen sie hinunter nach Lager VI. Sie waren entschlossen, Wolfe am nächsten Tag zum Abstieg zu bewe gen. Ein Sturm kam dazwischen. Erst am Tag darauf, am 31. Juli, brachen Pasang Kikuli, Pinsoo und Kitar wieder nach Lager VII auf. Sie ließen Tsering allein in Lager VI zurück, mit der Anweisung, Tee bereitzuhalten. Im Basislager war kaum etwas von dem mitzubekommen, was dort oben am Berg vor sich ging. Durrance sah drei Ge stalten, die knapp unterhalb von Lager VII den Schnee quer ten. Schließlich, am 2. August, kehrte ein verschreckter Tsering allein ins Basislager zurück. Er hatte Tee gekocht und gewar tet. Den ganzen Tag lang war kein Mensch aufgetaucht, und am nächsten Tag auch nicht. Danach hatte er es dort allein nicht mehr ausgehalten. Wiessner unternahm einen letzten Versuch, die Route doch zu bewältigen. Am 3. August brach er mit zwei Sherpas auf – und benötigte zwei Tage, um sich, wie er es nannte, nach Lager II »zu schleppen«. Am 5. August brach ein schwerer Sturm los, der dreißig Zentimeter Schnee ablud und jeglicher Hoffnung auf Rettung ein Ende setzte. Am 7. August kehrte die Expedition dem Berg den Rücken. Das Schicksal von Dudley Wolfe, Pasang Kikuli, Pinsoo und Kitar ist ungeklärt geblieben. Es mag sein, daß die Sherpas Wolfe erreicht haben, aber daß alle vier Männer in einer Lawi ne ums Leben gekommen sind. Oder sie starben bei einem Sturz am Seil ähnlich dem, den Wiessner gerade noch hatte aufhalten können. Von keinem der vier ist je eine Spur gefun den worden.
Teil II: Die Folgen Während Wiessners Abwesenheit Mitte Juli hatte sich die Stimmung im Basislager verschlechtert. Sheldon, Cranmer und Cromwell wollten nur noch nach Hause. Schließlich brachen Cranmer und Cromwell früher auf, als die Expedition endgül tig den Baltoro-Gletscher verließ, und überließen es Wiessner und Durrance, die Nachhut zu bilden. »Wir waren jeden Tag zusammen«, sagte Wiessner. »Dur rance kümmerte sich um mich, als wäre ich ein Baby. Er buk mir Pfannkuchen. Und jeden Tag sprachen wir lange mitein ander. Ich konnte einfach nicht begreifen, was am Berg ge schehen war. ›Ich verstehe nicht, Jack‹, sagte ich zu ihm, ›warum die Schlafsäcke nicht in den Zelten waren, entgegen all unseren Absprachen.‹ Er beteuerte immer wieder: ›Das lag an den Sherpas.‹ Ich hörte nicht auf zu fragen. Schließlich brüllte er los: ›Ach, Fritz! Hör auf! Hör endlich auf! Wir haben lange genug dar über geredet! ‹« Als die Männer in die Zivilisation zurückgekehrt waren, trennten sie sich. Der Zweite Weltkrieg war ausgebrochen. Wiessner reiste von Karatschi nach Port Said und nahm von dort einen Liniendampfer in die Vereinigten Staaten. Durrance reiste in die andere Richtung, über den Pazifik. Die beiden Männer sollten sich neununddreißig Jahre nicht wiedersehen. Nach seiner Rückkehr ging Wiessner in New York ins Krankenhaus. Die vielen Nächte, die er am K2 draußen ver bracht hatte, hatten böse arthritische Beschwerden in seinen Knien hervorgerufen. Er mußte sechs Wochen liegen. Durran ce kam nach New York, übernachtete in einem Hotel und
schickte ein paar Sachen an Wiessner ins Krankenhaus. Aber er besuchte ihn nicht. Ans Bett gefesselt, grübelte Wiessner immer wieder über die leer geräumten Lager nach. Er hatte nicht nur mit Durran ce gesprochen, sondern auch mit den Sherpas. Die schoben ihrerseits überwiegend Tendrup die Schuld zu, einem ihrer jüngeren Männer. Allmählich kam Wiessner zu dem Schluß, daß sich etwa Folgendes abgespielt haben mußte, nachdem er sich am 14. Juli von Durrance getrennt hatte. Durrance war direkt nach Lager II abgestiegen, Pasang Ki kuli und einen weiteren Sherpa hatte er mitgenommen. Dem nach blieben zwei Sherpas in Lager VI zurück. Ihnen schlossen sich dann die beiden an, die Wiessner runtergeschickt hatte. Kikuli hatte Tendrup zum Anführer dieser Gruppe bestimmt. Ihre Aufgabe war es, Lasten nach Lager VII und Lager VIII hinaufzutragen, um die Männer am Gipfel zu unterstützen. Tendrup kam jedoch mit Kitar von einem solchen Transport nach Lager VII zurück und behauptete, er sei sicher, daß die drei Männer an der Spitze der Expedition in einer Lawine umgekommen seien. Er drängte die Sherpas, sofort abzustei gen. Die anderen beiden nahmen ihm die Geschichte nicht ab und bleiben im Lager VI weg. Tendrup und Kitar stiegen hinunter nach Lager IV, wo sie auf Pasang Kikuli trafen, der ihnen ärgerlich befahl, wieder hochzusteigen. Folglich unter nahmen die beiden einen erneuten Vorstoß nach Lager VII. Von dort riefen sie nach Lager VIII hinauf, erhielten aber keine Antwort. Das Schweigen machte Tendrups Lawinengeschichte glaubhafter. Die vier Sherpas öffneten also die Zelte in Lager VII und verstreuten die Vorräte im Schnee – warum, ist ge nauso unerklärlich –, bevor sie mit den Schlafsäcken aus Lager
VI und Lager VII abstiegen. Im Basislager nannten die anderen Sherpas Tendrup einen Teufel, der die Expedition scheitern lassen wollte. Wiessner schloß jedoch, daß Tendrup weniger böswillig als schlicht faul war, daß er die Lawinengeschichte erfunden hatte, um keine weiteren Lasten tragen zu müssen. Selbst wenn das stimmt, erklärt es nur die fehlenden Schlaf säcke in Lager VI und Lager VII. Warum waren die Lager weiter unten am Berg ebenfalls ausgeräumt worden? Wiessner grübelte tagelang über diesen Punkt nach. Schließlich, so sagte er, fand er unter seinen persönlichen Papieren von der Expedi tion eine Notiz, die er zuvor übersehen hatte. Durrance hatte sie für ihn am 19. Juli in Lager II zurückgelassen. Nach Wiess ners Darstellung gratulierte Durrance ihm und Wolfe darin zur erfolgreichen Gipfelbesteigung, um dann zu erklären, er habe am Tag zuvor (also am 18. Juli, das heißt am Vorabend des ersten Gipfelversuchs von Wiessner und Pasang Lama) angeordnet, die Schlafsäcke aus den höher gelegenen Lagern und aus Lager IV und Lager II (19 Schlafsäcke insgesamt) ins Basislager zu bringen – im Hinblick auf die bevorstehende Rückreise der Expedition und um wertvolle Ausrüstung zu sparen. Indirekt brachte Durrance damit zum Ausdruck, er nehme an, Wiessner, Wolfe und Pasang Lama würden ihre Schlafsäcke den ganzen Weg von Lager IX selbst hinuntertra gen. Als Wiessner diese Notiz in Lager II gefunden hatte, war er zu erschöpft und emotional überfordert gewesen, um sie überhaupt zu verstehen. Jetzt, im Krankenhaus, erwies sie sich als das fehlende Teil des Puzzles. Wiessner meinte: »Wie ich schon anderen erzählt habe, war ich gar nicht besonders schlecht auf Durrance zu sprechen. Ich erwartete nur, daß ein Mann ehrlich sein sollte. Wäre er bloß zu mir gekommen und hätte gesagt: ›Es tut mir leid, Fritz, ich
habe einen Fehler gemacht. Ich wollte nur das Beste. Ich wollte die Schlafsäcke retten‹, hätte ich das akzeptiert, ohne ihm weiter böse zu sein.« Aber Durrance hat sich nie mit Wiessner abgesprochen. Nach Wiessners eigenen Angaben hat er die entscheidende Notiz in den Akten des Amerikanischen Alpenvereins AAC hinterlegt. Als er sie später suchte, war sie verschwunden. Einmal angenommen, Wiessners Interpretation ist richtig: Was kann Durrance nur dazu bewogen haben, dem Gipfeltrio so schamlos jegliche Unterstützung zu entziehen? Die defätisti sche Stimmung im Basislager muß zur allgemeinen Ungeduld, nach Hause zurückzukehren, beigetragen haben. Hinzu kam, daß die Schlafsäcke die wertvollsten Ausrüstungsgegenstände der gesamten Expedition waren. Wäre es Wiessner, Wolfe und Pasang Lama tatsächlich gelungen, den Gipfel zu erreichen, und hätten sie danach ohne Zwischenfall direkt absteigen können, hätten sie möglicherweise ihre eigenen Schlafsäcke bei sich gehabt, und die Schlafsäcke in den Zwischenlagern nicht gebraucht. Wenn man Tag für Tag im Basislager sitzt, ohne Nachricht von oben, ist das eine nervenaufreibende Angelegenheit: Man entwickelt nur zu leicht Theorien über das, was sich außer Sichtweite hoch am Berg abspielt. Mehr als ein Expeditionsleiter im Himalaja hat das Bedürfnis gespürt, die Zelte abzubrechen und nach Hause zu ziehen, während die Vorhut noch dort oben war. Eine andere Variante ist die, daß alle im Basislager Wiessners Gruppe für tot gehalten hatten, und die Überlebenden suchten nun die Ausrüstung zusammen. Cromwell gab das ja praktisch zu, als er Wiessner und Pasang Lama über den Gletscher taumelnd ankommen sah. Was geschehen ist, ist geschehen. Der Verlust von vier
Menschenleben am K2 ist eine Tragödie, aber Wiessners außergewöhnliche Leistung, nämlich daß er eine Höhe von 8380 Metern erreichte, ohne Sauerstoff und ohne leistungs starke Teamkameraden, außer den Sherpas, hätte allgemein als großartig bejubelt werden müssen. Statt dessen bahnte sich eins der traurigsten Kapitel in der amerikanischen Bergstei gergeschichte an. Der Amerikanische Alpenverein AAC leitete eine Untersu chung der Expedition unter dem Vorsitz mehrerer angesehe ner amerikanischer Bergsteiger ein. Offiziell sollten sie »den Weg zu einer besseren Handhabung der Risiken weisen, die bei der Besteigung großer Berge eingegangen werden«. Doch im Untersuchungsbericht waren allerlei unverschämte Schluß folgerungen zu lesen. So wurde behauptet, daß die »menschli che Betreuung« der Expedition »schwach« gewesen sei; es habe »keine klaren Absprachen« zwischen Durrance und Wiessner gegeben, als sie sich trennten; es sei eine »Fehlent scheidung« gewesen, die Sherpas in den mittleren Lagern allein zu lassen; und ein kranker Bergsteiger (vermutlich Wolfe, der eigentlich nicht krank war) hätte nicht sich selbst überlassen bleiben dürfen. Die Hauptschuld an all dem wurde Wiessner zugeschoben. Auf der anderen Seite entlastete das Komitee Durrance praktisch völlig. Der Alpenverein schickte einen Brief mit einer Zusammenfassung des Berichts an seine Mitglieder. Er endete damit, daß der AAC sich selbst beglückwünschte, mit der Untersuchung einen »wertvollen Beitrag« zur Hilfe stellung geleistet zu haben, »wenn wieder Expeditionen in den Himalaja unternommen werden«. Es gab zwei bedeutsame Gegenstimmen. Eine stammt von
Al Lindley, dem erfahrenen Bergsteiger, der von der Expediti on zum K2 zurücktreten mußte, kurz bevor die Gruppe nach Pakistan aufbrach. Lindley argumentiert schlüssig, daß Wiess ner in dem Bericht höchst ungerecht behandelt werde, aus dem einfachen Grunde, weil »die Handlungsweise der Sher pas und von Durrance – nämlich die Lager auszuräumen – die Hauptursache des Unfalls war, daß andere Ursachen neben sächlich erscheinen«. Die zweite Gegenstimme kam von Ro bert Underhill, der mehr als jeder andere Amerikaner die Techniken des Alpinismus nach Amerika gebracht hatte. Underhills lange Gegendarstellung schließt mit folgenden Worten: Was mich am meisten beeindruckt, ist der Umstand, daß [Wiessner] bei dem schlechten Wetter, der mörderischen Plackerei und den gewaltigen Enttäuschungen immer noch nicht aufgab. Mit Ausnahme von Wolfe hatte der Rest der Gruppe verständlicherweise die Nase voll – frustriert durch die Umstände; gegen Ende wollten alle nur noch weg und nach Hause. Wiessner, mit Wolfe hinter sich, war der einzige, der immer noch den Berg besteigen wollte. Es liegt mir fern, die anderen anzuklagen; ich weiß nur zu gut, wäre ich selbst dort gewesen, hätte ich bestimmt genauso gefühlt wie sie, und vermutlich schon um einiges früher. Aber das zwingt mich geradezu, Wiessner um so mehr zu bewundern. Er hatte den Mut, und es gibt keine Eigenschaft, die für sich genommen prächtiger wäre – in einem Bergsteiger oder überhaupt in einem Menschen.
Solche klugen Rechtfertigungen stießen jedoch auf taube Ohren. Im November 1941 trat Wiessner aus dem AAC aus. Um die Härte der amerikanischen Reaktion zu verstehen, muß man sich an das Klima der dreißiger Jahre erinnern. Die Briten, die den Alpinismus ein Jahrhundert zuvor sozusagen erfunden hatten, wurden als Bergsteiger immer konservativer. Die besten Touren in den Alpen wurden von Deutschen ge macht, von Österreichern und von Italienern. Als die politi schen Spannungen zwischen Großbritannien und Deutschland in den dreißiger Jahren zunahmen, begannen britische Berg steiger, ihre deutschen Kollegen als selbstmörderisch und leichtsinnig zu schmähen. Die gefährlichste Kletterpartie überhaupt war vor dem Krieg die Nordwand des Eiger, wo die besten Alpinisten Europas um die Erstbesteigung wettei ferten – um den Preis von Menschenleben. Als vier Deutsche 1938 erfolgreich waren, verlieh Hitler ihnen Medaillen. Jene sympathischen jungen Männer waren völlig unpolitisch; dennoch wurden sie und ihre Brüder in einer sauertöpfischen Reaktion als fanatische Nazis abgestempelt, die ihr Leben an Nordwänden riskierten, allein zum Ruhm von Führer und Vaterland. In dieser unerfreulichen Auseinandersetzung tendierten die amerikanischen Bergsteiger, die technisch Jahrzehnte hinter ihren europäischen Kollegen zurücklagen, dazu, mit den Briten zu sympathisieren. Fritz Wiessner war ein Deutscher – auch wenn er 1929 nach Amerika emigriert war, lange bevor Hitler an die Macht kam; er war ein sehr viel besserer Berg steiger als jeder andere in Nordamerika; und er war bereit, größere Risiken einzugehen als amerikanische Bergsteiger. Unter diesem Blickwinkel stellt sich die Reaktion des AAC auf Wiessners Expedition zum K2 als institutioneller Konserva
tismus, gefärbt vom Chauvinismus des beginnenden Krieges, dar. Das Trauerspiel erreichte seinen Tiefpunkt ein paar Monate später, nachdem Wiessner aus dem Krankenhaus entlassen worden war. »Eines Tages sagte mir die Sekretärin in meinem New Yorker Büro, daß zwei Männer vom FBI da gewesen seien«, erinnerte sich Wiessner. »Ich ging im FBI-Büro vorbei und traf dort zwei sehr nette junge Männer – beide hatten an der Universität Yale studiert. Wir setzten uns und redeten miteinander. Sie wollten alles mögliche über mich wissen, und sie stellten die seltsamsten Fragen. Zum Beispiel: ›Sie gehen im Winter oft in Stowe Ski fahren, nicht wahr? Das ist ganz in der Nähe der kanadischen Grenze, nicht? Könnten Sie dabei möglicherweise die Grenze überschreiten?‹ Ich sagte: ›Natürlich. Zu Fuß ist es eine ganz schöne Entfernung, aber ich bin sowieso ziemlich oft in Kanada, weil ich in Toronto eine Firma habe.‹ Und sie lachten. Ich war damals nicht besonders begeistert von Roosevelt. Also fragten sie: ›Sie mögen den Präsidenten nicht? Sie haben da einige Bemerkungen gemacht…‹ Ich sagte: ›Nun, da bin ich wohl nicht der einzige. Es gibt eine ganze Menge Leute, die so denken!‹ Wieder lachten sie. Und sie fragten nach einigen meiner Freunde. Wir saßen eine halbe Stunde beisammen, unterhielten uns nur noch freundschaftlich. Als ich ging, sagte ich: Jetzt hört mal, ihr zwei, ich war ziemlich offen zu euch. Ich habe da einen be stimmten Verdacht. Würdet ihr mir bitte die Namen derjeni gen nennen, die euch zu mir geschickt haben?‹ Sie antworte ten: Selbstverständlich können wir das nicht tun.‹ Also fuhr ich fort: ›Laßt mich nur die eine Frage stellen: Waren es Berg
steiger vom AAC?‹ Sie nickten und sagten: ›Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Wissen Sie, wen wir gestern hier hatten? Ezio Pinza, den berühmten Opernsänger. Es war genau das gleiche: ein kleines bißchen Eifersucht von der Konkurrenz. Sie behaupteten, er sei ein Anhänger Mussoli nis.‹« Wiessner konnte jetzt über diese Episode Witze machen, aber es muß doch eine bedrückende Erfahrung gewesen sein. Die K2-Expedition des Jahres 1939 gehörte mehr und mehr der Vergangenheit an. 1956 veröffentlichte Wiessner in der Zeitschrift Appalachia einen kurzen, zurückhaltenden Bericht über die Tour aus seiner Sicht. Der Herausgeber forderte alle Leser, die anderer Meinung seien, auf, sich zu melden. Nie mand reagierte. Bedauerlicherweise nahm die Expedition auf Dauer einen etwas zwielichtigen Platz in der Bergsteigergeschichte ein. Am schlimmsten wurde es, wenn die im Rückblick nur allzu selbstgerechte kritische Analyse der Briten sich behauptete. So konnte Kenneth Mason in seinem Buch Abode of Snow im Anschluß an eine völlig entstellte Zusammenfassung der Ereignisse am K2 predigen: »Es fällt schwer, in maßvoller Sprache über die Dummheit dieser Unternehmung zu berich ten.« Wiessner hielt sich überwiegend aus der Kontroverse her aus. 1945 heiratete er die Amerikanerin Muriel Schoonmaker. Gemeinsam mit ihr unternahm er fast vierzig Jahre lang aus gedehnte Reisen und Bergtouren. Die Tochter der beiden, Polly, ist Wissenschaftlerin: Anthropologin, der Sohn Andrew Berater des Abgeordneten John Seiberling. Die meisten Bergsteiger lassen deutlich nach, wenn sie über
vierzig sind, oder sie hören sogar ganz auf. Wiessner kletterte seit siebzig Jahren immer wieder. In den Vereinigten Staaten erkundete er Routen im ganzen Land. Richard Goldstone sagt: »Da gibt es irgendwo ein paar Klippen in den Wäldern – die Leute stoßen darauf und glauben, sie haben sie entdeckt. Aber dann finden sie einen rostigen alten Kletterhaken weit oben auf der Route. Fritz war da – in den vierziger Jahren.« Mit über siebzig Jahren konnte Wiessner Touren im VI. Schwierigkeitsgrad noch ohne Probleme vorsteigen. Selbst im Alter von 84 Jahren, behindert von Gelenkbeschwerden, die ihn seit 1939 plagen, und nach einem Herzanfall bei einer Tour in Frankreich 1969, kann Wiessner einige dieser Routen im Nachstieg bewältigen. Und er fährt regelmäßig in die Sha wangunks im Staat New York und klettert solo einfache Rou ten hinauf und hinunter, die er vor vierzig Jahren »entdeckte«. In diesem Alter solche Standards aufrechtzuerhalten, dürfte in der Bergsteigergeschichte ohne Beispiel sein. 1966 überredeten eine Reihe von AAC-Mitgliedern, ange führt von Bill Putnam, Andy Kauffman und Lawrence Coveney, Wiessner, dem Verein wieder beizutreten. Bald darauf machte ihn der AAC zum Ehrenmitglied auf Lebenszeit, eine Geste, die dazu beitrug, das Unrecht wieder gutzumachen, das Wiessner angetan worden war. Im Dezember 1978 fand der alljährliche AAC-Empfang in Estes Park, Colorado, statt. Im Sommer zuvor hatten vier Amerikaner endlich den Gipfel des K2 erreicht. In den DiaVorträgen, die bei dem Treffen gezeigt werden sollten, stand daher der K2 im Mittelpunkt, und Jack Durrance, der ganz in der Nähe in Denver wohnt, wurde als Referent eingeladen. Wiessner erfuhr von diesem Vorhaben und kehrte von einer
Konferenz in Europa eigens früher zurück, um in Estes Park anwesend zu sein. Der Autor dieses Artikels, der ebenfalls zugegen war, erinnert sich lebhaft an das, was sich abgespielt hat. Den ganzen Tag lang kursierten Gerüchte, daß es jetzt zu der lang erwarteten Konfrontation kommen würde. Endlich würde Durrance »seine Seite« der Geschichte erzählen. In der Zwischenzeit überredete ein Veteran der K2-Expedition von 1953 Wiessner und Durrance, einander zu begrüßen. So be gegneten sie sich zum ersten Mal, seit sie sich 1939 in Indien getrennt hatten. Die Begegnung war extrem kurz. Ein paar alte Hasen vom AAC nahmen Durrance beiseite. Sie baten ihm, keine Bemerkungen zu machen, die Wiessner verärgern könnten. Dabei vertraten sie die Ansicht, daß – was für schmutzige Wäsche auch immer von 1939 liegengeblieben sein mochte – dieses Treffen zur Feier des amerikanischen Erfolges am K2 weder der richtige Ort noch der richtige Zeit punkt sei, um sie zu waschen. Durrance gab nach. Sein DiaVortrag begleitete die Expedition bis ins Basislager und endete dann abrupt mit einem Foto von ihm selbst, im »Ruhestand« in einer Hütte in der Nähe der Tetons. Später, beim Essen, wurde Wiessner durch einen Trink spruch besonders geehrt, in Anerkennung der vielen Jahre, die er der Bergsteigerei gewidmet hat. Alle versammelten AACMitglieder war zutiefst gerührt, und die Menge erhob sich und klatschte begeistert – mit Ausnahme von Durrance, der mit finsterem Gesichtsausdruck sitzen blieb. Als ich für diesen Artikel recherchierte, fragte ich Jack Durrance nach seiner Version der Ereignisse. Obwohl er seine Geschichte nie öffentlich erzählt hatte, willigte er in ein
Interview ein, in dessen Verlauf sich seine Sicht der Dinge herauskristallisierte. Später zog Durrance jedoch die Erlaubnis zur Veröffentlichung des Interviews zurück. Mehr als vierzig Jahre lang war die Expedition zum K2 umgeben von einem Nebel der Kritik und der Gerüchte. Dennoch sind junge Bergsteiger auf der ganzen Welt zu einer Einschätzung der Ereignisse gelangt, die relativ frei ist von den Vorurteilen der dreißiger Jahre. Und sie sind fast immer einhellig voller Bewunderung und Ehrfurcht. Wiessner war seiner Zeit weit voraus. Seine Weigerung, weder Sauerstoff noch Funkgeräte mitzunehmen – zu seiner Zeit als verschroben kritisiert –, erscheint heute als kompro mißloses Beispiel einer hohen Gesinnung des »Clean Clim bing«. Die logistische Organisation des Gipfelansturms war durch und durch brillant. Das gute Wetter trug dazu bei, daß die Expedition so weit nach oben gelangen konnte, aber die grundsolide Ausstattung der Lager mit Zelten, Nahrungsmit teln und Brennstoff war lehrbuchreif – das hatte noch keine andere Expedition im Himalaja zustande gebracht. Das Erstaunlichste dieser Leistung aber ist, daß Wiessner sie mit nur einem körperlich belastbaren amerikanischen Team kameraden und mit einer Gruppe engagierter Sherpas voll brachte. Die anderen vier Sahibs waren lediglich am Rande hilfreich und blieben weiter unten am Berg. Ebenso erstaun lich ist der Umstand, daß Wiessner auch noch das letzte Stück der Tour selbst führte. Bei zeitgenössischen Expeditionen zum Everest konnte die Route nur durch verschiedene Teams realisiert werden, von denen eins immer weiter gelangte als das vorherige. Am K2, im Jahre 1939, tat ein Mann, »in der besten Verfassung meines Lebens«, jeden Schritt auf jungfräu
liches Gelände selbst. Dann, auf dem höchsten Punkt, war er bereit, die Nacht durchzuklettern, um den Gipfel zu erreichen – ein Kraftakt, den noch niemand zuvor im Himalaja gewagt hatte. Er hatte noch höchstens zweihundertdreißig Meter vor sich. Wie spätere Gruppen feststellten, waren diese letzten zweihun dertdreißig Meter zum größten Teil eine leichte Tour über einen verschneiten Grat. Es ist möglich, daß Wiessner viel leicht doch die Kraft gefehlt hätte, dieses letzte Stück zu be wältigen, aber es bleibt wohl wahrscheinlicher, daß er es geschafft hätte. Fünfundvierzig Jahre nach seiner Entscheidung vom späten Nachmittag des 19. Juli fragte Wiessner sich immer wieder, ob er einen Fehler gemacht hatte. Er überlegte, was er wohl tun würde, hätte er noch einmal die Chance – in dem Moment, als Pasang Lama stehenblieb und das Seil sich spannte. »Wenn ich in so großartiger Verfassung wäre wie damals«, sagt er, »wenn der Standplatz meines zweiten Mannes sicher wäre, wenn das Wetter gut wäre, wenn ich eine solche Nacht vor mir hätte wie jene Nacht damals, mit Mondschein und ohne Wind, wenn ich sehen könnte, was vor mir liegt, wie damals – dann würde ich mich vielleicht losbinden und allein gehen.« Wiessner machte eine Pause, in Gedanken ganz in der Vergangenheit. »Aber ich werde wirklich schwach, wenn ich das Gefühl habe, daß mein zweiter Mann leiden muß. Er war so ängstlich, und ich mochte ihn gern. Er war mein Kamerad, und er hatte seine Sache so gut gemacht.«
Glossar
Abseilen: Methode, beim Abstieg einen Abhang oder eine
Felswand zu überwinden, indem man ein Seil mit einem
Bremsgerät verwendet, um die Abwärtsbewegung zu verlang
samen.
Alpinstil: Technik des Bergsteigens, bei der es darum geht,
den Gipfel schnell, mit wenig Ausrüstung und möglichst
geringem Expeditionsaufwand zu erreichen. In den letzten
Jahren ist dieser Stil zur Routine geworden, selbst an Gipfeln
und auf Routen, die ehemals nur von Expeditionen mit einer
Vielzahl von Lagern unter Zuhilfenahme von Fixseilen und
mit einer gewaltigen Schar Träger in Angriff genommen
wurden.
Arete: Steiler, schmaler Grat.
Bergschrund: Kluft oder Spalte zwischen Gletscher und Fels.
Biwak: Improvisiertes oder unzureichendes Nachtlager, das
nur unbedeutenden, minimalen Schutz bietet, beispielsweise
ein Loch im Schnee oder ein »Biwaksack«.
Col: Ein Paß oder eine Senke auf einem Grat.
Couloir: Eine offene Rinne.
Cwm: Walisisches Wort für Cirque, im Deutschen Kar; ge
meint ist ein natürliches Amphitheater, häufig am geschlosse
nen Ende eines Tales.
Felshaken: Keil aus Metall, der in eine Felsspalte geschlagen
wird, um als Fixpunkt oder Sicherung zu dienen.
Fixpunkt: Natürliches Geländemerkmal oder künstliche
Vorrichtung, die Bergsteiger und Ausrüstung am Berg hält.
Fixseile: Seile, die beim Bergsteigen an Ort und Stelle bleiben,
um den Mitgliedern des Teams Schutz oder Hilfestellung zu
bieten, wenn sie eine lange Route am Berg auf- oder absteigen.
Gletscherspalte: Ein Riß, der durch Gletscherbewegung
entsteht. Gletscherspalten sind besonders gefährlich, wenn sie
von Schnee bedeckt sind.
Jumar: Seilklemme, mit deren Hilfe Bergsteiger Fixseile in
steilem Gelände hinaufklettern.
Kamin: Spalte in Fels oder Eis, die so breit ist, daß man hinein
steigen und darin hochklettern kann.
Karabiner: Verbindungsöse mit Schnappverschluß aus
Leichtmetall, die beim Klettern zum Beispiel dazu dient, den
Bergsteiger am Fixpunkt sicher einzuhängen.
Moräne: Geröll, Steine, Sand und dergleichen, die durch
Gletscherbewegung angehäuft werden.
Queren: Klettern auf einer waagerecht verlaufenden Route.
Seillänge: Kletteretappe zwischen zwei Standplätzen.
Serac: Ein großer Eisblock, eine Eisnadel oder ein Eisturm.
Sichern: Vorgang, bei dem ein Bergsteiger, der Sicherungs
mann, das Seil, das an dem kletternden Mitglied des Teams
befestigt ist, so bedient, daß ein Sturz gegebenenfalls gebremst
bzw. aufgefangen werden kann. Der Sicherungsmann seiner
seits ist über einen Fixpunkt gesichert und hat möglichst festen
Stand am Berg, so daß er Halt findet, sollte es zu einem star-
ken Zug am Seil kommen.
Sicherungsmittel: Natürliche Geländemerkmale, Haken oder
andere technische Hilfsmittel, die verwendet werden, um eine
Kletterroute für den Vorsteiger zu sichern. Ein Vorsteiger, der
sich oberhalb seines Sicherungsmanns bewegt, kann sich
schützen, indem er ein Sicherungsmittel im Fels, Eis oder Schnee plaziert und dann sein Seil durch einen Karabiner laufen läßt, der an dem Sicherungsmittel befestigt ist. Spindrift: Pulverschnee, vom Wind oder kleinen Lawinen durch die Luft gewirbelt. Verglas: Dünne Schicht Wassereis auf Fels. Wächte: Schneemasse, die über den Rand eines Grates oder einer Klippe vorsteht. Es passiert immer wieder, daß Bergstei ger durch eine Wächte hindurchtreten.
Danksagung
Viele Menschen haben zum Entstehen dieser Anthologie beigetragen. Neil Ortenberg und Susan Reich gaben entscheidende Un terstützung und Sachkenntnis. Dan, Ghadah und Jeri erwiesen sich ebenfalls als unverzichtbar. Sue Canavan hat gewaltig gearbeitet, um das Ganze fertig zu bekommen; ihre freundli che Art ist ebenso beeindruckend wie ihr sicherer Geschmack. Tom Dyja und F-Punkt Fitzgerald stellten großzügig ihre Zeit und ihre Beziehungen zur Verfügung, um die Abdruckge nehmigungen für einige der ausgewählten Texte zu erhalten. Maria Fernandez, Mike Walter und Aram Song hielten alles im Gange. Zahllose Bibliothekare halfen uns, viele, viele Bücher zu finden. Karla Sigel gebührt besonderer Dank. Megan Murphy hat Bücher, Abdruckgenehmigungen und Fakten zusammen getragen. Mark Klimek half bei der Organisation und hat zusammen mit Nate Hardcastle und Shawneric Hachey dan kenswerterweise bei verschiedenen Projekten ausgeholfen, während ich Bücher las. Viele Agenten, Lektoren und andere Leute haben dieses Projekt unterstützt. Nick Lyons und Mary Metz verdienen besondere Erwähnung. Ellen Brodkey sorgte dafür, daß wir die Genehmigungen zum Abdruck einiger wichtiger Texte schnell erhielten. Danke auch für freundschaftliche Unterstützung und guten Rat an John Climaco, Mike Jewell, Anne McFarlain, Judy Mello, Jay Schwamm und an meinen Bruder Perry Willis. Meine Söhne, Abner Willis und Harper Willis, retten für mich den Tag –
jeden Tag. Jennifer Willis hat mehr für dieses Buch gearbeitet als alle anderen: Sie hat Material gesammelt, bei der Auswahl der Texte geholfen, Rechte zurückverfolgt, über Genehmigun gen zum Abdruck verhandelt, Verträge erarbeitet und alles übrige getan, was getan werden mußte. Ich kann mich über eine solche Großzügigkeit nur wundern, aber sie ist einfach immer so. Es hat sich gelohnt, dieses Buch zu machen, schon allein wegen der erfreulichen Zusammenarbeit mit Will Balliett. Er hat immer recht, und ich bin immer seiner Ansicht. Schließlich danke ich den Autoren, deren Texte auf diesen Seiten erscheinen.
Quellennachweis
Der Verlag dankt allen Rechteinhabern, die zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben. Wir haben uns sehr bemüht, sämtliche Rechteinhaber ausfindig zu machen. Sollte uns dabei ein Fehler unterlaufen sein, bitten wir darum, sich mit dem Verlag in Verbindung zu setzen, damit wir in zukünftigen Auflagen eventuelle Korrekturen vornehmen können. * We gratefully acknowledge all those who gave permission for written material to appear in this book. We have made every effort to trace and contact Copyright holders. If an error or ommission is brought to our notice we will be pleased to remedy the Situation in future editions of this book. For further information, please contact the publisher. Clint Willis, »Einleitung«. Aus dem Amerikanischen von Susanne Naumann und Sieglinde Denzel. Copyright der deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München. Originaltitel: »Introduction«. Copyright © 1999 by Clint Willis. Auszug aus Matt Dickinson, Drama am Mount Everest: Eine Expedition kämpft gegen den Tod. Aus dem Amerikanischen von Anja Giese. Copyright der deutschen Ausgabe © 1999 by Droemer Knaur Verlag, München. Originaltitel: The Other Side of Everest. Copyright © 1997, 1999 by Matt Dickinson.
Auszug aus Jim Haberl, K2: Traum und Wirklichkeit. Aus dem Amerikanischen von Susanne Naumann und Sieglinde Den zel. Copyright der deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München. Originaltitel: K2: Dreams and Reality. Copyright © 1994 by Jim Haberl. Auszug aus Chris Bonington, Everest: Ein harter Brocken. Aus dem Englischen von Jutta Deutmarg. Copyright der deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München. Originaltitel: Everest the Hard Way. Copyright © 1976 by the British Everest Expedition 1975 / Barclays Bank International. Auszug aus Walter Bonatti, In der Höhe. Aus dem Englischen von Susanne Naumann und Sieglinde Denzel. Copyright der deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München. Titel der englischen Ausgabe: On the Heights. Italienischer Originaltitel: Le mie montagne. Copy right ©1961 by Walter Bonatti. Auszug aus Chris Bonington / Charles Clarke, Der unbezwing bare Gipfel. Aus dem Englischen von Jutta Deutmarg. Copy right der deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München. Originaltitel: Everest: The Unclimbed Ridge. Copyright © 1983 by Jardine, Matheson & Co. Auszug aus Alan Burgess / Jim Palmer, Mount Everest: Die große Herausforderung. Aus dem Amerikanischen von Jutta Cram. Copyright der deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München. Originaltitel:
Everest Canada: The Ultimate Challenge. Copyright © 1983 by the Canadian Mount Everest Society. Auszug aus Maria Coffey, Zerbrechliche Grenze. Aus dem Englischen von Susanne Naumann und Sieglinde Denzel. Copyright der deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH 8c Co. KG, München. Originaltitel: Fragile Edge. Copyright © 1989 by Maria Coffey. Auszug aus Charles S. Houston / Robert H. Bates, In 8000 Meter Höhe. Aus dem Amerikanischen von Jutta Cram. Copy right der deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München. Originaltitel: Five Miles High. Copyright © 1939 by Charles S. Houston / Robert H. Bates. Auszug aus Galen Rowell, Im Thronsaal der Berggötter. Aus dem Amerikanischen von Susanne Naumann und Sieglinde Denzel. Copyright der deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München. Originaltitel: In the Throne Room of the Mountain Gods. Copyright © 1986 by Galen Rowell. Auszug aus Rick Ridgeway, Der letzte Schritt. Aus dem Ame rikanischen von Andreas Garbe. Copyright der deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München. Originaltitel: The Last Step. Copyright © 1980 by the 1978 American K2 Expedition.
Reinhold Messner, »An meiner Grenze: Erste Alleinbesteigung des Mount Everest«. Copyright © 1989 by Piper Verlag GmbH, München. Auszug aus Ed Webster, Schnee im Königreich: Meine Sturmjahre am Everest. Aus dem Amerikanischen von Susanne Naumann und Sieglinde Denzel. Copyright der deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München. Originaltitel: Snow in the Kingdom: My Storm Years on Everest. Copyright © 1998 by Ed Webster. Auszug aus Brummie Stokes, Soldaten und Sherpas: Aus Freude am Abenteuer. Aus dem Englischen von Ute Mareik. Copyright der deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München. Originaltitel: Soldiers and Sherpas: A Taste for Adventure. Copyright © 1988 by Brummie Stokes. Auszug aus F. S. Smythe, Lager VI: Ein Bericht von der EverestExpedition 1933. Aus dem Englischen von Susanne Naumann und Sieglinde Denzel. Copyright der deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München. Originaltitel: Camp Six: An Account of the 1933 Everest Expedition. Copyright © 1934 by The Estate of Frank Smythe. Auszug aus Lene Gammelgaard, Die letzte Herausforderung: Wie ich die Tragödie am Mount Everest überlebte. Aus dem Ame rikanischen von Annika Tschöpe. Copyright der deutschen Ausgabe © 1999 by Verlagshaus Goethestraße GmbH & Co.
KG, München. Titel der amerikanischen Ausgabe: Climbing High. Dänischer Originaltitel: Everest: vejen til toppen. Copy right © 1999 by Lene Gammelgaard. Auszug aus Charles S. Houston / Robert H. Bates, K2: Der wilde Berg. Aus dem Amerikanischen von Johannes Sabinski. Copy right dieser deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München. Originaltitel: K2: The Savage Mountain. Copyright © 1954, 1979, 1997 by Charles S. Houston / Robert H. Bates. David Roberts, »Rätsel am K2«. Aus dem Amerikanischen von Ute Mareik. Copyright der deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München. Origi naltitel: »The K2 Mystery«. Copyright © 1986 by David Rob erts. Clint Willis, »Glossar«. Aus dem Amerikanischen von Ute Mareik. Copyright der deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München. Originaltitel: »Glossary«. Copyright © 1999 by Clint Willis. Clint Willis, »Danksagung«. Aus dem Amerikanischen von Ute Mareik. Copyright der deutschen Übersetzung © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München. Origi naltitel: »Acknowledgements«. Copyright © 1999 by Clint Willis.
Bibliographie
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Houston, Charles S. / Bates, Robert H. K2: The Savage Mountain. New York: McGraw-Hill, 1954. Messner, Reinhold. »An meiner Grenze: Erste Alleinbesteigung des Mount Everest«. In: Ders. Die Freiheit, aufzubrechen, wohin ich will. Ein Bergsteigerleben. München: Piper, 1997. Ridgeway, Rick. The Last Step. Seattle: The Mountaineers, 1980. Roberts, David. »Rätsel am K2«. Aus dem Amerikanischen von Ute Mareik. Das Original erschien unter dem Titel »The K2 Mystery«. In: Moments of Doubt and Other Mountaineering Writing. Seattle: The Mountaineers, 1986. Rowell, Galen. In the Throne ofthe Mountain Gods. San Francisco: Sierra Club Books, 1986. Smythe, F. S. Camp Six: An Account of the 1933 Everest Expedition. London: Hodder & Stoughton, 1934. Stokes, Brummie. Soldiers and Sherpas: A Taste for Adventure. London: Michael Joseph, 1988. Webster, Ed. Snow in the Kingdom: My Storm Years on Everest. Eldorado Springs (CO): Mountain Imagery, 1998.