Arbeit gegen Armut: Grundlagen, historische Genese und empirische Überprüfung des Armutsfallentheorems

Ronald Gebauer Arbeit gegen Armut

Ronald Gebauer

Arbeit gegen Armut Grundlagen, historische Genese und empirische Überprüfung des Armutsfallentheorems

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1. Auflage Januar 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Monika Mülhausen / Tanja Köhler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15222-6

Danksagung

Diese Dissertation wäre ohne die direkte und indirekte Unterstützung von Personen in meinem universitären und familiären Umkreis nicht zustande gekommen. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Mein besonderer Dank gilt Professor Dr. Georg Vobruba, der mir während der gesamten Zeit der Arbeit mit Rat und konstruktiver Kritik zur Seite stand. Auch bei Organisatoren und Teilnehmern von Kolloquien und Veranstaltungen an den Universitäten Leipzig und Göttingen und am IAB Nürnberg, die mir die Gelegenheit gaben, mein Dissertationsvorhaben vorzustellen, möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Das gleiche gilt für die Mitarbeiter und Kollegen des SFB 580 „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch.“ in Jena und Halle – hier besonders Professor Dr. Best, Professor Dr. Hornbostel, Dr. Remy, Dr. Mestrup und M.A. Salheiser. Obwohl inhaltlich in ganz andere Forschungszusammenhänge eingebunden, war es mir durch Ihre Geduld und Ihr Verständnis möglich, die Arbeit an dieser Dissertation erfolgreich zu Ende zu bringen. Vor allem möchte ich mich bei Sylke bedanken, die mir durch Ihre Liebe und Aufgeschlossenheit sehr viel Kraft gab. Mein Dank gilt ebenso meinen Eltern und anderen Personen aus meinem familiären Umkreis für Ihren engagierten Beistand.

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Inhalt

Einleitung............................................................................................................ 21 1. Die Struktur des Verhältnisses von Armut und Arbeit ............................. 27 1.1 Die Armutsfalle ......................................................................................... 27 1.2 „Arbeit gegen Armut“ als ein wesentliches Kennzeichen des modernen ökonomischen Denkens ...................................................................... 29 1.3 Forschungsfragen zum Verhältnis zwischen Arbeit und Armut in den vormodernen europäischen Gesellschaften ............................................... 30 1.4 Arbeit und Armut in der Antike und Spätantike ....................................... 31 1.5 Frühchristliche Vorstellungen zu Arbeit und Armut................................. 34 1.6 Das frühe Mittelalter: Arbeit als Pflicht der Bevölkerungsmehrheit – Armut als unabänderliches Schicksal ........................................................ 39 1.7 Die hochmittelalterliche Wertschätzung von Armut und der Bedeutungsgewinn von Arbeit .................................................................. 42 1.8 Veränderungen im hoch- und spätmittelalterlichen kirchlichen Legitimationsapparat ................................................................................. 45 1.9 Die Armuts- und Arbeitsrezeption zu Beginn der Neuzeit als Hintergrund für die Herausbildung der ökonomischen Theorie.......................... 47 1.10 Zwischenergebnis .................................................................................... 53 2. Freiwillige und unfreiwillige Arbeitslosigkeit in den Konzepten der modernen Wirtschaftstheorie....................................................................... 57 2.1 Keynesianische Wirtschaftsthorie ............................................................. 57 2.2 Freiwillige und Unfreiwillige Arbeitslosigkeit ......................................... 59 2.3 Unfreiwilligkeit von Arbeitslosigkeit und die Weiterentwicklung der keynesianischen Wirtschaftstheorie .......................................................... 63 2.4 Zwischenergebnis ...................................................................................... 71 3. Arbeitslosigkeit und „Armutsfalle“ ............................................................. 73 3.1 Die Schnittstelle Arbeitsmarkt-System sozialer Sicherheit als Desiderat einer ökonomischen Theorie der Sozialpolitik..................................... 73 7

3.2 Die Unterscheidung zwischen Arbeitslosigkeits- und Armutsfalle als zusätzliche Differenzierungslinie in Armutsfallen-Konzepten ................. 75 3.3 Freiwillige und unfreiwillige Arbeitslosigkeit als zusätzliche Differenzierungslinie in Armutsfallen- Konzepten ................................... 80 3.4 „Freiwillige Arbeitslosigkeit“ und „Armutsfalle“..................................... 82 3.5 „Unfreiwillige Arbeitslosigkeit“ und „Armutsfalle“................................. 88 3.6 Zwischenergebnis ...................................................................................... 93 4. „Armutsfalle“, Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II.................................... 95 4.1 Die Anrechnung von Erwerbseinkünften in der früheren Sozialhilfe ....... 95 4.2 Die Anrechnung von Erwerbseinkünften nach der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ............................................................. 97 4.3 Die Anrechnung von Erwerbseinkünften auf das Arbeitslosengeld II nach der Reform der Reform ................................................................... 101 4.4 Vergleich der nach Anrechnung verbleibenden Netto-Hinzuverdienste................................................................................................. 103 4.5 Zwischenergebnis .................................................................................... 106 5. Die Armutsfalle im interdisziplinären Kontext ........................................ 109 5.1 Rational-Choice-Argumente.................................................................... 111 5.2 Funktionale Schichtungstheorie .............................................................. 116 5.3 Kultur der Armut/Kultur der Abhängigkeit............................................. 119 5.4 „Expectancy-Value”, „Learned Helplessness“ und Psychosoziales Modell...................................................................................................... 123 5.5 Synopse der sozialwiss. Ansätze zu „Welfare Dependency“.................. 128 5.6 Zwischenergebnis .................................................................................... 132 6. Stand der empirischen Forschung ............................................................. 133 6.1 Die Entwicklung der dynamischen Armutsforschung in der Bundesrepublik Deutschland................................................................... 135 6.2 Einkommensarmut und Einkommensdynamik........................................ 136 6.3 Die Entscheidung für oder gegen Sozialhilfe: Verdeckte Armut und Sozialhilfebezug ...................................................................................... 139 Exkurs: Working Poor in der Bundesrepublik Deutschland ................... 150 6.4 Sozialhilfe: Armutsfalle oder Durchgangsstation?.................................. 151 6.5 Nachhaltigkeit des Wechsels in Beschäftigung....................................... 160 6.6 Zwischenergebnis .................................................................................... 162

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7. Zusammenstellung der Stichprobe „Erwerbsfähige Personen in Sozialhilfe-Haushalten 1991-1999“ aus den Daten des SOEP................. 165 7.1 Das Sozialhilfekalendarium des Sozio-oekonomischen Panels .............. 166 7.2 Generierung und deskriptive Auswertung der Stichprobe „Erwerbsfähige Personen in Sozialhilfe-Haushalten 1991-1999“.......................... 170 8. Gibt es eine Armutsfalle in der bundesdeutschen Sozialhilfe? ............... 183 9. Konfirmative Datenanalysen ...................................................................... 193 9.1 Hypothesen zum Einfluss relevanter Faktoren auf die Sozialhilfedauer ................................................................................................. 193 9.1.1 Arbeitskraftangebot („Rewards“) ......................................................... 193 9.1.2 Arbeitskraftnachfrage („Ressources“).................................................. 197 9.1.3 Herkunft ................................................................................................ 198 9.1.4 Familienereignisse ................................................................................ 199 9.2 Vergleich der gerechneten Modelle auf Grundlage der LikelihoodRatio-Tests............................................................................................... 200 9.3 Überprüfung der Hypothesen .................................................................. 204 9.4 Zusammenfassung der Ergebnisse der Verlaufsdatenanalyse................. 221 10. Konsequenzen der empirischen Befunde: Entwicklung und Verbesserung dynamischer Entscheidungsmodelle der Arbeitsmarktentscheidungen von Sozialleistungsbeziehern ................. 223 10.1 Erweiterungen des Armutsfallentheorems............................................. 224 10.1.1 Erweiterungen des Armutsfallentheorems in der Sach- und in der Zeitdimension ............................................................................... 224 10.1.2 Berücksichtigung sozialstrukturellen Wandels in einem dynamischen Entscheidungsmodell von Arbeitsmarktentscheidungen im Sozialstaat...................................................................................... 225 10.1.3 Verändertes Alltagswissen und Theorierückkopplungen................... 227 10.2 Arbeitsmarktentscheidungen und Arbeitslosigkeit................................ 228 10.2.1 Das Armutsfallentheorem und die Reformen am Arbeitsmarkt......... 228 10.2.2 Realismus von Sozialleistungsempfängern statt Vollbeschäftigungsvorgaben ................................................................................. 230 11. Fazit............................................................................................................. 231 Anhang.............................................................................................................. 239 Literaturverzeichnis ........................................................................................ 251

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Tabellenverzeichnis

Tab. 3.1:Nettolohnersatzleistungsquoten bei niedrigen Einkommen 1999 (66,7 % des Durchschnittslohns, erster Monat der Arbeitslosigkeit).......... 77 Tab. 3.2: Abgabenbelastung niedriger und mittlerer Lohneinkommen .................. (Lohn bzw. Einkommensteuer plus Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge 1999 in % der durchschnittlichen Arbeitskosten).......................... 78 Tab. 4.1: Verbleibende Netto-Hinzuverdienste – ein Vergleich ....................... 105 Tab. 5.1: Verwendung von Annahmen unterschiedlicher theoretischer Ansätze bei der Erklärung von „Welfare Dependency“................................. 127 Tab. 7.1: Entwicklung der Stichprobe: Verteilung aller erfassten Sozialhilfeepisoden (nur HLU) nach Episodenzähler ............................... 167 Tab. 9.1: Verfügbares Haushaltseinkommen und Abstand zur Hilfe zum Lebensunterhalt (früheres Bundesgebiet)*................................................ 195 Tab. 9.2: Verfügbares Haushaltseinkommen und Abstand zur Hilfe zum Lebensunt. (neue Länder, Berlin [Ost])*................................................... 196 Tab. 9.4: Determinanten des Abgangs aus der Sozialhilfe (Wechsel in Vollzeitarbeit) ............................................................................................ 209 Tab. 9.5: Determinanten des Abgangs aus der Sozialhilfe (Wechsel in andere Lagen als Vollzeitarbeit)................................................................ 212 Tab. A-1: Verfügbares Haushaltseinkommen und Abstand zur Hilfe zum Lebensunterhalt (früheres Bundesgebiet)*................................................ 248 Tab. A-2: Verfügbares Haushaltseinkommen und Abstand zur Hilfe zum Lebensunt. (neue Länder, Berlin [Ost])*................................................... 249

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 2.1: Phillips-Kurve, Arbeitslosigkeit und Lohninflation in den Jahren von 1861-1913 ............................................................................................. 64 Abb. 2.2: Verschiebung der Phillips-Kurve nach rechts oben ............................ 65 Abb. 2.3: Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation gemäß monetaristischer Kritik ................................................................................ 67 Abb. 3.1: Entscheidung zwischen Arbeitsaufnahme und fortgesetzter Arbeitslosigkeit bei unterschiedl. Anrechnungsregelungen (anreizth. Persp.) ....... 83 Abb. 3.2: Armutsfalle bei unterschiedlichen Anrechnungsregelungen von Erwerbseinkommen auf Sozialleistungen ....................................................... 86 Abb. 3.3: Armutsfalle bei unterschiedlichen Anrechnungsregelungen von Erwerbseinkommen auf Sozialleistungen und niedrigen Anspruchslöhnen... 87 Abb. 3.4: Armutsfalle unter Beachtung von Tarif- bzw. Mindestlöhnen............ 92 Abb. 4.1: Anrechnung von Erwerbseinkommen in der früheren Sozialhilfe...... 96 Abb. 4.2: Anrechn. von Erwerbseinkommen auf ALG II (1.1.-30.09. 2005) ..... 99 Abb. 4.3: Anrechnung von Erwerbseinkommen auf ALG II (ab 1.10. 2005)... 102 Abb. 4.4: Tatsächlich realisierbare Netto-Hinzuverdienste bei Erwerbstätigkeit von Sozialleistungsempfängern.......................................................... 104 Abb. 5.1: Erklärung von „Welfare Dependency“ aus Rational-Choice Perspektive („Soll“) ................................................................................... 114 Abb. 5.2: Erklärung von „Welfare Dependency“ unter Verwendung von Rational-Choice Annahmen z.B. bei Charles Murray („Ist“) ................... 115 Abb. 5.3: Funktionalistische Erklärung der Produktion von Gütern und Dienstleistungen ........................................................................................ 118 Abb. 5.4: Kollision der Anreizstrukturen „Soziale Schichtungsordnung“ und „Sozialpolitik“ .................................................................................... 119 Abb. 5.5: Erklärung der Kultur der Armut/Abhängigkeit durch Sozialpolitik . 122 Abb. 5.6: Erklärung der Kultur der Armut/Abh. durch veränderte Arbeitsmarktbedingungen ..................................................................................... 123 Abb. 5.7: Erklärung der „Welfare Dependency“ im psychosozialen Ansatz.... 128 Abb. 7.1: Datengrundlage auf Haushaltsebene: Verteilung der erfassten Sozialhilfeepisoden nach dem Episodenzähler ......................................... 168 Abb. 7.2: Mehrfachbezug von Sozialhilfe im Zeitverlauf: Verteilung der erfassten Sozialhilfeepisoden nach Episodennenner ................................. 168 13

Abb. 7.3: Zensierung der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten Sozialhilfeepisoden (Haushaltsebene)....................................................... 169 Abb. 7.4: Verteilung der im SOEP erfassten Sozialhilfeepisoden nach Bezugslänge (gruppiert;nur unzensierte Daten;Haushaltsebene).............. 170 Abb. 7.5: Verteilung der erfassten Sozialhilfeepisoden nach dem Episodenzähler (Individualebene) ............................................................................ 171 Abb. 7.6: Verteilung der erfassten Sozialhilfeepisoden nach dem Episodenzähler (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen) ............................. 172 Abb. 7.7: Mehrfachbezug von Sozialhilfe im Zeitverlauf: Verteilung der erfassten Sozialhilfeepisoden nach dem Episodennenner (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen) ............................................................... 172 Abb. 7.8: Zensierung der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten Sozialhilfeepisoden (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen) ....... 173 Abb. 7.9: Verteilung der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten Sozialhilfeepisoden nach Bezugslänge (gruppiert;nur unzensierte Daten;Individualebene, nur erwerbsfähige Personen)............................... 174 Abb. 7.10: Teilstichprobenzugehörigkeit der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten erwerbsfähigen Personen in Sozialhilfe-Haushalten........ 175 Abb. 7.11: Teilstichprobenzugehörigkeit der im Sozio-oekonom. Panel erfassten Sozialhilfeepisoden (Individualebene, nur erwerbsfäh. Pers.)... 176 Abb. 7.12: Geschlechtszugehörigkeit der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten erwerbsfähigen Personen............................................................ 177 Abb. 7.13: Verteilung der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten Sozialhilfeepisoden nach Geschlecht (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen) ............................................................................................. 178 Abb. 7.14: Verteilung der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten Sozialhilfeepisoden nach Haushaltsstruktur (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen)............................................................................... 178 Abb. 7.15: Verteilung der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten Sozialhilfeepisoden nach Altersgruppen (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen) ........................................................................................ 179 Abb. 7.16: Verteilung der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten Sozialhilfeepisoden nach Berufsabschlüssen (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen)............................................................................ 180 Abb. 7.17: Eingetretene familiäre Ereignisse im Jahr des Beginns einer Sozialhilfeepisode (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen) ......... 181 Abb. 8.1: Verbleibsfunktion der Sozialhilfeepisoden erwerbsfähiger Personen aus der Sozialhilfe ........................................................................... 184 Abb. 8.2: Mobilität aus der Sozialhilfe: Geschätzte Übergangsraten auf Grundlage der Life-Table-Methode........................................................... 186 14

Abb. 8.3: Verbleibsfunktionen der Sozialhilfeepisoden erwerbsfähiger Personen aus der Sozialhilfe, differenziert nach Abgangswegen ................... 187 Abb. 8.4: Mobilität aus der Sozialhilfe in Erwerbsarbeit.................................. 188 Abb. 8.5: Mobilität aus der Sozialhilfe in andere Formen der Existenzsicherung ...................................................................................... 189 Abb. 8.6: Mobilität aus der Sozialhilfe in Vollzeiterwerbsarbeit...................... 190 Abb. 8.7: Mobilität aus der Sozialhilfe in alternative Existenzsicherungsformen (Teilzeiterwerbstätigkeit, andere Wechsel) .................................. 190 Abb. 9.1: Mobilität aus der Sozialhilfe: Geschätzte Übergangsrate (Exponentialmodell 1 mit periodenspezifischen Übergangsraten, Wechsel in Vollzeiterwerbstätigkeit) ........................................................ 205 Abb. 9.2: Mobilität aus der Sozialhilfe: Geschätzte Übergangsrate (Exponentialmodell 1 mit periodenspezifischen Übergangsraten, Wechsel in andere Lagen als Vollzeiterwerbstätigkeit) ............................ 206 Abb. 9.3: Mobilität aus der Sozialhilfe: Geschätzte Übergangsrate (Exponentialmodell 5 mit periodenspezifischen Übergangsraten, Wechsel in Vollzeiterwerbstätigkeit) ........................................................ 207 Abb. 9.4: Mobilität aus der Sozialhilfe: Geschätzte Übergangsrate (Exponentialmodell 5 mit periodenspezifischen Übergangsraten, Wechsel in andere Lagen als Vollzeiterwerbstätigkeit) ............................ 208

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Abkürzungsverzeichnis

a

Anrechnungssatz

ABM

Arbeitsbeschaffungsmaßnahme

ACC

Advanced Capitalist Countries

AF

Armutsfalle

AFDC

Aid to Families with Dependent Children (fühere US-amerikanische Sozialhilfe)

ALG II

Arbeitslosengeld II

BHPS

British Household Panel Survey

BLK

Bund-Länder-Kommission

BSHG

Bundessozialhilfegesetz

CEPS/ INSTEAD

Centre d’Etudes de Populations de Pauvreté et de Politiques Socio-Economiques/International Network for Studies in Technology, Environment, Alternatives, Development

CPS

Current Population Survey

CTB

Council Tax Benefit

DIW

Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung

DVfÖPV

Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge

E[GP]

Lohnsatz bei niedriger Arbeitsproduktivität

EIRO

European Industrial Relations Observatory

E[ML]

Lohnsatz entsprechend tariflichen oder gesetzlichen Mindestlöhnen

E[S]

Lohnsatz in Höhe eines relevanten Sozialtransfers

EW

Erwerbseinkommen 17

EV

Verfügbares Gesamteinkommen

EV[A]

Anspruchseinkommen

EVS

Einkommens- und Verbraucherstichprobe

FES

Family Expenditure Survey

FHS

Fachhochschule

FS

Fachschule

FuU

Fortbildung und Umschulung

HB

Housing Benefit (britisches Wohngeld)

HLU

Hilfe zum Lebensunterhalt

HS

Hochschule

HzA

Hilfe zur Arbeit

IAB

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung

IFC

International Finance Corporation

Ifo

Institut für Wirtschaftsforschung e.V.

IHRES

Institute de Recherches Économiques et Sociales

ISER

Institute for Social and Economic Research

ISG

Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik e.V.

ISL

Institut für Sozialberichterstattung und Lebenslagenforschung

IWH

Institut für Wirtschaftsforschung Halle

IZA

Institute for the Study of Labor

LSA

Längsschnittstichprobe von Sozialhilfeakten

NAIRU

Non-Accelerating-Inflation Rate of Unemployment

NIEP

Niedrigeinkommenspanel

OECD

Organisation for Economic Co-operation and Development

PSID

Panel Study of Income Dynamics

QI

Quote der Inanspruchnahme

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QNI

Quote der Nichtinanspruchnahme, Dunkelziffer der Armut

QVA

Quote der verdeckten Armut,

S

Sozialtransfereinkommen

SFB

Sonderforschungsbereich

SOEP

Sozio-oekonomisches Panel

SIPP

Survey of Income and Program Participation

UCLA

University of California, Los Angeles

UI

Unemployment Insurance

VuE

Versorgungsstrategien privater Haushalte im unteren Einkommensbereich

Die Übersetzungen der im Text zitierten Bibelstellen basieren auf der revidierten Elberfelder Übersetzung (Neues Testament) und auf der Übersetzung Martin Luthers (Altes Testament) 1.Mose

Das erste Buch Mose (Genesis)

Mt

Das Evangelium nach Matthäus

Mk

Das Evangelium nach Markus

Lk

Das Evangelium nach Lukas

2.Thess

Der zweite Brief des Paulus an die Thessalonicher

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Einleitung

In Deutschland hat sich etwas getan. Zu dieser Einschätzung gelangte jüngst in ihrem aktuellen Bericht „Doing Business 2006“ auch die zur Weltbankgruppe gehörende International Finance Corporation (IFC). So jubelte der Chefvolkswirt der IFC, Michael Klein, im Handelsblatt: „Es hat sich ganz einfach etwas getan in Deutschland – insbesondere auf dem Arbeitsmarkt. Wenn man die Reformen in Deutschland mit denen anderer Länder vergleicht, dann war das relativ viel.“ Und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Mit Blick auf den Arbeitsmarkt war Deutschland 2004 der Top-Reformer.“ Insbesondere die Lockerung des Kündigungsschutzes und die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe fanden beim Chefvolkswirt der IFC ein sehr positives Echo. So werde durch die Reformen die Suche nach Arbeit erleichtert. Langzeitarbeitslose könnten nun befristete Stellen annehmen um ihre Qualifikation zu verbessern. Das klingt angesichts der öffentlichen Kritik vor und während der Einführung des Arbeitslosengelds II fast ein wenig zu erfreulich. Wer hätte das gedacht, dass nach einer Zeit heftiger Proteste im Herbst des Jahres 2004, der fast katastrophal zu nennenden Einführung des Arbeitslosengeldes II zum Jahreswechsel 2004/2005 und den zum Teil erheblichen finanziellen Einschnitten, denen sich ehemalige Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfeempfänger seitdem konfrontiert sehen, die Reformen letztendlich doch noch ein so positives Echo finden würden? Indes allzu viel Euphorie scheint dennoch unangebracht. Diesen Eindruck will selbst der deutsche Weltbankvertreter nicht erwecken: Zwar sei nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Perspektiven für Wachstum und Beschäftigung verbessert haben. Dennoch lasse sich aus den Reformen des Jahres 2004 kein automatischer Beschäftigungseffekt ableiten. Die meisten von Arbeitslosigkeit Betroffenen müssen also weiterhin nach Arbeit suchen – Arbeit, die häufig nur schlecht bezahlt wird und finanziell kaum mehr einbringt als ALG II. Hinter dieser Reform steht die Überzeugung, dass sich Arbeit auch für arme Menschen lohnen müsse. Lohnt Arbeit sich nicht, ist damit zu rechnen, dass sich die Leute nicht mehr anstrengen, lieber zu Hause bleiben und bis zum Ende ihrer Tage Sozialleistungen kassieren. Das ist die Armutsfalle, die soziale Hängematte, der man nur durch solche Reformen beizukommen glaubt, die an der Höhe der Sozialtransfers ansetzen. 21

Bestätigung findet diese Überzeugung im ökonomischen Mainstream, der das vermutete Problem etwa in folgender Weise fasst: Sozialleistungsbezieher, die vor der Alternative stehen, ihren Lebensunterhalt künftig durch Erwerbsarbeit zu bestreiten oder weiterhin durch Sozialleistungen, werden – gleiche Höhe von Löhnen und Sozialtransfers vorausgesetzt – es vorziehen im Sozialleistungsbezug zu verbleiben. Das ist das Armutsfallentheorem. Hier befindet sich der gedankliche Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung. Soziale Hängematte, die Armutsfalle, das sind zwar in erster Linie erst einmal Deutungen und Interpretationen von Politikern im jeweils aktuellen Reformprozess. Aber sie stehen nicht für sich alleine, sondern sind auf Anleitung und Bestätigung angewiesen, die sie besonders durch wissenschaftliches Wissen bzw. durch wissenschaftliche Theorien erhoffen. Bei der herausgehobenen gesellschaftlichen Bedeutung von ökonomischen Zusammenhängen, bezieht der Reformeifer einen Großteil seines Schwunges daher vom ökonomietheoretisch inspirierten Armutsfallentheorem. Gerade im Fall des Armutsfallentheorems handelt es sich um eine der stabilsten Hintergrundgewissheiten der ökonomischen Theorie. Wenn man den Verhaltenserwartungen des Armutsfallentheorems glauben schenken wollte, dann müsste es ausreichen, wenn die Transferniveaus nur weit genug abgesenkt werden, damit Sozialleistungsempfänger wieder in Arbeit wechseln und in der Folge ihr individuelles Wohlstandsniveau anheben können. Solche Vorstellungen lassen sich auch in der griffigen Formel „Arbeit gegen Armut“ fassen. Bezahlte Arbeit fungiert hier als ideale Lösung des Armutsproblems, weil ihr allein die massenhafte Hebung des Lebensstandards von Armen zugetraut wird. Historisch betrachtet handelt es sich bei dieser Vorstellung aber um kein Novum. Gedankliche Konstruktionen dieser Art standen schon am Anfang des industriellen Zeitalters und begleiteten es seither geradezu paradigmatisch. Grundsätzlich gesehen ist das Verhältnis zwischen Armut und Arbeit aber nicht notwendigerweise entgegengesetzt. Arbeit und Armut können nebeneinanderher existieren, ohne dass sie in irgendeiner Form in eine theoretische Beziehung gebracht werden müssen. Diese Auffassung ist der Startpunkt für folgende Überlegungen: Gerade in den heute hoch entwickelten industriellen Überflussgesellschaften ist es zweifelhaft, ob ein großer Teil der nicht-arbeitenden Bevölkerung unbedingt ein Leben in materiell sehr bescheidenen Verhältnissen fristen muss. Bezahlte Arbeit ist ohnehin nicht in ausreichender Quantität und Qualität vorhanden. Warum soll man schließlich Leuten eine Realität antrainieren, die in dieser Form nur in ökonomischen Textbüchern vorkommt? Aus historischen Disputen ist bekannt, dass Arbeit keinesfalls immer als Lösung des Armutsproblems angesehen wurde. Vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Offenheit des Verhältnisses zwischen Arbeit und Armut stellt sich daher die Frage, wie sich die Begriffe Armut und Arbeit samt ihren Bedeutungs22

horizonten im Laufe der Geschichte bis zu den Anfängen des industriellen Zeitalters wandelten und damit auch die Auffassungen über die Struktur ihres Verhältnisses (Kapitel 1). Von der Beantwortung dieser Frage können Einsichten erwartet werden, die es wesentlich erleichtern, zu verstehen, warum die ökonomische Theorie und weite Teile der Öffentlichkeit wie selbstverständlich und unhinterfragt davon ausgehen, dass individuelle Erwerbsarbeit der Schlüssel für die Lösung des Armutsproblems ist. Eine historisch-rekonstruktive Untersuchung darf sich aber nicht auf die Etappen menschlicher Entwicklungsgeschichte vor der Zeit der Industrialisierung beschränken. Gerade was wirtschaftliche Zusammenhänge anbelangt, muss auch die Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Disziplin im 19./20 Jh. im Auge behalten werden. Hier interessiert die historische Genese des Armutsfallentheorems selbst. Arbeitslosigkeit, das ist der klassischen und neoklassischen ökonomischen Theorie zufolge immer freie Zeit. Dieser kommt den Modellannahmen zufolge zudem ein freiwilliger Charakter zu. Individuen können sich dieser Vorstellung gemäß, völlig freiwillig für oder gegen eine Ausdehnung ihres individuellen Arbeitsvolumens entscheiden. Ökonomische Krisen, Massenarbeitslosigkeit und Verelendung (wie z.B. Anfang der 1930er Jahre) lassen sich mit solchen harmonischen Vorstellungen allerdings nur schwer vereinbaren. In diesem Kontext stellt sich offenbar die Frage, ob Arbeitslosigkeit vielleicht nicht doch unfreiwilliger Natur sein kann (Kapitel 2). Besonders in den Dekaden, die der großen Weltwirtschaftskrise der 1930 Jahre folgten, wollten viele Menschen nicht mehr an die Freiwilligkeit (der meist persönlich oder im Umfeld erfahrenen) Arbeitslosigkeit glauben. Konzepte unfreiwilliger Arbeitslosigkeit gewannen auch innerhalb der ökonomischen Teildisziplin an Bedeutung. Arbeitslosigkeit wurde jetzt vorrangig als unfreiwillige Folge einer Nachfrageschwäche auf den Gütermärkten betrachtet (Keynes). Die ökonomische Klassik und frühe Neoklassik mit ihren Konzepten freiwilliger Arbeitslosigkeit verloren damit über mehrere Dekaden an Reputation und Einfluss. Mit dem Ende des erfolgreichen keynesianischen Nachfragemanagements ab dem Beginn der 1970er Jahre gewannen neoklassische Konzepte im Fachdiskurs wieder die Oberhand. Wieder gab es Massenarbeitslosigkeit. Also hatte die keynesianisch inspirierte Wirtschaftspolitik offenbar versagt. Allerdings – und das war im Vergleich zur Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren neu – wurde Arbeitslosigkeit durch Arbeitslosenunterstützung in einem im Vergleich zu früheren Zeiten erheblichen Umfang sozial abgesichert. Erst diese Entwicklung führte schließlich zum Aufstieg des Armutsfallenthemas. Durch die Existenz sozialstaatlicher Transfers kann die Situation entstehen, dass Personen diese Sozialeinkommen bei ihrer Entscheidung für oder ge23

gen Erwerbsarbeit berücksichtigen – und so unter Umständen von der Aufnahme einer Arbeit abgehalten werden. Dadurch können sie aber mittel- und langfristig nicht mehr auf der Einkommensleiter empor klettern und richten sich gewollt oder ungewollt dauerhaft in bescheidenen materiellen Verhältnissen ein. Tatsächlich ist die Literatur zur Armutsfalle aber nicht einheitlich. Es liegen unterschiedliche Konzepte zur Messung der Armutsfalle vor (z.B. Nettolohnersatzleistungsquoten und Abgabenbelastungen). Außerdem sind unterschiedliche Definitionen für ähnliche Sachverhalte im Umlauf: Auf der einen Seite wird zwar von Armutsfalle gesprochen, auf der anderen Seite aber auch von Arbeitslosigkeitsfalle. Auch die Frei- oder Unfreiwilligkeit von Arbeitslosigkeit ist von Bedeutung, wenn auch in anderer Hinsicht als in den keynesianischen Konzepten. Diese unterschiedlichen Theorielinien verlangen eine gründliche Untersuchung (Kapitel 3). Hierbei stehen die institutionellen Regelungen, besonders die Regelungen zur Anrechnung von Erwerbs- auf Sozialeinkommen (nicht nur) auf dem theoretischen Prüfstand der ökonomischen Theorie. Wie verhält es sich aber in der Realität? Sind die Anrechnungsregelungen von Erwerbs- auf Sozialeinkommen wirklich so strikt, dass die finanziellen Anreize aus Erwerbsarbeit für Arbeitslosengeld II-Bezieher nachhaltig geschwächt werden? Diese Frage kann nur durch eine Untersuchung der Anrechnungsregelungen selbst erfolgen (Kapitel 4). Hier muss beachtet werden, dass die institutionellen Regelungen, ausgegangen von der Sozialhilfe über die Einführung von Arbeitslosengeld II bis zu einer ersten Korrektur desselben, innerhalb kurzer Zeit verändert wurden. Es muss aber bezweifelt werden, dass Anrechnungsregelungen oder Lohnabstände die nachhaltigen Wirkungen haben, die ihnen zugesprochen werden. Damit wird der Blick frei für die Untersuchung von Theorieangeboten jenseits des ökonomischen Mainstreams (Kapitel 5). Die Wirkung von kurzfristigen finanziellen Anreizen auf Arbeitskraftangebotsentscheidungen ist in den wissenschaftlichen Teildisziplinen keinesfalls so unumstritten, wie bei der öffentlichen Dominanz des neoklassischen Paradigmas angenommen werden könnte. Zwar lassen sich Sozialleistungsabhängigkeiten („Welfare Dependency“) als Outcome auch durch simple Rational-Choice-Anwendungen modellieren, indem Sozialleistungsempfängern dieselben Präferenzen unterstellt werden, wie die Verhaltensannahmen des Armutsfallentheorems zugrundelegen. Aber diese Gewissheit verliert sehr schnell an Überzeugungskraft, wenn Verhaltensannahmen schichtungstheoretischer (funktionalistische Schichtungstheorie) und kulturalistischer Ansätze (Culture of Poverty/Culture of Dependency) fokussiert werden, bei denen nicht von einer Dominanz kurzfristiger finanzieller Verhaltensanreize ausgegangen wird.

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Eine nähere Beschäftigung lohnt auch im Falle von psychologischen Ansätzen (Expectancy-Value, Learned Helplessness), die Sozialleistungsabhängigkeit nicht als Folge von finanziellen Anreizen sehen, sondern als Ausdruck destruktiver Lern- und Gewöhnungsprozesse, denen durch Reformen, die ausschließlich auf finanzielle Aspekte orientieren, nicht beizukommen ist. Ob finanzielle oder Statusanreize, ob kulturelle Defizite oder Lern- und Gewöhnungsprozesse zu Sozialleistungsabhängigkeit führen, das kann letztendlich nicht theoretisch entschieden werden, sondern ist und bleibt Aufgabe von empirischen Untersuchungen (Kapitel 6). Hier hat sich in den letzten Jahrzehnten eine erfreuliche Entwicklung gezeigt, so dass – begünstigt durch die Erhebung großer Datensätze, der Weiterentwicklung von statistischen Verfahren und deren computergestützten Umsetzung – bereits ein reicher Fundus an Forschungsergebnissen vorliegt. In der armutsrelevanten empirisch-quantitativen Literatur wird unterschiedlichen Teilfragen nachgegangen: Wie entwickelt sich die Einkommensverteilung und wie hoch ist der Anteil von Personen, die mit weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Einkommens auskommen müssen? Wie lange dauern Episoden relativer Armut und was sind ausschlaggebende Faktoren, die Phasen von Einkommensarmut verlängern? Was sind Faktoren, die individuelle Entscheidungen zur Inanspruchnahme von Sozialleistungen begünstigen oder hemmen? Ist es wirklich so, dass – wie häufig von Politikern und Ökonomen beschworen – Sozialleistungen in die Armutsfalle führen und die Beendigung von Transferbezügen eher die Ausnahme sind? Um es gleich vorwegzunehmen: Alle wichtigen empirischen Untersuchungen zeigen, dass Sozialleistungsbezug hauptsächlich kurzfristiger Natur ist. Das ist angesichts eines ganz anderen öffentlichen Verständnisses ein sehr bemerkenswertes Ergebnis. Selten sind bisher aber quantitative Forschungen angestellt worden, die sich auch damit beschäftigen, was Personen nach der Beendigung von Sozialleistungsbezügen (z.B. Sozialhilfe, jetzt Arbeitslosengeld II) anstellen. Eine der wenigen Ausnahmen ist eine eigene Längsschnitt-Voruntersuchung, die auf den Sozialhilfedaten des Sozio-oekonomischen Panels der Jahre von 1991-1996 beruht und deren Ergebnisse in dem Buch „Wer sitzt in der Armutsfalle“ (Gebauer/Petschauer/Vobruba) bereits veröffentlicht wurden. Inzwischen liegen aber Daten über weitere drei Jahre vor, so dass es sich lohnt, die damalige Untersuchung auf Grundlage aller Sozialhilfedaten (19911999) zu ergänzen. Im Einzelnen sollen hier vor allem drei Fragen geklärt werden (Kapitel 7-9): Führen (bzw. führten) die institutionellen Regelungen in der Sozialhilfe dazu, dass sich Sozialhilfeempfänger dauerhaft in der Sozialhilfe einrichteten oder anders formuliert: Erstens: Gibt es (oder gab es) eine Armutsfalle in der deutschen Sozialhilfe? Zweitens: Sind (oder waren) Ausstiege aus der Sozialhilfe vor allem auf Wechsel in Erwerbsarbeit oder auf Wechsel in vorgela25

gerte soziale Sicherungssysteme zurückzuführen? Und drittens: Welche Faktoren wirken (bzw. wirkten) sich bezugsverlängernd resp. bezugsverkürzend aus? Die Ergebnisse vorangegangener nationaler und internationaler Forschungen und die Ergebnisse der eigenen empirischen Analysen sind Ausgangspunkt für einen Versuch weitere Fragen zu beantworten. Darunter zählt in theoretischer Hinsicht die Frage: Wie können ökonomische Theoriemodelle (Armutsfallentheorem) so verändert werden, dass sie in Einklang mit den empirischen Befunden der dynamischen Armutsforschung gebracht werden können? Hierzu liefern Vorarbeiten bereits Anstöße zu einer Erweiterung der Verhaltensannahmen des Armutsfallentheorems: Ökonomische Verhaltensmodelle müssten demnach in der Sach- und Zeitdimension erweitert werden, um auch nichtfinanzielle und langfristige Entscheidungskalküle berücksichtigen zu können (Kapitel 10). Solche Erweiterungen haben den Vorteil, dass sie mit herkömmlichen ökonomietheoretischen Vorgaben vereinbar sind. Noch besser geeignete Modelle sind aber vielleicht mit den stärker in der Soziologie und anderen Sozialwissenschaften diskutierten Konzepten sozialen Wandels und sozialen Lernens möglich.

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1. Die Struktur des Verhältnisses von Armut und Arbeit

1.1 Die Armutsfalle Die Vermutung, dass der Sozialstaat die Arbeitsbereitschaft störe, ist so alt wie der Sozialstaat selbst. Aus Vermutungen können schnell Gewissheiten werden. Das ist besonders dann der Fall, wenn Vermutungen, ohne weitere empirische Überprüfung, Bestandteil von Argumentationen in wissenschaftlichen Diskursen werden. Eine besonders klare Ausformulierung der Gewissheit, dass sozialstaatliche Leistungen (z.B. Lohnersatzleistungen) von der Arbeit abhalten, findet sich in der ökonomischen Fachliteratur. Hier wird in diesem Zusammenhang von einer „Armutsfalle“ gesprochen. Ein Beispiel von vielen: „Lohnersatzleistungen definieren Mindestansprüche für Markteinkommen (und damit für Marktlöhne), denn kaum jemand dürfte bereit sein, einen Job anzutreten, der nicht ein spürbar höheres Einkommen bietet als die Sozialleistungen, die er ohne zu arbeiten erhält.“ (Sinn u.a. 2002: 8, vgl. auch Sinn 2001). Wichtige gesellschaftliche Arbeiten bleiben dadurch liegen, denn „(...) natürlich könnte der Sozialhilfeempfänger auch in Deutschland Autos waschen, Parkplätze bewachen oder älteren Menschen bei den täglichen Besorgungen helfen. Er wird es nur meist nicht tun, weil sein dabei zu erzielendes Einkommen nämlich niedriger läge als sein Anspruch auf Sozialhilfe. Schlimmer noch. Dieser Anspruch würde ihm annähernd um den gleichen Betrag gekürzt werden, den er auf dem freien Markt hinzuverdient. Er sitzt, wie die Ökonomen sagen, in der Armutsfalle.” (Suntum 1999: 290).

Eine Begründung, warum diese Struktur als „Armutsfalle“ bezeichnet wird, wird in der ökonomischen Literatur nicht gefunden. Hier scheint die Vermutung vorzuherrschen, dass die Betroffenen sich durch die Entscheidung gegen die Aufnahme von Arbeit um die Möglichkeit des längerfristigen materiellen Aufstiegs bringen. Auf den ersten Blick scheinen diese Vermutungen den Kern des deutschen Arbeitslosigkeitsproblems zu treffen. Für die Arbeitslosigkeit von über fünf Millionen Menschen muss es ja schließlich Ursachen geben. Dem ökonomischen Men27

schenbild entsprechend halten zu hohe Sozialleistungen von der Arbeit ab. Warum sollte also die „Armutsfalle“ nicht eine wesentliche Ursache der Massenarbeitslosigkeit sein? Dagegen lässt sich einwenden, dass die Gewissheit der Ökonomen übersieht, dass viele Arbeitslose händeringend nach Arbeit suchen. Sie sind in diesem Zusammenhang selbst dazu bereit, Beschäftigungsverhältnisse einzugehen, deren Bezahlung eben doch nicht oder nur geringfügig höher ausfällt, als eine relevanter Sozialtransfer. Tatsächlich finden die meisten Arbeitslosen auch wieder in Arbeit. Das ist zumindest das Ergebnis vieler empirischer Längsschnittstudien zu Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung, auf Grundlage von repräsentativen Datensätzen, welches in einem fundamentalen Widerspruch zu der Gewissheit einer Armutsfalle steht (vgl. hier Kapitel 6-9). Dieser Eingangsverdacht, dass das Problem der Armutsfalle von Ökonomen überschätzt wird, bedarf einer tieferen Analyse. Dazu muss zunächst die Struktur der Argumentation untersucht werden. Hier wird schnell deutlich, dass formal zwei Sachverhalte miteinander verknüpft werden. Im Einzelnen handelt es sich hierbei um die Höhe von Sozialleistungen und die Höhe von Arbeitslöhnen. Wenn Sozialleistungen beträchtlich geringer ausfallen als (realistischerweise) zu erwartende Arbeitslöhne, ergibt sich offensichtlich kein Problem. In diesem Fall ist die Motivation, oder anders ausgedrückt, der Anreiz eine Arbeit anzunehmen ausreichend hoch. Anders jedoch, wenn Sozialleistungen fast so oder ebenso hoch ausfallen wie zu erwartende Arbeitslöhne. In diesem Fall ist der Argumentation von Armutsfallentheoretikern gemäß damit zu rechnen, dass Sozialleistungsempfänger keine Arbeit aufnehmen – ganz einfach, weil der Anreiz dafür zu gering ist. Die logische Folge ist ein Leben in materiell bescheidenen Verhältnissen, eben ein Leben in Armut. Wenn aber viele Arbeitslose dennoch bereit sind, eine Arbeit aufzunehmen, trotz geringer oder fehlender finanzieller Anreize, dann kann die ökonomische Theorie offensichtlich die Wirklichkeit nicht mit ihren Annahmen über menschliches Verhalten in Einklang bringen. Aus dieser Schlussfolgerung leitet sich aber die Frage ab, warum die ökonomische Theorie, die empirische Wirklichkeit nicht so rekonstruiert, wie sie ist. Und es lässt sich daraus die Dringlichkeit für eine historisch-soziologische Untersuchung ableiten. Diese sollte sich zunächst besonders auf die Entwicklungsgeschichte der ökonomischen Theorie richten, denn wie zu vermuten ist, wurden zentrale Begriffe im Laufe ihrer Herausbildung so geprägt, dass sie die Sicht auf die empirischen Gegebenheiten verstellen können. Um welche zentralen Begriffe könnte es sich dabei handeln? Wie die Untersuchung der Armutsfallenargumentation belegt, kommt den Begriffen Arbeit und Armut eine hohe Bedeutung zu, genauer gesagt dem Verhältnis von Arbeit und Armut. Beide Begriffe werden von der ökonomischen Theorie in der Weise in Beziehung gesetzt, dass Arbeit und nur Arbeit das Patentrezept gegen Armut 28

darstellt. In anderen Worten und positiv gewendet: Nur Arbeit ist der Garant gesellschaftlichen aber vor allem auch individuellen Wohlstands. 1.2 „Arbeit gegen Armut“ als ein wesentliches Kennzeichen des modernen ökonomischen Denkens „Arbeit gegen Armut“ – das ist eine sehr enge Auslegung des Verhältnisses zwischen Arbeit und Armut (vgl. dazu auch Vobruba 1997: 41 ff.). Es handelt sich dabei, historisch betrachtet, um eine Inbezugsetzung, die sich vor allem mit der Zeit der industriellen Revolution verbindet, als die sich entwickelnde kapitalistische Warenproduktion dringend auf neue Arbeitskräfte angewiesen war und diese aus den traditionellen Landarbeitermilieus und der Bauernschaft herausgelöst werden mussten. Von der wachsenden Arbeitsteilung im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise konnte der Wohlstand der Nationen und damit die Verbesserung der Lage weiter Bevölkerungsteile erhofft werden (Adam Smith). Das war die Eingangsüberzeugung der ökonomischen Klassik. Noch deutlicher wurde diese These in einem Essay vertreten, das zu einem Wettbewerb der Akademie von Chalon-sur-Marne 1777 eingereicht wurde und den Preis erhielt. Auf die Frage, wie der zunehmenden Bettelei beizukommen sei, antwortete der Verfasser in den einleitenden Sätzen: „Jahrhundertelang hat man nach dem Stein der Weisen gesucht. Wir haben ihn gefunden. Es ist die Arbeit. Lohnarbeit ist die natürliche Quelle der Bereicherung für die Armen.“ (zitiert nach Illich 1982: 81).

Die Hoffnung der ökonomischen Theorie schien sich aber zunächst nicht zu erfüllen. Statt einer Verbesserung der Lage der Industriearbeiterschaft brachte die beginnende Industrialisierung vor allem in Westeuropa Verarmung und Verelendung.1 Erst die Ausdehnung von Freiheits- und sozialen Rechten konnte diese Entwicklung ins Positive kehren. Mit der Entwicklung des Sozialstaates wurde das Verhältnis zwischen Arbeit und Armut in der ökonomischen Theorie aber nicht prinzipiell anders bewertet. Stattdessen zeitigte Arbeit in Verbindung mit dem rasanten wissenschaftlich-technischen Fortschritt und der Entwicklung zur Konsumgesellschaft nun aber tatsächlich die von der ökonomischen Theorie erhofften Konsequenzen: Die Strategie „Arbeit gegen Armut“ schien im Sinne

1 Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den wenig optimistischen Werken der späteren ökonomischen Klassiker, Robert Malthus und David Ricardo, für die die Bekämpfung von Armut durch Arbeit nicht möglich schien (vgl. dazu auch Starbatty 13 ff.)

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der Anhebung des materiellen Lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten durch gut bezahlte Erwerbsarbeit aufzugehen.2 Für die Bekämpfung von Armut in konjunkturellen Krisen, in denen nur eine schwache Arbeitskraftnachfrage bestand und die Arbeitslosigkeit entsprechend hoch war, konnte in den kapitalistischen Staaten zunehmend auf Beschäftigungsprogramme und/oder auf finanzielle Transfers der staatlichen Sozialpolitik vertraut werden (Stimulation der Arbeitskraftnachfrage, John Maynard Keynes). Nunmehr reichte es bei Arbeitslosigkeit auch aus, Arbeitsbereitschaft zu zeigen und damit Empfänger sozialstaatlicher Transfers zu werden. Neben Arbeit wurden also auch Sozialtransfers als Remedur gegen Armut betrachtet, wenn auch nicht oder zumindest nicht hauptsächlich von Ökonomen. Am Anfang des 21. Jahrhunderts stehen die Zeichen wieder auf Veränderung. Denn der Sozialpolitik wird schon seit längerer Zeit nicht mehr zugetraut, ein probates Mittel gegen Armut zu sein bzw. ist sie auch Gegenstand von Sparvorbehalten (Hartz IV). Es scheint paradox: In einer Zeit des Abbaus von sozialen Rechten und Transferniveaus und der damit verbundenen Absenkung von Lebensstandards und der Ausbreitung von Armutslagen, in einer Zeit, in der selbst Arbeit nicht vor Armut schützt, wird wieder auf die Formel „Arbeit gegen Armut“ gesetzt. Und das, obwohl offensichtlich nicht genügend und ausreichend gut bezahlte Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, um Armut ohne eine qualitativ hochwertige Sozialpolitik entgegenzuwirken.3 1.3 Forschungsfragen zum Verhältnis zwischen Arbeit und Armut in den vormodernen europäischen Gesellschaften Vor diesem Hintergrund (Kapitel 1.2) ist es sinnvoll, zu untersuchen, wie sich die von weiten Teilen des ökonomischen Diskurses vertretene einseitige Auslegung der Beziehung zwischen Arbeit und Armut in den vorindustriellen, vorkapitalistischen Gesellschaften gestaltete. Forschungsleitend sind hier folgende 2 Wachsender Wohlstand durch Auflösung des Grundwiderspruchs im Kapitalismus (gesellschaftlicher Charakter der Produktion vs. private Aneignung der Produkte) und der damit einhergehenden Entfesselung der Produktivkräfte (wissenschaftlich-technische Revolution), das war auch die ideologische Maxime, die in realsozialistischen Arbeitsgesellschaften vorherrschte. 3 Der soziale Sinn der Reformen liegt offensichtlich nicht allein in der Ausweitung von Beschäftigung. Die Reformen tangieren überdies die soziale Ordnung und zielen auf eine veränderte Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Für den Bereich der Gewährung von Sozialleistungen bedeutet das, dass das Verhältnis zwischen sozialen Rechten und sozialen Pflichten neu definiert wird bzw. werden soll. In den Vordergrund rückt die Bedingung, dass Hilfebedürftige in den Dienst einer (autoritären) Gemeinwohlpraxis gestellt werden (vgl. Lessenich 2003).

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Fragen: Wer arbeitete? Wer galt als arm? Welche Wertschätzung wurde Armut, welche Wertschätzung wurde Arbeit entgegengebracht? Wie gestaltete und wie veränderte sich das Verhältnis von Armut und Arbeit, und zwar sowohl auf der Ebene der Lebens- und Arbeitsverhältnisse als auch auf der Ebene der Reflexion in den weltanschaulich-religiös geprägten Denksystemen? Als Forschungsertrag kann ein besseres Verständnis der spezifischen Eigenheiten und Begrenzungen des heutigen ökonomie-theoretischen Diskurses in Bezug auf das Verhältnis Arbeit-Armut erwartet werden. Außerdem soll die Untersuchung dazu dienen, das konstruktive Element der heutigen Entgegensetzung von Arbeit und Armut hervorzuheben.4 Der zeitliche Rahmen der Wiedergabe (ideen-)geschichtlicher Spezifika ist in der folgenden Darstellung so gewählt, dass nur die Entwicklungen wiedergegeben werden, die für das Verständnis der heutigen ökonomische Theorie und ihrer Auffassung von Armut und Arbeit von Belang sind. Die Darstellung wird deshalb die mittelalterliche Entwicklung weitestgehend berücksichtigen. Denn obwohl sich in dieser Epoche das Verhältnis zwischen Armut und Arbeit noch ganz anders gestaltete, wurden die Vorstellungen, die sich mit den neuzeitlichen Begriffen von Armut und Arbeit verbinden, entscheidend vorgeprägt. Mittelalterliches (christliches) Denken über Armut und Arbeit ist wiederum untrennbar mit den zur Zeit der Spätantike umlaufenden, vor allem neuplatonischphilosophischen Ideen, die Eingang in die Ausformung der christlichen Doktrinen fanden, verbunden. Deshalb soll auch auf die antike und spätantike Ideengeschichte Bezug genommen werden, jedoch nur insoweit sie einen unmittelbaren Bezug zur mittelalterlichen Ideengeschichte haben. 1.4 Arbeit und Armut in der Antike und Spätantike Eine Ideengeschichte spätantiken und mittelalterlichen Denkens über Armut und Arbeit muss im Auge behalten, dass dieses Denken nicht ohne weiteres als ökonomisches Denken bezeichnet werden kann. Oder in den Worten Karl Polanyis ausgedrückt:

4 Für ein historisch-rekonstruktives Vorgehen kann stellvertretend auch Norbert Elias’ Kritik an einer zu stark auf die Gegenwart bezogenen Sozialforschung herangezogen werden, denn: „ (…) bei der Erforschung menschlicher Gesellschaften und ihrer Einzelprobleme engt man die Erklärungsmöglichkeiten allzu sehr ein, wenn man davon absieht, daß jede soziale Gegenwart aus der Vergangenheit kommend über sich hinaus auf mögliche Zukünfte hinweist, und die Probleme statt dessen in statische Typologien, statische Struktur- und Funktionsbegriffe einmauert, die gesellschaftliche Zusammenhänge ihrer Dynamik entleeren.“ (Elias 1983: 31, vgl. zur historischen Soziologie auch Bühl 2003; Schützeichel 2004).

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„Wir müssen uns von der tief verwurzelten Vorstellung befreien, derzufolge die Ökonomie ein Erfahrungsbereich ist, dessen sich die menschlichen Wesen notwendigerweise immer bewusst waren. Metaphorisch ausgedrückt, waren ökonomische Tatbestände ursprünglich in Zusammenhänge eingebettet, die ihrerseits nicht ökonomischer Natur waren; auch waren weder die Zwecke noch die Mittel, grundlegend materielle. Der Begriff der Ökonomie bildete sich erst im Laufe der Zeit und Geschichte heraus.“5 6 (dt. Übersetzung aus Polanyi/Arensberg/Pearson 1957).

Diese Auffassung bildet die Basis der folgenden Darstellung zur Untersuchung der theologischen/theologisch-philosophischen Denksysteme, die in der spätantiken und mittelalterlichen Epoche vorherrschend waren. Es geht darum, dass sich im geschichtlichen Prozess wandelnde Verständnis des Verhältnisses von Armut und Arbeit zu rekonstruieren. Eine Ideengeschichte über Arbeit und Armut kann in diesem Fall auch nicht geschrieben werden, ohne die sie bedingenden bzw. tangierenden gesellschaftlichen Strukturen und deren Wandel im Auge zu behalten. Deshalb wird im Folgenden auf relevante geschichtlich-gesellschaftliche Prozesse, die in einem Wechselverhältnis zu dominierenden theoretischen Ideen standen, ebenfalls Bezug genommen. In der Spätantike und im frühen Mittelalter stellte die Christianisierung der Bevölkerung des Römischen Reiches und seiner Nachfolgestaaten den wichtigsten gesellschaftlichen Veränderungsprozess dar. Wichtige Einstellungen zu Armut und Arbeit, die in den nachfolgenden Jahrhunderten des Hoch- und Spätmittelalters West-, Mittel- und Südeuropa dominierten, wurden in dieser Zeit vorgeprägt. Körperliche Arbeit – das war in der Antike das Schicksal der breiten Bevölkerungsmehrheit (vgl. zu den folgenden Ausführungen Eggebrecht u.a. 1980: 107 f., Huber 1984: 19). Da es sich bei der römischen Gesellschaft um eine Agrargesellschaft handelte, bedeutete das vor allem Landarbeit. Nur eine relativ dünne Oberschicht konnte sich ein Leben ohne körperliche und andere Arbeiten leisten. Die Quelle des Reichtums dieser Oberschicht lag im Landbesitz. Die arbeitende Landbevölkerung (Sklaven, Kolonen7, freie Bauern, vgl. Eggebrecht 1980: 95 ff.) musste den gesamten Überschuss, der nicht dem allernotwendigsten 5 „We must rid ourselves of the ingrained notion that the economy is a field of experience of which human beings have necessarily always been conscious. To employ a metaphor, the facts of the economy were originally embedded in situations that were not in themselves of an economic nature, neither the ends nor the means being primarily material. The crystallization of the concept of the economy was a matter of time and history.” (Polanyi/Arensberg/Pearson 1957: 242) 6 Das gilt auch für die ökonomische Theoriebildung. Demnach kann bei den ökonomischen Überlegungen griechischer Philosophen und der mittelalterlich scholastischen Denker „nicht von ökonomischer Theoriebildung gesprochen werden. Die Überlegungen waren eingebettet in politische und ethische Theorien und hatten unabhängig von diesen keine eigene Existenz.“ (Rosner 1982: 24). 7 Bei den Kolonen handelte es sich um Pachtbauern.

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Lebensunterhalt diente, über Steuern, Abgaben und Pachtzahlungen abliefern. Das bedeutet, dass die arbeitende Bevölkerungsmehrheit in besonders ärmlichen Verhältnissen lebte. Unabhängig davon, ob es sich bei den Arbeitern um Sklaven, Kolonen oder freie Bauern handelte – Arbeit und Armut gingen Hand in Hand. Das galt auch für die arbeitende Bevölkerung in der Stadt (vor allem Handwerker). Hier gab es auch Lohnarbeiter (vor allem im Hafen und im Baugewerbe, vgl. Eggebrecht 1980: 142). Allerdings erhielten diese Arbeiter in der Regel nur kurzfristige Arbeitsaufträge. Im Gegensatz zur modernen Lohnarbeit handelte es sich bei Lohnarbeitern in den Städten des römischen Imperiums also um Tagelöhner. Schon vor diesem Hintergrund lässt sich die Geringschätzung, vor allem körperlicher Arbeiten, unter der wohlhabenden Patrizierschicht erahnen. Etwas genauer: Alle körperlichen und geistigen Tätigkeiten, die nur dazu dienten, den Lebensunterhalt zu verdienen, wurden von der römischen Oberschicht verabscheut (vgl. Arendt 1960: 84). Einen Eindruck davon vermittelt Ciceros (106 43 v.u.Z.) philosophische Schrift de officiis, bei der die Lohnarbeit besonders schlecht wegkommt: „Eines Freien unwürdig und schmutzig sind die Erwerbsformen aller Tagelöhner, deren Arbeitsleistung, nicht handwerkliche Geschicklichkeiten erkauft werden.“ (Cicero 1992: 131). Wenn schon im Diesseits Arbeit auf eine rein existenzsichernde Funktion reduziert war und ebenso wie Armut verachtet wurde, wie stand es dann mit dem Jenseits? Sahen die vorherrschenden religiösen Vorstellungen wenigstens in dieser Frage Belohnungen für eine besonders gottgefällige Lebensweise vor? Die Antwort darauf, fällt, zumindest was Armut und Arbeit anbelangt, ebenfalls negativ aus: weder durch besondere Arbeitsanstrengungen, noch durch Armut und Kontemplation konnte das jenseitige Schicksal beeinflusst werden. Stattdessen entschwebten die Seelen der Toten, gemäß der auch im Römischen Reich weit verbreiteten griechischen Vorstellung, in die wenig verheißungsvolle Schattenwelt des Hades (vgl. Lang 2003: 12 f.; zu den Vorstellungen der Römer speziell Witte 1929: 41-45). Nur besonders privilegierten (noch nicht gestorbenen) Günstlingen der Götter winkte eine bereits diesseitige Aufnahme in das paradiesische, von Halbgöttern bevölkerte Elysium (vgl. Lang 2003: 15). Unter diesen Vorzeichen konnte ein besonderer religiöser Arbeits- oder Armutsethos offenbar nicht entstehen. Gegenüber der Antike nahmen in der Spätantike die sozialen Spannungen, sowie die kriegerischen Auseinandersetzungen im Rahmen der Völkerwanderung zu (vgl. hierzu und zu den folgenden Ausführungen z.B. Bengtson 1982, Brandt 2001). Die neuen Völker überwanden die Grenzen des Römischen Imperiums und konnten dort nur teilweise durch Ansiedlung integriert werden. Inflation und partieller wirtschaftlicher Niedergang prägten das gesellschaftliche 33

Geschehen. Auch in religiösen Belangen war ein gesellschaftlicher Wandel zu verzeichnen. Die alten Götter wurden immer seltener angebetet, ihre Tempel vielfach geschlossen. In dieser Situation allgemeiner Unsicherheit wandten sich die Bewohner verstärkt vom öffentlichen Leben ab und zogen sich auf private Belange zurück. Neue Religionen, wie z.B. das Christentum, (aber zunächst auch noch andere, z.T. sehr ähnliche Religionen) trafen diesen innerlichen Rückzug (vgl. zur religiösen Situation in der Spätantike Thrams 1992). Diese neuen Religionen und ganz besonders das Christentum versprachen ein ganz persönliches Heil, auf welches sich die Gläubigen durch öffentlichkeits- und weltabgewandte Lebensformen (hauptsächlich Askese) am besten vorbereiten konnten (vgl. z.B. Arendt 1960: 71). Die wenig verheißungsvollen Jenseitsvorstellungen der alten römischgriechischen Religion (Hades, Schattenwelt) – als unentrinnbares Los der Bevölkerungsmehrheit begriffen –, wurden durch die euphorische Naherwartung Christi und eines paradiesischen Lebens auf Erden und im Himmel abgelöst.8 1.5 Frühchristliche Vorstellungen zu Arbeit und Armut Mit diesen Heilserwartungen breiteten sich auch die frühchristlichen Vorstellungen über Armut aus. In den Evangelien wird in den Seligpreisungen den Armen (bzw. „geistlich“ Armen, Mt 5, 3) das Himmelreich versprochen (z.B. Lk 6, 20, vgl. auch Lk 4, 18, Mt 11, 5), also ein paradiesisches Leben ohne Not und Sorgen (vgl. zu den Hinweisen auf ein christliches Paradies in den Evangelien, Krauss 2004: 121). Damit wird Armut und Gefolgschaft Jesu in einen direkten Zusammenhang mit einer Aufnahme in das Paradies gerückt. Es finden sich weitere Stellen, die Armut bzw. Arme idealisieren (Mk 12, 41-44). Die Bevorzugung von Armen bzw. Armut, lässt sich aber noch besser an der skeptischen Einstellung bzw. Abneigung von Reichtum verdeutlichen. Reichtum und Besitz lenken diesen Vorstellungen gemäß nur von der Nachfolge Christi ab, denn Besitz aufzugeben fällt sehr schwer (Die Gefahr des Reichtums, Mt 19, 16-26; Mk 10, 17-27). Reiche haben demzufolge schlechtere Chancen auf Erlösung, auch

8 Tatsächlich stimmten die positiven Paradiesvorstellungen der alten heidnischen Religionen und des Christentums grundsätzlich überein (vgl. Lang 2003: 43 ff.). Demzufolge besitzt der Mensch eine unsterbliche Seele, die sich im Tod vom Körper trennt und in den Himmel aufsteigt oder in den Hades hinab. Die im Himmel lebenden Seelen leben in Glückseligkeit und es kommt zur Wiedervereinigung mit bereits verstorbenen Freunden und Verwandten. Der Unterschied heidnischer („paganer“) und christlicher Vorstellungen liegt in der Zahl, denn das heidnische Elysium ist nur wenigen verdienten, hervorragenden Persönlichkeiten zugänglich. Der christliche Himmel steht aber allen Gläubigen offen (vgl. Lang 2003: 51).

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wenn es für sie nicht ganz unmöglich ist diese zu erlangen (z.B. Mt 19, 23; Lk 5, 24; Mt 6, 20; Lk 12 16-21). Auch der Stellenwert von Arbeiten bzw. Tätigkeiten wird in den Evangelien behandelt. Arbeit, im Sinne der Verrichtung notwendiger Tätigkeiten, z.B. der Betreuung eines Gastes, kann ebenfalls vom Empfang der Botschaft und der Nachfolge Christi ablenken (Maria und Marta, Lk 10, 38-42). Existenzsicherungssorgen sind zudem „falsche“ Sorgen: „Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen sollt, auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen sollt.“ (Lk 12, 22). Mit anderen Worten: Jedwede Arbeit, die auf die Sicherung des diesseitigen Lebensunterhaltes ausgerichtet ist, ist in Hinsicht auf die Errichtung des unmittelbar bevorstehenden Reiches weniger wertvoll als Armut und Nachfolge Christi, ja im Fall von Existenzsicherungssorgen sogar schädlich. Überhaupt konfrontiert die christliche Religion ihre Gläubigen mit älteren biblischen Vorstellungen über Arbeit. Hier erscheint mühevolle Tätigkeit als Strafe für den Sündenfall von Adam und Eva: „Weil du (…) gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen –, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang.“ (1.Mose 3, 17) und: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen (…)“ (1.Mose 3, 19). Damit schied Arbeit als Grundlegung für ein neues (früh-) christliches Paradies aus. Armut und Reichtum, sowie Armut und Arbeit erscheinen damit in einem stark gegensätzlichen Verhältnis, wenn auch nicht im direkten Sinne einer Formel „Armut gegen Reichtum“ oder „Armut gegen Arbeit“ gedacht wurde. Das liegt daran, dass Armut nur die Funktion einer Zugangsvoraussetzung für die Aufnahme in das christliche Paradies zukam.9 Dieses paradiesische Reich10 erscheint als Gegensatz zum diesseitigen Reich. Im Diesseits herrschen Hunger und Elend, aber auch die („falsche“) Sorge um die eigene Existenz. Existenz, die für die Bevölkerungsmehrheit nur durch mühevolle Arbeit gesichert werden konnte. Arbeit, die wiederum auch die weitaus bessere Lebenssituation der besitzenden Schichten sicherte. Armut und Beschäftigung mit der christlichen Botschaft sind also gegen die diesseitige Welt gerichtet sowie alles, was mit ihr untrennbar verbunden ist. Nur in diesem Sinne kann davon gesprochen werden, dass sich Armut im frühchristlichen Denken auch gegen Reichtum und Arbeit richtete. Die Jenseitsvorstellungen der frühen Christen waren allerdings nicht homogen. Die in das Paradies aufgenommenen Toten sind (glück-) selig. Worin be9

Armut um ihrer selbst willen war stattdessen nicht erstrebenswert (vgl. hier auch den Beitrag von Coser 1992). 10 Die Paradiesvorstellungen unter der christlichen Bevölkerung des Römischen Reiches waren nicht homogen.

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steht diese Glückseligkeit? Gemäß einer stärker anthropozentrischen Vorstellung kam es im Jenseits zum Wiedersehen mit Freunden, Verwandten und Vorfahren (siehe Fußnote 8; vgl. Lang 2003: 49). Eine stärker theozentrische Vorstellung betonte die Nähe zu Gott. Nicht die Vereinigung mit Menschen führte demnach zur Glückseligkeit, sondern die Nähe zu oder die Vereinigung mit Gott (vgl. Lang 2003: 51). Besonders die theozentrische Vorstellung der Nähe zu Gott, sowie die negative Theologie der Hölle, dominierten die Jenseitsvorstellungen des folgenden Früh- und Hochmittelalters. In der ersten Phase der Ausbreitung der neuen Religion und ihrem Schrifttum, finden sich zu Arbeit und Armut aber auch schon andere Stimmen, wie z.B. das Pauluswort: „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen“ (2. Thess 3, 10).11 Damit wurde erstmals ein scharfer Kontrast formuliert, der bedingungslose Armut in Frage stellte, der aber in der weiteren Ausbreitung des Christentums zunächst nicht die Oberhand gewann. Die soziale Situation im Römischen Reich, besonders in den großen Städten (Alexandrien, Rom, Antiochien, Konstantinopel), sorgte eher für eine Verbreitung des ursprünglichen Armutsideals.12 Zeugnisse hierfür liefern z.B. Schriften der Pelagianer und die Predigten des Johannes von Chrysostomos. Johannes von Chrysostomos (349-407) beispielsweise sah sich in Antiochien und in Konstantinopel mit einem besonders scharfen Gegensatz zwischen Arm und Reich konfrontiert. Die sozialen Missstände führten ihn offenbar dazu, entgegen der allgemeinen Tendenz (Abwendung vom öffentlichen Leben), seine Gemeinde in dieser Frage zur Zuwendung zu motivieren, denn er forderte in seinen Predigten die reichen Bürger der Stadt immer wieder und besonders beharrlich zum Almosengeben auf. Diese Aufforderungen entsprangen seinen theologischen Gedanken der Synkatabasis, des mitfühlenden Herablassens Gottes auf die menschliche Ebene, die als Prinzip auch ein Musterbeispiel für jegliches menschliche Handeln darstellt: „Gern hungert er, damit du Nahrung bekommst, geht nackt umher, damit er dir einen Grund für die Verleihung des Gewandes der Unsterblichkeit gewähren kann.“ (Chrysostomos, zitiert nach Brändle 1999a: 177). Christus wird damit zum „Armen“ schlechthin: „Der Auferstandene tritt uns in der Gegenwart in den notleidenden Menschen entgegen, weil er unser Heil sucht.“ (Brändle 1999a 179). Interessant an Chrysostomos’ theologischen Gedanken ist auch, dass damit für eine – auf Grundlage einer freien Willensentscheidung basierende – Mitwirkung (Mit-Arbeit) Raum gelassen wird, wenn 11

Diese Ermahnung war an die Gemeinde in Saloniki gerichtet. Weiter heißt es:„Denn wir hören, daß einige unter euch unordentlich leben und nichts arbeiten, sondern unnütze Dinge treiben. Solchen aber gebieten wir und ermahnen sie in dem Herrn Jesus Christus, daß sie still ihrer Arbeit nachgehen und ihr eigenes Brot essen.“ (2.Thess 3, 11-12.). 12 Die tatsächlichen Produktions- und Lebensverhältnisse blieben davon aber weitgehend unberührt.

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auch vor allem in Bezug auf Armut und nur als nachvollziehender Schritt, denn zuerst hat Gott die „Menschen, (...) , mit einem Schlag zur Würde der Engel emporgehoben, ohne jede Mitwirkung von ihrer Seite.“ (Brändle 1999a: 169). Chrysostomos’ Werk fand zunächst nur sehr wenig Beachtung im westlichen Reichsteil. Erst mit der Wiederbelebung bzw. Herausbildung der großen mittelalterlichen Städte erlangten seine Vorstellungen auch dort Verbreitung (Armutsorden: Dominikaner, Franziskaner). Stattdessen fand in der westlichen Theologie das Werk des Augustinus Aurelius von Hippo (354-430) weite, und über das gesamte Mittelalter hinweg, starke Beachtung. Seine Theologie liest sich in weiten Teilen als scharfer Gegensatz zur Theologie Chrysostomos’. Zentrale Schlüssel seiner Theologie sind Erbsünde und Prädestination, statt freier Wille und Mitwirkung (vgl. z.B. zum Prädestinationsgedanken bei Augustinus, Nygren 1956; Brown 2000: 348 ff.). Sein transzendentaltheologisches Werk steht zudem im Gegensatz zu seinem sozial-ethischen Werk (vgl. zur Staats- und Soziallehre Augustinus’ auch Schilling 1910; Diesner 1954) – ein Kontrast, welcher sich in der östlichen Theologie, die die Gegenwart des göttlichen Reiches betont, so nicht findet. Freie Willensentscheidung und menschliches Mitwirken an der Erlösung scheiden in theologisch-transzendentaler Hinsicht bei Augustinus als Handlungsoption völlig aus. Diesseitiges Mitwirken (vor allem körperliche Arbeiten) sieht Augustinus aber trotzdem als Pflicht. Während Chrysostomos betonte, dass das Paulinerwort: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“ (2. Thess 3, 10) nicht von der Pflicht befreit, Almosen zu geben (zitiert nach Brändle 1999b: 43), forderte Augustinus die Ärmeren zu stärkeren Bemühungen auf und mahnte über die Beschäftigung mit Gott, nicht zu vergessen, den Lebensunterhalt zu verdienen (zitiert nach Schilling 1910: 218, 228 f.) Aber nicht jede Arbeit wurde von Augustinus als ehrbar angesehen: erlaubte Erwerbsarten sind Gewerbe (Handwerk), Ackerbau und – mit Einschränkungen – Handel (vgl. Schilling 1910: 248, vgl. auch Diesner 1954: 34 ff.). Augustinus erkannte Armut dabei durchaus als (soziales) Problem. In verschiedenen Äußerungen wies er auf die Not hin und forderte die Reichen zum Almosengeben auf (vgl. Schilling 1910: 217, 219 f.). Materielle Armut wurde aber von ihm viel deutlicher von geistiger Armut unterschieden als es vorher der Fall gewesen war. Er betonte: „(...) verachte nicht die barmherzigen Reichen, die demütigen Reichen, um es kurz zu sagen, verachte nicht die ‚armen’ Reichen; o Armer, sei auch du ‚arm’; arm, d.h. demütig.“ (vgl. Schilling 1910: 221). Dieser Gedanke legt nahe, dass „guter“ Reichtum durchaus legitimiert ist – „schlechter“ Reichtum oder „schlechte“ Armut jedoch nicht. Diese Unterscheidung zwischen „gutem“ Reichtum und „guter“ Armut resp. „schlechtem Reichtum“ und „schlechter“ Armut, bietet zudem die Möglichkeit das Almosen auf die Armen, die als würdig erachtet werden, zu beschränken, und in der Höhe so zu bemessen, dass nur die dringendste Not befriedigt wird 37

(vgl. Schilling 1910: 218).13 Auch die Gabe eines Darlehens wurde von Augustinus als Hilfeform gewürdigt und ggf. als die bessere Alternative erachtet (vgl. Schilling 1910: 218 f.). Vielleicht lassen sich die unterschiedlichen Haltungen der beiden Kirchenväter zu Arbeit und Armut am besten in folgender Weise zusammenfassen: Während Chrysostomos die transzendentale Arbeit (Almosengeben, Reichtum, Besitz aufgeben, arm sein) wertschätzte, negierte Augustinus jegliche Mitwirkung oder Einflussnahme am göttlichen Heilsplan (Erbsünde, Prädestination). Demgegenüber würdigte Augustinus bestimmte Formen der Erwerbsarbeit, die der (diesseitigen) Existenzsicherung dienen, wobei aber hierfür nur „ehrbare“ Arbeiten in Frage kamen. Arbeit als Existenzsicherung wurde von Chrysostomos demgegenüber nicht beachtet. Auch die unterschiedliche Haltung zu Armut und Reichtum lässt sich kurz zusammenfassen: Während Augustinus hauptsächlich geistige Armut (Demut) wertschätzte, waren bei Chrysostomos geistige und materielle Armut nicht voneinander zu trennen. Mit der Fokussierung der Lehren Chrysostomos’ und Augustinus’ in Hinblick auf Armut und Arbeit soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass diese beiden die einzigen waren, die sich zu diesen Fragen äußerten. Im Gegenteil. Es gab in der Spätantike und im frühen Mittelalter eine Reihe von Theologen, die diese Fragen aufgriffen. Dennoch geben die besprochenen Kirchenväter die beiden (teilweise gegensätzlichen) Grundtendenzen der christlichen Auffassungen zu Armut und Arbeit am besten wieder. Die Verwendung (eines Teils) des gesellschaftlichen Überflusses für die Armenhilfe (aus religiösen Gründen) wird als Caritas-Ökonomie bezeichnet. Als spezifisch ökonomisches Ergebnis des Wirkens dieser und anderer Kirchenväter kann deshalb festgehalten werden, dass eine Caritas-Ökonomie entstanden war, die im Laufe des Mittelalters noch deutlich an Bedeutung gewinnen sollte.

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Das stand ganz im Gegensatz zur Auffassung Chrysostomos‘, der in seinen Predigten immer wieder dazu aufforderte, reichlich zu geben, ohne darauf zu achten, ob der Empfänger die Gabe auch wirklich benötigte: „Denn im Armen, der uns bittend gegenübertritt, begegnet uns Christus. Es ist besser, einmal einem Unwürdigen ein Almosen zu geben, als Christus im Armen zu übersehen.“ (zitiert nach Brändle 1999b: 82).

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1.6 Das frühe Mittelalter: Arbeit als Pflicht der Bevölkerungsmehrheit – Armut als unabänderliches Schicksal In der westlichen Reichshälfte (Frankenreich) setzte sich diese Caritas-Ökonomie ab dem 5./6. Jh. jenseits der Klostermauern jedoch nur sehr schleppend durch und materielle Armut blieb geächtet. Man kann also bestenfalls von einer bescheidenen Caritas-Ökonomie sprechen. Die alten Städte waren im Gefolge der Völkerwanderung weitgehend entvölkert. Armut war deswegen in erster Linie (wieder) ländliche Armut, die sich nur selten in Armutsaufständen entlud. Überhaupt war die fränkische Gesellschaft eine Agrar-Gesellschaft, die Jahrhunderte dazu brauchte, die Ernährungsgrundlagen für die wachsende Bevölkerung um- und sicherzustellen.14 Vielleicht erklärt das, dass das städtisch geprägte Armutsverständnis der orthodoxen Theologie (z.B. Johannes von Chrysostomos) zunächst nicht an Einfluss gewinnen konnte und stattdessen die strengeren augustinischen Auffassungen eine weite Verbreitung fanden. Besonders bedeutsam war in der westlichen Reichshälfte neben der Christianisierung auch der Prozess der Feudalisierung. Zur Feudalisierung gehörte einerseits, dass den königstreuen Vasallen Ländereien (Lehen) zugeteilt, und ihnen dafür Kriegsdienste abverlangt wurden. Andererseits geriet die Klasse der ehemals freien Landbesitzer (Bauern) zunehmend in die Abhängigkeit ebendieser Feudalherren und wurde hörig, d.h. die Bauern behielten zwar ihr Land, aber sie mussten einer ganzen Reihe von Verpflichtungen gegenüber ihren Grundherren nachkommen und auf deren Ländereien arbeiten.15 Beide gesellschaftlichen Prozesse (Christianisierung und Feudalisierung) führten direkt zu der Einteilung der damaligen Gesellschaft in „diejenigen, die beten, diejenigen, die kämpfen und diejenigen, die arbeiten.“16 (vgl. Duby 1981: 168 ff.; Borst 1983: 61). Arbeit galt als eine Pflicht der breiten Masse der Bevölkerung und bestimmte während des gesamten Mittelalters – auch nachdem sich die katholische Kirche später mehr für „Armut“ interessierte – weitgehend das Leben der einfachen Menschen. Diese Arbeit ist aber mit der heutigen Lohnarbeit nicht zu vergleichen und richtete sich viel stärker nach den natürlichen Rhythmen und nach den

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Besonders langwierig erwies sich in diesem Zusammenhang die Umstellung von der Fleisch- auf die Getreidewirtschaft. 15 Neuere Geschichtsbücher empfehlen einen vorsichtigeren Umgang mit dem Begriff Feudalismus, denn „[d]as Lehnsrecht ist (…) im Mittelalter weder zeitlich noch geographisch so verbreitet gewesen, daß man in ihm die Einheit eines Zeitalters begründet sehen könnte.“ (Bookmann 1985: 16). 16 Oratores, Bellatores, Laboratores, oder wie es der Bischof Adalbero von Lyon ca. um 1020 fasst: „Das Haus Gottes, das man für eins hält ist also in drei geteilt: Die einen beten, die anderen kämpfen, die dritten schließlich arbeiten.“ (Adalbero, zitiert nach Borst 1983: 61).

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Bedingungen, die das feudale Gesellschaftssystem vorgab.17 Auch Arbeitslosigkeit im heutigen Sinne kannte das Mittelalter nicht.18 Für Armut kannte das Mittelalter hingegen viele Wörter. Das führt direkt zu der Frage: Wer waren die Armen im Mittelalter? Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten.19 Es scheint indes sinnvoll auf ein Armuts-Schwellen-Konzept zurückzugreifen, das der französische Historiker Michel Mollat vorgeschlagen hat (vgl. Mollat 1987: 13, ähnlich, aber nur für städtische Armut, auch Sachße/ Tennstedt 1998: 27) und das hier in einer etwas modifizierten Version wiedergegeben wird. Armut war demnach im Mittelalter ein Risiko, das prinzipiell jeden treffen konnte, also auch die gehobenen Stände. Abhängig vom wirtschaftlichkulturellen Niveau der mittelalterlichen Gesellschaften, können zwei Dimensionen der Armut ausgemacht werden: Bei der ersten handelt es sich um die wirtschaftliche Dimension von mittelalterlicher Armut. Absolute Armut20, verursacht durch Missernten, Seuchen/Krankheiten, Kriege, bildete hier die untere Grenze 17

Bei der mittelalterlichen Lohnarbeit handelte es sich wie schon in der Antike und Spätantike um kurzfristige, bzw. auch saisonale Arbeit. Neben städtischen gab es nun jedoch auch ländliche Tagelöhner. Lohnarbeit in dieser Form entwickelte sich aber im Unterschied zu vorherigen Zeitabschnitten zu einer zuvor unbekannten quantitativen und qualitativen Dimension (vgl. Eggebrecht 1980: 168 ff., zu lohnarbeitsähnlichen Abhängigkeitsverhältnissen in der städtischen Textilproduktion Sachße/ Tennstedt 1998: 26 und Bookmann 1985: 65). 18 Einen Eindruck davon vermittelt eine Untersuchung von Arbeitslosigkeit bei den Kabylen in Algerien (hier von Pierre Bourdieu wiedergegeben): „Das erinnert mich an eine Untersuchung über Erwerbsarbeit in der Kabylei. Eine der Fragen lautete folgendermaßen: ‘Haben Sie zur Zeit eine Beschäftigung?’ Es kam heraus, dass sich im Süden Algeriens mehr als 80% der Männer von 70 Jahren und älter als beschäftigt bezeichneten. Der Statistiker, der mit der Auswertung betraut war, fragte sich, welcher Art von Beschäftigung Männer dieses Alters nachgehen konnten und verdächtigte sie offen eines Irrtums oder der Böswilligkeit. Indes, diese alten Bauern waren aufrichtig. Sie kannten die industrielle Welt und die modernen Definitionen von Beschäftigung nicht. Sie gehörten zu einer Hirten-Welt, wo die Arbeit nach Tagen gezählt wird, wo der beherzte Mann früh aufsteht, wo die Pflicht darin besteht, dem Rhythmus aller zu folgen und sich entsprechend der überlieferten Tradition zu verhalten. (...) Arbeiten, das bedeutete einen Rang zu haben, eine Funktion als Mann zu erfüllen: Wenn man jemandem nachsagte, nicht zu arbeiten, dann wollte man vor allem sagen, dass er seine Rolle innerhalb der Gruppe, der Familie und des Dorfes schlecht ausfüllte. Es handelte sich weniger um einen ökonomischen Gegensatz zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit als um einen moralischen Gegensatz zwischen dem Arbeiter, der seine soziale Pflicht erfüllt, und dem Faulenzer, dem es daran mangelt.“ (Bourdieu 2001). 19 Darauf machen Christoph Sachße und Florian Tennstedt aufmerksam:„Der mittelalterliche Begriff der Armut entbehrt der klaren Konturen, die wir heute mit ihm verbinden. Er ist ursprünglich orientiert an den feudalen Prinzipien unmittelbar personenbezogener Herrschaftsverhältnisse. Der »arme man« ist demnach der hörige Bauer, der Untertan minderen Rechtsstatus. Arm ist, wer machtlos, wer schutzbedürftig und von geringem Stande ist, kurz: wer sich auf der untersten Schicht der feudalen gesellschaftlichen Hierarchie befindet.“ (Sachße/Tennstedt 1998: 27). 20 Sachße/Tennstedt verwenden hierfür den Begriff „primäre Armut“ (vgl. Sachße/Tennstedt 1998: 27).

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des Elends. Davon war praktisch jedermann jederzeit bedroht.21 Von existentiellen Notlagen abgesehen, bildete wirtschaftliche Armut im engeren Sinne eine Armutsschwelle, die in Termen der modernen Soziologie und Sozialforschung vielleicht am besten als relative Armut zu übersetzen ist. Wo diese Schwelle genau anzusiedeln war, ist im Einzelnen nicht so entscheidend. Wichtig ist, dass es sich bei einer wirtschaftlich armen Person um einen Armen handelte, der „(...) bescheiden, aber im Grunde resigniert von den geringen Erträgen seiner Arbeit, von kirchlicher Unterstützung und von Almosen lebte. (...) Trotz seines Unglücks blieb er in seinem Leid Mitglied der sozialen Gruppe, innerhalb der Grundherrschaft, der Kirchgemeinde, der Dorfgemeinschaft oder der Stadt.“ (Mollat 1987: 16).

Neben der wirtschaftlichen Dimension von Armut stellte die soziale Dimension eine spezifisch mittelalterliche Form der Armut dar. Die soziale Armutsschwelle wurde dann überschritten, wenn eine Person ihre Arbeitsmittel, Statussymbole und ihren Stand verlor.22 Solchermaßen Betroffene waren „(...) fortan deklassiert, ausgeschlossen, zur Auswanderung oder zum Umherziehen gezwungen; der Arme lebt allein und ohne Bindungen.“ (Mollat 1987: 14, vgl. zum Problem sozialer Armut im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit auch Rheinheimer 2000: 135 ff.). Wie aber wurde Armut damals bewertet? Wie die eben gegebenen Ausführungen zu mittelalterlichen Dimensionen der Armut bzw. Armutsschwellen bereits andeuten, war wirtschaftlich-sozialer Abstieg sehr folgenreich und hatte besonders in seiner sozialen Dimension etwas Schicksalhaftes, Unwiderrufliches. Umherziehende Arme wurden als Belästigung empfunden oder es wurde ihnen zumindest mit Misstrauen begegnet. Das gilt insbesondere für die Zeit unter der

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Ernährungskrisen bildeten eine ständige existentielle Bedrohung. Massimo Montanari zählte, gestützt auf schriftliche Überlieferungen, zwischen 750 und 1100 insgesamt 29 große Hungersnöte. Der Chronist Radulf Glaber berichtet von der großen Hungersnot zwischen 1032 und 1033: „Alle Bevölkerungsschichten waren von dem Nahrungsmangel getroffen; Reiche und weniger Reiche wurden durch den Hunger ebenso kraftlos wie die Armen. (...) Unterdessen, nachdem sie sich von Vierbeinern und Vögeln ernährt hatten, begannen die Menschen unter den schrecklichen Qualen des Hungers jede Art von Fleisch als Nahrung zu sich zu nehmen, auch das von Kadavern und andere ekelerregende Dinge.“ Kannibalismus war die Folge. So, „zwang die Raserei des Hungers die Menschen dazu, menschliches Fleisch zu verschlingen, wie man es in der Vergangenheit nur selten gehört hatte. Vorüberziehende wurden von Menschen gepackt, die stärker waren als sie, zerlegt, auf dem Feuer gekocht und hinuntergeschlungen (...)“ (zitiert nach Montanari 1993: 54 f.). 22 In diesem Zusammenhang sprechen Sachße/Tennstedt von „sekundärer Armut“ (vgl. Sachße/Tennstedt 1998: 27, vgl. auch die Ausführungen zum Armutsbegriff und zu Armutsschwellen in Fischer 1979: 17 ff.).

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Herrschaft der Merowinger, während unter den Karolingern eine graduelle Entspannung konstatiert werden kann (vgl. Mollat 1987: 30, 36 f.).23 1.7 Die hochmittelalterliche Wertschätzung von Armut und der Bedeutungsgewinn von Arbeit Auch wenn die Einschätzung einer negativen Bewertung von Armut für das frühmittelalterliche und insbesondere okzidentale Europa weitgehend zutrifft, repräsentativ für das gesamte Mittelalter ist sie nicht. Denn die negative Einstellung zur materiellen Armut veränderte sich in West- Mittel- und Südeuropa schließlich doch: „Das Wissen über die Existenz der Armut und das Gefühl, zu ihrer Linderung verpflichtet zu sein, bildete sich langsam, sehr langsam heraus, durch Predigten, Heiligeneviten, Wundererzählungen, Gleichnisse und durch die karitativen Einrichtungen, die den Reichen zur Nachahmung empfohlen und für die Armen geöffnet wurden.“ (Mollat 1987: 28 f.).

Noch viel bedeutungsvoller als diese langsame Kulturwirkung der Christianisierung war aber ein weiterer wichtiger mittelalterlicher Prozess, der die bis dato wichtigsten Prozesse des Frühmittelalters, Christianisierung und Feudalisierung im Hoch- und Spätmittelalter ablöste: die Urbanisierung. Nur vor dem Hintergrund dieses Prozesses ist die Dominanz des Armuts-Topos ab dem 11./12. Jh. überhaupt zu verstehen. Erst ab dieser Zeit trafen die Erfahrungen und Wertvorstellungen der oströmischen bzw. byzantinischen Kirche/Mönchtums (weiter oben diskutiert anhand der Kirchenlehre Chrysostomos’) auch im Westen auf Resonanz. Das lag daran, dass die sich verändernde soziale Situation, die die Menschen verstärkt mit wachsender Armut konfrontierte, und den Rechtfertigungsdruck auf Reichtum und Geldbesitz insgesamt erhöhte, es nahe legte, die Erfahrungen des bis dato wirtschaftlich weiter entwickelten Byzantinischen Reiches mit materieller Armut aufzugreifen (vgl. Geremek 1991: 23). Völlig durchsetzen konnte sich die positive Bewertung von materieller Armut zwar nie, aber mit der Ausbreitung der Bettelorden im Hochmittelalter (Franziskaner und Do-

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Michel Mollat beschreibt die Verachtung gegenüber umherziehenden Armen in der Merowingerzeit und ihre brutale Behandlung folgendermaßen: „In Notzeiten war es (...) durchaus üblich, Wachhunde einzusetzen und sie auf die Bettler zu hetzen. Sogar den Bischöfen mußte das Konzil von Macon 585 verbieten, die Bettler mit einer Hundemeute zu vertreiben.“ (Mollat 1987: 33).

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minikaner) fand sie ab dem 13. Jh. eine überaus starke und weit verbreitete Anerkennung.24 Das Hochmittelalter war das Zeitalter der Wiederzuwendung zum öffentlichen Leben, oder wie es der französische Historiker Jacques LeGoff für das 13. Jh. treffend formuliert: es ist „das Zeitalter, in dem die Werte auf die Erde herniedersteigen.“ (LeGoff 1988: 68). Die Wiederbelebung der Städte25 stellte die kirchliche Lehre vor völlig neue Herausforderungen. Wie eben gesehen, konnten einige dieser Defizite durch den Rückgriff auf vergangene Erfahrungen überwunden werden. Das ist zweifellos wahr für die Neu-Behandlung der Armut (Übernahme von Armuts-Konzeptionen aus der Ost-Kirche). Andere Entwicklungen, besonders in Hinsicht auf neue und andere Erwerbsformen, konnten zunächst wesentlich schlechter auf herkömmliche Weise mit den vorhandenen Dogmen in Übereinstimmung gebracht werden. In Jacques LeGoffs Worten: „Ein neues ökonomisches System beginnt sich herauszubilden: der Kapitalismus; seine Entwicklung erfordert neben neuen Techniken – zumindest anfänglich – auch den massiven Gebrauch von Praktiken, die die Kirche seit jeher verdammt hat. (LeGoff 1988: 8).

Zu diesen Praktiken gehörte beispielsweise die für die wirtschaftliche Entwicklung der Städte dringend notwendige Erweiterung des Handels- und Kreditwesens. Tätigkeiten in diesen Bereichen waren jedoch verfemt (Handel) oder wurden hartnäckig bekämpft (Geldverleih auf Zinsen, „Wucher“, Konzile: 1139, 1179,1215,1274,1311 vgl. LeGoff 1988: 22).26 Trotzdem wurde ihre Notwendigkeit und Existenz im Prinzip – wenn auch nur negativ – anerkannt: 24

Darauf, dass Armut und Bettelei aber nicht in jedem Fall deckungsgleich waren, machen Sachße/ Tennstedt aufmerksam: „Es gibt eine große Zahl von Berufsbettlern, also durchaus gesunden und arbeitsfähigen, aber arbeitsunwilligen Individuen, die es vorziehen, ihren Unterhalt durch Betteln zu erwerben. Und es gibt schließlich eine Fülle von Bettelorden und sonstigen religiös motivierten Bettlern, (…) die die gesamte zeitgenössische Bettelei mit einem Glanz von Gottgefälligkeit überhöhen. Auch das mittelalterliche Berufsbettlertum wird daher nicht mit einem gesellschaftlichen Unwerturteil belegt, wie wir es heute mit der Kennzeichnung »arbeitsfähig, aber arbeitsunwillig« verbinden mögen. Die Bettler sind vielmehr eine anerkannte Berufsgruppe wie andere auch.“ (dazu und noch ausführlicher Sachße/Tennstedt 1998: 29). 25 Im Unterschied zu den antiken Städten ist die mittelalterliche Stadt nicht mehr eine Ansiedlung von Großgrundbesitzern, sondern von Handwerkern und Händlern. Die mittelalterliche Stadtentwicklung ist im engen Zusammenhang zum Aufschwung des Handwerks zu sehen, der entscheidend zur Entstehung von Märkten und Fernhandelsbeziehungen beitrug (vgl. z.B. Sachße/Tennstedt 1998: 23 ff., zur städtischen Bevölkerung, der Entwicklung von Gewerbe und Handel im Mittelalter vgl. auch Bookmann 1985: 46-52 und 60-71. 26 Wucher wurde beispielsweise als das größte Übel der Epoche bezeichnet (Robert von Courçon, zitiert nach LeGoff 1988: 23). Solche und ähnliche Attacken trafen dann besonders Kreditgeber jüdischer Herkunft, für die das Verbot aber gerade nicht galt. Klerikale Anfeindungen richteten sich

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„Gott verfügte, dass drei Menschenarten sein sollen. Die Bauern und die anderen Arbeiter, um das Überleben der übrigen zu sichern, die Ritter, um sie zu verteidigen, und die Geistlichen, um sie zu regieren; aber der Teufel setzte eine vierte Art ein: die Wucherer.“ (zitiert nach LeGoff 1988: 59).

Dieser Ausschnitt aus einer Predigt von Jakob von Vitry (gest. 1254) aus dem 13. Jh. belegt sehr eindrucksvoll, dass sich der von den Klerikern verteufelte „4. Stand“ gesellschaftlich längst etabliert hatte. Dem hartnäckigen Kampf gegen den „Wucher“ kam nun, gemäß den Analysen des französischen Historikers Jaques LeGoff, überraschenderweise eine Bedeutung bei der Aufwertung von kirchlich (positiv) sanktionierten Erwerbstätigkeiten zu (vgl. LeGoff 1988: 44). Galten alle Erwerbstätigkeiten bei den Menschen des Mittelalters zuvor als Sühne (Strafe) für den Sündenfall, so wurden sie nun mehr und mehr als Instrument des Heils und des Loskaufs vom Stand der Sünde betrachtet. Arbeit geriet nun zur Mitarbeit am Werk des Schöpfers und wurde damit in den Rang eines transzendentalen Wertes emporgehoben. „Wucher“ als negativ bewertete Tätigkeit, die wie andere verfemte Tätigkeiten als nicht-anstrengend eingestuft wurde („Müßiggang“), arbeitete gemäß klerikalen Überzeugungen der Schöpfung entgegen. Aus dieser Haltung heraus hetzte Robert von Courçon (ca. 1155-1218): „Ein jeder esse das Brot, das er durch eigene Anstrengung erwarb, die Müßiggänger und Wucherer jage man davon.“ (zitiert nach LeGoff 1988: 44).

Damit wurde Arbeit schon in der Zeit des Hochmittelalters zur einzig legitimen Quelle von Wohlstand für die einfachen Stände, auch wenn es sich hier noch nicht um die neuzeitlich-kapitalistische Lohnarbeit handelt. Das geschah aber auf Kosten des Kreditwesens, das als Sündenbock herhalten musste. Aus moderner Sicht erscheint das paradox, denn die wirtschaftliche Entwicklung der mittelalterlichen Städte (und damit Arbeit in Stadt und Land) wäre ohne die Ausbildung und Entfaltung des Kreditwesens überhaupt nicht denkbar gewesen.

aber auch gegen teils legale, teils illegale Praktiken der Zinsnahme christlicher Geldverleiher (vgl. zum Thema Geld und Kredit im Mittelalter auch Bookmann 1985: 71 ff.).

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1.8 Veränderungen im hoch- und spätmittelalterlichen kirchlichen Legitimationsapparat Der langsame Aufstieg der Arbeit lenkt die Aufmerksamkeit auf Veränderungen im hoch- und spätmittelalterlichen Legitimationsapparat der christlichen Kirche. Dieser behinderte wichtige wirtschaftlich-gesellschaftliche Entwicklungen massiv, wie in Kapitel 1.7 beispielhaft anhand der Entwicklung des Finanz- und Kreditwesens erörtert wurde. Dennoch war auch der Legitimationsapparat Objekt des gesellschaftlichen Wandels. Ein entscheidender Schritt der Veränderung des Legitimationsapparates war die Ablösung der patristischen Theologie durch die hochmittelalterliche Scholastik: Während die Patristen damit beschäftigt waren, aus der Botschaft Jesu und der Apostel ein festes System von Dogmen zu schaffen und an die besonderen gesellschaftlichen Entwicklungen im Römischen Reich und seiner Nachfolgestaaten anzupassen (siehe oben Augustinus von Hippo, Johannes von Chrysostomos), waren die Scholastiker damit beschäftigt, diesen Dogmen ein Fundament zu geben. Dieses sollte gewährleisten, dass die Glaubensgrundsätze begründ- und nachvollziehbar und damit versteh- bzw. einsehbar wurden (vgl. auch Störig 1992: 235). Dem Glauben (Theologie, Offenbarung) wurde also ein im Prinzip theologieunabhängiges Wissen (Philosophie) beiseite gestellt (vgl. auch Schönberger 1998: 41), welches durch klare und formale Regeln (Begründung) Glaubenssachverhalte verstehbar machen sollte. Es ist ersichtlich, dass durch diese Entwicklung die kirchliche Lehre angreifbarer wurde. Das wurde im Prinzip auch von den Vertretern der Scholastik erkannt. Thomas von Aquin (1225-1274), der bedeutendste Scholastiker des Hochmittelalters, konstatierte, dass Begründungen, aus denen eine Glaubensaussage nicht wirklich folgt, den Glauben desavouieren und ihn der Lächerlichkeit preisgeben (vgl. Thomas von Aquin, zitiert nach Schönberger 1998: 43, Sth. I; De Rationibus fidei, c1). Aber offensichtlich konnte nachdem diese Entwicklung einmal angestoßen war nicht mehr zu alten Positionen zurückgekehrt werden.27 Die Schriften des Aristoteles, die über den Umweg der arabischen Philosophie ihren Weg zurück nach Europa fanden, wurden relativ problemlos in die scholastische Philosophie integriert und motivierten die Forschungsbemühungen, weil sie Spielräume für wissenschaftliche Betätigung schufen, die vorher so nicht vorhanden waren.

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Genau das wurde in der Zeit der Frühscholastik von sehr einflussreichen Kräften versucht. So erreichte der sehr einflussreiche Mystiker Bernhard von Clairvaux (1091-1153) die Exkommunikation des berühmtesten Vertreters der Frühscholastik Petrus Abaelard (1079-1142, vgl. LeGoff 1993: 27 f.,50 f.).

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Wie kam es dazu? Die mittelalterliche Philosophie musste sich von Beginn an mit dem so genannten Universalienstreit auseinandersetzen. Dieser Streit entzündete sich an der Frage, ob dem Allgemeinen („Universalien“, das sind Begriffe, bzw. Urbilder, Prototypen) eine höhere Wirklichkeit zukommt als den Einzeldingen oder vice versa. Die erste Position („Realismus“) wurde von den meisten Frühscholastikern, aber auch in einer abgemilderten Form von den bedeutendsten Hochscholastikern vertreten (vgl. Störig 1992: 237 ff.). Vertreter der anderen Position finden sich vor allem in der Spätscholastik („Nominalismus“, vgl. auch Lefèvre 1978: 70, besonders Endnote 47). Im „Realismus“ rangierten Begriffe vor den Einzeldingen („universalia ante res“) bzw. ab Petrus Abaelard auch in den Dingen („universalia in rebus“). D.h. sie waren im gewissen Sinne wirklicher, weil sie das Wesen oder die Substanz eines Einzeldinges am besten hervorhoben und es von unwesentlichen bzw. akzidentiellen Merkmalen schieden (vgl. Pribram 1998: 23 f.). Die Scholastik vor der Aristoteles-Rezeption nahm hier eine unendliche und unbestimmte Anzahl von Allgemeinbegriffen an (vgl. Pribram 1998: 24). Mit der Übersetzung der Schriften Aristoteles’ und der anschließenden Rezeption seiner Werke wurde diese arbiträr gesetzte Vielfalt von Allgemeinbegriffen fallengelassen und zugunsten der menschlichen Erkennbarkeit bzw. Bildung von Begriffen durch Abstraktion ersetzt: Demnach ist der menschliche Geist befähigt, allgemeine Begriffe aus gemeinsamen Wesenseigenschaften einer Gruppe oder Klasse von vergleichbaren Objekten herzuleiten (vgl. Pribram 1998: 24). Diese Entwicklung war es, die einen größeren Spielraum für die wissenschaftliche Diskussion abgab und bestimmte gesellschaftliche Veränderungen förderte (z.B. neue Wertschätzung der intellektuellen und anderer Arbeiten, vgl. LeGoff 1993), andere hingegen auch weiterhin massiv behinderte (hier vor allem die Entwicklung des Kreditwesens). Eine weitere Anpassung des kirchlichen Legitimationsapparates an die neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten gestatteten zudem nominalistische Positionen. Jene Positionen also, die den Einzeldingen eine höhere Bedeutung gegenüber Allgemeinbegriffen beimaßen („universalia post res“). Auch wenn sich die kirchliche Lehre zunächst im starken Konflikt mit nominalistischen Anschauungen befand, verhindern konnte sie die wachsende Verbreitung solcher Ideen nicht. Im Gegensatz zum „Realismus“ nahmen die „Nominalisten“ wie ihr früher Vertreter Johannes Roscellinus von Compiegnè (1050-1120) an, dass die Allgemeinbegriffe von Menschen erdachte Namen bzw. Bezeichnungen sind, in denen einander ähnliche Einzeldinge nach ihren gemeinsamen Merkmalen zusammengefasst werden (vgl. Störig 1992: 240). Dieser Gedanke musste von den „Realisten“ als Angriff empfunden werden, richtete er sich doch gegen die damals spezifisch-inhaltliche Ausrichtung des kirchlichen Legitimationsapparates in der Vermählung der christlichen Theologie mit der aristotelischen Philosophie (vgl. 46

Störig 1992: 266, 268). Berühmte Vertreter der Spätscholastik (z.B. Roger Bacon, 1214-1294, Duns Scotus, 1270-1308 und Wilhelm von Occam, 1290-1347) griffen die Gedanken des „Nominalismus“ wieder auf, denn sie boten ein weit besseres Fundament für ihre wissenschaftlich-technischen u.a. schöpferischen Arbeiten, die auf Naturbeobachtung bzw. -erfahrung basierten. Mit diesen Gedanken wurde schließlich die Befreiung der schöpferischen Arbeit („Homo faber“) auch auf geistiger Ebene vollzogen und das Ende des Mittelalters eingeläutet. 1.9 Die Armuts- und Arbeitsrezeption zu Beginn der Neuzeit als Hintergrund für die Herausbildung der ökonomischen Theorie Körperliche und geistige Arbeit wurden folglich nicht mehr nur als notwendiges Übel zur Sicherung der Existenz angesehen. Leicht erkennbar ist das an den christlichen Reformbewegungen des 16. Jahrhunderts: ein Christ ging nicht einfach nur einer Arbeit nach, sondern wurde von Gott dazu berufen. Er hatte folglich einen Beruf und sollte sich geistigen und körperlichen Anstrengungen hingeben (vgl. zur Berufskonzeption Martin Luthers und der christlichen Reformbewegungen Weber 1993: 34 ff.). Schließlich wurde angenommen, dass auch Christus hart und unentwegt arbeite: „Sic Christus stehet bey uns Im schlam und arbeitt, das Ihm die haut rauchett.“, wie Martin Luther ca. 1514 in einer seiner Predigten bemerkt (Luther 1886: 608 f., vgl. auch den Artikel von Trowitzsch 2004). Solchen Vorstellungen gemäß kann nur die Erfüllung der innerweltlichen Pflichten Gottes Wohlgefallen erzielen (vgl. Weber 1993: 39). Diese gedankliche Konstruktion steht wiederum in direktem Bezug zur Teilhabe am christlichen Paradies.28 Teilhabe am christlichen Paradies – oder nicht, das steht gemäß der kalvinistischen Reformtradition (vgl. Weber 1993: 53 ff.), die sich vom Prädestinationsgedanken leiten ließ, schon fest. Allein der Gedanke daran, nicht erwählt zu sein, verführte aber die kalvinistischen Gläubigen zur ständigen Suche nach

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In der Theologie Martin Luthers ist die berufliche Hingabe, die Erfüllung der innerweltlichen Pflichten aber wahrscheinlich nur eine Vorstufe der Erlösung. Letztendlich kommt es, gemäß Luther, darauf an, sich von den persönlichen Leistungen bzw. Werken sich (innerlich) wieder freizumachen (vgl. dazu die Ausführungen von Trowitzsch 2004: 266 f.). Diese innerliche Befreiung, bzw. Freiheit, symbolisiert durch den Sabbat („Bitte Gott, dass er selbst alle deine Angelegenheiten regelt und du nichts tust, sondern ein Sabbat seiest für Christus.“, zitiert nach Trowitzsch 2004: 267), versteht Luther allem Anschein nach als Muße und nur durch Muße lässt sich Luthers Meinung zufolge Gott dienen.

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Anzeichen (Gnadengewissheit) und damit zur rastlosen Berufsarbeit, um die religiösen Zweifel zu verscheuchen (vgl. Weber 1993: 70 f.). Verbunden mit diesem Aufstieg von Arbeit innerhalb der christlichen Reformbewegungen war die zunehmende Erosion des ursprünglichen christlichtranszendentalen Grundwertes Armut (vgl. dazu Geremek 1991: 145-244). Armut bzw. Bettelei wurde als Form der diesseitigen Mitarbeit schließlich ganz verworfen, und blieb damit auch bei der weiteren Ausbildung der Berufe unberücksichtigt (siehe aber Fußnote 24 zum mittelalterlichen Berufsbettlertum). Mehrere pejorative Äußerungen Martin Luthers29 über Armut bzw. Bettelei (die allerdings auch im Zusammenhang mit den Kontroversen um die Bettelorden zu sehen sind), belegen die sich abzeichnende Veränderung in der Einschätzung von Armut im Geist der beginnenden Neuzeit: Lakonisch erläutert er in einem Artikel seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ vom August 1520: „Es ist wohl der größten Nöte eine, daß alle Bettelei abgetan würde in aller Christenheit. Es sollte doch niemand unter den Christen betteln gehen.“ und: „Es ist genug, daß geziemlich die Armen versorgt sind, dabei sie nicht Hungers sterben noch erfrieren.“ (zitiert nach Sachße/Tennstedt 1998: 59). Für die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Armut und Arbeit ist festzuhalten, dass in diesen Äußerungen Armut und Arbeit aber noch nicht zueinander in Bezug gesetzt wurden. Dazu fehlte vor allem noch die „Säkularisierung“ des Paradiesgedankens, in einer Verlagerung vom Jenseits ins Diesseits. Erste Schritte dazu sind schon in der Renaissance in einer Anthropozentrierung des Paradiesgedankens erkennbar. So veröffentlichte beispielsweise der Italiener Lorenzo Valla (1405-1457) im Jahre 1431 philosophische Dialoge über das Glück (»De voluptate«, dt: „Über die Lust“, vgl. Lang 2003: 72 ff.). Das künftige ewige Leben wird sich hier zwar ganz der antiken und mittelalterlichen Tradition gemäß noch als jenseitig vorgestellt. Allerdings gleicht dieser Himmel der Erde weit mehr, als theologische Denker vor ihm glauben wollten, denn es gibt beispielsweise Berge, Täler, Strand und Meer. Das Leben in diesem jenseitigen Paradies wird also nur insofern zum irdischen Leben ergänzt, als es ein Leben in Muße und Wohlbehagen ist. Auch spätere Paradiesvorstellungen verleihen dem jenseitigen Paradies nun eine fast diesseitige und zudem zeitnahe Ausstattung (vgl. Lang 2003: 75 ff.). Ein Beispiel hierfür ist die barockzeitliche Ausgestaltung des jenseitigen Paradieses bei Emanuel Swedenborg (1688-1772), der in seiner Schrift »De Coelo et ejus Mirabilibus et de Inferno, ex Auditis et Visis« (dt: „Vom Himmel und sei29

Martin Luthers Ausführungen sind nicht die ersten Anwürfe gegen Armut und Bettelei. Auch andere hoch- und spätmittelalterlichere Denker hatten sich bereits in ähnlicher Weise geäußert (eine Auswahl zu zeitgenössischen Bettelkritiken findet sich in Sachße/Tennstedt 1998: 40-63).

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nen Wundern und von der Hölle, aus Gehörtem und Geschauten“) erläutert, dass selbst Engel ganz irdisch anmutenden Berufspflichten nachgehen (z.B. Erziehung von im Säuglingsalter verstorbenen Kindern, vgl. Swedenborg 1924: 190). Außerdem hat die Umgebung einen urbanen Charakter, die Verständigung erfolgt in einer einheitlichen Sprache und die Engel leben in ehelicher Gemeinschaft (vgl. dazu auch Lang 2003: 78).30 Angesichts dieser teilweise recht irdisch anmutenden Verhältnisse im jenseitigen Paradies, ergänzt um ein paar ebenfalls ganz irdisch anmutende Wünsche (Muße, Wohlbehagen), kann sehr leicht die Frage aufkommen, ob das jenseitige Paradies nicht auch auf Erden und ohne Gott verwirklicht werden kann. Zunehmend werden ab Ende des 17. Jahrhunderts auch Zeichen und Wunder als Beweise für Gottes Existenz in Frage gestellt (vgl. Daston 2001: 62, zum Verfall traditioneller Weltbilder vgl. Dux 1990: 281 f.). Und es gibt zum Ende des Mittelalters und in der frühen Neuzeit schon Utopien, die weitgehend ohne Gott und Jenseits auskommen (z.B. Thomas Morus’ Utopia und Tommaso Campanellas Sonnenstaat). Ein Mittel der Verwirklichung solcher Utopien ist Arbeit (vgl. zum Stellenwert von Arbeit in Utopien Fetscher 1983: 66 ff.). Am besten ist es, diejenigen mit Arbeit zu versorgen, die (scheinbar) keine haben: Beispielsweise forderte der Quäker Lawson schon 1660 in einem Appell an das Parlament betreffend die Armen, die Schaffung einer öffentlichen Arbeitsvermittlung (vgl. Polanyi 1995: 149). Ein anderer Quäker, John Bellers, entwickelte 1696 ein Konzept, unfreiwillig arbeitslose Arme in Gewerbevereinigungen zu versammeln, in denen sie Produkte für den gegenseitigen Austausch und damit zum gegenseitigen Nutzen herstellen sollten (vgl. Polanyi 1995: 150). Arbeit wurde nun ganz offen in Bezug zu Armut gesetzt31, auch wenn der Gedanke, dass sich Arme durch eigene Arbeit finanziell besser stellen könnten oder sollten, noch nicht erscheint. Die Formel (individuelle) Arbeit gegen (individuelle) Armut war der damals vorherrschenden merkantilistischen Wirtschaftsordnung noch wesensfremd. Im Merkantilismus standen stattdessen staats- und herrschaftserhaltende Zwecke im Vordergrund. (vgl. Rosner 1982: 30), wobei üblicherweise der Au30

Wenig von diesem Anthropozentrismus spürt man dagegen bei Jakob Boehme (1575-1624), der in seinen Ausführungen zum Paradies noch dessen fundamentale Andersartigkeit betont: „Wir werden am jüngsten Tage (…) heimgehen in eine andere Welt, in ein ander Prinzipium anderer Qual.“ (Boehme 1957: 248). 31 Vgl. hier die Ausführungen von Sachße/Tennstedt: „Die Disziplinierung der Unterschichten, die staatliche Produktion einer Arbeitsbevölkerung gewinnt in den Manufakturen ihren ökonomischen Bezugspunkt. Die Entwicklung der Armenfürsorge in diesen frühen Phasen ist gekennzeichnet durch die Definition von Armut als »Nicht-Arbeit« und ihre sukzessive Ausgrenzung aus einer Gesellschaft, die sich von Fleiß, Disziplin und Arbeitsamkeit wachsenden Wohlstand, »Macht und Glückseligkeit« verspricht.“ (Sachße/Tennstedt 1998: 15).

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ßenhandel als Quelle des nationalen Reichtums betrachtet wurde. Aber der Zeitgeist erkannte hier schon eine andere Quelle: „The wealth of all nations arises from the labour and industry of people.“, wie der königliche Beamte und Schreiber der East Indian Company Charles Davenant 1698, also noch kurz vor der Jahrhundertwende vom 17. zum 18. Jh. bemerkt (zitiert nach Rosner 1982: 40). Die Früchte dieser Arbeit und dieses Fleißes der arbeitenden Unterschicht konnten die Reichen – daran bestand bei den merkantilistischen Autoren kein Zweifel – aber berechtigterweise einstreichen (vgl. Rosner 1982: 45). Das war der merkantilistischen Oberschicht aber immer noch zu wenig, weswegen die Armen zu mehr Arbeit angehalten wurden. Der damals gängigen Überzeugung konnte das nur über die Disziplinierung der Unterschicht durch niedrigere Löhne und Arbeitshäuser geschehen (vgl. Rosner 1982: 47), nicht aber durch finanzielle Anreize. Wenn solche Vorschläge wie die von Lawson und Bellers auch noch nicht umgesetzt werden konnten – schließlich war der damals vorherrschende Merkantilismus keine moderne Marktgesellschaft – so lag doch die Bedeutung dieser Ideen darin, Arbeit und Armut zueinander in Bezug zu setzen, womit die CaritasÖkonomie des christlichen Mittelalters gedanklich endgültig überwunden und spätere Entwicklungen, wie die Schaffung eines Arbeitsmarktes vorbereitet wurden. Ein weiterer Beleg hierfür ist die zunehmende wissenschaftliche Beschäftigung mit Arbeit und Armut. Sowohl im Britischen Empire als auch auf dem europäischen Kontinent (hier besonders Frankreich) wurden Armut und Arbeit thematisch jetzt in einer Entgegensetzung begriffen: John Locke beispielsweise wollte in seiner Arbeit/Eigentum-Regel den Status von Armen und Reichen an ihrem realen Leistungsvermögen bemessen (vgl. dazu auch Priddat 1990: 9). Durch Leistung erwirtschafteter Überfluss konnte seiner Meinung nach nur in dem Fall zur Linderung von Armut eingesetzt werden, wenn es sich um extreme Notlagen handelte: „[F]ür einen besitzenden Mann wäre es stets eine Sünde, wenn er seinen Bruder durch mangelnde Unterstützung aus dem eigenen Überfluß umkommen lässt. Wie die Gerechtigkeit jedem einen Anspruch auf den Ertrag seines ehrbaren Fleißes gibt (...), so gibt die Barmherzigkeit jedem Menschen, der sonst keine Mittel für seinen Lebensunterhalt hat, einen Anspruch auf den Teil vom Überfluß des anderen, der notwendig ist, ihn vor äußerster Not zu bewahren.“ (Locke 1989: 99, §42).

Die mit dieser Konstruktion verbundene relativ geringe Rücksichtsnahme gegenüber armen Gesellschaftsmitgliedern ermöglichte die Verwendung des wirtschaftlichen Überflusses für andere Zwecke. Dieser wirtschaftliche Überfluss musste aber erst einmal erarbeitet werden. Locke bezog sich in dieser Frage konkret auf den Bibeltext: „Seid fruchtbar und mehret Euch, und machet Euch 50

die Erde untertan.“ (vgl. Locke 1989: 98, § 41).32 Mit der Bindung der gesellschaftlichen Stellung von Personen an ihr Leistungsvermögen, wird auch deutlich, womit sich die Erde untertan gemacht werden sollte: nämlich durch bezahlte Tätigkeiten. Mit anderen Worten: Wirtschaftlicher Überfluss sollte nicht mehr für Caritas-Transfers (oder für den materiell noch aufwändigeren Luxus-Konsum der Reichen) verwendet werden, sondern zur Entgeltung von bzw. zur Investition in Arbeitsleistungen. Damit war ein entscheidender Schritt der Transformation von Armut in Arbeit gedanklich vorweggenommen. Aus theoretischer wie praktischer Sicht standen wesentliche Schritte der Transformation von Armut in Arbeit aber noch aus: So fehlten moderne WarenBinnenmärkte, weil feudalistisch-frühkapitalistischen Handelsbarrieren und damit größtenteils lokale Märkte weiter bestanden. Auch existierten keine Immobilien- und Arbeitsmärkte. Es ist deshalb kein Wunder, dass die Betrachtung von Nicht-Waren als Waren (z.B. Arbeitskraft, Boden), den merkantilistisch geprägten Theoretikern noch nicht geläufig war. Erst in der Zeit des Übergangs zur klassischen Ökonomie (ab ca. 1750) änderte sich die Betrachtungsweise der Unterschicht (vgl. Rosner 1982: 50). Dem Wohlergehen der besitzenden Klasse ist diesen neuen Überlegungen zufolge nicht am besten gedient, wenn die Armen unter dem Druck der Armut arbeiteten (niedrige Löhne, Arbeitshäuser) sondern dadurch, dass ihre Eigeninteressen geweckt werden. Hier lässt sich beispielsweise François Quesnay (1694-1774), ein französischer Höfling und Begründer der Physiokratie, mit seinen Beobachtungen in der Landwirtschaft zitieren: „Die reichen Pächter [Hervorhebung im Original] beschäftigen die Bauern, die der Reiz des Geldes zum Arbeiten bewegt. [Die Bauern] werden arbeitsam, ihr Verdienst hilft ihnen zu einem auskömmlichen Leben, das sie auf dem Lande sesshaft werden läßt und es ihnen ermöglicht, ihre Kinder zu ernähren, sie bei sich zu behalten und sie in der heimatlichen Provinz zu etablieren.“ (Quesnay 1971: 47 f.).

Arbeit und Arbeitsmotivation war gemäß dieser gedanklichen Vorstellung nicht durch Zwang zu erwecken oder zu steigern, sondern nur durch eine Entlohnung, die auf eine mittel- und langfristige erträgliche Existenz, vielleicht sogar bescheidenen Wohlstand hinausläuft. Arbeit, das ist in der Ideengeschichte ökonomischen Denkens – aber spätestens mit Adam Smiths „Wohlstand der Nationen“ – Lohnarbeit. Lohnarbeit steht 32

Die Bibelstelle lautet im Original: „Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“ (1.Mose, 1, 28).

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aber nicht für sich alleine, sondern Smith sah sie denselben Gesetzen von Angebot und Nachfrage unterworfen, die auch den Tausch auf den Güter-, Immobilien-, und Kapitalmarkt regeln.33 Übersteigt das Angebot an Arbeit die Nachfrage, dann sinken die Löhne. Die Folge davon ist, gemäß Smiths Überzeugung, dass die Arbeiter im eigenen Interesse weniger Arbeit anbieten.34 Mithin entsteht eine temporäre Arbeitslosigkeit, die von Smith aber nicht als Arbeitslosigkeit begriffen wurde, sondern ihrem Wesen nach vor allem in der späteren neoklassischen Rezeption seines Werkes als „Freizeit“. Arbeiter sind Smiths Meinung zufolge jedoch nicht faul, sondern einfach unmotiviert und können durch höhere Löhne zu mehr und besserer Arbeit bewegt werden. Die Verrichtung von Arbeiten muss daher nicht erzwungen werden. In diesem Fall wird Arbeit (via Lohn) ein Mittel gegen Armut. Arbeit, das ist gemäß der ökonomischen Klassik Adam Smiths ein Mittel gegen Armut, welches dazu führen soll, dass Arbeiter „should have such a share of produce of their own labour as to be themselves tolerably well fed, cloathed and lodged.” (Smith 1994: 90). Um diesen bescheidenen Wohlstand von Arbeitern zu erlangen, bedarf es jedoch einer hinreichend starken Nachfrage nach Arbeitskräften. Diese wird den ökonomischen Klassikern zufolge durch das Angebot von Produkten und Dienstleistungen selbst erzeugt, denn jedes Angebot generiert – so die Vorstellung –

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Als Beleg kann Smiths Tuchebeispiel angeführt werden: „A public mourning raises the price of black cloth (with which the market is almost always under-stocked upon such occasions), and augments the profits of the merchants who possess any considerable quantity of it. It has no effect upon the wages of the weavers. The market is under-stocked with commodities, not with labour; with work done, not with work to be done. It raises the wages of journeyman taylors. The market is here understocked with labour, for more work to be done than can be had.” (Smith 1994: 67). („So führt eine Landestrauer zu einer Verteuerung von schwarzem Tuch (mit dem der Markt bei solcher Gelegenheit meist ungenügend versorgt ist) und damit zu einem erhöhten Gewinn der Kaufleute, die davon ausreichend auf Lager haben. Der Lohn der Weber wird hierdurch aber nicht berührt, da ja der Markt mit Waren und nicht mit Arbeit unterversorgt ist, mit anderen Worten es herrscht Mangel an Fertigwaren und nicht an solchen, die noch zu be- und verarbeiten sind. Dagegen steigt der Lohn der Schneidergesellen, denn hier fehlt es an Arbeitskräften, da die wirksame Nachfrage nach ihrer Arbeit zugenommen hat.“) 34 Diesen Gleichgewichtsmechanismus sieht Adam Smith folgendermaßen: „If at any time it exceeds [i.e. supply] the effectual demand, some of the component parts of its price must be paid below their natural rate. If it is rent, the interest of the landlords will immediately prompt them to withdraw a part of their land; and if it is wages or profit, the interest of the labourers in the one case, and of their employers in the other, will prompt them to withdraw a part of their labour or stock from this employment.” (Smith 1994: 65) („Übersteigt nun das Angebot zu irgendeiner Zeit die wirksame Nachfrage, so müssen einzelne Bestandteile des Preises unter ihrem natürlichen Entgelt bezahlt werden. (…) sind (…) Lohn oder Gewinn davon betroffen, werden die Arbeiter im eigenen Interesse weniger Arbeit anbieten.“ dt. Übersetzung gekürzt, Anmerkung des Verfassers)

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automatisch eine entsprechende Nachfrage.35(„Unfreiwillige“) Arbeitslosigkeit ist dieser Überzeugung gemäß daher in einer auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaft schlichtweg nicht möglich. 1.10 Zwischenergebnis Ausgangspunkt der soziologisch-historischen Untersuchung war die Feststellung, dass der ökonomische Mainstream davon ausgeht, dass Sozialleistungen die Arbeitsbereitschaft nachhaltig stören. Indem Sozialleistungen von der Arbeit abhalten, sorgen sie auch dafür, dass Sozialleistungsempfänger die Einkommensleiter nicht hinaufklettern können und folglich langfristig in Armut verbleiben. Demnach existiert eine „Armutsfalle“. Es wurde herausgearbeitet, dass die ökonomietheoretische Vorstellung vom Wirken einer „Armutsfalle“ auf der Entgegensetzung von Arbeit und Armut basiert. Genauer: Arbeit wird sich hier als Mittel gegen Armut vorgestellt, als natürliche Quelle der Bereicherung der Armen. Diese Überzeugung ist fest mit dem modernen Denken verbunden, und lässt sich bis zu den Anfängen der industriellen Revolution zurückverfolgen. In den Vorstellungen der vormodernen europäischen Gesellschaften der Spätantike und des Mittelalters finden sich solche Gedanken jedoch nicht. Bei einer näheren Beschäftigung mit diesen Gesellschaften ist dies auch nicht überraschend, denn Arbeit und Armut gingen für die überwiegende Bevölkerung Hand in Hand. Nur eine zahlenmäßig geringe Oberschicht konnte vom produzierten Überfluss leben. An diesen Verhältnissen änderte sich auch durch die Christianisierung in der Spätantike und im frühen Mittelalter nur wenig: Zwar standen jetzt über Spenden temporär Mittel für die Linderung von besonders schweren Formen physischer Not zur Verfügung, aber es handelt sich hier um alles andere als 35

So zumindest die Linie der ökonomischen Klassiker, die Jean-Baptiste Say folgte: „It is worthwile to remark, that a product is no sooner created, than it, from that instant, affords a market for other products to the extent of its own value. When the producer has put the finishing hand to his product, he is most anxious to dispose of the money he may get for it; for the value of money is also perishable. But the only way of getting rid of money is in the purchase of some product or other. Thus the mere circumstance of the creation of one product immediately opens a vent for other products.” (Say 1964: 134 f.). Diese Sichtweise wird bei Jean-Baptiste Say durch die Diskussion einer Volkswirtschaft („nation“) verstärkt, in der sich die Produktionsbedingungen verschlechtern, oder in der das Tempo der Produktion mit dem Konsum aus dem Gleichgewicht gerät, denn dort würde die Nachfrage abflauen, der Wert von Produkten würde geringer sein als die Produktionskosten, Profite und Löhne würden folglich sinken. In einer solchen Gesellschaft ist so etwas wie unfreiwillige Arbeitslosigkeit möglich, auch wenn es Say nicht explizit so benennt, aber: „[t]he labouring classes experience a want of work; Families before in tolerable circumstances, are more cramped and confined; and those before in difficulties are left altogether destitute.“ (Say 1964: 140).

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eine Absicherung gegen Armut (Caritas-Ökonomie). Erst die Umstellung der Landwirtschaft von der Vieh- auf die Getreidewirtschaft verbunden mit der Entwicklung und Einführung neuer Anbaumethoden und die Urbanisierung schufen die Voraussetzungen dafür, dass ab dem Hochmittelalter für die Linderung der Armut erheblich mehr Mittel zur Verfügung standen als vorher. Folge dieser Entwicklungen war, dass obwohl für die Bevölkerungsmehrheit Arbeit und Armut nach wie vor untrennbar zusammengehörten, es nun aber möglich war, auch ohne Arbeit ein bescheidenes Auskommen zu haben. Der Aufstieg der Armut als gesellschaftlicher Wert war zudem völlig kompatibel mit der aus dem Ostchristentum übernommenen Vorstellung der Erlangung des jenseitigen Seelenheils durch eine bescheidene Lebensführung und der Nachfolge Christi. Für die wirtschaftliche Blüte der mittelalterlichen Städte war die gesellschaftliche Anerkennung von Armut aber eher nachteilig. Armut und Bettelei wurden zunehmend abgelehnt. Die Lösung anderer Probleme wurde als viel wichtiger angesehen, z.B. Finanzierung der wirtschaftlichen Entwicklung und die Rekrutierung von Arbeitskräften. Das verlangte aber nach Anpassungen im christlichen Legitimationsapparat. Damit ergaben sich in der Folge zwar enge, aber dennoch günstigere Spielräume für wissenschaftliche und technische Betätigung und damit für den nicht mehr zu bremsenden Aufstieg der Arbeit als gesellschaftlich anerkannten Wert im Spätmittelalter und der beginnenden Neuzeit. Die christlichen Reformbewegungen im Zeitalter der Renaissance brachten diesen Wert zudem in Zusammenhang mit einer christlichen Lebensführung in Vorbereitung auf das christliche Seelenheil eines Lebens nach dem Tode. Armut in der Form frommer Bettelei schied somit fortan als Schlüssel für das christliche Paradies aus. Im Gefolge der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung in der beginnenden Neuzeit wurden christliche Jenseitsvorstellungen nun zunehmend anthropozentriert oder ganz in Frage gestellt. Wozu wird ein jenseitiges Paradies benötigt, wenn es nur in der Verheißung bzw. Erfüllung ganz irdischer Wünsche besteht? Eine sich rasant entwickelnde Arbeitsteilung einschließlich neuer technischer Entwicklungen kann solche Wünsche auch im Diesseits erfüllen. Arbeit muss in diesem Fall auch nicht erzwungen werden, denn ein Leben in Wohlstand, und das ist die Erfüllung solcher Wünsche, kann durch eigene Hände Arbeit erreicht werden. Arbeit gegen Armut, das ist die Devise der beginnenden ökonomischen Klassik (Adam Smith) und stellt somit (erst) seit dem 18. Jh. eine grundlegende Konstante des ökonomischen Diskurses dar. Trotz dieser optimistischen Konzeption des Verhältnisses von Arbeit und Armut, bleibt die unbestreitbare Tatsache, dass Armut damit nicht verschwand. Im Gegenteil: Im Zuge der Industrialisierung und besonders zu Zeiten von Konjunkturkrisen war die Situation der arbeitenden Klasse durch die massenhafte Freisetzung von 54

Arbeitskräften unerträglich. Der Anspruch der klassischen Nationalökonomie, denjenigen, die arbeiten ein erträgliches Lebens bzw. einen bescheidenen Wohlstand zu ermöglichen, stand im Widerspruch zur gesellschaftlichen Realität. Damit stand die klassische/neoklassische Arbeitsmarkttheorie, aber unter einem Anpassungsdruck, dem sie durch ihr Beharren auf der Existenz ausschließlich freiwilliger Arbeitslosigkeit nicht nachgeben konnte. Arbeitslosigkeit wurde von den arbeitslosen Massen als unfreiwillig erfahren. Demnach war es nur eine Frage der Zeit, bis sich auch die Denkmöglichkeit unfreiwilliger Arbeitslosigkeit in theoretischen Konzepten niederschlug.

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2. Freiwillige und unfreiwillige Arbeitslosigkeit in den Konzepten der modernen Wirtschaftstheorie

2.1 Keynesianische Wirtschaftsthorie Als sich nach dem 2. Weltkrieg die Bundesrepublik Deutschland in den Staatenverbund der westlichen Demokratien erfolgreich integrieren konnte, waren nicht wenige Beobachter über den schnellen Aufholprozess des einstigen Kriegsgegners erstaunt.36 Das Schlagwort vom deutschen „Wirtschaftswunder“ machte die Runde und es wurde sehr viel über die Ursachen dieser Entwicklung spekuliert (vgl. hierzu z.B. Kindleberger 1967: 28-37, Dumke 1990, Kramer 1991). Prosperität und Vollbeschäftigung, das gab es aber auch in anderen westlichen Industriestaaten und es gab kaum Anzeichen dafür, dass diese Phase der ökonomischen Entwicklung irgendwann ein Ende finden sollte.37 Konjunkturelle Krisen schienen durch antizyklische Staatsinterventionen, die die Nachfrage nach Gütern stimulierte, voll beherrschbar. Der „Traum immerwährender Prosperität“ (Burkart Lutz) und Vollbeschäftigung schien endlich Wirklichkeit.38 Basis dieser nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik war der in den 1930 er und 1940 er Jahren vollzogene Paradigmenwechsel in der ökonomischen Theorie, welcher vor allem durch John Maynard Keynes berühmter General Theory of Employment, Interest and Money (1936) angestoßen wurde.

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Das wirtschaftliche Wachstum und die Arbeitskraftnachfrage waren so stark, dass dieses Thema eigens als Posse auf dem 1961er Kölner Karnevalszug herhalten sollte. So berichtete die Times vom 30. Dezember 1960: „According to plans announced today, next year’s Cologne carnival celebration (…) will include a float illustrating the ‘economic wonder of the age — the last unemployed worker’ being torn apart by an official of the labour exchange and an employer competing for his services. This boisterous optimism appears fully justified by statistics published in a report of the Economics Ministry on the achievements of the past year.” 37 Z.B.: „By 1973 output in the advanced capitalist countries (ACC’s) was 180 per cent higher than in 1950 – almost 3 times as great. More was produced in that quarter century than in the previous three quarters, and many times more than in any comparable period in human history.“ (Armstrong/Glyn/ Harrison 1984: 167). 38 Obwohl diese Phase schon über 30 Jahre vorbei ist wird durch Parteien und Verbände vorgeblich immer noch am Vollbeschäftigungsziel festgehalten. Über den Sinn dieser Soll-Ist-Differenz und der Singularität der (Vollbeschäftigungs-) Situation nach dem 2. Weltkrieg, vgl. z. B. Vobruba 2000.

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Hintergrund für diese theoretische Revolution war die Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930 er Jahre. Die damaligen Ökonomen orientierten sich an Theoriekonzepten der ökonomischen Klassik (Adam Smith, David Ricardo, Thomas Malthus, Jean Baptiste Say) und vor allem Neoklassik (León Walras, Carl Menger, William Stanley Jevons, besonders im Hinblick auf das Grenznutzentheorem; John Bates Clark, Knut Wicksel, Philip H. Wicksteed, besonders im Hinblick auf das Grenzproduktivitätstheorem). Zur Orientierung: Die Neoklassik basiert auf einem mikroökonomischen Ansatz, bei dem die Vorgänge auf dem Arbeitsmarkt selbst und das Verhalten der Wirtschaftssubjekte im Mittelpunkt der Betrachtung stehen (vgl. z.B. die Ausführungen in Fischer/Heier 1983; Schmid/Dosky/Braumann 1996; Sesselmeier/Blauermel 1998). Der Arbeitsmarkt hat aber gemäß dieser theoretischen Vorstellungen keine weiter herausgehobene Stellung: Im Modell funktioniert er im Prinzip genauso wie ein Gütermarkt. Darin folgt die neoklassische Theorie den Vorgaben der theoretischen Klassiker (vor allem Adam Smith). Zentrale Theoreme der neoklassischen (walrasianischen) Theorie sind das Grenznutzen- (Arbeitsangebot) und das Grenzproduktivitätstheorem (Arbeitsnachfrage). Das Grenznutzentheorem konstatiert für die Arbeitskraftangebotsseite (Arbeitnehmer) rationales Verhalten, welches in Einkommensmaximierung besteht. Zudem wird eine freie Wählbarkeit zwischen Arbeit und Freizeit bzw. auch Konsum behauptet: Steigt der Reallohn soll sich das in einem erhöhten Arbeitskraftangebot ausdrücken resp. soll ein sinkender Reallohn zu einer erhöhten Freizeitpräferenz führen, woraufhin auch das Arbeitskraftangebot sinkt. Gewinnmaximierung ist auch die Ausgangsprämisse des Grenzproduktivitätstheorems für die Arbeitskraftnachfrageseite (Arbeitgeber). Allerdings sind zu ihrer Verfolgung ausschließlich produktive Zwecke, wie Produktionsbedingungen, und im Besonderen das produktive Leistungsvermögen der Arbeitskräfte, relevant. Unter Hinzuziehung des Gesetzes abnehmender Grenzerträge (Ertragszuwächse), ergeben sich durch die Kombination des gegebenen Kapitalstockes mit zunehmender Arbeitsmenge sinkende Ertragszuwächse.39 Sinkende Ertragszuwächse werden mit sinkender Arbeitskraftnachfrage gleichgesetzt: Dadurch gelingt es das Zusammenwirken von Arbeitskraftangebot und Arbeitskraftnachfrage zu bestimmen: Sind die Ertragszuwächse gering, besteht nur eine niedrige Arbeitskraftnachfrage. Das geringe Interesse an Arbeitskräften drückt sich monetär dadurch aus, dass Unternehmer bei Neueinstellungen 39

Der maximale Gewinn ist dann erreicht, wenn der Erlös (Preis P) aus der Produktion einer zusätzlichen Einheit gleich den Zusatzkosten ihrer Produktion entspricht. Unter der Annahme, dass der Kapitalstock kurzfristig nicht variiert, entsprechen die Zusatzkosten einer zusätzlichen Einheit alleinig den zusätzlichen Lohnkosten (Lohnsatz W). Das Verhältnis dieser beiden Größen bezeichnet das Grenzprodukt der Arbeit.

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nur mehr dazu bereit sind, niedrigere Reallöhne zu zahlen. Daraus erwächst aus neoklassischer Sicht aber kein Problem, denn niedrige Reallöhne bedeuten auf der Arbeitskraftangebotsseite laut den Schlussfolgerungen aus dem Grenznutzentheorem, dass die Einkommenspräferenz im Vergleich zur Freizeitpräferenz niedrig ist und folglich ohnehin nur wenig Arbeitskraft angeboten wird. In Zeiten hoher Ertragszuwächse resp. hoher Arbeitskraftnachfrage sorgt der entsprechend hohe Reallohn dafür, dass sich die Freizeitpräferenz zugunsten der Einkommenspräferenz verschiebt; folglich wird viel Arbeitskraft angeboten. Auch hier kann aus der Binnensicht des Arbeitsmarktes also kein Problem entstehen. Wie daran insgesamt gesehen werden kann, wird dem Reallohn eine hohe Bedeutung beigemessen. Sind Reallöhne zudem vollkommen flexibel, wie das theoretische Arbeitsmarktmodell der Neoklassik annimmt, können ungünstige Erscheinungen, wie Arbeitskräftemangel oder Arbeitskräfteüberschuss durch eine je spezifische Reallohnanpassung simultan wieder ausgeglichen werden. Diese Flexibilität des Reallohnes bestimmt seine Funktion als Gleichgewichtsmechanismus und das Zustandekommen von Arbeitsmarktgleichgewichten, die im neoklassischen Arbeitsmarktmodell immer zu einer Markträumung führen, d.h. dass jede Arbeitskraft, die Arbeit anbietet, auch eine Arbeitsgelegenheit bekommt. Damit sind die Grundzüge eines sich selbstregulierenden Arbeitsmarktes im Wesentlichen beschrieben. Neben den schon besprochenen Modellannahmen: Gewinnmaximierung als handlungsrelevantes Motiv, sowohl auf der Arbeitskraftangebotsseite als auch auf der Arbeitskraftnachfrageseite; flexible Reallöhne als Mechanismus zur Erreichung des Marktgleichgewichtes, bei gleichzeitiger Markträumung werden aber häufig noch zwei weitere Ergänzungen vorgenommen. Hierbei handelt es sich um die Annahme vollkommener Konkurrenz (perfect competition), d.h. weder Arbeitskraftanbieter, noch Arbeitskraftnachfrager können den Preis (Reallohn) zu ihren Gunsten beeinflussen und die Annahme vollständiger Information, d.h. alle Marktteilnehmer sind über die Vorgänge auf dem Arbeitsmarkt informiert. Wie gesehen ist Arbeitslosigkeit in diesem theoretischen Modell nicht vorgesehen. Wenn sie dennoch auftritt, wird sie durch exogene Faktoren verursacht, also durch Umstände, die außerhalb des Arbeitsmarktes zu suchen sind. 2.2 Freiwillige und Unfreiwillige Arbeitslosigkeit Unter Zugrundelegung der neoklassischen Arbeitsmarktheorie ist es kein Wunder, dass die klassisch/neoklassisch geprägten Ökonomen des frühen 20. Jahrhunderts sich einen neuen wirtschaftlicher Aufschwung durch Lohnsenkungen erhofften (vgl. Pigou 1913), denn ein Arbeitskräfteüberschuss führt gemäß den 59

Modellannahmen zu einem sinkenden Reallohn, aber nicht zu Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit konnte also nur durch die Verletzung der behaupteten Funktionserfordernisse auf dem Arbeitsmarkt entstehen, und lag im vorliegenden Fall im wesentlichen darin begründet, dass man die Annahme vollkommener Konkurrenz durch organisierte Arbeiterinteressen bzw. „Lohnpolitik“, nicht gewährleistet sah. Arbeitslosigkeit war deshalb schlichtweg freiwillig. Denn im Prinzip konnte sich die Arbeiterschaft für Lohnsenkungen entscheiden und sie hatte damit selbst den Schlüssel für einen Beschäftigungszuwachs und eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung in der Hand. Die arbeitsmarktpolitische Zurückhaltung der damaligen Regierungen führte jedoch im Zusammenhang mit deflationären Entwicklungen (die teilweise auch auf finanzpolitische Entscheidungen der damaligen Regierungen zurückzuführen ist, z.B. Regierung Brüning von 1930-1932 in Deutschland) Anfang der 1930 er Jahre im Gegenteil immer weiter in die wirtschaftliche Krise hinein und sorgte für wirtschaftlichen Rückgang und Massenarbeitslosigkeit. Beeindruckt von diesen Entwicklungen steht im Zentrum von Keynes’ General Theory eine Beschäftigungstheorie, die die skandalöse Massenarbeitslosigkeit nicht länger als freiwillig verstehen wollte, sondern als unfreiwillig, durch Ursachen, die sich der Beeinflussbarkeit von relevanten Akteuren auf dem Arbeitsmarkt selbst entziehen (vgl. zum Konzept der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit z.B. auch den Beitrag von Rima 1988 und Hagemann 1988). Keynes bietet mehrere Argumente für das Entstehen von unfreiwilliger Arbeitslosigkeit. Ab Kapitel 2 in seiner General Theory behandelt er das Problem der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Gemäß seiner ersten Betrachtung in Kapitel 2 handelt es sich im folgenden Fall um unfreiwillige Arbeitslosigkeit: „Men are involuntary unemployed if, in the event of a small rise in the price of wage-goods relatively to the money-wage, both the aggregate supply of labour willing to work for the current money-wage and the aggregate demand for it at that wage would be greater than the existing volume of employment.” (Keynes 1997: 15).

Diese Passage erinnert stark an Definitionen des Reservation Wage, worauf z.B. der Wirtschaftshistoriker und Ökonom Michel de Vroey hinweist (vgl. de Vroey 2004, 13 ff., 61). In diesem Fall ließe sich die obige Definition so reformulieren, dass es sich genau dann um unfreiwillige Arbeitslosigkeit handelt, wenn eine Arbeitskraft nach Arbeit sucht, aber trotz vorhandener Arbeitskraftnachfrage zu den üblichen Löhnen nicht bekommt. In diesem Fall könnte Keynes’ Bestreben so gedeutet werden, dass er nach der Fundierung für eine neue mikroökonomische Arbeitsmarktheorie suchte. Dagegen spricht aber, dass er makroökonomische Phänomene in der gleichen Definition mit anspricht (Steigen von Lohngü60

terpreisen), die in ökonomischen Arbeitsmarkttheorien, die den Arbeitsmarkt als sich selbst regulierendes System darstellen, eigentlich keinen Platz haben.40 41 Bekannter und für Keynes’ General Theory wesentlich bedeutsamer ist jedoch die konsequente Lokalisierung der Ursachen für das Auftreten von unfreiwilliger Arbeitslosigkeit bei einer mangelnden effektiven (gesamtwirtschaftlichen) Nachfrage, die ab Kapitel 3 erörtert werden (vgl. Keynes 1997, Kap. 3) und die seine Bemühungen um die Aufstellung einer makroökonomisch fundierten Beschäftigungstheorie im Gegensatz zur Verbesserung vorliegender mikroökonomischer Arbeitsmarktheorieansätze klar herausstellen. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit entsteht hier dadurch, dass wirtschaftliches Gleichgewicht auf Gütermärkten und Vollbeschäftigung auf dem Arbeitsmarkt nicht notwendigerweise Hand in Hand gehen. Durch einen Mangel an effektiver (gesamtwirtschaftlicher) Nachfrage kann sich das ökonomische Gleichgewicht auch auf anderen Niveaus als dem Vollbeschäftigungsniveau einstellen: „If the propensity to consume and the rate of new investment result in a deficient effective demand, the actual level of employment will fall short of the supply of labour potentially available at the existing real wage (…). This analysis supplies us with an explanation of the paradox of poverty in the midst of plenty. For the mere existence of an insufficiency of effective demand may, and often will, bring the increase of employment to a standstill before [Hervorh. i. O.] a level of full employment has been reached.” (Keynes 1997: 30 f.).

Auch in diesem Zusammenhang sind Keynes’ Meinung zufolge weder moderate noch radikale Lohnsenkungen ein geeignetes Mittel um das Beschäftigungsniveau anzuheben (vgl. Keynes 1997: 267). Die Preise für Konsumgüter pendeln sich dadurch nur auf einem niedrigeren Niveau ein (vgl. Keynes 1997: 262). Der Reallohn ändert sich also nicht oder nur unwesentlich und folglich besteht für 40

Keynes streift in seiner Definition mit dem Hinweis auf steigende Lohngüterpreise auch das Problem konjunkturbedingter zyklischer Schwankungen, was einen seiner berühmtesten Kritiker wiederum auf die Idee brachte, dass das was Keynes mit unfreiwilliger Arbeitslosigkeit meinte, sich auf die Unterscheidung zwischen „normaler“ und „zyklischer“ Arbeitslosigkeit reduziert (vgl. Lucas 1981: 42). 41 Keynes bringt im selben Kapitel ein weiteres Deutungsangebot ins Spiel. Hier ist die Ursache von unfreiwilliger Arbeitslosigkeit auf Probleme bei der Einstellung von Marktgleichgewichten zurückzuführen. Dieser zweiten, nach eigenen Aussagen theoretisch fundierten, Betrachtung zufolge (vgl. Keynes 1997: 10 f.) entsteht Arbeitslosigkeit, weil sich ein für Vollbeschäftigung notwendiges Marktgleichgewicht zwischen Arbeitskraftangebot und Arbeitskraftnachfrage nicht ohne weiteres einstellen kann. Keynes sah die Gründe hierfür darin, dass die entscheidenden Größen für Aushandlungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt Nominallöhne und nicht Reallöhne sind. Die gegenläufige Entwicklung dieser Lohnarten vorausgesetzt (vgl. Keynes 1997: 10, Keynes’ Argument ist, dass Nominallohnsteigerungen häufig von Reallohnsenkungen begleitet werden), sind (Nominal-) Lohnsenkungen daher ein ungeeignetes Mittel zur Erreichung von Vollbeschäftigung, denn nur Reallohnsenkungen würden für einen Beschäftigungszuwachs sorgen.

61

Unternehmer kaum ein Anreiz zusätzliche Arbeitskräfte anzustellen. Zudem kann eine kontraproduktive Wirkung (Steigen von Reallöhnen, vermindertes Beschäftigungsniveau), besonders bei gleichzeitigem Sinken der Zinsen, nicht ausgeschlossen werden (vgl. Keynes 1997: 269). Keynes war nicht der erste Ökonom, der die Ursachen der Massenarbeitslosigkeit bei dem Problem einer schwachen Güternachfrage vermutete. In den USA und in Deutschland verbreiteten sich die Ideen eines Nachfragemanagements schon Anfang der 1930er Jahre sehr rasch und auch die Politik griff entsprechende Anregungen schon vor dem Erscheinen von Keynes’ General Theory auf und setzte sie in aktive Beschäftigungspolitik um (vgl. dazu vor allem Garvy 1976 und die umfangreiche Dokumentensammlung von Bombach 1976). Aber es ist trotzdem richtig, dass die Ideen Keynes’ die Ausrichtung der ökonomischen Fachdisziplin über die folgenden Dekaden maßgeblich beeinflussten und die politischen Eliten für die gesellschaftliche Gestaltbarkeit durch die Lösung wirtschaftlicher Probleme durch staatliche Interventionen gewannen. Dies zeigte sich besonders nach dem 2. Weltkrieg, als in den modernen kapitalistischen Industrienationen der Pfad des nachfrageorientierten antizyklischen Krisenmanagements durch Stimulierung der Nachfrage via Erhöhung der Staatsausgaben eingeschlagen wurde. John Maynard Keynes Wirken gab der Wirtschaftstheorie eine neue Richtung, aber seine Ausführungen blieben wohl vor allem aus zwei Gründen unbefriedigend: 1.) Das keynesianische Theoriegebäude basierte auf der unrealistischen Annahme einer starren Lohnstruktur bei gegebenen Unterbeschäftigungsgleichgewichten 2.) Keynes’ theoretisches Werk lieferte keine Erklärung für Vollbeschäftigungssituationen mit inflationären Tendenzen. Ad 1) Das keynesianische Theoriegebäude blieb durch den frühen Tod Keynes’ unvollendet und war vielleicht deshalb trotz der überaus starken Rezeption heftiger Kritik ausgesetzt. Keynes’ theoretischer Beitrag bezog sich hauptsächlich auf das Vorkommen von Unterbeschäftigung bei gegebenen Gleichgewichten auf dem Gütermarkt, aus denen sich alleine keine weiteren Impulse für neue wirtschaftliche Gleichgewichte mit höheren Beschäftigungsniveaus ergaben. Absenkungen von Nominallöhnen konnte nach Keynes’ Ansicht keine Impulse für eine wirtschaftliche Erholung schaffen, weil die für wirtschaftliche Belebungen notwendigen Reallohnsenkungen dadurch nicht tangiert werden und überhaupt eine ziemlich starre Struktur aufwiesen (vgl. Schlesinger 1956; Haberler 1947). Ad 2) Auch von Keynes’ Anhängern wurde befürchtet, dass es sich bei der keynesianischen Theorie um eine Rezessionstheorie handele, die sich besonders gut auf Situationen mit deflationären Tendenzen anwenden ließe. Über wirtschaftliche Situationen mit inflationären Tendenzen bei gleichzeitiger Vollbeschäftigung machte sie jedoch keine Aussagen. Obwohl sich John Maynard 62

Keynes über die theoretischer Bedeutung der Integration dieser Sachverhalte in seine General Theory bewusst war, kamen seine Bemühungen dazu, über ein Anfangsstadium nicht hinaus (vgl. Keynes 1940). 2.3 Unfreiwilligkeit von Arbeitslosigkeit und die Weiterentwicklung der keynesianischen Wirtschaftstheorie Die Weiterentwicklung der keynesianischen Theorie war deshalb anderen Ökonomen überlassen. Aber es dauerte einige Zeit bis tatsächlich auf diesem Gebiet wieder Theoriefortschritte vermeldet werden konnten. Eine wichtige Vorstufe solcher Fortschritte bildeten die empirischen Arbeiten Alban W. Phillips’, der die Arbeitslosenrate und Lohnerhöhungen für die Jahre von 1861 bis 1957 in Großbritannien untersuchte und dabei eine negative Beziehung zwischen beiden Größen feststellte (vgl. Abb. 2.1). Dies ließ sich nur so interpretieren: Je höher die Löhne, umso geringer die Arbeitslosenrate (vgl. Phillips 1958). Der Wert dieser empirischen Arbeit wurde sehr schnell von Vertretern der (neo-) keynesianischen Schule entdeckt, auf die Erklärung inflationärer Tendenzen erweitert und in den Theoriekorpus integriert. Die nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik hatte nun auch endlich – empirisch wie theoretisch – ein wissenschaftliches Fundament gefunden, konnten doch aus der erweiterten (neo-) keynesianischen Theorie durch den vermuteten Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, bestimmte Beschäftigungsniveaus um den Preis einer je spezifischen Inflationsrate „gewählt“ werden (vgl. Samuelson/Solow 1960). Unfreiwillige Arbeitslosigkeit – im Sinne Keynes – konnte damit, politischer Gestaltungswille vorausgesetzt, eliminiert werden und diente außerdem der Entwicklung einer dynamisch wachsenden Wirtschaft zum Vorteil aller Gesellschaftsmitglieder.

63

Abb. 2.1: Phillips-Kurve, Arbeitslosigkeit und Lohninflation in den Jahren von 1861-1913 9 8

Lohninflation in %

7 6 5 4 3 2 1 0 0

1

2

3

4

5

6

Arbeitslosigkeit in %

Quelle: Phillips 1958: 285, Abb. 1, Formel: y = 0,9 + 9,638 x 1,394 , ebenda: 290

Die Hochzeit des Keynesianismus konnte jedoch nur so lange andauern, wie die Konstellationen »niedrige Arbeitslosigkeit bei hoher Inflation« und »hohe Arbeitslosigkeit bei niedriger Inflation« auch empirisch zutrafen. In der Krise der 1970er Jahre schien jedoch der bereits stabil geglaubte Zusammenhang in Frage gestellt. Plötzlich gingen hohe Arbeitslosigkeit und hohe Inflation Hand in Hand (Stagflation). Nachfrageorientierte wirtschaftspolitische Maßnahmen, die auf die Verringerung der Arbeitslosigkeit zielten, waren zudem nicht mehr besonders erfolgreich. Das veranlasste dazu erneut über die Phillipskurve nachzudenken. Hatte sich der Zusammenhang gänzlich verflüchtigt oder stellte er sich nur auf einem anderen Niveau ein, erkennbar etwa an einer Verschiebung der Phillipskurve nach rechts oben (vgl. Abb. 2.2, weiterführend dazu Spahn 1996: 173 ff.)? Die neue Entwicklung war unvereinbar mit der erweiterten (neo-) keynesianischen Theorie und veranlasste nach Gründen für deren Scheitern zu suchen. Hierbei konnte offenbar die monetaristische Kritik in der Wirtschaftstheorie die stärksten Akzente setzen und dadurch einen bis heute grundsätzlichen und nachhaltigen Wandel der theoretischen Überzeugungen in der ökonomischen Fach64

disziplin in Gang setzen (vgl. z.B. Friedman 1968, 1975, Lucas 1972, Sargent/ Wallace 1975).

Preisinflation in %

Abb. 2.2: Verschiebung der Phillips-Kurve nach rechts oben

Arbeitslosigkeit in %

Der Meinung dieser durch monetaristische Grundsätze geprägten Forscher zufolge war der Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit nicht völlig von der Hand zu weisen, aber das Versagen der (neo-) keynesianischen Theorie lag darin begründet, dass sich eine niedrige Arbeitslosenrate zwar durch eine höhere Inflation erreichen lässt, aber eben nur über einen sehr begrenzten Zeitraum hinweg und nur um den Preis einer mittel- und langfristig höheren, aber dann kaum mehr zurückführbaren Inflationsrate. Verantwortlich hierfür schienen den monetaristischen Kritikern Erwartungen der ökonomischen Akteure über die tatsächlich eingetroffene Inflationsrate („adaptive expectations“). Diese dienen offenbar wiederum als Ausgangspunkt für Erwartungen über deren weiteren Verlauf. So Z.B. Milton Friedman: „[The adaptive expectations hypothesis] states that anticipations are revised on the basis of the difference between the current rate of inflation and the anticipated rate. If the anticipated rate was, say, 5 per cent but the current rate 10 per cent, the anticipated rate will be revised upward by some fraction of the difference between 10 and 5. As is well known, this implies that the anticipated rate of inflation is an

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exponentially weighted average of past rates of inflation, the weights declining as one goes back in time.” (Friedman 1975: 25).

Eine inhaltliche Verschärfung fand der Verdacht, dass Inflation und Arbeitslosenrate zwei von einander unabhängige Größen sind, Mitte der 1970er Jahre durch das Konzept der rationalen Erwartungen („rational expectations“), welches von Vertretern der neuklassischen Schule vertreten wird (ursprünglich John Muth 1961, später vor allem Robert Lucas 1972, Thomas Sargent/Neil Wallace 1975) (vgl. dazu auch Spahn 1996: 108 ff.). Dieses Konzept basiert auf der Annahme, dass ökonomische Akteure weniger Informationen über die antizipierte und dann tatsächlich eingetroffene Inflationsrate in Betracht ziehen – so wie es das Verhaltensmodell der adaptiven Erwartungen nahe legt –, sondern andere für die Entwicklung der Inflationsrate wichtigere Variablen (gegenwärtige wirtschaftliche Gesamtlage, wirtschaftspolitische Strategien der Regierungen, Prognosen). Diese Fähigkeit ökonomischer Akteure rationale Entscheidungen auf Grundlage relevanter Informationen zu treffen, führt im Ergebnis dazu, dass sie die Entwicklung der Inflationsrate relativ genau einschätzen können. Eine systematische Geld- und Fiskalpolitik wird in diesem Fall nicht nur langfristig, sondern überhaupt (also auch kurzfristig) als beschäftigungspolitisch unwirksam eingeschätzt. Wie daran auch gesehen werden kann, kommt bei der Bestimmung der Inflationsrate der Arbeitslosenrate (zumindest langfristig) keine Bedeutung zu. Aus diesem Grunde scheinen sich Bemühungen auch kaum zu lohnen, niedrigere Arbeitslosenraten über eine höhere Inflation herbeizuführen, denn aus monetaristischer Sicht sind Inflationsrate und Beschäftigungsniveau zwei voneinander unabhängige Größen. Wirtschaftspolitische Maßnahmen mit der Absicht die Arbeitslosigkeit zu verringern schlagen demnach (abgesehen von einer zeitlich eng begrenzten Entlastung im Modell der adaptiven Erwartungen) systematisch fehl. Schlimmer noch: Der Staat und damit die Gesellschaft bleiben auf den Kosten für die fehlgeschlagenen Konjunkturprogramme sitzen und müssen zudem noch eine erhöhte Inflationsrate inkauf nehmen. Die Beziehung zwischen Inflationsund Arbeitslosenrate, gemäß den Ansichten der monetaristischen Kritiker, veranschaulicht Abbildung 2.3. Wie hier zu erkennen ist, beschreibt die Phillipskurve eine vertikale Gerade: die Höhe der Arbeitslosenrate bestimmt sich unabhängig von der Inflationsrate. Eine makroökonomische Beschäftigungstheorie entbehrt damit fast jeder Grundlage. Es herrscht Vollbeschäftigung trotz Arbeitslosigkeit.

66

Preisinflation in %

Abb. 2.3: Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation gemäß monetaristischer Kritik

Un

Arbeitslosigkeit in %

Möglich wird das unter Verwendung des Konzeptes der natürlichen Arbeitslosigkeit, mit dem Formen der friktionalen oder Such- und der strukturellen Arbeitslosigkeit gemeint sind: „Unemployment is zero – which is to say, as measured, equal to ’frictional’ or ’transitional ’ unemployment (…).“ (Friedman 1975: 14) „It does not refer to some irreducible minimum of unemployment. It refers rather to that rate of employment which is consistent with the existing real conditions in the labour market.” (Friedman 1975: 24).42

Es ist klar, dass sich das Konzept an der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie orientiert: Das Angebot und die Nachfrage nach Arbeitskräften wird über den Reallohn ins Gleichgewicht gebracht. Der Markt wird geräumt, folglich herrscht Vollbeschäftigung. Das strenge Modell wird zwar abgeschwächt, denn Gründe für die Arbeitslosigkeit sind auch auf der Mikroebene zu suchen, z.B. in der 42

In diesem Zusammenhang wird auch von natürlicher Arbeitslosigkeit als Non-Accelerating-Inflation Rate of Unemployment – NAIRU gesprochen. Das sollte aus Gründen die hier nicht behandelt werden, aber vermieden werden (vgl. dazu Winter-Ebmer 1992, kurze Zusammenfassung in Sesselmeier/Blauermel 1998: 31)

67

Form, dass Arbeitslose noch Informationen sammeln, bevor sie eine endgültige Entscheidung treffen. Aber dieses Zugeständnis ließe sich auch leicht durch den Verweis auf die letztendlich freiwillige Natur solcher Entscheidungsprozesse wieder zurücknehmen. Wichtiger ist, dass Friedman auch darauf verweist, dass natürliche Arbeitslosigkeit durch die Beseitigung von Hindernissen, also wahrscheinlich durch Arbeitsmarktreformen, reduziert werden kann, was m.E. stärker darauf orientiert, dass Arbeitslosigkeit dadurch entsteht, dass die theoretischen Modellannahmen in der Realität nicht entsprechend verwirklicht sind. Es wird klar, dass dieses Konzept mit Keynes’ Auffassung, derzufolge Arbeitslosigkeit unfreiwillig durch eine mangelnde effektive Nachfrage auf dem Gütermarkt hervorgerufen wird, nicht kompatibel ist. Stellt sich die Frage nach der Frei- oder Unfreiwilligkeit von Arbeitslosigkeit also gemäß dem neuen vorherrschenden monetaristischen Paradigma überhaupt noch? Einige Ökonomen, die in der monetaristischen Tradition stehen, sehen scheinbar überhaupt keine Sinn darin, eine solche Unterscheidung zu treffen und wenden sich gegen die Einführung des Konzepts „unfreiwillige“ Arbeitslosigkeit in die ökonomische Theorie durch Keynes, wie z.B. Robert E. Lucas: „[Keynes] made the prior assumption that measured unemployment can be decomposed into two distinct components: ’voluntary’ (or frictional) and ’involuntary’, with full employment then identified as the prevailing when involuntary unemployment equals zero. (…) Accepting the necessity of a distinction between explanations for normal and cyclical unemployment does not, however, compel one to identify the first as voluntary and the second as involuntary, as Keynes go on to do. This terminology suggests that the key to the distinction lies in some difference in the way two different types of unemployment are perceived by workers. Now in the first place, the distinction we are after concerns sources of unemployment, not differentiated types. (…) The recognition that one needs to distinguish among sources of unemployment does not in any way imply that one needs to distinguish among types.” (Lucas 1981: 41 f., vgl. auch De Vroey 2002: 15).

An dieser Stelle soll nicht darüber spekuliert werden, ob Lucas in der Frage recht hat, ob die Frei- oder Unfreiwilligkeit von Arbeitslosigkeit in irgendeiner Weise Bestandteil der ökonomischen Theorie sein sollte oder nicht. Insgesamt lässt aber dieses Konzept einige Fragen offen. Um nur zwei Fragen aufzugreifen: (1) Erstens, wie sollen Situationen beschrieben werden, in denen nicht jedes Arbeitskraftangebot eine Nachfrage findet, also keine Markträumung erfolgt, oder wenn, dann nur um den Preis von massiven ggf. existenzgefährdenden Lebensstandardeinbußen? (2) Zweitens, wie wird dem Sachverhalt Rechnung getragen, dass es den Arbeitsmarkt nicht gibt, sondern sich verschiedene Teilarbeitsmärkte entwi68

ckeln bzw. entwickelt haben? Auch in dieser Hinsicht wäre zu klären, warum nicht jedes Arbeitskraftangebot auf einem Teilmarkt tatsächlich, d.h. effektiv, nachgefragt wird. Ad 1.) Die Vorstellung, dass auf einem gegebenen Markt jedes Angebot eine effektive Nachfrage findet, ist offenbar nach wie vor eine Annahme, die viele neoklassische Ökonomen teilen. Nicht alle neoklassischen Ökonomen teilen aber die Vorstellung, dass Marktgleichgewicht und Markträumung Hand in Hand gehen. In entsprechender Weise äußerte sich schon Alfred Marshall (vgl. Marshall 1895, Buch V, Kap. 2). Seine stärker am naturwissenschaftlichen Gleichgewichtsbegriff orientierte Sicht lässt zu, dass Markträumung auch ohne Marktgleichgewicht möglich ist (vgl. dazu ausführlicher Caspari 1988; De Vroey 2004: 56 ff.). Keynes’ Leistung besteht dann nur darin, auf Basis des marshallschen Gleichgewichtsbegriffs einen zusätzlichen Freiheitsgrad einzuführen, der darin besteht, modelltheoretisch gesehen Situationen zuzulassen, in denen sich Marktgleichgewichte auch ohne Markträumung einstellen können. Ein solches Modell, welches dazu geeignet ist, zu erklären, dass Arbeitslosigkeit systematisch entstehen kann, konterkariert freilich die Vorstellung, dass Arbeitslosigkeit einfach auf Freizeitpräferenzen reduziert werden kann. Neuere Diskussionsbeiträge melden sogar Zweifel am Gleichgewichtsmechanismus, im Besonderen auf dem Arbeitsmarkt, an (vgl. z.B. Spahn/Vobruba 1989: 46 f.). Hier wird darauf hingewiesen, dass auf dem Arbeitsmarkt keine festen Bestände gehandelt werden. Das wäre aber eine zentrale Voraussetzung dafür, dass Angebot und Nachfrage über den Preis ins Gleichgewicht kommen. Schlechte Entlohnung oder Lohneinbußen können zudem zusätzliches Arbeitskraftangebot zur Folge haben, um mangelnden Lebensstandard oder entsprechende Verluste wettzumachen, statt ein sinkendes Arbeitskraftangebot, wie es die neoklassische Arbeitsmarkttheorie postuliert. Vorstellbar sind Situationen mit einer immer weiteren Ausdehnung des Arbeitskraftangebots, die durch die so bedingte zusätzliche Konkurrenz immer weitere Lohneinbußen nach sich ziehen. Im strikten Sinne wird hier (unfreiwillige) Arbeitslosigkeit (i.e. Freisetzung) in (zumindest als unfreiwillig erfahrene) Beschäftigung transformiert.43 Ad 2.) In diesem Zusammenhang verdient die Existenz von Teilarbeitsmärkten eine stärkere empirische wie theoretische Beachtung. Die neoklassische Theorie geht von der Existenz nur eines Arbeitsmarktes aus, der zudem strukturell gesehen wie ein Gütermarkt funktioniert (vgl. Sesselmeier/Blauermel 1998). Für eine adäquatere Betrachtung von Funktionsweise und anderen Besonderheiten helfen hier vielleicht Anleihen aus stärker soziologisch bzw. auch institutio43

Ein verwandtes Problem scheinen mir die in der Arbeitsorganisationsliteratur beschriebenen Formen der inneren Kündigung zu sein, vgl. z.B. Richter 1999, Löhnert 1990, leider hier (noch) nicht exploriert am Beispiel des Niedriglohnsektors.

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nenökonomisch orientierten Ansätzen. Die moderne Systemtheorie richtet sich beispielsweise gegen die wirtschaftstheoretische Vorstellungen dominierende Grundeinstellung, „ (…) Systeme als Einheit eines Zusammenhangs und diese Einheit als logisch widerspruchsfreie Konsistenz zu deuten.“ (Luhmann 1991: 204). Die Gliederung in Faktor- (Kapital- und Arbeitsmärkte) und Gütermärkte (Beschaffungs- und Absatzmarkt) beschreibt den Differenzierungsprozess ja keineswegs umfassend. Auch innerhalb dieser Gliederungen kommt es zu immer weiteren Binnendifferenzierungen. Das trifft natürlich auch für den Arbeitsmarkt zu. Neuere Entwicklungen in unterschiedliche Branchen und Managementstilen (z.B. „Shareholder Value“ vs. „Rheinischer Kapitalismus“, vgl. Albert 2001; Gergs/Schmidt 2002) verlangen ganz unterschiedlichen Formen der Rekrutierung, Qualifikationsanforderungen und Beschäftigungsformen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die relative Autonomie, die sich mit der fortschreitenden Differenzierung ergibt. Damit verbunden sind wiederum Schließungsprozesse (vgl. Parkin 1979, Parkin 1974; neuere Beiträge in Mackert 2004), letztendlich Ursachen für teilarbeitsmarktspezifische Arbeitslosigkeit, die sich durch funktionale Differenzierung und Autonomie alleine aber nicht erklären lassen, sondern vielleicht eher mit Machtgefällen (Prozesse stratifikatorischer Differenzierung, vgl. Best 2003, Gebauer 2003).44 Auch die Erkenntnisse institutionenökonomischer Ansätze zielen in diese Richtung. Bekannt sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten der Segmentationsforschung, zu Arbeitsmarktsegmenten (neuere Arbeiten, vgl. Dostal/Stooß/ Troll 1998) und Beschäftigungssystemen (neuere Arbeiten, vgl. Alewell 1993 und Marsden 1999). Diese Ansätze orientieren sich am Konzept des dreigeteilten Arbeitsmarktes: betriebsinterne Arbeitsmärkte, überbetriebliche Märkte und Arbeitsmärkte für Niedrigqualifizierte. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit ließe sich hier in zweifacher Hinsicht begreifen. Einerseits ist es möglich den Begriff unfreiwillige Arbeitslosigkeit für den Tatbestand zu reservieren, in dem durch Schließungstendenzen bedingt, eine Arbeitskraft in ihrem ursprünglichen Bereich keine Arbeit mehr findet. Andererseits wäre es möglich eine Merkmalstypologie unfreiwilliger Arbeitslosigkeit aufzustellen, wie sie von Klamer vorgeschlagen und von De Vroey präzisiert wurde (vgl. Klamer 1984; De Vroey 1999; De Vroey 2002: 19), die Arbeitslosigkeit nur dann als unfreiwillig klassifiziert, wenn es einer höherqualifizierten Arbeitskraft auch dann nicht gelingt, wieder erwerbstätig zu werden, wenn sie am Arbeitsmarkt für geringqualifizierte Arbeitskräfte keine Anstellung finden kann.

44

In diesem Zusammenhang verdient auch Erwähnung, dass Ökonomen durchaus in der Lage sind, Arbeitslosigkeit als Folge von sozialen (Aushandlungs-) Prozessen zu begreifen (vgl. z.B. Solow 1990).

70

Mit diesen Bedenken fällt es vielleicht leichter, einzuschätzen, woran die Interpretation der Unfreiwilligkeit von Arbeitslosigkeit als systematisches Problem, bei Vertretern der monetaristischen Kritik scheitert: Neben den unzweifelhaften Begriffsunklarheiten, die aus der Darbietung des Konzeptes der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit in Keynes’ General Theory resultieren, stehen sehr wichtige theoretische Grundsätze zur Disposition: Neben der Aufgabe der Prämisse, dass Marktgleichgewicht und Markträumung Hand in Hand gehen müssen (lässt sich generell auf alle Teilsysteme des wirtschaftlichen Systems beziehen), wären außerdem Besonderheiten des Arbeitsmarktes neu zu diskutieren und zu theoretisieren. Beispielsweise müssten Abstriche an der Annahme eines Gleichgewichtsmechanismus auf dem Arbeitsmarkt gemacht werden und die ökonomische Theorie müsste um die logische Möglichkeit der Existenz von Teilarbeitsmärkten erweitert werden. 2.4 Zwischenergebnis

Ist Arbeitslosigkeit freiwilliger oder unfreiwilliger Natur? Wie anhand der Untersuchung in diesem Kapitel gezeigt werden konnte, ist diese Frage immer noch hoch umstritten. Vertreter der ökonomischen Klassik und Neoklassik waren (bzw. sind) von der Freiwilligkeit von Arbeitslosigkeit überzeugt. Das ist hauptsächlich auf ihre Vorstellung von der Funktionsweise des Arbeitsmarktes als einem Markt wie jeder andere, zurückzuführen. Modellannahmen und gesellschaftliche Realität sind aber nicht immer deckungsgleich. Schließlich standen neoklassische Überzeugungen zur Zeit der Weltwirtschaftskrise im vergangenen Jahrhundert gegen die von vielen Menschen als unfreiwillig erfahrene Realität der Massenarbeitslosigkeit. In den damaligen Wirtschaftswissenschaften konnten sich vor diesem Hintergrund rasch die keynesianischen Vorstellungen von unfreiwilliger Arbeitslosigkeit als Folge von Nachfrageschwächen auf dem Gütermarkt durchsetzen. Die Anwendung antizyklischer Wirtschaftskonzepte und die dynamische wirtschaftliche Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg schien diesen wissenschaftlichen Auffassungen Recht zu geben. Diese Zeiten sind lange vorbei. Fast paradoxerweise gewannen gerade mit dem erneuten Aufleben von Massenarbeitslosigkeit innerhalb der wirtschaftswissenschaftlichen Fachdisziplin wieder verstärkt Stimmen an Einfluss, die von der Freiwilligkeit von Arbeitslosigkeit überzeugt sind. Sie trafen (bzw. treffen) aber auf eine veränderte Situation, denn im Unterschied zu den 1930er Jahren hat inzwischen staatliche Sozialpolitik ein historisch gesehen unvergleichbares Aus-

71

Ausmaß erreicht.45 Wurden damals zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit noch hauptsächlich Ratschläge zur Lohnzurückhaltung erteilt, sind es heute vor allem Ratschläge zur Reduktion sozialstaatlicher Leistungen. Diese Fokussierung sozialstaatlicher Belange innerhalb der ökonomischen Theorie ist Thema des nächsten Kapitels.

45

Sie ist nach über hundertjähriger Praxis sozialstaatlicher Institutionen nicht mehr wegzudenken (vgl. Achinger 1971: 138, weiterführend Vobruba 2003a.

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3. Arbeitslosigkeit und „Armutsfalle“

3.1 Die Schnittstelle Arbeitsmarkt-System sozialer Sicherheit als Desiderat einer ökonomischen Theorie der Sozialpolitik

Wie die wissenssoziologisch-historische Untersuchung im vorhergehenden Kapitel gezeigt hat, ist die Interpretation von Arbeitslosigkeit als frei- oder unfreiwillig hart umkämpft. In den Modellannahmen der klassischen und neoklassischen Denktraditionen gibt es nur die Unterscheidung zwischen entlohnter Arbeit und „Freizeit“. Unter „Freizeit“ wird all das verstanden, was nicht als entlohnte Arbeit klassifiziert werden kann, unabhängig davon, ob es sich hierbei tatsächlich um „Freizeit“, i.S. von Untätigsein handelt oder nicht. Auf diese Weise lässt sich Arbeitslosigkeit grundsätzlich als „Freizeit“ darstellen. Den Modellannahmen gemäß ist Arbeitslosigkeit (bzw. „Freizeit“) zudem völlig freiwillig, denn sie wird als Folge von freiwilligen individuellen Entscheidungen der Annahme oder Ablehnung von Beschäftigungsgelegenheiten gedeutet. Die keynesianische Denktradition begreift Arbeitslosigkeit hingegen in erster Linie als Folge von strukturellen Defiziten im Zusammenspiel von Arbeits- und Gütermärkten. Arbeitslosigkeit kann im Rahmen dieses Modells auch unfreiwillig entstehen. In den modernen Sozialstaaten steht Arbeitslosigkeit aber nicht für sich alleine. Der größte Teil der erwerbsfähigen Bevölkerung ist erwerbsabhängig oder selbständig beschäftigt und erzielt daraus Einkommen. Eine andere Einkommensquelle ist Einkommen, das Folge von Umverteilungen ist. Solche Umverteilungen können Ergebnis privater Transaktionen sein, wie Umverteilungen innerhalb des Familienzusammenhangs oder Spenden wohltätiger Stifter. Diese Umverteilungsformen sind fester Bestandteil sowohl von vormodernen als auch von modernen Gesellschaften, wobei ihre Bedeutung in Folge der Modernisierung abgenommen hat. In modernen Gesellschaften denkt man bei Umverteilungen aber hauptsächlich an staatliche Sozialpolitik. Die finanziellen Mittel hierfür werden durch Steuern und Sozialbeiträge erbracht. Historisch gesehen ist die Herausbildung, Entwicklung und Relevanz staatlicher Sozialpolitik aber noch ein relativ junges Phänomen. Aus der Sicht der vorhin diskutierten Konzepte freiwilliger und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit wird Sozialpolitik wohl gerade deshalb kaum thematisiert (vgl. aber Kapitel 3.3). Aber es können noch andere Gründe hierfür angeführt werden: Denn für ältere 73

Arbeitsmarkttheorien neoklassischer Provenienz ist es aus der ausgesprochen mikroökonomischen Binnensicht und der unterstellten Freiwilligkeit von Arbeitsmarktentscheidungen unerheblich, aus welchen Alternativeinkommen monetäre Ressourcen stammen, die der Lebensführung dienen. Auch Theoretiker keynesianischer Beschäftigungstheorie sahen keine Notwendigkeit, eine ökonomische Theorie der Sozialpolitik auszuarbeiten. Vielleicht lag das daran, weil sie in der Erhöhung der Staatsausgaben generell einen Schlüssel für die Stimulierung der Nachfrage auf Gütermärkten sahen und die Ausgabenverwendung als weniger relevant betrachteten. Dennoch drängt die Etablierung sozialstaatlicher Leistungen nach einer ökonomischen Theorie der Sozialpolitik. Die Versuche dazu folgen aber weitgehend dem theoretischen Verständnis der jeweiligen Theorietradition. Aus keynesianischer Theorietradition wird vor allem auf den Nutzen staatlicher Sozialpolitik hingewiesen, während die neoklassische Theorietradition Sozialpolitik hauptsächlich als Kosten- und Störfaktor begreift.46 Diese Störung wird besonders an der Schnittstelle Arbeitsmarkt – System Sozialer Sicherheit vermutet und findet eine besonders klare Ausformulierung im Armutsfallentheorem, welches an dieser Stelle so definiert werden kann: Wenn die Aufnahme von Arbeit, deren Entlohnung nicht oder nicht wesentlich über relevanten Sozialleistungen liegt, den Entzug dieser Sozialleistungen nach sich zieht, dann ist es wahrscheinlich, dass die Betroffenen sich dafür entscheiden, im Sozialleistungsbezug zu verbleiben (vgl. in ähnlicher Weise: Gebauer/Petschauer/Vobruba 2002: 34). Zentrale Argumentationsmittel sind im Armutsfallentheorem die Begriffe „Arbeit“, und „Armut“, so wie sie heute gefasst werden und es wird an dieser Stelle noch einmal besonders deutlich wie hoch voraussetzungsvoll diese Begriffe sind. Denn für die Armutsfallen-Konstruktion bedarf es der bereits herausgearbeiteten Denkvoraussetzungen aus Kapitel 1 und Kapitel 2, die in der ökonomischen Theoriebildung überhaupt nicht reflektiert werden: Ideengeschichtlich muss sich eine Anschauung etabliert haben, die zunächst Arbeit als Lohnarbeit und dann in der Folge diese Lohnarbeit als Mittel für die Bekämpfung von Armut begreift. Das bedeutet nichts anderes, als dass dem Arbeitslohn eine lebensstandardsichernde Funktion zugeschrieben wird. Damit wird gleichzeitig ein (diesseitsbezogener) finanzieller Anreiz definiert, der zur Arbeit motivieren soll, anstatt auf jenseitige Belohnungen zu vertrösten. Offenbar ermöglicht erst das Zusammenspiel dieser gedanklichen Konstruktionen auf einer sehr abstrakten Ebene unter Vernachlässigung komplexer Zusammenhänge (hier vor allem struktureller Aspekte) Arbeitslosigkeit als Folge von freiwilligen Entscheidungen darzustellen. 46

Zum ökonomische Zusatznutzen von Sozialpolitik vgl. Vobruba 1991: 45-89, zu politischen Zusatznutzen Vobruba 2003a: 388 ff.

74

Ein Problem entsteht nur für den Fall, in dem nun staatliche Sozialpolitik hinzukommt, welche in den historischen neoklassischen Arbeitsmarktkonzepten nicht vorhergesehen werden konnte. Sozialpolitik beeinflusst individuelle Entscheidungen: Denn jetzt ist bei Arbeitsaufnahme nicht nur mit Freizeitverlusten, sondern auch mit finanziellen Nachteilen zu rechnen, weil die Arbeitsaufnahme unmittelbar den Entzug von Sozialleistungen nach sich zieht. Individuelle Rationalität vorausgesetzt, legt diese Entscheidungssituation also den Verbleib im Sozialleistungsbezug, bei gleichzeitiger Arbeitslosigkeit nahe. Wie daran gesehen werden kann, ist die Existenz von Sozialpolitik (Sozialleistungen bei Arbeitslosigkeit) also die notwendige Basis für theoretische Weiterentwicklungen neoklassischer Annahmen im Armutsfallentheorem. Staatliche Sozialleistungen können aber nicht nur in den Fällen in Anspruch genommen werden, in denen eine Person arbeitslos ist. Ihr Bezug ist auch in den Fällen möglich, in denen Personen einer Beschäftigung nachgehen, aber damit so wenig verdienen, dass ihr Einkommen (bzw. das Gesamteinkommen ihrer Bedarfsgemeinschaft) die Sozialhilfeschwelle (bzw. Arbeitslosengeld II - Schwelle) nicht übersteigt. In diesem Fall sehen ökonomietheoretische Beiträge das Problem, dass Sozialleistungen daran hindern könnten, das persönliche Arbeitsvolumen auszudehnen. Diese zusätzliche Differenzierungslinie des Armutsfallentheorems wird im folgenden Abschnitt besprochen (Kapitel 3.2). Eine weitere Differenzierungslinie, die auf Weiterentwicklungen neoklassischer Argumente in Reaktion auf staatliche Sozialpolitik in Form von Lohnersatzleistungen zurückzuführen ist, ist die erneute Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit, die aber mit der keynesianischen Denktradition nicht vereinbar ist (Kapitel 3.3). 3.2 Die Unterscheidung zwischen Arbeitslosigkeits- und Armutsfalle als zusätzliche Differenzierungslinie in Armutsfallen-Konzepten

Wie aber sehen (neuere) ökonomietheoretische Beiträge das Armutsfallenproblem? Sind zusätzliche Differenzierungslinien zu erkennen? Langfristige Sozialleistungsabhängigkeiten gehen mit materiell defizitären Lebenslagen einher, wobei aber zwischen Sozialleistungsbeziehern unterschieden werden kann, die nicht erwerbsabhängig beschäftigt sind (arbeitslos) und solchen Sozialleistungsbeziehern, die zwar einer erwerbsabhängigen Tätigkeit nachgehen, aber die ihr Arbeitsvolumen noch erheblich ausdehnen könnten (geringfügig oder Teilzeitbeschäftigte). Die ökonomische Theorie sieht in beiden Fällen problematische Kalkülkonstellationen, die fortgesetzt die („freiwillige“) Entscheidung zu Arbeitslosigkeit bzw. zu vermindertem Arbeitskraftangebot reproduzieren. Am besten 75

werden die eben angesprochenen Sachverhalte durch das Konzept der „Arbeitslosigkeitsfalle“ (bei fortgesetzten Entscheidungen für Arbeitslosigkeit) und das Konzept der „Armutsfalle“ (bei Entscheidungen gegen die Ausdehnung des persönlichen Arbeitskraftangebots) repräsentiert.47 1.) „Arbeitslosigkeitsfalle“ für nichterwerbstätige Sozialleistungsbezieher Der Begriff „Arbeitslosigkeitsfalle“ ist für Situationen reserviert, in der sich Sozialleistungsbezieher fortgesetzt und generell gegen Beschäftigung entscheiden, weil das aus Erwerbstätigkeit zu erwartende Einkommen nur etwa genauso hoch ausfällt wie das Sozialleistungseinkommen, wobei bei Aufnahme von Arbeit der Entzug von Sozialtransfers droht (vgl. z.B. OECD 1997: 17-45; Europäische Kommission 2001: 15 f.). Sie kann folgendermaßen definiert werden: Gesetzt den Fall, ein arbeitsloser Sozialleistungsbezieher steht vor der Entscheidung, ob er/sie eine Beschäftigung annimmt oder nicht, dann wird er/sie sich immer dann gegen die Aufnahme dieser Beschäftigung entscheiden, wenn der Einkommensgewinn durch diese Beschäftigung, bedingt durch die Anrechnung auf Sozialtransfers, bestenfalls geringfügig ausfällt. 2.) „Armutsfalle“ für erwerbstätige Sozialleistungsbezieher Der Begriff „Armutsfalle“ ist dagegen für die Situationen reserviert, in der sich (bereits) erwerbsabhängig beschäftigte Sozialleistungsbezieher gegen die Ausdehnung ihres Arbeitskraftangebots entscheiden, wobei die Gründe hierfür im Entzug von Sozialleistungen und/oder erhöhter Besteuerung zu suchen sind (vgl. z.B. OECD 1997: 47-63; Europäische Kommission 2001: 13 f.). Sie kann in ähnlicher Weise definiert werden: Gesetzt den Fall, ein erwerbsabhängig beschäftigter Sozialleistungsbezieher steht vor der Entscheidung, ob er/sie zusätzliche Arbeitskraft anbietet, dann wird er/sie sich immer dann gegen die Aufnahme zusätzlicher Beschäftigung entscheiden, wenn der Einkommensgewinn durch diese Beschäftigung, bedingt durch den Entzug von Sozialleistungseinkommen bzw. auch durch eine höhere Einkommensbesteuerung, bestenfalls geringfügig ausfällt. Zu 1.) Zum Beleg einer „Arbeitslosigkeitsfalle“ im Zusammenhang mit sozialstaatlichen Leistungen wird in der ökonomischen Literatur die Nettolohnersatzleistungsquote bzw. die Lohnersatzrate angeführt. Sie beschreibt das Verhältnis zwischen Sozialleistungseinkommen bei vorliegender Nichterwerbstätigkeit und 47

Im Definitionsversuch in Abschnitt 3.1 werden hingegen beide Situationen im Armutsfallentheorem zusammengefasst.

76

Einkommen aus Erwerbstätigkeit. Das Verhältnis bestimmt sich als Quotient aus dem verfügbaren Einkommen aus Sozialleistungseinkommen (bei vorliegender Nichterwerbstätigkeit) und dem durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Einkommen. Für die meisten kontinentaleuropäischen Länder werden, gemessen an zu erzielenden Niedrigeinkommen (z.B. 66,7% des Durchschnittslohns) durchweg hohe Nettolohnersatzquoten konstatiert, die sich 1999 für eine alleinerziehende Person mit zwei Kindern in den EU-Ländern im Bereich zwischen 50% und 96% bewegten (vgl. Tabelle 3.1) und aus ökonomietheoretischer Sicht am deutlichsten für eine „Arbeitslosigkeitsfalle“ sprechen. Tab. 3.1: Nettolohnersatzleistungsquoten bei niedrigen Einkommen 1999 (66,7 % des Durchschnittslohns, erster Monat der Arbeitslosigkeit) Land Belgien Dänemark Deutschland Griechenland Spanien Frankreich Irland Italien Luxemburg Niederlande Österreich Portugal Finnland Schweden Großbritannien USA

Alleinverdiener 85 89 67 48 76 78 42 39 82 88 61 88 79 82 66 59

Ehepaar 80 89 65 48 72 76 59 40 80 84 64 86 83 82 64 59

Ehepaar 2 Kinder 79 70 75 46 76 82 67 49 88 85 82 87 88 90 54 49

Alleinverdiener 2 Kinder 81 96 76 50 77 83 59 47 88 80 78 87 92 93 55 49

Quelle: OECD (2002a: 33)

77

Demgegenüber sind alleinstehende Personen (42%-89%), kinderlose Paare (48% - 89%) und Ehepaare mit zwei Kindern (46-90%) nicht so stark betroffen. Im Vergleich zu den USA lässt sich feststellen, dass alle europäischen Länder, bis auf Griechenland, höhere Nettolohnersatzleistungsquoten aufweisen. Zu 2.) Zum Beleg einer „Armutsfalle“ wird in der ökonomischen Literatur im Zusammenhang mit Einkommensmixen aus Erwerbstätigkeit und Sozialtransfers die marginale Abgabenbelastung angeführt. Sie ist definiert als der Gesamtbetrag der bei steigenden Bruttoeinkommen zusätzlich anfallenden Einkommensteuern und Arbeitnehmersozialbeiträge, unter Beachtung des Wegfalls von Sozialleistungen. Tab. 3.2: Abgabenbelastung niedriger und mittlerer Lohneinkommen (Lohn bzw. Einkommensteuer plus Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge 1999 in % der durchschnittlichen Arbeitskosten) Land Belgien Dänemark Deutschland Griechenland Spanien Frankreich Irland Italien Luxemburg Niederlande Österreich Portugal Finnland Schweden Großbritannien USA Japan 78

(1) 34,9 14,6 31,1 34,3 28,4 31,5 -5,2 28,2 4,7 21,8 19,0 22,0 27,6 40,9 14,2 12,6 14,7

(2) 41,3 31,0 34,5 36,8 30,3 38,8 19,9 37,4 11,4 34,2 31,8 26,0 40,3 44,5 23,8 24,5 14,7

(3) 51,2 40,9 47,0 35,2 32,6 40,4 21,5 44,2 30,0 40,3 41,7 30,3 43,3 48,8 26,2 29,3 18,3

(4) 52,4 40,9 47,0 36,5 36,2 43,5 24,7 44,7 27,9 41,1 43,7 32,1 45,4 49,7 25,5 29,8 18,4

Tabelle 3.2 Fortsetzung: (1) Einzelperson mit zwei Kindern und einem Durchschnittseinkommen (67 % eines Durchschnittserwerbseinkommens eines Fabrikarbeiters) (2) Ehepaar mit einem Einkommensbezieher (100 % eines Durchschnittserwerbseinkommens eines Fabrikarbeiters) (3) Einzelperson mit einem Kind und einem Durchschnittseinkommen (67 % eines Durchschnittserwerbseinkommens eines Fabrikarbeiters) (4) Ehepaar mit zwei Einkommensbeziehern (Einkommen gesplittet zwischen den beiden Partnern) Quelle: OECD Taxing Wages, 1998-99, zitiert in Europäische Kommission 2001: 14 Wie anhand Tabelle 3.2 gesehen werden kann, ist die Abgabenbelastung in fast allen europäischen Ländern sehr hoch. Nur Großbritannien und Irland haben eine Abgabenbelastung, die ein ähnlich niedriges Niveau wie das der Vereinigten Staaten aufweist. Am geringsten ist die Abgabenbelastung niedriger Einkommen im internationalen Vergleich der OECD-Staaten in Japan. Das Ausmaß der „Armutsfalle“ müsste – vorausgesetzt die marginale Abgabenbelastung ist ein geeignetes Maß für die „Armutsfalle“ – hier demnach auch am schwächsten ausfallen. Die Diskussion von Nettoersatzleistungsquoten und marginalen Abgabenbelastungen wird in der ökonomischen Fachliteratur als Indiz für eine „Arbeitslosigkeitsfalle“ und eine „Armutsfalle“, besonders im europäischen Kontext gewertet. In diesem Zusammenhang muss außerdem erwähnt werden, dass das Problem mangelnder Arbeitsanreize in einigen westlichen Ländern in anderer Weise formuliert wird. In den Vereinigten Staaten zählt hierzu die Diskussion um die wohlfahrtsstaatliche Abhängigkeit („Welfare Dependency“). In der deutschen Reformdiskussion wird als Beleg für die Existenz einer Arbeitslosigkeitsbzw. Armutsfalle – hier im Zusammenhang mit der früheren Sozialhilfe – auch das im Lohnabstandsgebot des Bundessozialhilfegesetzes definierte Verhältnis zwischen Sozialhilfetransfers (Regelsätze + Durchschnittsbeträge für Unterkunft und Heizung) und durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelten unterer Lohn- und Gehaltsgruppen (zuzüglich Kindergeld und Wohngeld) bezog genommen (vgl. vor allem Breuer/Engels 1999; Engels 2001; Boss 2002, Zusammenfassung auch in Gebauer/Petschauer/Vobruba 2002: 49-53). Theoretisch gesehen ist es außerdem fraglich, ob die Unterscheidung zwischen „Arbeitslosigkeitsfalle“ und „Armutsfalle“ wirklich notwendig ist, oder ob beide Aspekte nicht besser unter einem Begriff zusammengefasst werden könnten. Für eine Differenzierung von „Armutsfalle“ und „Arbeitslosigkeitsfalle“ 79

spricht sicherlich, dass es natürlich ein Unterschied sein kann, ob ein Sozialleistungsbezieher vor der Entscheidung steht, ob er/sie überhaupt wieder erwerbstätig sein möchte oder ob er/sie bereits erwerbstätig ist und nur vermehrt Arbeitskraft anbieten möchte. Dennoch sind beide Entscheidungssituationen formal sehr ähnlich, denn es geht im Prinzip darum, ob Sozialleistungsempfänger vermehrt Arbeitskraft anbieten oder nicht und um das Problem mangelnder Arbeitsanreize generell. Wenn man sich Arbeit resp. Arbeitslosigkeit als ein Kontinuum von 0 bis 100% vorstellt, dann ist die Unterscheidung zwischen „Arbeitslosigkeits-“ und „Armutsfalle“ kaum noch sinnvoll. Für eine solche Sicht spricht auch, dass nur wenige wirtschaftswissenschaftliche Beiträge in dieser Hinsicht differenzieren und beide Begriffe häufig synonym verwendet werden. Deshalb liegt es nahe beide Entscheidungssituationen in der Standardhypothese des Armutsfallentheorems, wie folgt zusammenzufassen und damit die bereits weiter oben dargebotene Definition entsprechend zu modifizieren: Wenn das Einkommen aus (aufzunehmender oder vermehrter) Erwerbsarbeit zur Folge hat, dass Sozialleistungen (ganz oder zum großen Teil) entzogen werden, dann ist es wahrscheinlich, dass sich Transferempfänger gegen den Wechsel in Erwerbstätigkeit bzw. gegen eine Ausweitung ihrer Erwerbstätigkeit entscheiden und damit im Sozialleistungsbezug verbleiben. 3.3 Freiwillige und unfreiwillige Arbeitslosigkeit als zusätzliche Differenzierungslinie in Armutsfallen- Konzepten

Obwohl Armutsfallenkonzepte innerhalb der ökonomischen Fachdisziplin der neoklassischen Denktradition zuzurechnen sind, und diese Denktradition wiederum den Charakter der Arbeitslosigkeit als „freiwillige“ Wahl betont (vgl. Kapitel 2 und 3.1), ist im Zusammenhang mit der Armutsfalle überraschenderweise auch von „unfreiwilliger“ Arbeitslosigkeit die Rede. Wie in Kapitel 2 untersucht wurde, ergibt sich unfreiwillige Arbeitslosigkeit gemäß der Keynesianischen Theorie aufgrund eines Nachfragemangels auf den Gütermärkten, eine Vorstellung, die mit der neoklassischen Theorie unvereinbar ist, wie anhand der neoklassischen Reaktion auf Keynesianische Konzepte gesehen werden konnte. Handelt es sich hier im Zusammenhang mit der Armutsfalle also um eine theoretische Inkonsistenz? Oder ist mit „unfreiwilliger“ Arbeitslosigkeit etwas ganz anderes gemeint? Dazu folgende Ausführungen: Aus der Existenz einer „Armutsfalle“ wird in der ökonomischen Literatur hauptsächlich auf zwei negative Folgen geschlossen: 1. Zunächst werden nichtintendierte individuelle und langfristig negative Konsequenzen befürchtet: durch die Entscheidung gegen den Wechsel in Arbeit 80

und das daraus resultierende dauerhafte Angewiesensein auf Sozialtransfers bleiben Transferbezieher eben (einkommens-) arm. Sie richten sich in bescheidenen Verhältnissen ein und verzichten damit auf mittel- und langfristig mögliche materielle Aufstiege. Die wohlgemeinte sozialstaatliche Hilfe führt nicht zur Reintegration in den Arbeitsmarkt, sondern verkehrt sich dieser Auffassung zufolge in ihr Gegenteil und wird zur individuellen Belastung, obwohl der Charakter der Arbeitslosigkeit „freiwillig“ bleibt (vgl. z.B. Peter 2000: 232; Boss 2002: 116). 2. Das sind aber nur die Konsequenzen, die sich bei einer ausschließlichen Betrachtung der Angebotsseite auf dem Arbeitsmarkt ergeben. Zusätzlich wird durch das Vorhandensein von staatlicher Sozialpolitik auf weitere nichtintendierte, aber jetzt gesellschaftliche Konsequenzen geschlossen: Massenhafte Entscheidungen gegen den Wechsel in Arbeit (und für Sozialleistungsbezug) führen diesen theoretischen Vorstellungen zufolge zu einer Veränderung der Arbeitsmarktsituation im gesamten Niedriglohnsegment. Verantwortlich hierfür werden sozialstaatliche Regelungen gemacht, wie z.B. ein zu hohes Sozialleistungsniveau: Weil Unternehmen keine niedrigqualifizierten Arbeitskräfte zu entsprechend niedrigen Löhnen finden können, versuchen sie diese Tätigkeiten durch geeignete Anpassungsstrategien abzudecken (z.B. Rationalisierungsmaßnahmen). Damit verschlechtern sich aber die Arbeitsmarktchancen von schlecht ausgebildeten Sozialleistungsbeziehern insgesamt (vgl. z.B. Boss 2002: 153 f.), belasten den Arbeitsmarkt und transformieren den ursprünglich „freiwilligen“ Charakter der Arbeitslosigkeit in einen „unfreiwilligen“ (vgl. z.B. Pohl 2000: 236; Hochmuth u.a. 1997: 175). Die wohlgemeinte Hilfe mutiert zur kollektiven Belastung. Wie daran gesehen werden kann, ist mit dem Begriff der „unfreiwilligen“ Arbeitslosigkeit hier etwas ganz anderes gemeint als innerhalb des keynesianischen Theorieprogramms. Obwohl der Begriff „Armutsfalle“ für die Beschreibung einer spezifischen Anreizsituation an der Schnittstelle zwischen Arbeitsmarkt und System sozialer Sicherung reserviert ist, ließe er sich auch im Zusammenhang mit „unfreiwilliger“ Arbeitslosigkeit und Keynesianischer Theorie anwenden, insofern, als er dasselbe meint wie das Entstehen bzw. Vorhandensein von unfreiwilliger Arbeitslosigkeit bei Unterbeschäftigungsgleichgewichten aufgrund mangelnder Nachfrage auf Gütermärkten. Besser wäre hier aber ein Begriff, der das klarer ausdrückt, wie z.B. „Unterbeschäftigungsfalle“. Um aus einer „Unterbeschäftigungsfalle“ herauszufinden, wären aber andere Reformen nötig, als wenn man von der Existenz mangelnder Arbeitsanreize, also einer „Armutsfalle“ ausgeht. Aus den Ausführungen im Abschnitt 3.2 geht hervor, dass eine Unterscheidung zwischen „Arbeitslosigkeitsfalle“ und „Armutsfalle“ nicht (immer) sehr 81

sinnvoll ist. Beide Aspekte werden im Folgenden unter dem Begriff „Armutsfalle“ subsumiert. Die entscheidungsrelevanten Aspekte (Wechsel in Erwerbstätigkeit bzw. Ausweitung von individueller Erwerbstätigkeit) bleiben aber transparent. Die Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit im Zusammenhang mit Überlegungen zu einer Armutsfalle scheinen aber für das neoklassische Verständnis von sozialstaatlichen Regelungen und Transferprogrammen wesentlich zu sein und sollen daher in den beiden nachfolgenden Abschnitten (Abschnitte 3.4 und 3.5) in der Untersuchung ökonomietheoretischer Modelle noch präziser fokussiert werden. 3.4 „Freiwillige Arbeitslosigkeit“ und „Armutsfalle“

Wie aus den Ausführungen zum Armutsfallentheorem hervorgeht, entsteht eine Armutsfalle genau in dem Fall, in dem bei einer Ausweitung des Arbeitsvolumens der zusätzliche Arbeitslohn auf relevante Sozialleistungen (zu einem hohen Prozentsatz) angerechnet wird. Bei relevanten Sozialleistungen handelt es sich in der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit um Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II; vor den Hartz-Reformen waren es Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Durch die Anrechnungsregelungen in diesen Sozialleistungsprogrammen, entsteht für einen bestimmten Einkommenskorridor eine Situation, die so beschrieben werden kann, dass Empfänger dieser Leistungen, sich durch eine Arbeitsaufnahme finanziell gesehen nicht besser stellen als vorher. Diese Situation wird in (den jetzt zu untersuchenden) ökonomischen Modellen in der Form verallgemeinert, als dass sich im Prinzip jedes mögliche Sozialleistungsprogramm mit irgendwelchen Anrechnungsregelungen beschreiben lässt.48 Zunächst zur Diskussion anhand solcher möglicher, „fiktiver“ Sozialleistungsprogramme unter Berücksichtigung verschiedener Anrechnungssätze von Erwerbseinkommen. Wie gestaltet sich die Entscheidungssituation am Schnittpunkt von System sozialer Sicherheit und Arbeitsmarkt im Detail, bei Anrechnungssätzen von 0%, 85% und 100%? Abbildung 3.1 demonstriert die Situation von Sozialleistungsbeziehern, die vor der Entscheidung zwischen Arbeitsaufnahme oder fortgesetzter Arbeitslosigkeit stehen, aus anreiztheoretischer Perspektive. Grundlage dieser Darstellung ist die Beziehung zwischen Erwerbseinkommen (EW) und gesamten verfügbaren Einkommen (EV), wobei unter Sozialleistung zunächst einmal keine konkrete Sozialleistung verstanden wird, sondern

48

Diese Modelle kommen ohne die Angabe von Geldbeträgen aus. Diese Abstraktion dient der Verdeutlichung der Struktur von finanziellen Anreizen, so wie sie von den Protagonisten dieser ökonomischen Modelle vermutet wird.

82

nur irgendeine beliebige Sozialleistung, in der eine Armutsfalle präsent ist (vgl. ähnliche Darstellungen in Pohl 2000). Abb. 3.1: Entscheidung zwischen Arbeitsaufnahme und fortgesetzter Arbeitslosigkeit bei unterschiedlichen Anrechnungsregelungen (anreiztheor. Perspektive)

Verfügbares Einkommen

EV

a=0

a=0,85 S a=1

0

AF (für a=1)

E [S]

EW

Erwerbseinkommen (netto) Geht der Sozialleistungsbezieher keiner Beschäftigung nach, verfügt er/sie ausschließlich über ein Transfereinkommen S. Steht er/sie vor der Entscheidung eine Beschäftigung aufzunehmen, kommt aus anreiztheoretischer Perspektive dem Anrechnungssatz a eine entscheidende Bedeutung zu. Dieser Anrechnungssatz a bestimmt, wie hoch der Einkommenszuwachs (verfügbares Einkommen) durch Erwerbsarbeit ausfällt. Abhängig von der konkreten Situation (Welche Anrechnungssätze sind für konkrete Sozialleistungen vorgesehen, bzw. werden angewendet? Welche Sozialleistungen, bzw. auch welcher Sozialleistungsmix 83

wird bezogen?) sind alle Szenarien vorstellbar, in denen der Anrechnungssatz Werte zwischen 0 (0%) und 1 (100%) annimmt, wobei sogar Anrechnungssätze vorstellbar sind, die kleiner 0 oder größer 1 sind. Die Darstellung berücksichtigt drei Szenarien (a=1 [100%, Vollanrechnung]; a=0 [0%, keine Anrechnung]; a=0,85 [85%, Teilanrechnung]). Zunächst zu den anreiztheoretischen Schlussfolgerungen bei einem Anrechnungssatz von a=1 (Vollanrechnung). In diesen Fällen können Sozialleistungsbezieher bei Aufnahme einer Arbeit, die unterhalb des Sozialleistungsniveaus (EW”E[S]) entlohnt wird, aus verfügbaren Einkommen keinen Einkommenszuwachs realisieren, weil das zusätzliche Einkommen im vollen Umfang von a*EW auf den Sozialleistungstransfer angerechnet wird: Jeder hinzuverdiente Euro wird vom Sozialleistungseinkommen abgezogen. Damit müssten Sozialleistungsempfänger bei Arbeitsaufnahme mit demselben Geld auskommen wie vorher. Aus ökonomischer Anreizperspektive besteht in diesem Fall daher kein finanzieller Anreiz zur Arbeitsaufnahme. Vorausgesetzt die anreiztheoretische Prämisse, derzufolge ausschließlich finanzielle Anreize entscheidungsrelevant sind, träfe zu, könnte hier von einer „Armutsfalle“ gesprochen werden (in der Darstellung repräsentiert durch die Strecke 0 E[ S ] , verdeutlicht durch AF). Erst wenn ein Erwerbseinkommen in Aussicht stünde, welches die Sozialtransferhöhe übersteigt, wäre mit einer positiven Arbeitsmarktentscheidung zu rechnen. In diesem Fall würde keine Sozialhilfe mehr gewährt werden und Einkommenszuwächse des verfügbaren Gesamteinkommens können sich (wieder) aus der Steigerung von Erwerbseinkommen ergeben (z.B. durch Lohnerhöhungen oder Mehrarbeit). Völlig unproblematisch hingegen ist in diesem einfachen ökonomischen Modell die Anreizsituation unter Reglements bei denen Erwerbseinkommen nicht auf Sozialleistungen angerechnet werden (a=0): Jeder über Erwerbsarbeit hinzuverdiente Euro addiert sich zu einem vorhandenen Sozialtransfer hinzu und garantiert aus ökonomischer Anreizperspektive einen positiven finanziellen Anreiz zur Arbeitsaufnahme. Ambivalent hingegen ist die Situation bei Anrechnungssätzen von 0
alleistungseinkommen um einen Betrag übersteigen, der den „Freizeitverlust“ kompensiert. Dadurch wird ein Anspruchseinkommen (EV[A]) definiert, unter dessen Höhe keine Arbeit angenommen wird. Erst jetzt wird das volle Ausmaß der „Armutsfalle“ sichtbar, welches sich neoklassisch geprägte Ökonomen vorstellen und das anhand Abbildung 3.2 nachvollzogen werden kann. In allen drei Szenarien (a=1 [100%]; a=0,85 [85%]; a=0 [0%, keine Anrechnung]) entsteht bei einem hohen Anspruchseinkommen (z.B. doppelte Höhe des Sozialtransfers, EV[A1] = 2*S) nun eine „Armutsfalle“ (in der grafischen Darstellung verdeutlicht durch AF). Zuerst zu einer Situation mit hohen Anrechnungssätzen (a=1 bzw. a=0,85): Ein Sozialleistungsempfänger ist gemäß dem Konzept des Anspruchseinkommens zunächst wieder mit den aus finanzieller Hinsicht unattraktiven Rahmenbedingungen konfrontiert. Sollte er/sie eine Jobofferte annehmen, dann kann das verfügbare Einkommen bis zu einem Verdienst in Höhe des Sozialleistungseinkommens nicht gesteigert werden (a=1, Vollanrechnung), oder wenn, dann nur zu einem sehr geringen Teil (a=0,85, Teilanrechnung). Der Wechsel in Beschäftigung ist alleine aufgrund dieser Maßgaben schon sehr unattraktiv. Noch weniger ist er es mit der Unterstellung eines Anspruchseinkommens: Hat ein Sozialleistungsempfänger eine Zielvorstellung von der Höhe des für ihn verfügbaren Einkommens, die sich mit einem Wechsel in Beschäftigung ergeben, und die ihn/sie für den Freizeitverlust entschädigen soll, dann ist selbst bei einer Entlohnung, die weit über dem Sozialleistungsniveau liegt, nicht mit einem Wechsel in Beschäftigung zu rechnen. Erst bei einem Erwerbseinkommen über den Schwellen (E[1]) bzw. (E[0,85]) wären modellimmanent die Anreize aus Erwerbsarbeit hinreichend stark, um einen Sozialleistungsempfänger zur Beschäftigungsaufnahme zu bewegen. Diese hohen Anspruchslöhne (z.B. E[1]) bzw. E[0,85] definieren damit in Konzepten hoher Anspruchseinkommen eine Armutsfalle (in der Grafik symbolisiert durch AF), aus der sich Sozialleistungsempfänger in aller Regel nicht befreien können. Jetzt zu einer Situation bei der keine Anrechnung von Erwerbseinkommen auf Sozialleistung erfolgt: Obwohl Sozialleistungsempfänger in diesem Fall jeden hinzuverdienten Euro behalten könnten, ist der Wechsel in Beschäftigung in Konzepten mit einem Anspruchseinkommen nicht unproblematisch. Dadurch, dass (modellimmanent) Sozialleistungsempfänger für den Freizeitverlust kompensiert werden müssen, ist nun nicht mehr damit zu rechnen, dass ein Wechsel in Beschäftigung erfolgt. Das hohe Anspruchseinkommen (hier in doppelter Höhe des verfügbaren Sozialleistungseinkommens) verführt stattdessen zu einem Verbleib im Sozialleistungsbezug. Erst bei einer Aussicht auf Erwerbseinkommen ab der Höhe des aktuellen Sozialleistungsniveaus (E[S], in diesem Fall identisch mit einem Anspruchslohn E[0]) ist modellimmanent von einer Beschäftigungsaufnahme auszugehen. Der hohe Anspruchslohn definiert nun selbst für 85

ein institutionelles Reglement ohne Anrechnung von Erwerbseinkommen auf Sozialleistungen eine Armutsfalle (AF), aus der sich Sozialleistungsempfänger ceteris paribus nicht befreien können. Abb. 3.2: Armutsfalle bei unterschiedlichen Anrechnungsregelungen von Erwerbseinkommen auf Sozialleistungen

Verfügbares Einkommen

EV

E V[A1]

a=0

a=0,85 S a=1

0

AF (für a=0)

E [0] = E [S]

E [0,85]

E [1]

EW

AF (für a=0.85) AF (für a=1)

Erwerbseinkommen (netto) Es bleibt aber selbst aus ökonomietheoretischer Sicht fraglich, wie hoch die Kosten für den Freizeitverlust wirklich veranschlagt werden müssen. In der nächsten Darstellung (Abbildung 3.3) wird ein niedrigeres Anspruchseinkommen EV[A2] diskutiert.49 Unter der Maßgabe, dass die Verhaltensannahmen des ökonomischen Modells zutreffen, ergibt sich für einen Sozialleistungsempfänger in dieser Konstellation zunächst wieder das Problem, dass die Aufnahme einer gering 49

Ergebnisse aus Abb. 3.2 bleiben durch graue Darstellung präsent.

86

entlohnten Beschäftigung bei hohen Anrechnungssätzen nicht lohnt (a=1 bzw. a=0,85). Abb. 3.3: Armutsfalle bei unterschiedlichen Anrechnungsregelungen von Erwerbseinkommen auf Sozialleistungen und niedrigen Anspruchslöhnen

Verfügbares Einkommen

EV

E V[A1]

a=0 E V[A2] a=0,85 S a=1

E [0,85] E [1]

E [0] 0

E [0] AF (für a=0)

E [0,85]

E [1]

EW

AF (für a=0.85) AF (für a=1)

Erwerbseinkommen (netto) Dieser Einkommenskorridor ist jedoch gegenüber der Situation mit einem höheren Anspruchseinkommen EV[A1] wesentlich schmaler (E[S]”EW”E[1] bzw. E[S]”EW”E[0,85]). Daraus folgt, dass es relativ einfach fallen sollte, die Schwelle E[0,85] bzw. auch E[1] zu überspringen, indem Jobs „gewählt“ werden, die einen entsprechenden Einkommenszuwachs gewährleisten. Zwar liegen die Anspruchslöhne E[0,85] und E[1] über dem Sozialleistungsniveau und ein entsprechend ausgestaltetes Sozialleistungsprogramm wäre unter anreiztheoretischer Perspektive als „Armutsfalle“ (in der grafischen Darstellung symbolisiert durch AF) zu klassifizieren, aber das Ausmaß dieser Armutsfalle wäre als bedeu87

tend geringer einzuschätzen als in einer Situation, bei der ein Anspruchseinkommen doppelt so hoch ist wie ein Sozialtransfer (vgl. in Abb. 3.3, E[0,85] und E[1] mit den grauschattierten E[0,85] und E[1]). Nun zu der Situation ohne Anrechnung (a=0 [0%]): In diesem Fall führen Anspruchseinkommen der Höhe EV[A2] sogar zu Anspruchslöhnen unterhalb des Sozialleistungsniveaus (E[0]<E[S]).50 Das Ausmaß der „Armutsfalle“ verringert sich auf einen Bruchteil der Sozialleistungshöhe. In diesen Fällen ist oberhalb von EV[A2] selbst dann mit einer Arbeitsaufnahme zu rechen, wenn das Erwerbseinkommen nicht so hoch ausfällt, wie der aktuelle Sozialtransfer. 3.5 „Unfreiwillige Arbeitslosigkeit“ und „Armutsfalle“

Die bisherige Diskussion erfolgte unter der Maßgabe, dass Arbeitslosigkeit im wesentlichen freiwilliger Natur ist und dass sich in der Konstruktion von relevanten Sozialleistungsprogrammen durch die Modifizierung von Anrechnungssätzen in der einen oder anderen Form eine „Armutsfalle“ belegen lässt. Aber wie die Diskussion in Abschnitt 3.4 gezeigt hat, kann ohne weitere Forschung, selbst unter einem gegebenen einheitlichen Anrechnungsmodus, kaum geklärt werden, wie hoch Anspruchslöhne individuell tatsächlich ausfallen. Es ist also selbst aus anreiztheoretischer Perspektive nicht unvorstellbar, dass nichterwerbstätige Sozialleistungsbezieher eine positive Arbeitsmarktentscheidung treffen (vgl. positiv hierzu auch Boss 2002: 116). Eine solche Entscheidung vorausgesetzt, müssten alle Personen als unfreiwillig arbeitslos bezeichnet werden, die ein positives Arbeitskraftangebot aufweisen, aber trotzdem keine Beschäftigung finden. Wichtig für die weitere Diskussion ist nun, dass auch mit dieser Perspektive eine „Armutsfalle“ bzw. „Sozialstaatsfalle“ behauptet wird (vgl. Pohl 2000). Als verursachende Faktoren für unfreiwillige Arbeitslosigkeit kommen das zu hohe Sozialleistungsniveau selbst oder geltende Tarif- bzw. Mindestlöhne in Frage. Sozialleistungsniveau Von „Armutsfalle“ ist in der ökonomischen Literatur auch dann die Rede, wenn sich arbeitslose Sozialleistungsbezieher trotz geringer finanzieller Anreize für die Aufnahme von Erwerbstätigkeit entscheiden. Wie ist das möglich? Zentraler Dreh- und Angelpunkt in dieser Diskussion ist die Arbeitsproduktivität einer Person und deren marktkonforme Entlohnung. „Menschen deren Arbeitsproduktivität unter der Sozialhilfe liegt, finden keine Jobs. Sie stecken in der Armutsfal50

E[S] ist in der grafischen Darstellung mit dem grauschattierten Punkt E[0] identisch (vgl. auch Abb. 3.2).

88

le.“ (Sinn 2001, zu ähnlichen Überlegungen vgl. Boss 2002: 153 f.). Ökonomen, die diese Version der „Armutsfalle“ vertreten, behaupten, dass sich die Struktur der Arbeitskraftnachfrage, aufgrund des hohen Sozialleistungsniveaus, insgesamt verändert habe. Weil zu wenige Arbeitskräfte bereit sind Tätigkeiten auszuführen die nur ein niedriges Qualifikationsniveau erfordern, werden diese Tätigkeiten seitens der Unternehmen nicht mehr nachgefragt, bzw. wird ein Niedriglohnsektor dadurch überhaupt verhindert: „Im Ergebnis führt dies nicht nur zu nachvollziehbaren niedrigen Arbeitsanreizen im Einzelfall; darüber hinaus kommt es auch zu sozialleistungsbedingter Mindestlohnarbeitslosigkeit, wenn durch staatliche Sozialleistungen faktisch eine vergleichsweise hohe Untergrenze für Arbeitslöhne generiert wird. Ein gerade für geringqualifizierte Transferempfänger so dringend erforderlicher Niedriglohnsektor wird auf diese Weise von vornherein verhindert.“ (Berthold/von Berchem 2002: 49 f.)

Daraus ergibt sich eine veränderte Situation: Lässt sich die zuerst vorgestellte Version der „Armutsfalle“ in der freiwilligen Entscheidung gegen Erwerbstätigkeitsaufnahme vor allem durch den Verführungscharakter von hohen Sozialleistungen mit privaten selbstschädigenden nichtintendierten Konsequenzen verstehen, ist die jetzt vorgestellte Version dadurch charakterisiert, dass nunmehr durch massenhafte Entscheidungen gegen den Wechsel in Erwerbstätigkeit der private und freiwillige Charakter in einen ebenfalls nichtintendierten, aber jetzt gesellschaftlichen und unfreiwilligen Charakter transformiert wird. Die Armutsfalle hat sich institutionell verfestigt. Die Sozialleistungsempfänger, die sich an der Schnittstelle zwischen System sozialer Sicherung und Arbeitsmarkt befinden sitzen nun in einer Doppelfalle: Das hohe Sozialleistungsniveau macht es aus finanziellen Gesichtspunkten wenig attraktiv in Arbeit zu wechseln. Wenn sich Sozialleistungsempfänger, der Anreizstruktur zum trotz, für Arbeit entscheiden, ist dennoch nicht damit zu rechnen, dass sie auf eine effektive Nachfrage treffen. Das liegt daran, dass sich die gesamte Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur inzwischen auf das geringe Arbeitskraftangebot eingestellt hat und einfache Tätigkeiten nicht mehr nachgefragt, und inzwischen durch geeignete Anpassungsstrategien seitens der Arbeitgeber auch nicht mehr benötigt werden (z.B. Rationalisierung, Auslagerung von Arbeitsplätzen in Staaten mit einem ausgeprägten Niedriglohnsektor). Der Gedanke liegt nahe, dass Sozialleistungsempfänger dann zwar in erster Linie „Täter“ sind, aber via selbsterzeugten Strukturwandel zugleich auch „Opfer“. Allerdings folgen nicht alle Äußerungen im Zusammenhang mit Sozialleistungen und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit diesem „neoklassischen“ Argumentationsschema. Eine andere Version der Armutsfalle, passt eher zu keynesianischen Vorstellungen von Unterbeschäftigungsgleichgewichten. Unfreiwillige Ar89

beitslosigkeit ist hier vor allem ein Problem der fehlenden Arbeitskraftnachfrage. Argumentativ baut sich diese Version folgendermaßen auf: Weil Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt für geringqualifizierte Tätigkeiten keine Arbeitsplätze zu marktkonformen Löhnen besetzen können, setzen sie nicht ausschließlich auf Rationalisierung und Arbeitsplatzverlagerung, sondern auch auf Quersubventionierung: „Quersubventionierung bedeutet hier, daß auf höher qualifizierten Arbeitsplätzen niedriger entlohnt wird, als dem Wertgrenzprodukt entspricht, zugleich aber auf gering qualifizierten Arbeitsplätzen höhere Löhne gezahlt werden, als dem Wertgrenzprodukt entspricht (…)“. (Pohl 2000: 244).

In diesem Fall sind Sozialleistungsempfänger ausschließlich „Opfer“ der schwachen Arbeitskraftnachfrage nach einfachen Tätigkeiten, denn alle Arbeitsplätze sind bereits besetzt. Hier ist es vorstellbar, dass sich die Ökonomie in einer „Unterbeschäftigungsfalle“ befindet, aus der sie ohne weiteres auch nicht alleine wieder herausfindet. Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen sind hier die falsche Remedur, denn: „Wo Lohnsenkungen für einfache Arbeit eine Verringerung der Quersubventionierung bewirken, entstehen keine zusätzlichen einfachen Arbeitsplätze.“ (Pohl 2000: 244).51 Tariflöhne Die Ursache für unfreiwillige Arbeitslosigkeit wird von neoklassisch orientierten Ökonomen aber auch beim deutschen Tarifrecht vermutet. Hier wird behauptet, dass es die Anstellung von niedrigqualifizierten Arbeitskräften verhindere (vgl. z.B. Suntum 1999: 290 f.; Pohl 2000: 236 f.; Klös 1997: 131 f.). Im deutschen Tarifrecht werden Entgelte und Arbeitszeiten von den Tarifvertragsparteien autonom ausgehandelt. Direkte staatliche Eingriffe werden damit weitestgehend vermieden. Die nach diesen Prämissen ausgehandelten Tariflöhne definieren branchenweite Standardlöhne, an denen sich Einzelunternehmen orientieren können. Tatsächlich lässt die Verbindlichkeit dieser Tariflöhne aber immer mehr nach. Wurden 1995 noch 72% der Arbeitnehmer in Westdeutschland tariflich entlohnt, ging diese Zahl bis zum Jahr 2002 auf 63% aller Beschäftigten zurück (vgl. Traxler/Behrens 2002). In Ostdeutschland ist der Anteil von tariflich entlohnten Beschäftigten noch geringer. Hier wurden 1995 56% der Beschäftigten 51

So ging eine Studie des IWH in Halle aus dem Jahre 1998 von einer nur 2,5% igen Reduzierung der Arbeitslosigkeit unter Sozialhilfeempfängern in Sachsen-Anhalt aus, die sich durch eine Erweiterung der Freibetragsregelung bei der Anrechnung von Erwerbseinkommen auf die damalige Sozialhilfe ergeben hätte (vgl. Trabert u.a. 1998).

90

tariflich entlohnt, 2002 waren es hingegen nur noch 46% (vgl. Traxler/Behrens 2002). Diese Aussagen beschreiben die Situation jedoch nur ungenügend. In den einzelnen Branchen sind die Tarifbindungsraten teilweise erheblich niedriger. Besonders die Bereiche Verkehr/Nachrichten und Sonstige Dienste verzeichnen unterdurchschnittliche Tarifbindungsraten von teilweise weniger als 40% in beiden Landesteilen (vgl. z.B. IAB 1998). Mindestlöhne Kehrseite der nachlassenden Tarifbindung könnte ein Anwachsen von staatlichen Eingriffen sein, die nach der geltenden Gesetzeslage möglich sind und vor allem im Bauhaupt- und Baunebengewerbe bereits Anwendung finden. Aber auch in der Höhe gesetzlicher Mindestlöhne wird im Zusammenhang mit „unfreiwilliger Arbeitslosigkeit“ und der „Armutsfalle“ ein Problem gesehen. Abbildung 3.4 demonstriert die eben dargelegten Sachverhalte für Situationen mit und ohne gesetzlichen Mindest- und Tariflöhnen. E[GP] markiert einen Beispiellohn, den eine Person mit einer niedrigen Arbeitsproduktivität bei einer Arbeitsmarktsituation ohne Tarif- und Mindestlöhne, aber mit Sozialleistungen, realisieren könnte. E[0] (keine Anrechnung), E[0,85] (Teilanrechnung in der Höhe von 85%) und E[1] (Vollanrechnung) kennzeichnen wiederum Anspruchslöhne, die bei unterschiedlichen Anrechnungssätzen, aber auf Grundlage eines Anspruchsgesamteinkommens EV[A1] (ökonomietheoretisch) zu erwarten sind. Wird kein Erwerbseinkommen auf Sozialleistungen angerechnet (a=0; Anspruchslohn E[0]), kann die Person mit einer effektiven Nachfrage rechnen, denn ihre Grenzproduktivität (E[GP]) läge über ihrem Anspruchslohn (E[0]). Der Wechsel in Erwerbstätigkeit lohnt sich zudem finanziell. Hier fehlt die Grundlage zur Diskussion einer „Armutsfalle“ auf Grundlage „unfreiwilliger Arbeitslosigkeit“. Sozialleistungsprogramme mit hohen Anrechnungssätzen lassen aber aus anreiztheoretischer Perspektive erwarten, dass Arbeitgeber keine Arbeitskraft der Arbeitsproduktivität E[GP] nachfragen: Das liegt daran, dass die Anspruchslöhne von Arbeitslosen in diesem Fall höher wären, als ihre Grenzproduktivität. Die Personen bleiben getreu den Modellannahmen arbeitslos; die „Armutsfalle“ bleibt präsent. Zwar können sich Sozialleistungsempfänger in diesem Fall immer noch für die Aufnahme von Erwerbstätigkeit entscheiden. Es ist aber nicht ohne weiteres klar, ob sie auch Arbeit finden. In dem Fall, in dem sie keine finden, bleiben sie – positives Arbeitskraftangebot vorausgesetzt – „unfreiwillig“ arbeitslos.52 52

Diese Position wird nicht von allen Ökonomen geteilt. Vgl. dazu die Darstellung von Rüdiger Pohl, der „unfreiwillige“ Arbeitslosigkeit, nur für den Fall der Existenz von Tarif- und gesetzlichen Min-

91

Abb. 3.4: Armutsfalle unter Beachtung von Tarif- bzw. Mindestlöhnen

Verfügbares Einkommen

EV

E V[A1]

a=0

a=0,85 S a=1

0

E [0]

E [GP]

E [0,85] E [1]

E [ML]

EW

Erwerbseinkommen (netto) Unfreiwillige Arbeitslosigkeit, das ist im Zusammenhang mit Konzepten einer „Armutsfalle“ aber vor allem ein Problem von Tarif- und gesetzlichen Mindestlöhnen. Diese bewegen sich in ihrem Niveau in der Bundesrepublik Deutschland oberhalb relevanter Sozialleistungstransfers und geben Ökonomen Anlass zur Sorge, dass arbeitsbereite niedrigqualifizierte Sozialleistungsempfänger keine Arbeit finden. In Abbildung 3.4 sind tarifliche oder Mindestlöhne durch den Punkt E[ML] verdeutlicht. Die ökonomietheoretische Argumentation verliefe dann etwa so: Hat sich ein Sozialleistungsempfänger, der Anreizstruktur zum trotz für eine Arbeitsaufnahme entschieden, kann er bei geltenden und bindenden Tarif- oder Mindestlöhnen dennoch nicht mit einer Anstellung rechnen. Das liegt an deren relativ hohem Niveau, das es einem potentiellen Arbeitgeber nicht erdestlöhnen konstatiert (vgl. Pohl 2000: 236 f., zur Transformation von „unfreiwilliger“ in „freiwillige“ Arbeitslosigkeit, Fußnote 19, 244.).

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laubt, eine Arbeitskraft mit dieser geringen Grenzproduktivität anzustellen, ohne finanzielle Nachteile befürchten zu müssen. Die Folge ist, dass arbeitsbereite Sozialleistungsempfänger keine Arbeit finden. Wie die Diskussion aber bereits gezeigt hat, hat das Tariflohnsystem in verschiedenen Wirtschaftssektoren – und hier besonders in den ostdeutschen Bundesländern – an Bedeutung verloren, weshalb die Annahme einer institutionell verfestigten „Armutsfalle“ tendenziell überschätzt werden dürfte. Denn gerade in diesen Bereichen können niedrigqualifizierte Arbeitskräfte Beschäftigung finden (Dienstleistungssektor, Handwerk etc.), natürlich nur insofern, als solche Stellen auch offeriert werden. 3.6 Zwischenergebnis

Wie die Diskussion in Kapitel 3.1 belegt, ist das Vorhandensein von staatlicher Sozialpolitik nach wie vor ein Problem in der ökonomischen Theoriebildung. Ein zentraler ökonomietheoretischer Ansatz, der die Schnittstellenproblematik zwischen Arbeitsmarkt und System sozialer Sicherheit fokussiert, ist hierbei das Armutsfallentheorem. Wie die Diskussion der Differenzierungslinie „Arbeitslosigkeits-“ und „Armutsfalle“ sowie ihrer zentralen Messkonzepte (Nettolohnersatzleistungsquoten und marginale Abgabenbelastung, Kap. 3.2) belegt, müssen die anreiztheoretischen Befürchtungen (zunächst erst einmal) ernst genommen werden. Im Sinne einer vereinfachenden Darstellung ist die Differenzierung zwischen „Arbeitslosigkeits-“ und „Armutsfalle“ aber nicht notwendig. Schwerwiegendere Implikationen können hingegen von der Differenzierung zwischen „freiwilliger“ und „unfreiwilliger“ Arbeitslosigkeit im Anschluss an das Armutsfallentheorem erwartet werden (Kap. 3.3). Eine nähere Untersuchung dieser ökonomischen Modelle zeigt, dass sich bei der Betrachtung von „freiwilliger“ Arbeitslosigkeit im Zusammenhang mit Sozialleistungen keine Änderung gegenüber der Standardversion des Armutsfallentheorems ergibt, während die Erweiterung um „unfreiwillige“ Arbeitslosigkeit stärkere Konsequenzen hat, denn arbeitslose Sozialleistungsempfänger werden in diesem Fall durch die Existenz staatlicher Sozialleistungen gleich doppelt geschädigt: Wenn sie auf maßgebliche Anreize reagieren, schädigen sie sich langfristig selbst. Wenn sie den Anreizen zuwider handeln und trotzdem Arbeit aufnehmen wollen, können sie das nicht, weil sich die gesamte Wirtschafts- und Beschäftigungsstrukur inzwischen auf das geringe Arbeitskraftangebot im Niedriglohnsektor eingestellt hat und keine niedrigqualifizierten Arbeitskräfte mehr nachgefragt werden.

93

Ökonomische Modelle „freiwilliger“ und „unfreiwilliger“ Arbeitslosigkeit wurden in Kapitel 3.4 und 3.5 anhand unterschiedlicher Anrechnungssätze von Erwerbseinkommen und unterschiedlicher Anspruchseinkommen bzw. Anspruchslöhne diskutiert. Wie sich dabei zeigt, führen schon kleine Veränderungen der Modellannahmen zu anderen Ergebnissen. Insbesondere die Höhe des Anspruchslohnes ist alles andere als generalisierbar. Gerade dieser Faktor birgt für die verhaltensrelevanten Schlussfolgerungen, die aus der Anrechnung von Erwerbseinkommen auf Sozialleistungen gezogen werden, ein erhebliches Unsicherheitspotential und macht darauf aufmerksam, dass langfristige und nichtfinanzielle Kalküle für eine adäquate Modellierung von Arbeitskraftangebotsentscheidungen wesentlich stärkere Berücksichtung finden müssen und die Wirkung staatlicher Sozialpolitik bisher nicht hinreichend verstanden wird.

94

4. „Armutsfalle“, Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II

4.1 Die Anrechnung von Erwerbseinkünften in der früheren Sozialhilfe

Bisher wurden ökonomische Modelle zum Zusammenhang von Arbeitsanreizen und Arbeitsaufnahme vorgestellt, wie sie aus Sicht weiter Teile des ökonomietheoretischen Diskurses gesehen werden. In der folgenden Untersuchung richtet sich der Fokus auf die konkrete Ausgestaltung von Sozialleistungen: Wie gestaltet sich die (Anreiz-) Situation in diversen Sozialleistungsprogrammen wirklich? Zunächst zur früheren bundesdeutschen Sozialhilfe. Abbildung 4.1 diskutiert die Möglichkeit einer „Arbeitslosigkeitsfalle“/„Armutsfalle“ anhand der ehemaligen deutschen Sozialhilfe. Zu den Rahmendaten: Der maßgebliche jährliche Sozialhilferegelsatz für Haushaltsvorstände (Hilfe zum Lebensunterhalt, HLU) betrug vom 01. Juli 2003 bis zum 31.12. 2004 in acht Bundesländern monatlich 296 € (jährlich 3.552 €) (vgl. z.B. Großmann/Melzer 2004).53 Unter Beachtung der weitgehend befolgten Empfehlung des DVfÖPF konnten Sozialhilfeempfänger ihr Gesamteinkommen bis zur Höhe von ½ des Regelsatzes aufstocken (vgl. DVfÖPF 1976). Erwerbseinkommen bis zu ¼ des Regelsatzes blieben hierbei anrechnungsfrei (a=0, monatlich 74 €, jährlich 888 €). Mit dieser Regelung war ein verfügbares Gesamteinkommen von monatlich 370 € (4.440 € jährlich) erreichbar. Über diesen Betrag hinaus war eine weitere Aufstockung ebenfalls möglich, nur dass in diesem Fall jedes weitere Erwerbseinkommen zu 85% auf den Sozialhilfetransfer angerechnet wurde (weitere monatlich 74 €, jährlich 888 €), so dass das verfügbare Gesamteinkommen insgesamt um ½ des Regelsatzes aufgestockt werden konnte. Das waren monatlich 148 € (jährlich 1.776 €). Insgesamt konnte ein Sozialhilfeempfänger somit ein verfügbares Gesamteinkommen von monatlich 444 € (jährlich 5.328 €) erzielen. Bedingt durch den hohen Anrechnungssatz mussten in diesem Fall monatlich 567 € netto (jährlich 6.808 € netto) aus Erwerbsarbeit hinzuverdient werden.

53

Vgl. hier auch die Diskussion in Gebauer/Petschauer/Vobruba 2002: 46 ff. auf Grundlage der Regelsätze in den Jahren 2001/2002.

95

700

600

500

400

300

200

100

444

370

100

200

300

400

500

600

700

800

Einkommen aus Erwerbsarbeit (netto) in Euro

900

1000

96

Abb. 4.1: Anrechnung von Erwerbseinkommen in der früheren Sozialhilfe

Netto-Gesamteinkommen in Euro

Wie daran erkennbar ist, überstieg das Nettoentgelt aus Beschäftigung (567 €) in diesem Fall bereits das Einkommen, das mit Sozialhilfe und Freibeträgen für einen alleinstehenden Sozialhilfeempfänger maximal möglich war (444 €). Alleinstehende Sozialhilfeempfänger hätten daher u.U. bereits ab einem niedrigeren Betrag die Sozialhilfe verlassen.54 Das gilt jedoch nicht für Familien, bei denen das Erwerbseinkommen auf das verfügbare Haushaltsgesamteinkommen angerechnet wurde. Der Mehrbetrag des Erwerbseinkommens, der über den Betrag von 567 € hinausging, wurde schließlich zu 100% angerechnet. Eine weitere Steigerung des verfügbaren Einkommens im Rahmen der Sozialhilfe war folglich nicht mehr möglich. Zur Diskussion: Die bundesdeutsche Sozialhilfe wies keinen einheitlichen Anrechnungssatz auf. Für arbeitslose Hilfeempfänger war es unter Maßgabe geringer Anspruchslöhne durchaus auch aus finanzieller Hinsicht rational, einer geringfügigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, denn bis zu einer Höhe von ¼ des Regelsatzes (in den Jahren 2003/2004 waren das monatlich 74 €, jährlich 888 €) wurde kein Erwerbseinkommen auf die Sozialhilfe angerechnet. Eine „Armutsfalle“ war deshalb bei geringfügiger bzw. gering bezahlter Beschäftigung bis zu einem Erwerbseinkommen von 74 € nicht erkennbar.55 Anders gestaltete sich die Situation bei höheren Erwerbseinkommen. Durch die hohe Anrechnung von Erwerbseinkommen auf Sozialhilfe (85%) ab 74 € monatliches Erwerbseinkommen waren die finanziellen Anreize aus Erwerbsarbeit als ziemlich niedrig einzuschätzen. Von jedem hinzuverdienten Euro konnte ein erwerbstätiger Sozialhilfeempfänger gerade einmal 15 ct behalten. 4.2 Die Anrechnung von Erwerbseinkünften nach der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe

Seit dem 01.01.2005 existieren Sozial- und Arbeitslosenhilfe in ihrer bisherigen Form nicht mehr. Zum Jahresanfang 2005 trat mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz IV“) die Grundsicherung für Arbeitssuchende voll in kraft. Diese Grundsicherung wird im zweiten Buch Sozialgesetzbuch geregelt.

54

Die Einstellung des Sozialhilfetransfers war abhängig von dem Betrag, der für die Miet- und Mietnebenkosten vom örtlichen Sozialamt übernommen wurde. Im Falle der Übernahme höherer Mieten und Mietnebenkosten war der Bezug von Sozialhilfe – finanziell gesehen – auch dann sinnvoll, wenn Erwerbseinkünfte von über 567 € erarbeitet wurden. 55 Bei höheren Anspruchslöhnen (vgl. Kap. 3.4) wäre demgegenüber von einem anreiztheoretischen Standpunkt aus schon hier eine „Armutsfalle“ zu vermuten gewesen.

97

Mit der damit erfolgten Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe erhalten alle erwerbsfähigen Hilfebedürftigen Arbeitslosengeld II, in der Höhe von monatlich 345 € (jährlich 4.140 €) in den westdeutschen und 331 € (jährlich 3.972 €) in den ostdeutschen Bundesländern (vgl. ausführlicher z.B. Marburger 2005: 14).56 Nicht erwerbsfähige Hilfebedürftige erhalten Sozialgeld. Außerdem haben erwerbsfähige Hilfebedürftige einen Anspruch auf einen zwei Jahre befristeten Zuschlag beim Übergang von Arbeitslosengeld I in Arbeitslosengeld II, in der Höhe von monatlich max. 160 € für Alleinstehende. Die Anrechnungsregelungen wurden grundlegend verändert (vgl. z.B. Baczko 2005: 35-62, weniger ausführlich: Jüngst/Nick 2005: 59-62). Demnach werden Erwerbseinkünfte vom ersten Euro an auf die Sozialhilfe in Höhe von 85% (a=0,85) angerechnet. Die etwas günstigere Regelung in der früheren Sozialhilfe (für die ersten ca. 74 € anrechnungsfrei) und in der Arbeitslosenhilfe (min. 165 € anrechnungsfrei) ist entfallen. Die Hoffnungen auf eine aus anreiztheoretischer Perspektive sinnvolle Ausweitung des anrechnungsfreien oder zumindest anrechnungsschwachen Einkommenskorridors haben sich nicht erfüllt. Von einer grundlegenden Verbesserung oder Stärkung der Arbeitsanreize kann daher keine Rede sein. Nur in einem Einkommenskorridor ab monatlich 400 € monatlicher Bruttoerwerbseinkommen (4.800 € jährlich) tritt für ehemalige Sozialhilfeempfänger eine marginale Verbesserung der Arbeitsanreizsituation ein.57 Die Anrechnungsregelungen im Detail: In einem Bereich bis 400 € monatlicher Bruttoeinkommen werden 85% (a=0,85) angerechnet, 15% des Einkommens bleiben folglich anrechnungsfrei. Über 400 € bis 900 € werden 70% (a=0,7) angerechnet, was bedeutet, dass 30% anrechnungsfrei bleiben. Bei einem Bruttoerwerbseinkommen von über 900 € sind es erneut 85% (a=0,85), so dass wieder 15% des Einkommens anrechnungsfrei bleiben, bevor ab einem Betrag von über 1500 € eine Vollanrechnung erfolgt (a=1). Die Berechnung ist aber etwas komplizierter, denn die einzelnen Bruttoeinkommensbereiche werden an bereinigte Nettoeinkommen gekoppelt.58

56

Diese Regelung beschränkt sich auf Alleinstehende und Alleinerziehende. Handelt es sich um Paarhaushalte, reduziert sich dieser Betrag auf 311 € (3.732 € jährlich, West) und 298 € (3.576 € jährlich, Ost). Eine Angleichung des Arbeitslosengeld II-Niveaus in den östlichen Bundesländern an das West-Niveau erfolgt im Jahr 2006 (vgl. Merkel 2005). 57 Ab diesem Betrag setzte eine Anrechnung von 85% ein, die jetzt ein wenig günstiger ausfällt. 58 Das bereinigte Nettoeinkommen berechnet sich aus dem tatsächlichen Nettoeinkommen einer Person, abzüglich Werbungskosten, Fahrtkosten für Arbeitswege, Pauschalen für Privatversicherungen (z.B. Haftpflicht), Beiträge zur „Riester-Rente“, gesetzlich vorgeschriebenen Versicherungen (z.B. Kfz-Haftpflicht) und Unterhaltspflichten.

98

99

Netto-Gesamteinkommen in Euro

100

200

300

400

500

600

700

800

900

1000

45,33

390,33

443,53

593,43 572,14 545.94

100

200

300

400

600

700

800

900

1000

1100

1200

1300

Einkommen aus Erwerbsarbeit (brutto) in Euro

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1400

Abb. 4.2: Anrechnung von Erwerbseinkommen auf ALG II (01.01. 2005 bis 30.09. 2005)

1500

1600

1700

Die Grafik in Abb. 4.2 vereinfacht die Darstellung für eine Situation von Bruttoeinkommen, auf die Lohnsteuern und Beiträge zur Arbeitslosen-, Renten-, Kranken-, und Pflegeversicherung gezahlt werden müssen.59 Demnach stehen einer alleinstehenden Person monatlich 345 € ALG II zu (jährlich 4.140 €).Wenn sie über sehr geringfügige Erwerbseinkünfte in Höhe der Absetzbeträge (z.B. in Höhe der Werbungskostenpauschale und Pauschale für private Versicherungen monatlich 45,33 €, jährlich 543,96 €) verfügt, wird dieses Geld nicht angerechnet. Damit kann das verfügbare Gesamteinkommen (Arbeitslosengeld II in Höhe von 345 € und Absetzbetrag in Höhe von 45,33 €) monatlich bis auf 390,33 € anrechnungsfrei gesteigert werden (jährlich 4.683,96 €). Höhere Erwerbseinkünfte als 45,33 €60 werden jedoch auf das Arbeitslosengeld II angerechnet, zunächst jedoch nicht in voller Höhe, sondern in Höhe von 85% auf das bereinigte Nettoerwerbseinkommen (15% des Einkommens verbleiben dem Sozialleistungsempfänger). Beispielsweise werden bei einem Bruttoerwerbseinkommen in Höhe von 400 € insgesamt 301,47 € auf das Arbeitslosengeld II angerechnet, so dass aus den Erwerbseinkünften insgesamt nur 98,53 € monatlich (1.182,36 € jährlich) zusätzlich zum Arbeitslosengeld verbleiben. Damit kann das verfügbare Gesamteinkommen auf monatlich 443,53 € (jährlich 5.322,36) gesteigert werden. Will eine erwerbstätiger Arbeitslosengeld II-Empfänger sein verfügbares Gesamteinkommen weiter steigern (ALG II + Erwerbseinkünfte), kann er weitere 500 € monatlich Bruttoerwerbseinkünfte erarbeiten, so dass er über ein Bruttogesamterwerbseinkommen von 900 € verfügt. Für die Einkommenszone zwischen 500 und 900 € wird aus dem daraus abgeleiteten bereinigten Nettoeinkommen ein 30%iger Freibetrag gewährt (70% werden angerechnet, 30% des Einkommens verbleiben dem Sozialleistungsempfänger). In diesem Fall verbleiben dem erwerbstätigen Arbeitslosengeld II-Empfänger monatlich 200,94 € (jährlich 2.411,28 €) zusätzlich zum Arbeitslosengeld II. Das verfügbare Gesamteinkommen kann damit auf 545,94 € (6.551,28 € jährlich) gesteigert werden. Ab einem monatlichen Erwerbseinkommen von über 900 € wird dann zusätzliches Erwerbseinkommen jedoch verstärkt auf Arbeitslosengeld II angerechnet (hier werden wieder 85% angerechnet, 15% des Einkommens verbleiben dem Sozialleistungsempfänger). Ohne auf die komplizierte Berechnung weiter einzugehen: Für einen Erwerbseinkommenskorridor von weiteren monatlich 600 € besteht die Möglichkeit das verfügbare Gesamteinkommen um weitere monatlich 47,49 € (jährlich 569,88 €) auf schließlich 593,43 € (jährlich 7.121,16 €) zu steigern. Ab monatlichen Erwerbseinkünften von insgesamt 1.500 € schließlich 59

Berechnungsbeispiele zu den einzelnen Einkommenszonen finden sich im Anhang A1. Der Absetzbetrag kann jedoch in Abhängigkeit von weiteren Ausgaben auch höher ausfallen, vgl. die Beträge, die absetzbar sind in Fußnote 58.

60

100

kann eine erwerbstätige Person das Arbeitslosengeld II nicht mehr weiter aufbessern. Allerdings dürften die allermeisten Arbeitslosengeld II-Empfänger schon bei erheblich niedrigeren Transferbeträgen aus dem Arbeitslosengeld II ausscheiden, denn in Abhängigkeit von Miet- und Mietnebenkosten (am Beispiel von 300 €) ist der Verbleib in Arbeitslosengeld II ab einem Bruttoeinkommen von ca. 1.200 € unter den Verdienstmöglichkeiten ohne Arbeitslosengeld II. Zur Diskussion: Das mit Jahresbeginn 2005 eingeführte Arbeitslosengeld II ist aus anreiztheoretischer Perspektive problematisch. Besonders für Personen, die bisher überhaupt keine Erwerbseinkünfte haben, ist entlohnte Beschäftigung – finanziell gesehen – wenig lohnend. Dazu trägt im besonderen Maße die Abschaffung des anrechnungsfreien Erwerbstätigenfreibetrags in der Sozialhilfe bei, der das Eingehen zumindest geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse begünstigte. Zwar bleiben auch weiterhin sehr geringe Erwerbseinkünfte durch die Anerkennung von Werbungskosten und Beiträgen zu privaten Versicherungen u.a. anrechnungsfrei. Aber diese Beträge fallen in den meisten Fällen niedriger aus als der frühere Erwerbstätigenfreibetrag. Aber auch wenn man von dieser Verschlechterung absieht, können Jobeinsteiger mit den neuen Regelungen schon am unteren Ende der Einkommensleiter nur sehr geringe Hinzuverdienste realisieren. Von jedem erarbeiteten Euro gehen den Betroffenen zwischen 70 und 85 ct. „verloren“. 4.3 Die Anrechnung von Erwerbseinkünften auf das Arbeitslosengeld II nach der Reform der Reform

Mit der Billigung des Gesetzentwurfes zur Verbesserung der Hinzuverdienstmöglichkeiten für Empfänger von Arbeitslosengeld II am 03.06.2005 durch den Bundestag, trat am 01.10. 2005 eine neue Erwerbstätigenfreibetragsregelung in kraft, die zu einer Vereinfachung der bisherigen Freibetragsregelung führen soll. Bezugspunkt der neuen Anrechnungsregelung ist nicht mehr das bereinigte Nettoeinkommen (in Kopplung an das Bruttoeinkommen) von Arbeitslosengeld II-Empfängern, sondern ausschließlich das Bruttoeinkommen. Im Einkommensbereich bis monatlich 100 € erfolgt keine Anrechnung, zwischen 100 € und 800 € werden 80%, zwischen 800 € und 1.200 € werden 90% angerechnet, bevor ab Erwerbseinkünften in einer Höhe von 1.200 € voll angerechnet wird. 61

61

Diese Regelung gilt für kinderlose Hilfebedürftige. Für ALG II-Empfänger mit Kindern verbleiben Freibeträge in einer Höhe von 10% auch noch in einem Einkommensbereich bis monatlich 1.500 €.

101

1000 900 800 700 600 500 400 300 200 100

625 585

445

100

200

300

400

500

600

700

800

900

1000

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Einkommen aus Erwerbsarbeit (brutto) in Euro

ALG II neue Regelung

1500

1600

ALG II alte Regelung

1400

1700

102

Abb. 4.3: Anrechnung von Erwerbseinkommen auf ALG II (Gültigkeit ab 01.10. 2005)

Netto-Gesamteinkommen in Euro

Wie anhand Abbildung 4.3 nachvollzogen werden kann, bleiben Bruttoerwerbseinkünfte künftig in einem Bereich bis 100 € monatlich anrechnungsfrei (1.200 € jährlich, vgl. Angaben auf der X-Achse). Diese addieren sich vollständig zum Arbeitslosengeld II hinzu, so dass das verfügbare Netto-Gesamteinkommen auf monatlich 445 € gesteigert werden kann (jährlich 5.340 €, vgl. Angaben auf der Y-Achse). Will ein Empfänger von Arbeitslosengeld II sein Gesamteinkommen noch weiter steigern, wird ab dem Betrag von 100 € monatlicher Erwerbseinkünfte jeder zusätzliche Verdienst zu 80% auf das Arbeitslosengeld II angerechnet. Mit dieser Regelung kann ein Arbeitslosengeld II-Empfänger sein Gesamteinkommen noch einmal um monatlich 140 € (jährlich 1.680 €) steigern, wodurch ein verfügbares Netto-Gesamteinkommen von 585 € (jährlich 7.020 €) realisierbar ist. Allerdings muss er in diesem Fall zu den monatlichen 100 € Bruttoerwerbseinkünften weitere 700 € (jährlich 8.400 €) brutto hinzuverdienen (vgl. XAchse). Das wäre jedoch – gesetzt den Fall, Arbeitslosengeld II-Empfänger wären auf eine kurzfristige Anreizperspektive fixiert – kaum zu erwarten, da der Aufwand in keinem Verhältnis zum finanziellen Nutzen steht. Auch bei höheren Erwerbseinkünften ist eine Steigerung des Gesamteinkommens möglich. Allerdings lässt der finanzielle Nutzen noch weiter nach, weil in diesem Fall sogar 90% der zusätzlichen Erwerbseinkünfte auf den Sozialtransfer angerechnet werden. Zusammengenommen sind mit der Anrechnungsregelung des reformierten Arbeitslosengeldes II insgesamt 625 € (jährlich 7.500 €) verfügbares Gesamteinkommen realisierbar, was bedeutet, dass der Arbeitslosengeld II-Grundbetrag von 345 € (jährlich 4.140 €) um monatlich 280 € (jährlich insgesamt 3.360 €) auf insgesamt 625 € aufgestockt werden kann. 4.4 Vergleich der nach Anrechnung verbleibenden Netto-Hinzuverdienste

Bisher wurden die Höhen von „income mixes“ aus Erwerbseinkommen mit einzelnen Sozialleistungsprogrammen im Detail dargestellt. Die folgende Schilderung fasst die bisherigen Ausführungen in einem Vergleich zusammen: Es werden dabei nur noch die Beträge fokussiert, die Sozialleistungsbeziehern letztendlich nach den Anrechnungen zum Sozialleistungstransfer zusätzlich verbleiben bzw. verblieben. Es handelt sich hier also um die tatsächlich möglichen netto realisierbaren Hinzuverdienstmöglichkeiten. Wie anhand Abb. 4.4 gesehen werden kann (vgl. auch Tabelle 4.1), ist bei allen diskutierten Sozialleistungen ein Zusatzeinkommen realisierbar, welches keiner Anrechnung unterliegt. Am schlechtesten schnitt hier die alte ALG IIRegelung ab, die im Zeitraum vom 01. Januar bis 01. Oktober 2005 galt. 103

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100

200

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Einkommen aus Erwerbsarbeit (brutto) in Euro

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frühere Arbeitslosenhilfe ALG II neue Regelung frühere Sozialhilfe ALG II alte Regelung

1400

104

Abb. 4.4: Tatsächlich realisierbare Netto-Hinzuverdienste bei Erwerbstätigkeit von Sozialleistungsempfängern

Verbleibender Verdienst in Euro

Unter diesen Maßgaben konnte nur ein vergleichsweise geringer Betrag von 45,33 € anrechnungsfrei hinzuverdient werden.62 Mit der Sozialhilfe und der neuen ALG II Regelung lassen bzw. ließen sich in diesem Fall höhere Beträge dazuverdienen. Bei Sozialhilfe waren das 74 €. Mit dem neuen ALG II sind es 100 €. In der Darstellung werden auch Hinzuverdienste berücksichtigt, die mit Arbeitslosenhilfe realisierbar waren. Im direkten Vergleich schnitt in diesem Zusammenhang die Arbeitslosenhilferegelung sogar am besten ab. Hier konnten 165 € Hinzuverdienst anrechnungsfrei erzielt werden. Allerdings waren hier generell keine weiteren Hinzuverdienste möglich.63 Tab. 4.1: Verbleibende Netto-Hinzuverdienste – ein Vergleich

Einkommen in € (brutto) 45,33 74 100 165 400 715,91 800 900 1200 1500

Einkommen in € (netto) 45,33 74 100 165 400 567 633,60 712,22 900,74 1016,34

Hinzuverdienste in € bei … SozialArbeits- ALG II (bis hilfe losen10/05) hilfe 45,33 45,33 45,33 74 74 49,63 77,90 100 53,51 max. 87,65 63,27 122,90 98,53 165 max. 158,16 177,63 148 200,94 227,14 248,43

ALG II (ab 10/05) 45,33 74 100 113 160 223,18 240 250 max. 280

Differenz ALG II neu-alt 0 24,37 46,49 49,73 61,47 65,02 62,37 49,06 52,86 -

Das betrifft jedoch nicht die anderen Sozialleistungstransfers (Sozialhilfe, Arbeitslosengeld II alt und neu). Aber auch hier gibt bzw. gab es Unterschiede. Beispielsweise war mit der alten ALG II-Regelung bis zu Bruttoeinkommen von max. 1.500 € eine weitere Steigerung der Hinzuverdienste möglich. Im Bereich 62

Hier handelte es sich um Pauschalen für Versicherungen und Werbungskosten. Überdies waren aber auch andere Kosten absetzbar. (vgl. Fußnote 58). 63 Mit der früheren Arbeitslosenhilfe konnten aber ab einer Höhe von mehr als 825 € Auszahlungsbetrag sogar Hinzuverdienste über 165 € anrechnungsfrei hinzuverdient werden. In diesen Fällen verblieben den Arbeitslosenhilfeempfängern 20% des monatlichen Leistungssatzes. Beispielsweise verblieben einem Arbeitslosenhilfeempfänger bei einem Arbeitslosenhilfesatz von 1.000 € insgesamt 200 €.

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von Niedrigst- und Niedrigeinkommen bis über 500 € Bruttoerwerbseinkommen erwies sich die alte ALG II Regelung aber als die schlechtere Sozialhilfe. Beispielsweise war mit der Sozialhilfe vor der Hartz IV-Reform bei einem Bruttoerwerbseinkommen von 400 € immerhin ein zusätzliches Einkommen von 122,90 € erzielbar, mit dem alten ALG II jedoch nur 98,53 €. Erst ab einem Bruttoerwerbseinkommen in Höhe von knapp unterhalb 600 € konnte mit dem alten ALG II im Vergleich zur Sozialhilfe ein höherer Hinzuverdienst erzielt werden. Die neue ALG II-Regelung bringt hier eine Verbesserung. Zwar fallen auch hier im Niedrigsteinkommensbereich die Netto-Hinzuverdienstmöglichkeiten geringer aus als mit der früheren Arbeitslosenhilfe. Aber ab einer Höhe von 425 € können mit der neuen ALG II-Regelung höhere Einkommenssteigerungen erzielt werden, als mit allen anderen zuvor geltenden Regelungen. Bei einer Betrachtung der Differenzen zwischen der mit der neuen und mit der alten ALG II Regelung realisierbaren Hinzuverdienste fällt auf, dass die neue Regelung durchweg höhere Hinzuverdienste ermöglicht: Zwischen einem Bruttoerwerbseinkommen von 100 € und 1.200 € fallen mit der neuen Regelung die Hinzuverdienste zwischen 46,49 € und 65,02 € höher aus als mit der alten Regelung. 4.5 Zwischenergebnis

Wie die Betrachtung der Anrechnungsregelungen von Erwerbseinkommen auf die frühere Sozialhilfe und das Arbeitslosengeld II vor und nach der Reform belegt, hat sich die Situation von Sozialleistungsempfängern beim Wechsel in Beschäftigung im Niedrigsteinkommensbereich nicht wesentlich geändert.64 Die zwischenzeitliche Abschaffung eines anrechnungsfreien Freibetrages durch die Hartz IV-Reformen wurde wieder zurückgenommen, so dass der Übergang in Arbeit im untersten Lohnbereich sich wieder stärker lohnt.65 Allerdings wird die finanzielle Attraktivität einer Beschäftigungsaufnahme im Niedrigstlohnbereich, wie sie bei der früheren Arbeitslosenhilfe bestand, nicht mehr erreicht. Bei Wechsel in Beschäftigung ab 425 € Bruttoeinkommen haben sich die Hinzuverdienstmöglichkeiten durch die neue ALG II Regelung allerdings gegenüber Arbeitslosenhilfe verbessert, gegenüber der früheren Sozialhilfe schon ab einem Bruttoeinkommen von 74 €. Trotzdem verbleiben beschäftigten Transferempfängern durch nach wie vor hohe Anrechnungssätze nur geringe Hinzuverdienste. Wie schon in Kapitel 3 64

In anderer Hinsicht gibt es freilich größere Veränderungen. So gibt es z.B. gegenüber der früheren Sozialhilfe keinen Anspruch mehr auf einmalige Leistungen. Dieser Anspruch wird durch die Erhöhung des Regelsatzes um 49 € in vielen Fällen wohl kaum kompensiert. 65 In der jetzigen Höhe bleibt er aber unter dem Niveau der ehemaligen Arbeitslosenhilfe.

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näher ausgeführt wurde, stellt sich dann die Frage nach der Existenz einer Armutsfalle auch für das Arbeitslosengeld II. Denn wenn die schwache Aufbesserungsmöglichkeit durch Erwerbseinkommen gleichzeitig als Problem von Arbeitsanreizen interpretiert wird, ist nicht oder nur in sehr geringem Umfang mit Arbeitsaufnahmen zu rechnen. Bevor sich diese Arbeit der Frage zuwendet, ob diese Schlussfolgerungen sich empirisch verifizieren lassen, wird der interdisziplinäre Kontext des Armutsfallentheorems behandelt.

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5. Die Armutsfalle im interdisziplinären Kontext

Es bleibt das Verdienst von Vertretern der ökonomischen Fachdisziplin, das Thema Arbeitsmarkt und Armut bzw. auch Sozialpolitik in einer sehr spezifischen, heuristisch wertvollen Weise („Armutsfalle“) aufgegriffen zu haben. Dennoch kann mit den deutschen Ökonomen Uwe Hochmuth, Günther Klee und Jürgen Volkert danach gefragt werden, ob die neuere Ökonomik (zu der auch die in Kapitel 3 besprochenen ökonomietheoretischen Beiträge gehören) überhaupt wesentliche „Bestimmungsgründe der Armut sowie der Verteilungspositionen unterschiedlicher Haushalte“ (Hochmuth u.a. 1997: 172) herausgearbeitet haben. Falls die Antwort darauf negativ ausfällt, dann liegt offensichtlich ein Forschungsdefizit vor, welches insbesondere vor dem Hintergrund des hohen Anspruchs der ökonomischen Theorie: „[t]o determine the laws which regulate this distribution, is the principal problem in Political Economy (…)“ (Ricardo 1817: III-IV)66 und: „Most of the people in the world are poor, so if we knew the economics of being poor we would know much of the economics that really matters.” (Schultz 1993: 13) erstaunlich ist. Dieses Forschungsdefizit muss auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass im Zusammenhang mit der Diskussion um mangelnde Arbeitsanreize in der Sozialhilfe/Arbeitslosengeld II häufig die Möglichkeit der Absenkung des Transferniveaus erwogen wird, um die Anreizsituation zu verbessern. Jedoch folgt daraus keinesfalls zwangsläufig, dass damit das Armutsproblem in einem so reichen Land wie der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Dahn/Strasser/Grass 2002) entschärft wird. Dieses Desiderat vor Augen, erscheint es sinnvoll, das Thema Armut, Arbeitsmarkt und Sozialpolitik auch aus einer interdisziplinären Perspektive zu behandeln. Besondere Aufmerksamkeit wird in diesem Zusammenhang im Rahmen dieser Arbeit dem Konzept der „Welfare Dependency“ bzw. „Welfarization“ gewidmet, welches im deutschen Sprachgebrauch mit Sozialstaats- bzw. Sozialleistungsabhängigkeit wiedergegeben werden kann. Gemeint ist hiermit die (Langzeit-) Abhängigkeit von sozialstaatlichen Leistungen, wobei „Welfari66

David Ricardo entwickelt diese Aufgabenstellung der ökonomischen Theorie aus der Feststellung, dass alle hergestellten Erzeugnisse zwischen drei Klassen (Grundbesitzer, Kapitaleigentümer und Arbeiter) aufgeteilt werden. Der jeder Klasse zugewiesene Anteil („allotted“) ist jedoch unterschiedlich und variiert in verschiedenen Entwicklungsphasen der Gesellschaft (abhängig u.a. von der Fruchtbarkeit des Bodens, der Kapitalakkumulation und dem Entwicklungsstand in der Landwirtschaft).

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zation“ eher den Prozess des Abhängigwerdens, bzw. des Gewöhnens an sozialstaatliche Transfers beschreibt, während „Welfare Dependency“ neben der individuellen Betroffenheit besonders den Zustand massenhafter Sozialleistungsabhängigkeit beschreibt.67 In das Blickfeld geraten nun sozialstaatskritische Ansätze, die nicht intendierte und vor allem paradoxe bzw. kontraproduktive Effekte von Armutsbekämpfung thematisieren (so genannte sekundäre Devianz). Die Entwicklung und Diskussion dieser Ansätze vollzog sich besonders in den USA (vgl. z.B. Katz 1990), weswegen die folgende Darstellung sich auch auf US-amerikanische Literatur konzentriert. Allen diesen Ansätzen ist gemein, dass sie den Wert von Sozialpolitik in Hinsicht auf individuelle Freiheit68 als negativ einschätzen, und daher ganz allgemein von Sozialleistungsabhängigkeit bzw. „Welfare Dependency“ sprechen. Einige dieser Ansätze wurden von David T. Ellwood und Mary Jo Bane in ihrer Monographie „Welfare Realities“ (1994: 67-123) vorgestellt, wobei der hauptsächliche Zweck hier darin bestand, aus den in diesen Ansätzen verwendeten Argumenten, Hypothesen für die empirische Überprüfung des Problems von langfristigem Sozialleistungsbezug zu erarbeiten. Die folgende Darstellung verfolgt eine andere Zielstellung. Diese besteht darin, diejenigen Argumentationsketten hervorzuheben und zu untersuchen, die die Entstehung von „Welfare Dependency“ als unvermeidlich erscheinen lassen. Hierbei wird häufig gebrauch von Rational-Choice-Argumenten gemacht. Hierfür stehen beispielsweise die Arbeiten eines der ambitioniertesten Vertreter neokonservativer Ideen, Charles Murray (Kapitel 5.1). Es wird aber auch versucht, „Welfare Dependency“ von einem Standpunkt der funktionalistischen Schichtungstheorie aus zu erklären (Kapitel 5.2). Neben diesen beiden theoretischen Ansätzen, wird im Zusammenhang mit „Welfare Dependency“ häufig auch auf Argumente des kulturalistischen Ansatzes („Culture of Poverty“, Kapitel 5.3) und des psychosozialen Ansatzes (Kapitel 5.4) zurückgegriffen. Im Anschluss an die Einzelbesprechung wird eine Synopse der besprochenen Ansätze vorgenommen (Kapitel 5.5). Kapitel 5 schließt mit einem Zwischenergebnis (Kapitel 5.6).

67

Im Folgenden werden nur die Begriffe „Welfare Dependency“ und/oder „Welfarization“ verwendet. Der Begriff Freiheit wird hier im Sinne einer selbst bestimmten und unabhängigen Lebensführung gebraucht.

68

110

5.1 Rational-Choice-Argumente

Am Leitbild des Homo oeconomicus orientierte Ansätze unterstellen rationales Verhalten (Rational-Choice). Unter Zugrundelegung von Rational-Choice-Argumenten kann nun „Welfare Dependency“ als die Folge von fortwährenden Entscheidungen von Sozialleistungsbeziehern gegen die Aufnahme von Erwerbsarbeit beschrieben werden. Theoretische Grundlage für solche und ähnliche Diskussionsbeiträge sind Verhaltensannahmen, wie sie aus der finanziellen Anreizsituation „Armutsfalle“ abgeleitet werden können (vgl. hierzu Kapitel 3). In diesem Abschnitt sollen genau solche „Anwendungen“ von Rational-Choice untersucht werden. Die Kritik bezieht sich also nicht auf Rational-Choice insgesamt, sondern auf eine zu enge Fixierung verhaltenswirksamer Präferenzen auf finanzielle Anreize, so wie Rational-Choice auch nach Meinung von Lutz Leisering und Wolfgang Voges, „ (…) in der Armutsforschung faktisch angewendet wird.“ (Leisering/Voges 1992: 454). Ohne weitere theoretische Zusatzannahmen folgt aus solch einer engen Rational-Choice-Perspektive, (1) dass „Welfare Dependency“ durch die Abwicklung von sozialstaatlichen Programmen bzw. auch die Absenkung von Sozialleistungen aufgelöst wird, und (2) sich die Betroffenen in der Folge für Beschäftigung entscheiden, ganz einfach deswegen, weil ihr Beschäftigungskalkül in diesem Fall wieder positiv ausgeht. Hypothese 1 erscheint dabei trivial: Natürlich ist es nicht möglich von sozialstaatlichen Leistungen abhängig zu sein, wenn es keine (mehr) gibt. „Welfare Dependency“, kann nach solchen Reformen per definitionem nicht mehr existieren. Immerhin ist es aber denkbar, dass Sozialleistungsabhängigkeiten an private Organisationen delegiert werden. Diese sind aber wegen der Kollektivgüterproblematik, die bei Erhebung von freiwilligen Beiträgen auftritt, nur suboptimal in der Lage, Sozialtransfers in ausreichender Höhe bereitzustellen.69 In der Folge verstärkt sich daher das Armutsproblem, was bedeutet, dass weniger „Welfare Dependency“ von der Tendenz her mit mehr Armut gleichzusetzen wäre. Die in der Anschlusshypothese (2) geäußerte Gewissheit liefe diesem Szenario zwar zuwider. Allerdings müsste dann sichergestellt werden, dass tatsächlich genügend Arbeitsplätze geschaffen werden bzw. in ausreichendem Umfang existieren und dass die Entlohnung mindestens dem 69

Hierbei handelt es sich um das Kollektivgut „soziale Sicherung“. Zur Erstellung eines solchen Kollektivgutes werden Beiträge erhoben. Im Falle staatlicher Erhebung (Steuern, Arbeitslosenversicherung) ist durch Kontrolle bzw. Zwang die Beitragserhebung bzw. damit auch die Erstellung von Kollektivgütern (weitgehend) gesichert. Im Falle privater, freiwilliger Beitragserhebung (Spenden) bleibt die Erstellung eines solchen Kollektivgutes aber unsicher, bzw. wird nur soviel an sozialer Sicherheit bereitgestellt, wie Beiträge eingegangen sind (zur Kollektivgüterproblematik vgl. Olson 1968).

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soziokulturellen Existenzminimum entspricht – eine Wunschvorstellung, die in der momentanen gesellschaftlichen Praxis wohl kaum zu verwirklichen ist. Für den US-amerikanischen Bereich errangen Rational-Choice Argumente im Zusammenhang mit „Welfare Dependency“ eine überwältigende öffentliche und politische Resonanz durch Charles Murrays Monographie „Losing Ground“ (vgl. Murray 1984), welche einen Paradigmenwechsel in der amerikanischen Sozialpolitik einleitete. Charles Murray beschreibt darin die Verhaltensänderungen unter Angehörigen der afroamerikanischen Unterschicht („Being Black, being poor“), die sich (vermeintlich oder tatsächlich) durch die Implementation sozialpolitischer Programme70 Mitte der 1960 er Jahre vollzogen. Als rhetorischer „Aufhänger“ dient Murray das fiktive Paar Harold und Phyllis, welches gerade ein Kind erwartet (vgl. Murray 1984: 156 ff.). Die Entscheidungssituation zwischen Sozialhilfe und Erwerbsarbeit stellt sich für die beiden – laut Murray – so dar: Vor den Reformen, im Jahre 1960 stellt sich das Paar am besten, in dem es den traditionellen Weg der Heirat wählt. Zwar verliert die Frau damit ihren Sozialhilfeanspruch ($ 111), aber der finanzielle Verlust des Paares wird durch die finanzielle Verantwortung des Vaters – er nimmt diese über eine niedrig entlohnte Beschäftigung (ebenfalls $ 111) wahr – kompensiert. Hinzu kommen das möglich gewordene Zusammenleben und andere nichtökonomische Vorteile. Außerdem kann die Frau noch hinzuverdienen. Durch die Reformen ergibt sich – Murray zufolge – eine veränderte Entscheidungssituation, die ein Verbleiben der Frau in Sozialhilfe und den Verzicht auf eine Heirat nahe legt. Die beste Einkommenssituation besteht nun, wenn der Mann arbeitet, aber nicht heiratet ($ 270); bei Heirat muss das Paar nämlich Einkommenseinbußen hinnehmen, weil Harolds Einkünfte in diesem Fall auf die Sozialhilfe angerechnet werden (es bleiben $ 136). Die auf den ersten Blick verbesserte Einkommenssituation, die sich durch die Option für Arbeit, aber gegen Heirat ergibt, ist nach Meinung Murrays aber dysfunktional, weil sie – so Murray – langfristig negative Auswirkungen auf das Arbeitsverhalten des Mannes (Harold) habe, denn das unverheiratete Paar ist 1970 nicht mehr zwingend auf das Erwerbseinkommen des Mannes angewiesen. Die Folge ist laut Murray, dass der Mann (Harold) keiner permanenten Tätigkeit mehr nachgeht und sich damit um seine Aufstiegschancen bringt. 70

Im einzelnen handelt es sich um die Erweiterung der Anspruchsberechtigung der US-amerikanischen Sozialhilfe (AFDC; Aid to Families with Dependent Children) um Familien mit arbeitslosen Vätern (1961), die Veröffentlichung von Richtlinien durch das Amt für Gesundheit, Erziehung und Wohlfahrt, welche unangekündigte nächtliche Kontrollbesuche zwecks Prüfung der Anspruchsberechtigung untersagten (1966), die völlige Aufhebung dieser Regelung (1968) durch das Supreme Court und die „thirty and a third Regel“, welche es sozialhilfeabhängigen Frauen erlaubte die ersten 30 Dollar eines Arbeitsverdienstes ganz einzubehalten, während von darüber hinausgehenden Arbeitsverdiensten nunmehr nur noch ein Drittel auf die Sozialhilfe angerechnet wurde.

112

Die am Rational-Choice-Ansatz angelehnte Argumentation Murrays ist im Zusammenhang mit dem Arbeitsziel dieses Kapitels von doppeltem Wert. Auf der einen Seite lässt sich daran noch einmal sehr plastisch die Theoriearchitektur des Rational-Choice-Ansatzes demonstrieren (1). Auf der anderen Seite kann daran gesehen werden, wie schnell durch geringfügige Änderungen in der Argumentation ganz andere theoretische Ansätze in die Diskussion gebracht werden (2). Zu 1.) Murray argumentiert, dass sich durch die Reformen der 1960er Jahre die finanzielle Anreizsituation an der Schnittstelle zwischen Sozialhilfe und Arbeitsmarkt verändert hat: Lohnte es sich vor den Reformen noch, dass die Partner heirateten, der Ehemann weiterhin erwerbstätig blieb, und die Frau u.U. durch Erwerbstätigkeit zum Familieneinkommen beisteuerte, ergibt sich nach den Reformen ein ganz anderes Bild: So lohnt sich Heirat überhaupt nicht mehr. Die unmittelbare Folge davon ist, dass die Partnerin automatisch in der Sozialhilfe sitzen bleibt. Sie kann zwar etwas hinzuverdienen, aber ein Teil ihres Verdienstes wird auf die Sozialhilfe angerechnet. Der männliche Partner stellt sich am besten, wenn er arbeiten geht. Zusammen stellen sie sich am besten, wenn sie nicht heiraten, denn dann kann der männliche Partner sein Erwerbseinkommen behalten und die Frau erhält in vollem Umfang Sozialhilfe. In diesem Falle hat sich ihre Einkommenssituation gegenüber der Situation vor den Reformen verbessert. Was ist passiert? Theoretisch gesehen haben auf der Makroebene veränderte institutionelle Gegebenheiten (Ursache; hier die Sozialreformen, die es ermöglichen Sozialleistungen mit Erwerbseinkommen zu kombinieren, gleichzeitig aber Anrechnungsregelungen von Erwerbseinkommen auf Sozialleistungen implizieren) zu stärkerer „Welfare Dependency“ (Wirkung) geführt (vgl. Abb. 5.1). Ein strukturalistischer Ansatz könnte sich mit dieser Erklärung auf der Makroebene begnügen. Aus einer Rational-Choice-Perspektive ist das jedoch nicht hinreichend und es müssen ebenfalls Sachverhalte auf der Individualebene berücksichtigt werden (vgl. z.B. Coleman 1990: 1 ff., 10). Mit anderen Worten, es kann nicht nur, sondern es muss eine Handlungstheorie bemüht werden. In theoretischer Hinsicht leistet das die Einbeziehung von Ursachen und Wirkungen auf der Individualebene, wobei als Ursachen aus Rational-Choice-Perspektive individuelle Präferenzen in Frage kommen, während die letztendliche Wirkung auf der Makroebene (massenhafte Sozialleistungsabhängigkeit, „Welfare Dependency“) in einer Aufsummierung von gleichgerichteten Handlungen auf der Individualebene besteht.

113

Abb. 5.1: Erklärung von „Welfare Dependency“ aus Rational-Choice Perspektive („Soll“)

Anrechnungsregelung

Präferenz

Aggregatebene

Individualebene

Welfare Dependency

Handlung

Allerdings muss an dieser Stelle betont werden, dass individuelle handlungsanleitende Präferenzen sozialwissenschaftlichen Beobachtern nicht unmittelbar transparent offen liegen. Das bedeutet, dass sie durch Anwendung von sozialwissenschaftlichen Methoden (z.B. Fragebogen, bzw. Interviews) erst einmal empirisch aufgenommen werden müssen. Genau das wird bei ökonomietheoretisch inspirierten sozialwissenschaftlichen Beiträgen aber fast immer vernachlässigt, und es wird mit der tief sitzenden Gewissheit operiert, dass die betreffenden Individuen aufgrund der objektiv vorhandenen Gegebenheiten nicht anders können, als sich gegen eine Erwerbsarbeitsbeteiligung zu entscheiden. Woran liegt das? Vieles spricht in dieser Frage dafür, dass von Vornherein bereits unterstellt wird, dass Individuen ökonomisch rational handeln. Gerade dieser „blinde Fleck“ scheint dazu zu verführen, Präferenzen als fix zu betrachten, und sie damit bereits als unumstößliche Gewissheit mit zu definieren. Genau dieses wird durch die Interpretation von institutionellen Rahmenbedingungen als (hier: finanzielle) Anreizstruktur geleistet, wodurch Handlungsannahmen eingeführt werden, die eigentlich erst einmal durch empirische Voruntersuchungen zu belegen wären (vgl. Vobruba 2000: 87 f.; Vobruba 2004: 66 f.). Durch die Starrheit dieser Handlungsannahmen (Fixierung der Präferenzen auf eine Anreizstruktur) wird die Frage der Präferenzen im Erklärungsmodell aber bestenfalls gestreift.71 Im Grunde genommen ist sie aus der Sicht von Armutsfallentheoretikern sogar uninteressant, weil sie sowieso schon als beantwortet gilt. Folge ist, dass ein Kurzschluss von institutionellen Rahmenbedingungen auf der Makroebene zu individuellen Handlungen auf der Mikroebene erfolgt, womit geglaubt wird, 71

Genau darin besteht die Unzulänglichkeit der meisten Beiträge, die eine unzulängliche RationalChoice-Perspektive einnehmen: „Insbesondere wird die andere Seite des Zusammenhangs von „individual preferences“ und „social choices“, nämlich die Präferenzen, als konstant unterstellt, was allgemein für das Paradigma keineswegs zwingend ist.“ Leisering/Voges 1992: 454.

114

der Erklärung von „Welfare Dependency“ bereits Genüge getan zu haben, aber gerade dadurch das Ziel des ursprünglichen Erklärungsprogramms (RationalChoice, vgl. Abb. 5.1) verfehlt wird (vgl. Abb.5.2). Es ist fraglich, was aus theoretischer Sicht damit gewonnen wird, denn der Erklärungsgehalt des Tatbestandes „Welfare Dependency“ wird über einen „kurzen“ Umweg über die Individualebene kaum reichhaltiger, und zwar immer dann, wenn, wie im Niedriglohnbereich, häufig doch Arbeitsmarktentscheidungen zugunsten einer Aufnahme von Erwerbsarbeit ausfallen. Abb. 5.2: Erklärung von „Welfare Dependency“ unter Verwendung von Rational-Choice Annahmen z.B. bei Charles Murray („Ist“)

Anrechnungsregelung

Aggregatebene

als Anreiz

Präferenz

Welfare Dependency

Individualebene

für...

...Sozialleistungsbezug

Zu 2.) Obwohl Murrays Argumentationsform im Duktus an durch RationalChoice inspirierte Beiträge erinnert, sind seine Schlussfolgerungen kaum mit Rational-Choice vereinbar. Das macht auf das Problem inkohärenter Argumentationen aufmerksam. In vielen ähnlichen, unter Verwendung von RationalChoice-Annahmen angelehnten anreiztheoretischen Diskussionsbeiträgen, wird geschlossen, dass Sozialleistungsempfänger aufgrund geringer Niveauunterschiede von Sozialleistungen und Erwerbsverdiensten, schließlich veranlasst werden, zu Hause zu bleiben. Auch das fiktive Ehepaar Phyllis und Harold bleibt schließlich zu Hause. Allerdings – und das ist überraschend – war das gerade hier aus einer rein finanziellen Anreizperspektive nicht zu erwarten, denn das mögliche Familieneinkommen liegt für den Fall, dass der männlichen Partner einer Arbeit nachgeht, deutlich über dem Niveau, welches durch Sozialeinkommen zu erreichen wäre. Es wäre also damit zu rechnen gewesen, dass sich der männliche Partner für Arbeit entschieden hätte. Plötzlich ist bei Murray die Rede von der Dysfunktionalität der Sozialreformen (die Familie sei nicht mehr zwingend auf das Erwerbseinkommen des Mannes angewiesen, der Mann gehe folglich keiner per115

manenten Tätigkeit mehr nach und bringe sich dadurch um seine Aufstiegschancen), wodurch schnell erkennbar wird, dass Murray die finanzielle Anreizperspektive im Verlaufe ein und derselben Argumentation verlässt. 5.2 Funktionale Schichtungstheorie

Murray verlässt den Interpretationsrahmen des Rational-Choice-Ansatzes, denn die These, dass sich Angehörige von Armutspopulationen, trotz ausreichender Entlohnung gegen Arbeit entscheiden würden, entspricht nicht den Verhaltenserwartungen, die sich aus einer Rational-Choice inspirierten Anreizperspektive ableiten lassen: Gemäß dieser würde gerade bei höherer Entlohnung mit einer Entscheidung für Arbeit zu rechnen sein, und zwar unabhängig von Schichtzugehörigkeiten. Dieser Wechsel in der Argumentation lässt Murray eher als Vertreter der funktionalen Schichtungstheorie erkennen, welche den Wert von Statusunterschieden als entscheidenden Leistungsstimulus für soziale Aufstiege betont (vgl. Murray 1984: 178 ff.), und in der alle Bemühungen die Lage von Armen durch Sozialpolitik zu verbessern systematisch fehlschlagen (vgl. ähnlich Gilder 1980). Ähnliche Ideen lassen sich schon in Überlegungen der Parsons-Schüler Kingsley Davis und Wilbert E. Moore belegen, die 1945 in ihrem Artikel „Some Principles of Stratification.“ von der Feststellung ausgingen, dass soziale Ungleichheit zu den Kerncharakteristiken von Gesellschaften gehören: „Starting from the proposition, that no society is ‚classless’, or unstratified, an effort is made to explain, in functional terms, the universal necessity, which calls forth stratification in any social system.“ (Davis/Moore 1945: 242).

Laut diesen Autoren sind stratifizierte Gesellschaftsordnungen vor allen Dingen deshalb funktional, weil sie die Zuordnung eines jeden Gesellschaftsmitglieds innerhalb der gegebenen Sozialstruktur garantieren und weil sie zu Leistung motivieren. Letzteres wird dadurch erreicht, dass Positionsinhaber einer wichtigen Funktion eine höhere Bezahlung („reward“) erhalten als Positionsinhaber weniger wichtiger Funktionen. Somit ist gewährleistet, dass ein beständiger Anreiz besteht, Anstrengungen auf sich zu nehmen, die soziale Leiter empor zu klettern. Zwar legen die Autoren in ihrer Argumentation nicht dar, welche konkreten Kriterien bzw. welcher konkrete Mechanismus die Höhe der Bezahlung regelt.72 Im Zusammenhang mit einer marktwirtschaftlich verfassten Gesellschaft 72

Auf diesen Umstand machte Renate Mayntz in ihrem 1961 erschienenen Aufsatz „Kritische Anmerkungen zur funktionalistischen Schichtungstheorie.“ aufmerksam. In diesem stellt sie Ansätze

116

wie den USA kann hierfür ein einfacher Marktmechanismus angenommen werden, demzufolge Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften über den Lohn zum Ausgleich gebracht werden. Wendet man Davis’ und Moores Gedanken auf eine Situation mit sozialstaatlichen Sicherungen an, dann muss sich ein Außerkraftsetzen des Marktmechanismus, wie er durch generöse Sozialtransfers verursacht wird, als verheerend darstellen. Die Leistungsbereitschaft wäre völlig untergraben, was sich gemäß diesen Vorstellungen letztlich vor allem in einem Unterangebot von niedrig qualifizierten Arbeitskräften ausdrücken würde (vgl. zur Kritik diese Ansatzes auch Mayntz 1961, Grandjean 1975). Soweit zu den schichtungstheoretischen Wurzeln der Argumentation Murrays. Jedoch klagt Murray über weitere dysfunktionale Erscheinungen. So wären etwa Reformen im Justizwesen und im Schulsystem verantwortlich für eine schlechtere Ausbildung und eine höhere Kriminalitätsrate. Murray folgert schließlich daraus, dass alle Anstrengungen vergeblich sind, das Problem der Armut durch Sozialpolitik zu lösen. Diese Einsicht verbindet sich fest mit der Überzeugung von Sozialpolitik als Verhaltens- oder Armutsfalle: „In the end, all these changes in behavior were traps. (…) Any teenager who has children and must rely on public assistance to support them has struck a Faustian bargain with the system that nearly ensures that she will live in poverty the rest of her days.“ (Murray 1984: 176).

Was bedeuten die Hauptannahmen der funktionalistischen Schichtungstheorie für die Betrachtung von „Welfare Dependency“? Zunächst einmal reicht es aus funktionalistischer Sicht aus, die Hauptlast der Erklärung auf der Makroebene zu verorten: Hier geht es zunächst nicht um „Welfare Dependency“. Erklärungsbedürftig ist vielmehr, wie es dazu kommt, dass ein funktionales Erfordernis für das Weiterbestehen eines Systems, nämlich die Produktion von wirtschaftlich knappen Gütern und Dienstleistungen, aufrechterhalten wird. Als Erklärung wird in diesem Zusammenhang, auf die Funktionalität der sozialen Schichtung einer Gesellschaft verwiesen. Diese besteht – und hier kommt eine handlungstheoretische Komponente ins Spiel – darin, dass die soziale Schichtungsordnung Anreize zum sozialen Aufstieg bereitstellt (Pri-

vor, die für die Frage der Höhe der Belohnung von Positionen diskutiert werden. Demnach könnte sich die Höhe der Bezahlung z.B. über einen Wertekonsensus aller Gesellschaftsmitglieder oder über den Markt regeln (vgl. Mayntz 1961: 19-25).

117

vilegien, Gratifikationen, gute Bezahlung) und somit zu unermüdlicher Leistungsbereitschaft herausfordert (vgl. Abb. 5.3).73 Abb. 5.3: Funktionalistische Erklärung der Produktion von Gütern und Dienstleistungen

soziale Schichtungsordnung

Güterproduktion

Aggregatebene

als Anreiz Individualebene

für...

... Leistungsanstrengungen

Was verändert sich nun aus schichtfunktionalistischer Sicht, wenn sozialpolitische Reformen durchgeführt werden, die darauf gerichtet sind, die Situation von armen Bevölkerungsschichten zu verbessern? Zunächst ist, wie anhand Abb. 5.4 ersichtlich, wieder ein Impuls in Richtung der Erfüllung des funktionalen Erfordernisses Güterproduktion und Angebot von Dienstleistungen zu erkennen. Dieser kollidiert aber mit sozialpolitischen Maßnahmen, die auf die Verbesserungen der finanziellen Situation abzielen, wodurch allerdings bestenfalls noch mit einer eingeschränkten Funktionalität der sozialen Schichtung in Hinsicht auf die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen zu rechnen ist. Worin besteht diese Dysfunktionalität der Sozialpolitik? Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass zwei Anreizstrukturen kollidieren: Auf der einen Seite sind wieder die langfristigen Anreize der sozialen Schichtungsordnung präsent, die zu sozialen Aufstiegen herausfordern sollen und damit auch zu Leistungsanstrengungen. Auf der anderen Seite werden durch die Sozialpolitik nun aber Anreize gesetzt, die darauf hinauslaufen, Sozialtransfers auch abzurufen.

73

Wie anhand Abb. 5.3 zu erkennen ist, sticht die sehr starke Ähnlichkeit in der Erklärungsstruktur zu Abb. 5.2 ins Auge, was darauf hindeutet, dass das Erklärungsdefizit von vielen an RationalChoice angelehnten anreiztheoretischen Beiträgen auf eine zu große Nähe zu funktionalistischen Erklärungen zurückzuführen ist.

118

Abb. 5.4: Kollision der Anreizstrukturen „Soziale Schichtungsordnung“ und „Sozialpolitik“

Welfare Dependency Soziale Schichtung

Sozial- Güterpropolitik duktion

Sozialleistungsbezug

Leistungsanstrengungen

Folge ist eine Kollision von kurzfristigen und langfristigen Interessen. Aufgrund der Annahme einer ausgeprägten Kurzfristorientierung von niedrig qualifizierten Arbeitskräften kann diese Situation nur zur Vernachlässigung von langfristigen Interessen führen. Auf der Makroebene führt das aus schichtfunktionalistischer Sicht direkt zu massenhafter „Welfare Dependency“. Auf der Individualebene werden die durch die soziale Schichtungsordnung gesetzten Anreize ausgetrocknet und damit die Leistungsmotivation deutlich reduziert, weshalb auf der Makroebene die Produktion von Gütern und die Bereitstellung von Dienstleistungen auf ein niedrigeres Niveau absinkt. Schließlich soll an dieser Stelle noch erwähnt werden, dass Murray auch kulturalistisch argumentiert, wenn er das hochsensible Thema der Armut und „Welfare Dependency“ unter Angehörigen der schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten aufgreift und Positionen vertritt, die aus der „Culture of Poverty“ oder „Underclass“ Literatur bekannt sind (vgl. jetzt Kapitel 5.3). 5.3 Kultur der Armut/Kultur der Abhängigkeit („Culture of Poverty“, „Culture of Dependency”)

Bei dem „Culture of Poverty“ Ansatz (vgl. hierzu die Aufsätze von Curran 2003 aus Beobachterperspektive, weiterführend auch Goetze 1992, für Deutschland Rückert/Willeke 1998, Salentin 2000, speziell zur ,Underclass’-Debatte in den Vereinigten Staaten von Amerika, Diebler 1998) handelt es sich wie bei der funktionalistischen Schichtungstheorie um einen strukturalistischen Ansatz. Hintergrund für die starke öffentliche und sozialwissenschaftliche Beachtung 119

dieses Ansatzes ist die hohe räumliche Konzentration der Armutspopulation, insbesondere von Bevölkerungsminderheiten, welche als Ursache zahlreicher Probleme gilt (z.B. Kriminalität, Prostitution, Abtreibung etc.), aber auch selbst erklärungsbedürftig ist. In seinen konservativen Varianten behauptet dieser Ansatz, dass die Ursache für negative Entwicklungen bzw. Probleme in einer Kultur der Armut zu suchen ist. Diese ist auf abweichende subkulturelle Werte und Normen zurückzuführen, entzieht sich weitestgehend einer Beeinflussung und damit auch einer Veränderung, und wird in der Generationenfolge weiter vererbt. Stellvertretend kann wohl für diese Sichtweise immer noch Oscar Lewis zitiert werden, der seine Erkenntnisse seiner Beschäftigung mit den mexikanischen Ghettos zu verdanken hat: „The culture of poverty has its own modalities and distinctive social and psychological consequences for its members. It is a dynamic factor which affects participation in the larger national culture and becomes a subculture of its own.” (Lewis 1961: XXIV).

Dabei wird schnell klar, dass dieser Ansatz im Prinzip nicht mit „Welfare Dependency“ in Verbindung gebracht werden muss, weil kulturell abweichende Lebensorientierungen und -praxen die Existenz von Sozialpolitik nicht unmittelbar voraussetzen, wie gerade das Beispiel Mexikos zeigt. Auf die Situation der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA angewandt, sind die Arbeiten von Edward C. Banfield erwähnenswert, der in seiner Monographie „The Unheavenly City“ eine Differenzierung der Armen in den Großstädten erkennt. Seinen Beobachtungen zufolge lassen sich zwei Gruppen ausmachen: den einen fehlt es schlichtweg an ausreichenden finanziellen Mitteln. Hier handelt es sich um Träger von Mittelklasse-Werten. Ihre Armut ist weitgehend kurzfristiger Natur, denn sie können die nachteilige Situation auch durch Sozialtransfers relativ schnell überwinden. Bei der anderen Gruppe handelt es sich um die „lower class“, die selbst dann in Elend lebt, wenn sich ihr Einkommen verdoppelt hat. Deren ausgesprochen gegenwartsbezogene Lebensperspektive „(…) attaches no value to work, sacrifice, self improvement, or service to family, friends, or community.“ (Banfield 1970: 235). Aus dieser Sicht können also auch Sozialtransfers keine positiven Veränderungen herbeiführen (eine ähnliche Argumentation vertritt die dem liberalen Spektrum74 zuzurechnende Susan Mayer, vgl. Mayer 1997). Wenn überhaupt, 74

„Liberal“ wird in diesem Zusammenhang nicht im Sinne eines wirtschaftsliberalen Standpunktes verwendet, sondern im Sinne des politisch liberalen Spektrums in den Vereinigten Staaten, worunter besonders den Demokraten nahe stehende Stiftungen, Verbände und Einzelpersonen gemeint sind.

120

dann sind vom konservativer Standpunkt aus schon eher negative Konsequenzen zu befürchten, wie folgende Äußerung nahe legt, und mit der das Problem der „Welfare Dependency“ direkt angesprochen wird: „Welfare is both a consequence and a cause of several conditions best described as social pathologies. These conditions include dependency, poverty, out-of-wedlock births, nonemployment, abortion, and violent crime.“ (Niskanen 1996).

Aus liberaler Sicht werden im Zusammenhang mit der Existenz einer Unterklasse andere Sachverhalte betont. Hervorzuheben ist hier besonders die im Jahre 1987 erschienene Monographie „The Truly Disadvantaged.“ von William J. Wilson, mit der die liberale75 Seite nach dem gut gelungenen konservativen Vorstoß von Murrays „Losing Ground“ sich wieder ins Gespräch bringen wollte (vgl. Zielstellung in Wilson 1987: 18 f.). Angehörige der Unterklasse sind dieser Sichtweise zufolge: „[I]ndividuals who lack training and skills and either experience long term unemployment or are not members of the labor force, individuals who are engaged in street crime and other forms of aberrant behaviour, and families that experience long term spells of poverty and/ or Welfare Dependency.” (Wilson 1987: 8).

Damit wird zwar eine sehr ähnliche Problemdiagnose gestellt, aber die Ursachen für negative Entwicklungen, wie z.B. „Welfare Dependency“ werden nicht genuin in den vorherrschenden Werten oder in der Sozialpolitik gesucht, sondern hauptsächlich in der Veränderung von Arbeitsmarktbedingungen. Hier ist vor allem die immer geringere Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitskräften hervorzuheben, welche zur besonders hohen Arbeitslosigkeit schlecht ausgebildeter Ghettobewohner beigetragen hat, und der Wegzug der schwarzen Mittelklasse durch Verlagerung von Arbeitsplätzen aus den Zentren der Großstädte in die Peripherie, welcher sich – laut Wilson – mit einem Niedergang von zentralen Institutionen der Ghettokultur (z.B. Schule, Familiensysteme) verband. Wie lassen sich die Argumentationsketten des „Culture of Poverty“-Ansatzes noch einmal zusammenfassen und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang „Welfare Dependency“? Gemäß der konservativen Version hat sich offensichtlich in räumlicher Segregation vom Rest der Gesellschaft eine Kultur der Armut herausgebildet, die durch abweichende Werte und Normen und entsprechend abweichendes Verhalten gekennzeichnet ist. An dieser Stelle bleibt der Ansatz auf rein deskriptivem Niveau, denn eine Erklärung für das Entstehen dieser Subkultur wird nicht gege75

Vgl. Fußnote 74.

121

ben und man ist in dieser Frage auf Spekulationen angewiesen, was die Ursache für diese Entwicklung denn sein könnte. Wenn in diesem Zusammenhang von Kultur der Abhängigkeit die Rede ist, könnte man vermuten, dass es sich entweder um Modernisierungsrückstände gegenüber der Bevölkerungsmehrheit handelt, z.B. eine größere Bedeutung des Familiensystems und entsprechender Abhängigkeiten, oder was aus konservativer Sicht wahrscheinlicher ist, um Folgen einer zu raschen Modernisierung, welche sich im schnellen Zerfall von Familiensystemen und der Reproduktion von Abhängigkeiten in anderen als den traditionellen Zusammenhängen, z.B. in kriminellen Banden, ausdrückt. Interessant wird es aber erst, wenn die Bedeutung von Sozialpolitik (bzw. „Welfare Dependency“) für diese Kultur der Abhängigkeit erörtert wird. Unmittelbar einleuchtend ist, dass „Welfare Dependency“ selbst eine Form der Abhängigkeit darstellt und als Folge von (zu langsamen oder zu raschen?) Modernisierungs- und den sie begleitenden Verarmungsprozessen in Frage kommt. Daran ist nichts Neues. Wie gesehen wird Sozialpolitik aber auch als Ursache der Kultur der Armut/Kultur der Abhängigkeit betrachtet (vgl. das Zitat von Niskanen weiter oben), was in der Argumentation die Annahme einer geschlossenen Kette von Ursachen und Wirkungen impliziert und auf eventuelle Rückkopplungsschleifen aufmerksam macht. Eine geschlossene Kette von Ursachen und Wirkungen innerhalb eines kulturalistischen Modells von Sozialpolitik könnte sich dann so darstellen (vgl. Abb. 5.5): Als Folge bzw. Teil von Modernisierungsprozessen kommt es zur Implementation von sozialpolitischen Programmen, die auf die Verbesserung der Situation von verarmten Bevölkerungsteilen gerichtet sind. Diesem Anspruch kann Sozialpolitik aber gemäß konservativen Überzeugungen nicht gerecht werden und verkehrt sich stattdessen in der Wirkung in das blanke Gegenteil und verstärkt die Kultur der Armut bzw. Abhängigkeit noch. Wenn eine geschlossen Kette von Ursachen und Wirkungen angenommen wird, wären von dieser Verstärkung zusätzliche Impulse auf die Implementation neuer sozialpolitischer Programme zu befürchten, die in der Folge weitere Desintegrationsprozesse antreiben u.s.w. u.s.f. Abb. 5.5: Erklärung der Kultur der Armut/Abhängigkeit durch Sozialpolitik

Sozialpolitik

122

Kultur der Armut/Abhäng.

In der liberalen76 Version des „Culture of Poverty“-Ansatzes wird stattdessen angenommen, dass die Segregation verarmter Bevölkerungsteile und damit auch die Kultur der Armut Folge von veränderten Arbeitsmarktbedingungen ist. Diese bestehen hauptsächlich in gestiegenen qualifikatorischen Anforderungen als auch in der räumlichen Verlagerung von Arbeitsplätzen. Auch hier können Rückkopplungsschleifen angenommen werden, was in der nachfolgenden Darstellung jedoch nicht berücksichtigt wird (vgl. Abb. 5.6). Abb. 5.6: Erklärung der Kultur der Armut/Abh. durch veränderte Arbeitsmarktbedingungen

Arbeitsmarktbedingungen

Kultur der Armut/Abhäng.

5.4 „Expectancy-Value”, „Learned Helplessness“ und Psychosoziales Modell

Der ökonomische (Rational-Choice), der funktionalistische und der kulturalistische Erklärungsansatz von „Welfare Dependency“ konnten sich in den 1960er bis 1980er Jahren relativ schnell etablieren. Demgegenüber stieß das Expectancy-Value bzw. das psychosoziale Modell erst ab Ende der 1980er Jahre/Anfang der 1990er Jahre auf stärkere wissenschaftliche Aufmerksamkeit im Rahmen der Welfarization-Debatte, hier vor allem unter den Forschern der dynamischen Armutsforschung. Entwickelt hat sich der psychosoziale Ansatz aus den Ansätzen der Lernund Verhaltenstheorie, welche in der Psychologie eine lange Tradition besitzen (vgl. z.B. Lewin 1936, Rotter 1954, Vroom 1964, Atkinson 1957, 1964, Seligman 1975). Als Beispiel für eine psychologische Expectancy-Value-Theorie kann auf die Motivationstheorie Atkinsons verwiesen werden. Demnach werden Handlungen nur dann ausgeführt, wenn eine Person erwartet, dass das Handlungsresultat mit dem erwünschten Ziel übereinstimmen wird, bzw., dass die Handlungsergebnisse die betreffende Person dem Ziel zumindest näher bringen (vgl. Atkinson 1964: 274 f.). Zentrale Schlüsselbegriffe für diesen Ansatz sind Selbstvertrauen bzw. Selbstkontrolle. Sind Handlungen erfolgreich, wird das Selbstvertrauen („level of aspiration“) gestärkt. Wiederholte Erfahrungen nicht erfolgreicher Handlungen (Versagen) schwächen das Selbstvertrauen. Sie führen im Endeffekt zum Verlust der Motivation, Handlungen auszuführen, die auf 76

Vgl. Fußnote 74.

123

Zielerreichung ausgerichtet sind (vgl. Atkinson 1968: 259 f.), bis hin zum Verlust des Selbstvertrauens bzw. der Selbstkontrolle über größere Lebensbereiche (vgl. hierzu auch den Beitrag von Gurin/Gurin 1970). Zu sehr ähnlichen Schlussfolgerungen kamen bzw. kommen auch Martin Seligman und seine Mitarbeiter, die seit den 1960er Jahren mit ihrem Konzept der „Learned Helplessness“ auf sich aufmerksam machten, welches sie besonders im Zusammenhang mit der Erforschung und Behandlung von Depressionen entwickelten (vgl. Seligman 1975, Peterson/Maier/Seligman 1993). Die diesen Arbeiten zugrunde liegenden Tier- und Menschenexperimente waren so konzipiert, dass Probanden mit den in einem ersten Experiment dargebotenen Stimuli keine Möglichkeit hatten, ihre Situation zu verbessern (bzw. eine Belohnung zu erhalten). In einem zweiten Experiment mit einer alternativen Versuchsanordnung war genau diese Möglichkeit vorgesehen: Wie von den Forschern erwartet, versuchten die Teilnehmer an den Eingangsexperimenten (erste Versuchsanordnung) ihre Situation zu verbessern, konnten aber keine Erfolge erzielen und gaben schließlich auf. Teilnehmer, die nur an Experimenten der zweiten Versuchsanordnung teilnahmen, nahmen die Gelegenheit wahr, ihre Situation zu verbessern und konnten Erfolge verbuchen. Auch diese Forschungsergebnisse waren nicht überraschend. Aus der Sicht der Forscher überraschend war jedoch, dass Probanden, die an den Experimenten der ersten Versuchsanordnung teilgenommen hatten, und die in der Folge gebeten wurden, auch an den Experimenten der zweiten Versuchsanordnung teilzunehmen, ihr früher gezeigtes Verhalten kaum änderten. Sie hatten offensichtlich während des ersten Versuchs „gelernt“, hilflos zu sein und reagierten überwiegend passiv.77 In der Folgezeit wurde das Konzept der „Learned Helplessness“ auch auf andere als Depressions-Tatbestände übertragen und „ (…) als ein allgemeines, überall anwendbares Modell zur Beschreibung der Herausbildung psychischer Fehlentwicklungen und des Bewältigungsprozesses in kritischen Lebensphasen (…)“ (Petermann 1992: 211) betrachtet.

77

Von den zahlreichen Tier- und Menschenexperimenten sei nur das folgende herausgegriffen (vgl. Hiroto 1974): Hiroto bot zwei Gruppen von Studenten ein unangenehm lautes Geräusch dar. Eine Kontrollgruppe wurde keinem unangenehmen Geräusch ausgesetzt. Eine der Gruppen, die dem unangenehmen Geräusch ausgesetzt war, konnte durch Knopfdruck „erlernen“, das Geräusch abzustellen, die andere Gruppe nicht. Schließlich wurde jeder Versuchsperson der drei Gruppen der akustische Reiz erneut dargeboten. Mit Hilfe einer „finger shuttle box“, wobei nur die Hand von der einen Seite zur anderen bewegt werden musste, konnten die Personen das Geräusch abstellen. Die Angehörigen der Kontrollgruppe und der Gruppe, die vormals das Geräusch per Knopfdruck abstellen konnten, lernten die erforderliche Handlungssequenz schnell. die „hilflose“ Gruppe der Personen, die den akustischen Reiz vormals nicht abstellen konnten, verharrte überwiegend passiv und erduldete das unangenehme Geräusch.

124

Das gilt auch für die Betrachtung von Armut und von Sozialhilfeabhängigkeit78, wo Expectancy-Value- Ansätze bzw. auch „Learned Helplessness“ besonders unter Anhängern der Sozialstaatskritik Verbreitung fand.79 Auf zusätzliche Resonanz stieß dieser Ansatz aber dann vor allem in der sich seit den 1980er Jahren rasch entwickelnden empirisch arbeitenden dynamischen Armutsforschung und hier ganz besonders bei der Erforschung von Sozialhilfekarrieren. Hier wurden die zentralen Aussagen der Expectancy-Value-Theorie bzw. auch des Konzeptes „Learned Helplessness” für das Problem der „Welfare Dependency“ in folgender Weise fruchtbar gemacht: „According to expectancy theories, [welfare] dependency may result, when people lose a sense of control over their lives – when they cease to believe that they can realistically get off of welfare. People become overwhelmed by their situation and lose the ability to seek out and use the opportunities available.” (Bane/Ellwood 1994: 75).80

Ähnlich auch die Forschergruppe Leisering und Voges, welche den ExpectancyValue-Ansatz für die deutsche dynamische Armutsforschung als psychosozialen Ansatz reformulierten: „Vom ,expectancy’ Ansatz aus betrachtet, erodiert oder schwächt längerer ,welfare’ -Bezug psychosoziale Kompetenzen wie Selbstvertrauen und das Gefühl von Handlungsfähigkeit (‚sense of control’). ‚Learned Helplessness’ bezeichnet dabei eine – aus wiederholter Erfahrung von Versagen resultierende – Unfähigkeit, Handlungschancen zu erkennen und zu ergreifen.“ (Leisering/Voges 1992: 454).

78

Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass Seligman selbst seinen Ansatz für die Ursachenerforschung von Armut ins Gespräch bringt und dabei an Aufsätze der Culture of Poverty –Ansätze anknüpft (vgl. Seligman 1975: 159-165). Ausdrücklich weist er dabei auf die – seiner Meinung nach – schädigende Funktion von Sozialpolitik hin („Welfare Dependency” als „Learned Helplessness“): „The welfare system, however well intentioned, adds to the uncontrollability engendered by poverty; it is an institution that undermines the dignity of its recipients because their actions do not produce their source of livelihood. A young child left to walk the streets too soon sometimes develops great mastery by coping with and overcoming his conditions; but more often he finds himself in situations beyond his control.” (Seligman 1975: 161). 79 So auch die Einschätzung von Petra Buhr und Gerald Prein: „This causal model is currently employed by critics of the welfare state from traditional left-wing positions or by representatives of voluntary welfare organizations in Germany. They hold that welfare undermines people’s agency: People ‚learn’ not to be able to leave welfare.“ (Buhr/Prein 1998: 78). 80 Zum Zusammenhang von „Expectancy-Value“ und „Learned Helplessness“ vgl. auch den Artikel von Yolanda G. Rodriguez, in dem sie die Situation von jungen arbeitssuchenden Personen, die noch nie arbeitslos waren, mit derjenigen Situation von arbeitslosen jungen und älteren Personen vergleicht (vgl. Rodriguez 1997).

125

Die Präferenz für diesen Ansatz ist dabei wahrscheinlich dem Umstand zu verdanken, dass sich mit seiner Hilfe eine relativ einfache (u.U. empirisch testbare) Hypothese in Hinsicht auf datentechnisch erfasste Sozialhilfekarrieren generieren lässt. Demnach müssten aufgrund der Schwächung psychosozialer Kompetenzen, Abgänge aus der Sozialhilfe mit zunehmender Bezugslänge immer seltener werden. Diese Hypothese lässt den psychosozialen Ansatz als Alternative zu den Verhaltensannahmen anreiztheoretischer Varianten des Rational-ChoiceAnsatzes (vgl. Kap. 5.1) erscheinen. Aus Letzteren müsste eine andere Schlussfolgerung gezogen werden. Hier stellt die Überwindung von Sozialhilfe ein (mehr- oder weniger) seltenes konstantes Phänomen dar, welches sich (unter Kontrolle anderer unabhängiger Variablen, z.B. Verlust von Humankapital) mit fortschreitender Bezugslänge nicht verändert. Aus Sicht einer stärker mit quantitativen Methoden operierenden dynamischen Armutsforschung ist die Sympathie für „Learned Helplessness“ daher verständlich. Allerdings erhebt sich die Frage, inwieweit tatsächliche Passivität (lange Bezugszeiten) wirklich auf „Learned Helplessness“ zurückzuführen ist, bzw. dadurch erklärt werden kann: „Learned Helplessness“ besteht beispielsweise nicht, wenn die Passivität langzeitabhängiger Personen eine rein rationale bzw. instrumentelle Basis hat, die z.B. bestimmten alltagsweltlichen Vorstellungen über Verantwortlichkeiten bei der Existenzsicherung entspringt (z.B. „der Staat“). Aber auch nicht jeder motivationale Bezug lässt sich mit „Learned Helplessness“ voll in Einklang bringen. Beispielsweise kann Passivität, die sich auf Verlustängsten bzw. Ungewissheit vor einer Situation ohne soziale Absicherung gründet, nicht ohne weiteres als „Learned Helplessness“ beschrieben werden. In diesem Fall mögen die Personen zwar aus bestimmten Gründen überfordert sein, beispielsweise aus dem Bezug von Arbeitslosengeld II herauszukommen, sind aber noch in der Lage, zusätzliche Verschlechterungen zu umgehen (z.B. Verlust von Sozialeinkommen). Das Konzept „Learned Helplessness“ erscheint auch dann unanwendbar, wenn Sozialleistungsabhängigkeit durch Fehlen von Arbeitsplätzen rein strukturell bedingt ist und auch ein Umzug keine Alternative darstellt (z.B. Familien). Es ist daher davon auszugehen, dass „Learned Helplessness“ einfach nur eine von mehreren möglichen Passivitätsursachen darstellt. Die einseitige Fokussierung des Ansatzes wird auch dann – und vielleicht gerade dann – zu einem Problem, wenn die ausgesprochen hohe Dynamik an der Schnittstelle zwischen Arbeitsmarkt und sozialen Sicherungssystemen (Lohnersatzleistungen) zur Sprache kommt. Eine theoretische Grundlegung, die nur darauf abstellt, individuelle Bewältigung auf eine gute psychosoziale Verfassung zurückzuführen, Nichtbewältigung jedoch auf Kontrollverluste, mag einen hohen heuristischen Wert haben. Ob sie aber damit schon für eine ausreichende Beach126

tung der gesamten Prozessdynamik geeignet ist, muss stark bezweifelt werden, denn sie reicht nur wenig über das Alltagsverständnis von Sozialleistungsbezug hinaus. Offensichtlich wurde das auch von den Vertretern der dynamischen Armutsforschung im Prinzip selbst erkannt. So bemerken Petra Buhr und Gerald Prein im Fazit ihres Aufsatzes: „Does Welfare lead to Dependency?“ (1998): „Finally there is a major point that is generally not mentioned in theories about welfarization and welfare dependence: Long-term receipt, the result of welfarization processes, is not the predominant pattern of welfare receipt. So we have to conclude that if evidence for the welfarization thesis really could be found, this would probably only relate to specific groups of recipients.” (Buhr/Prein 1998: 86).

Man kann dem nur hinzufügen, dass es sich – gemessen an allen Sozialleistungsbeziehern (!) – auch nur um kleine Gruppen handelt. Wie lassen sich die Argumente des psychosozialen Ansatzes noch einmal am besten zusammenfassen? Als Ursache für „Welfare Dependency“ auf der Makroebene kann wieder Sozialpolitik ausgemacht werden. Diesmal sind es aber keine Anreizstrukturen, die auf der Mikroebene Verhalten determinieren. Stattdessen ist es der Sozialleistungsbezug selbst, der psychosoziale Kompetenzen, wie Selbstvertrauen und Selbstkontrolle schwächt. Problematisch sind auch all diejenigen Bestimmungen, die darauf hinauslaufen, dass den Betroffenen, die bereits Sozialleistungen beziehen, eine selbst bestimmte Lebensführung ohne Sozialleistungen erschwert bzw. unmöglich gemacht wird. Diese sind aber auch auf der Mesoebene – und gerade hier –, in konkreten Umsetzungen als Durchführungsbestimmungen und -praxen, in den Sozial- und Arbeitsagenturen, von Bedeutung („Klientelisierung“, vgl. Leisering/Voges 1992: 454 f.). Die betroffenen Sozialleistungsempfänger erleben das als anhaltende Fremdbestimmung und Gängelei. Gleichzeitig lassen sich durch Selbstanstrengungen ohnehin keine Erfolge erzielen, wodurch schließlich die Motivation zur Eigeninitiative erlischt. Folge dieser Demotivation ist, dass Selbstkontrolle und Selbstvertrauen dauerhaft in Mitleidenschaft gezogen werden, und sich die Sozialleistungsabhängigkeit psychosozial verfestigt.

127

Abb. 5.7: Erklärung der „Welfare Dependency“ im psychosozialen Ansatz

Sozialpolitik

Durchführungspraxen

Makroebene

Welfare Dependency

Mesoebene

Mikroebene

Selbstkontrolle/ Selbstvertrauen

5.5 Synopse der sozialwissenschaftlichen Ansätze zu „Welfare Dependency“

In Tabelle 5.1 werden die wesentlichen Kurzcharakteristiken der vorgestellten Ansätze zu „Welfare Dependency“ dargestellt. Diese sollen im Folgenden kurz diskutiert werden. Demnach steht die in Kapitel 5.1 vorgestellte und am Armutsfallentheorem orientierte Rational-Choice-Variante in der Tradition des individualistischen Theorieprogramms. Das trifft ebenso für die in Kapitel 5.4 diskutierten Beiträgen zu, die den Expectancy-Value-Ansätzen zuzurechnen sind. Erklärungsbeiträge von „Welfare Dependency“, die sich einer RationalChoice Argumentation bedienen, folgen meistens dem gleichen Schema: Erwerbskalküle ergeben sich demnach aus einer Aufrechnung finanzieller Nutzen und Kosten von Lohnersatzleistungen resp. Erwerbsarbeit. Anschließend werden diejenigen Handlungsalternativen ausgewählt, welche den höchsten individuellen Gesamtnutzen versprechen. Implizit werden durch die Betrachtung unmittelbar kurzfristig realisierbarer Einkommen (Lohnersatzleistungen und Löhne als Monatseinkommen) langfristige Nutzen und Kosten vollkommen vernachlässigt. Das bedingt eine zu starke Fixierung menschlicher Handlungen auf finanzielle Anreize, denn rationale Handlungen haben dann weniger Freiheitsgrade als in der Realität. Individuen „funktionieren“ bzw. verhalten sich wie nutzenmaximierende Automaten mit kurzfristiger Orientierung. Handlung reduziert sich dabei auf die Reaktion auf von außen gesetzte Anreize, was wiederum eher an behavioristische Reiz-Reaktionsschemata als an „Choice“ erinnert. Die zeitliche Dimension menschlichen Handelns ist dabei nur auf der Ebene der negativen Folgen erkennbar, wobei besonders häufig die Persistenz von Armutslagen, weniger häufig der Verlust von berufsspezifischen Kompetenzen beklagt wird (Verlust von Humankapital). Durch die besonderen Bedingungen im 128

Niedriglohnbereich (hohe Lohnersatzleistungen, niedrige Löhne) wird von Armutsfallentheoretikern, die sich einer Rational-Choice-Argumentation bedienen, befürchtet, dass sich nicht nur negative individuelle Konsequenzen („Armuts“bzw. „Arbeitslosigkeitsfalle“ bzw. „Welfare Dependency“) ergeben, sondern dass sich diese durch massenhafte gleichgerichtete Entscheidungen in negative kollektive Konsequenzen transformieren (massenhafte Langzeitabhängigkeit). Diese werden sich sogar als positive Rückkopplung vorgestellt: Das Anwachsen der Empfängerzahl führt zu einer Verringerung des Arbeitskraftangebots, dieses führt zu Anpassungsmaßnahmen seitens der Arbeitskraftnachfrageseite und damit zu einer zusätzlichen Verringerung der Arbeitskraftnachfrage im Niedriglohnsektor, das wiederum führt wieder zu höheren Empfängerzahlen usw. usf. Das ist die so genannte „doppelte Armutsfalle“ durch positive Rückkopplung auf der Kollektivebene als Teufelskreis zwischen Sozialpolitik und Arbeitsmarkt. In den verschiedenen Versionen des Psychosozialen Modells werden finanzielle Kalküle nicht direkt thematisiert, sondern es geht um die Motivation von Sozialleistungsempfängern für sich selbst zu sorgen, in Abhängigkeit von persönlichen Erfahrungen des Erfolgs bzw. Misserfolges und anderer interagierender Persönlichkeitsvariablen. Der Vorteil dieser Betrachtung ist, dass Entscheidungen von Sozialleistungsempfängern nicht nur auf finanziellen Erwerbskalkülen beruhen müssen. Zudem betonen Beiträge von „Welfare Dependency“, die sich am psychosozialen Modell orientieren, dass sich Entscheidungen für oder gegen den Bezug von Sozialleistungen nicht in jedem Fall in der gleichen Art und Weise vollziehen, sondern, dass sich im Verlaufe des Bezuges Verhaltensänderungen einstellen können. Die Sachdimension auf der Verhaltensebene wird hierdurch (Nutzen/Kosten in anreiztheoretischen Ansätzen, hier: Selbstvertrauen, Selbstkontrolle) durch eine zeitliche Dimension ergänzt (Verlust von Selbstvertrauen, Selbstkontrolle durch zunehmendes Bewusstwerden des Misserfolges von Bemühungen Sozialleistungsbezug zu überwinden). Durch die Konzentration auf „Welfare Dependency“ bleiben Verhaltensänderungen auf negative Verhaltensänderungen beschränkt. Rückkopplungseffekte auf der Individualebene fallen hierbei besonders schwerwiegend und nachhaltig aus. Es entsteht die Armutsfalle bzw. „Welfare Dependency“ als Teufelskreis schon auf der Individualebene. Kollektiv gesehen kann sich dieser Sachverhalt dann auch nur negativ ausdrücken (massenhafte „Welfare Dependency“). Schließlich die Diskussion zu den beiden strukturalistischen Ansätzen. Aus Sicht der funktionalistischen Schichtungstheorie ist „Welfare Dependency“ in erster Linie kein Problem der Mikroebene. Durch die Abwicklung von Sozialleistungsprogrammen und anderer Reformen und damit die Herstellung eines status quo ante kann die Funktionalität der ursprünglichen Schichtordnung wiederhergestellt werden. Aus Sicht dieser Theorieversionen ist Sozialpolitik, die 129

„Welfare Dependency“ produziert, nur dysfunktional, weil damit massenhaft die Leistungsbereitschaft niedrig qualifizierter Arbeitskräfte untergraben wird. Dabei sind die Ähnlichkeiten zu Beiträgen, die sich einer Rational-Choice-Argumentation bedienen, doch ziemlich verblüffend, wenn auf individuelle Handlungen bzw. Entscheidungen näher eingegangen wird. Demnach sind es diesen Beiträgen zufolge aber weniger finanzielle Anreize, die Verhalten determinieren, sondern vielmehr von außen gesetzte Statusdifferenzen, die zu Aufstiegen in Hierarchien motivieren sollen und die auch auf der Verhaltens- oder Handlungsebene eine zeitliche Dimension besitzen. Z.B. bedarf die Ausbildung beruflich anspruchsvoller Tätigkeiten aus schichtfunktionalistischer Sichtweise einer (individuell) langfristigen Orientierung. Für niedrig entlohnte Tätigkeiten hingegen bedarf es der gleichen Sichtweise zufolge keiner längeren Ausrichtung. Ausreichend und vorherrschend wären in diesem Arbeitsmarktsegment folglich kurzfristige Orientierungen, weswegen es einer Berücksichtigung des mittel- und langfristigen Entscheidungshorizonts in diesem Fall nicht bedarf. Aufgrund der (problematischen) Annahme kurzfristiger Orientierungen wären Transferleistungen deshalb dysfunktional, weil sie – tatsächlich oder vermeintlich – ein Leben ohne Anstrengungen erlauben und damit den Zusammenhang zwischen (Aufstiegs-) Leistungen und Gratifikationen untergraben. Aus Sicht des „Culture of Poverty“/„Welfare Dependency“-Ansatzes wird der Wert von Sozialpolitik, und im engeren Sinn von Sozialtransfers, ebenfalls als dysfunktional eingeschätzt. Das trifft besonders auf die konservativen Versionen zu. Die Abwicklung von Sozialprogrammen kann zwar nicht zur Verbesserung der finanziellen Situation beitragen, aber für Protagonisten konservativer Wohlfahrtspolitik ist es vorstellbar, dass sich in einer Situation ohne staatliche Zuwendungen neue Subkulturen z.B. durch Selbsthilfenetze herausbilden und dadurch langfristig die Kultur der Armut und Abhängigkeit überwunden wird. Aus einer eher liberalen81 Sicht haben Sozialtransfers in einem Ansatz der Kultur der Armut zumindest keine negative Bedeutung.

81

Vgl. Fußnote 74.

130

131

Erwartungen/Kognit ionen

Kultur der Armut/ Abh.

Learned Helples sness

Funktionale Schichtt heorie

RationalChoice (Anreizversionen)

Handl.ebene kurzfristige finanzielle Anreize aus Erwerbsarbeit mittellangfr. Aufstiegsanreize aus Statusunterschieden Subkulturelle Werte/Normen

Ansätze

… untergraben langfristig individuelle Arbeitsmotivation und die Kontrolle über weitere Lebensbereiche

… untergraben kurzfristig individuelle Arbeitsmotivation (und haben ev. weitere kollektiv unerwünschte Folgen bzw. negative Externalitäten) … untergraben mittelund längerfristig kollektive Arbeitsmotivation und haben weitere kollektiv unerwünschte Folgen … untergraben Arbeitsmotivation kollektiv

Sozialstaatl. Transfers indiv.: mittel- und langfrist. selbstschäd. Verhalten (Armutsfalle), ev. Verlust von Kompetenzen, Humankapital (koll.: Veränderungen der Nachfragestruktur) indiv.: selbstschäd. Verhalten (Armutsfalle), Verlust von Aufstiegsmöglichkeiten; koll.: Verlust gesellsch. Funktionalität/Integration indiv. und koll.: dauerhafte Abhängigkeit von Sozialleistungen koll.: führen ggf. zu Erosion intakter Subkult. indiv.: führen zur Dauerabhängigkeit von Sozialleist. und Verlust von Kompetenzen in vielen indiv. Lebensbereichen

Folgen

Die Abwicklung oder Absenkung sozialstaatlicher Transfers ist gemessen am Ziel der Steigerung der Arbeitsmotivation notwendig und hinreichend. Alternativ käme auch einer Steigerung der Erwerbseinkommen eine ähnliche Wirkung zu. Diese wäre aber u.U. nicht wünschenswert oder zumindest nicht durchführbar. Die Abwicklung sozialstaatlicher Programme ist notwendig, aber nicht hinreichend. Zusätzlich müssen gesetzliche Änderungen im wesentlichen den status quo ante und damit die ursprüngliche und funktionale Schichtordnung, und im Ergebnis hohe Arbeitsmotivation, wiederherstellen Die Abwicklung sozialstaatl. Programme ist notwendig (aber möglicherw. nicht hinreichend, weil Kultur der Armut bestehen bleibt; konserv. Vers.). Notwendig und ggf. hinreichend ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (liber. Vers.) Die Abwicklung sozialstaatlicher Programme ist keine Lösung für „Welfare Dependency“, weil Rezipienten wohlfahrtsstaatl Leistungen bereits die Kontrolle von Lebensbereichen entglitten ist. Notwendig ist eine Reform der Sozialprogramme, die das Selbsthilfepotential aktivieren.

Nachhaltigkeit

Tab. 5.1: Verwendung von Annahmen unterschiedlicher theoretischer Ansätze bei der Erklärung von „Welfare Dependency“

Der Schlüssel für eine Verbesserung der zahlreichen negativen Begleiterscheinungen der Armutskultur liegt hier in der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Die Auflösung der Kultur der Armut ist bei der Bereitstellung von existenzsichernden Arbeitsplätzen schließlich nur noch eine Frage der Zeit. 5.6 Zwischenergebnis

Sozialleistungsbezug führt zu dauerhafter Sozialleistungsabhängigkeit. So oder so ähnlich ist die Schlussfolgerung der in diesem Kapitel diskutierten Beiträge zu „Welfare Dependency“. Obwohl in dieser Behauptung einheitlich, werden teilweise ganz unterschiedliche Argumente vorgebracht, die diese Behauptung stützen sollen. Tatsächlich steht diese Behauptung aber in allen Fällen auf sehr unsicheren Grund. Das ist so, weil die Präferenzen bzw. andere verhaltensdeterminierende Prädispositionen von Sozialleistungsbeziehern ohne Ausnahme aus ausschließlich institutionellen Gegebenheiten abgeleitet werden. Das ist eine sehr unbefriedigende Situation, weil dadurch anderen Motiven die Verhaltensrelevanz von vornherein gänzlich abgesprochen wird. Besonders schwerwiegend ist dieses Theoriedefizit aber bei Beiträgen, deren Argumentation an Rational-Choice angelehnt ist, weil der Rational-Choice-Ansatz die Frage der Präferenzen im Prinzip offen lässt. Hier wird, wie in Abschnitt 5.1 dargelegt wurde, deutlich, dass durch die Interpretation von institutionellen Gegebenheiten als Anreizstrukturen, die Präferenzen von Individuen vorschnell auf eine Präferenz festgelegt werden, ohne das eine empirische Prüfung dieser überhaupt in Erwägung gezogen wird. Weil das so ist, wird im folgenden Kapitel nach dem Stand der empirischen Forschung zur Schnittstelle zwischen Sozialleistungsbezug und Arbeitsmarkt gefragt.

132

6. Stand der empirischen Forschung

Wie in Kapitel 5 anhand der Untersuchung von Beiträgen zu „Welfare Dependency“ bereits angeklungen, ist die bisherige Diskussion zu Sozialleistungsbezug in mehrfacher Hinsicht als unbefriedigend einzuschätzen. Einerseits besteht eine zu starke Fokussierung auf „Welfare Dependency“. Durch diese Problemzentrierung geraten positive Folgen (erfolgreiche Reintegration in den Arbeitsmarkt, partielle finanzielle Absicherung von Kindererziehungszeiten) aus dem Blick. Andererseits besteht die Gefahr, dass die einseitige (und zum Teil etwas saloppe) Orientierung an spezifischen sozialwissenschaftlichen Theorien einer realitätsnahen Erklärung von Sozialleistungsbezug eher im Wege steht, anstatt den Verlauf und die Eintritts- und Abgangsursachen wirklich zu erhellen. Um diese unbefriedigenden Situation zu verbessern, ist es wichtig, dass bereits vorhandene empirischen Forschungsergebnissen ernster als bisher genommen werden. Die Aufgabe des folgenden Kapitels ist es daher, den Stand der empirischen Forschung wiederzugeben. Nur die systematische Berücksichtigung dieser Erkenntnisse kann zu einer nachhaltigen theoretischen Neubestimmung der Schnittstelle zwischen sozialstaatlichen Leistungen und dem Arbeitsmarkt führen. Für eine Antwort auf die Frage, ob und inwieweit die Befürchtungen der „Welfare Dependency“-Debatte zutreffen, können empirische Belege dienen, welche sich so weit wie nur irgendwie möglich an die tatsächliche Situation von Hilfeempfängern annähern. Dazu liegen inzwischen umfangreiche interdisziplinäre Ergebnisse der empirischen Armutsforschung vor (Kapitel 6.1). In methodisch-quantitativer Hinsicht kann dazu die Untersuchung verschiedener Sachverhalte beitragen. Als erstes scheint es angebracht sich ganz allgemein mit der Situation von Haushalten bzw. Personen im unteren Einkommensdrittel zu beschäftigen (Kapitel 6.2). Folgende interessante Fragen können hier gestellt werden: Wer kann als arm bezeichnet werden? Wie viele Personen bzw. Haushalte lassen sich dieser Einkommensschicht zurechnen? Wie lang sind Lebensphasen, die durch Armut oder prekären Wohlstand gekennzeichnet sind? Welche Determinanten wirken sich verlängernd oder verkürzend auf Armutsepisoden aus? Eng verbunden mit der allgemeinen Beschäftigung mit armen Personen bzw. Haushalten, ist die Untersuchung des Entscheidungsverhaltens Sozialleistungen zu beziehen. Hier ist der Arbeitsertrag der empirischen Forschung für das 133

Thema Sozialleistungsbezug schon etwas höher zu veranschlagen. Der Bezug von Sozialtransfers ist schließlich kein Automatismus, sondern er hängt von der individuellen Entscheidung ab, ob die betreffende Person bei gegebener Anspruchsberechtigung Sozialleistungen beziehen möchte oder nicht. Daher muss auch der Stand der empirischen Forschung für das Verhältnis von Inanspruchnahme und Nichtinanspruchnahme von sozialen Leistungen diskutiert werden. Damit wird der Fokus auf das Eintrittsrisiko und die es bedingenden Faktoren gerichtet. Um die inhaltliche Verknüpfung mit Armut nicht aus dem Blick zu verlieren, wird sich die anschließende Diskussion der empirischen Literatur hauptsächlich auf (niedrigschwellige) sozialstaatliche Leistungen beschränken, deren Gewährung traditionell eher nach dem Bedürftigkeitsprinzip richtet (Sozialhilfe oder sozialhilfeähnliche Leistungen, jetzt vor allem Arbeitslosengeld II). Zu fragen ist hier zunächst einmal nach der Anzahl der Personen, die trotz Anspruch auf Sozialhilfe bzw. sozialhilfeähnliche Leistungen, keine Sozialtransfers abrufen, sowie deren Lebenssituation (Kapitel 6.3). Implizit wird damit die Frage der „Working Poor“ angesprochen, die nicht den Weg in niedrigschwellige staatliche Sozialprogramme finden, obwohl von Vertretern von „Welfare Dependency“-Ansätzen immer wieder behauptet wird, dass der finanzielle Anreiz dieser Leistungen so hoch ist, dass mit einer Entscheidung gegen Sozialtransfers eigentlich nicht zu rechnen sei (Exkurs). Gerade im Zusammenhang mit der Annahme einer „Armutsfalle“ geraten Personen und Haushalte in das Blickfeld, die sich für den Bezug von Sozialleistungen entschieden haben und für die in dieser Hinsicht offensichtlich der Anreiz zunächst einmal hinreichend groß genug war, Sozialleistungen zu beziehen. Der Stand der empirischen Forschung zu diesem Thema wird daher ebenfalls diskutiert (Kapitel 6.4). Maßgebliche Fragen sind hier: Wer bezieht Sozialleistungen? Welches sind die Eintrittsursachen? Wie lang dauert Sozialleistungsbezug: Hat die Entscheidung für den Bezug wirklich die verheerenden Konsequenzen (Langzeitbezug), wie so oft behauptet, oder ist Sozialleistungsbezug eher kurzbzw. auch mittelfristiger Natur? Sollte Sozialleistungsbezug in manchen Fällen tatsächlich kurz- oder mittelfristig beendet werden, dann stellt sich auch die Frage nach den Abgangswegen: Welche Abgangswege kommen in Frage und welche werden von Personen in Haushalten, die Sozialleistungen beziehen bzw. bezogen, gewählt? Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Aufnahme von abhängiger Erwerbstätigkeit? Schließlich stellt sich auch noch die Frage nach der Nachhaltigkeit der Beendigung des Bezugs von Sozialleistungen (Kapitel 6.5): Gelingt die Integration von Sozialleistungsempfängern in den Arbeitsmarkt? Wenn ja, wie ist ihre beruf-

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liche Entwicklung im Gegensatz zu Personen zu beurteilen, die keine Sozialleistungen bezogen haben? 6.1 Die Entwicklung der dynamischen Armutsforschung in der Bundesrepublik Deutschland

Der unbefriedigenden Situation in der Diskussion um „Welfare Dependency“ aus theoretischer Sicht, steht eine sehr erfreuliche Entwicklung auf dem Gebiet der sozialwissenschaftlich-empirischen Forschung zu den Folgen von Sozialpolitik gegenüber. Hier ist in den letzten Jahren einiges geleistet worden. Das ist besonders der stürmischen Ausbreitung der verzeitlichten Perspektive auf individuelle Lebenslagen zu verdanken. Begünstigt wurde die Ausbreitung dadurch, dass neben qualitativen Datensätzen – die diese dynamische Perspektive schon immer erlauben – immer häufiger auch quantitative Datensätze bereitgestellt werden, die durch Abfragen zu verschiedenen Zeitpunkten eine ziemlich genaue Rekonstruktion von individuellen Lebensverläufen ermöglichen (Längsschnittdaten). Gleichzeitig wurden statistische Auswertungsverfahren für die verzeitlichte Perspektive (Stochastik) weiterentwickelt und verfeinert sowie für die computertechnische Anwendung aufbereitet, so dass quantitative und qualitative Methoden immer häufiger – sich gegenseitig ergänzend – angewendet werden können (Triangulation). Für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland wurde dieses Forschungsdesign hinsichtlich Armut und Sozialhilfe besonders am Sonderforschungsbereich Bremen 186 „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“ praktiziert. Zahlreiche und bedeutende Publikationen zu Sozialhilfebezug sind aus diesen Forschungsarbeiten entstanden (vgl. besonders Buhr 1995; Leibfried u.a. 1995; Ludwig 1996; Gangl 1997; Gangl 1998; Buhr/Weber 1999; Leisering et al. 1999). Mehrheitlich weisen die in diesen Veröffentlichungen präsentierten quantitativen und qualitativen Forschungsergebnisse in die Richtung, dass Sozialhilfeempfänger sich aktiv mit ihrer Lebenssituation auseinandersetzen und den Sozialhilfebezug mehrheitlich schnell überwinden. Eine besonders wichtige Frage aber, die Frage nämlich, welche Bedeutung dem Abgangsweg „Arbeit“ zukommt, kann mit dem Datenmaterial – zumindest aus quantitativer Sicht – nicht befriedigend geklärt werden. Das liegt an den Spezifika der den Ergebnissen zugrunde liegenden Stichprobe (Bremer 10%Längsschnitt-Stichprobe von Sozialhilfeakten): Die erfassende Behörde, das Sozialamt, schloss die Sozialhilfeakten nach der administrativ-notwendigen

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Bearbeitungszeit.82 Aber auch in anderer Hinsicht sind die Ergebnisse des SFB 186 nicht ohne weiteres verallgemeinerbar, handelt es sich doch bei der Datenbasis um eine lokal begrenzte Stichprobe mit einem eingeschränkten und durch die erfassende Behörde vorgegebenen Variablenprogramm. Ähnliche Einschränkungen gelten bzw. galten auch für das an den Bremer SFB angeschlossene Forschungsprojekt in Halle/Saale (vgl. Olk/Rentzsch 1997) und für die Arbeiten auf Grundlage der Bielefelder Datenbank „Sozialhilfe-Statistik“ (vgl. z.B. Andreß 1994; Golsch 2000). Diese Nachteile können mit Längsschnitt-Datensätzen (Panel) überwunden werden, die nicht von Behörden erfasst werden und die im gesamten Geltungsbereich des früheren Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) erhoben wurden, wie z.B. im bundesweit erhobenen Sozio-oekonomischen Panel. Erste Anstrengungen diese Datenquelle für die Frage der Verweildauern im Sozialhilfebezug aufzuschließen, unternahmen Götz Rohwer und Wolfgang Voges 1991, indem sie die Forschungsverwendungsmöglichkeiten des darin enthaltenen Sozialhilfekalendariums diskutierten (vgl. Rohwer/Voges 1991). In der Folgezeit wurde jedoch auf eine Analyse des Sozialhilfekalenders zunächst verzichtet. Stattdessen folgten Auswertungen des SOEP auf der Basis von Einkommensschwellen, deren Ergebnisse sich auf den gesamten Niedrigeinkommens-Bereich beziehen (vgl. z.B. Matthes 1995). Diesem Konzept folgten auch Analysen aus dem Projekt „Versorgungsstrategien privater Haushalte im unteren Einkommensbereich (VuE)“ an der Universität Bielefeld (vgl. z.B. Andreß 1996; Andreß/Strengmann-Kuhn 1997; Andreß 1999) und es muss in diesem Zusammenhang auch auf die Arbeiten hingewiesen werden, die die Entwicklung der Einkommensverteilung insgesamt analysierten (z.B. Becker/Hauser 1997, 2003; Hauser/Fabig 1999). 6.2 Einkommensarmut und Einkommensdynamik

Jeglicher Versuch Armut zu definieren besteht darin, ein Kriterium anzugeben, anhand dessen eine Differenzierung zwischen armen und nichtarmen Personen erfolgen soll. In der Armutsforschung sind unterschiedliche Basiskonzepte von Armut üblich. Besonders häufig orientieren sich Armutsdefinitionen am Begriff der Subsistenz. Hierunter wird im Allgemeinen ein Existenzminimum verstanden, das bestimmten Mindeststandards genügt. Neben der Orientierung am phy82

Es handelt sich um prozessproduzierte Daten. Die Daten des Sozialamtes bilden nur die Sachverhalte ab, die für die Bearbeitung eines Falles notwendig waren. Die weitere biographische Entwicklung von Sozialhilfeklienten gehört nicht dazu, weshalb Sozialhilfeakten auch keine Information über die Abgangswege aus der Sozialhilfe entnommen werden kann.

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sischen Existenzminimum (absolute Armut, nur Befriedung der elementaren Grundbedürfnisse) sind Armutsdefinitionen geläufig, die sich an sozio-kulturellen Mindeststandards orientieren. Diese Standards sollen gerade so hoch bemessen sein, dass (noch) eine Teilhabe bzw. Teilnahme am öffentlichen bzw. kulturellen Leben einer Gesellschaft möglich ist (relative Armut). Als arm haben dann all diejenigen Personen zu gelten, deren Existenzniveau diese Mindeststandards unterschreitet. Je nachdem wie diese Mindeststandards definiert werden, gibt es zwei grundsätzliche Ansätze relativer Armut. Hierbei handelt es sich um den ressourcentheoretischen Ansatz und um den Lebenslagenansatz. Ressourcentheoretische Ansätze definieren relative Armut anhand des Vorhandenseins bestimmter ökonomischer Ressourcen (Besitz von Produktionsmitteln, Einkommen, Vermögen). Der Lebenslagenansatz definiert relative Armut anhand von Versorgungsniveaus in verschiedenen Lebensbereichen (weiterführend hierzu die Beiträge in Steinert/Pilgram 2003 zu sozialer Exklusion, z.B. Vobruba 2003b). Mit der empirischen Untersuchung von Einkommensarmut ist eine ressourcentheoretische Perspektive verbunden. Im Allgemeinen wird unter relativer Einkommensarmut der Grad des Unterschreitens eines Durchschnittseinkommens (arithmetisches Mittel) verstanden.83 Das gewichtete Pro-Kopf-Haushaltsnettoeinkommen wird dabei ins Verhältnis zum durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommen aller Haushalte eines Landes gesetzt (zur Vorgehensweise vgl. z.B. Hauser 1999: 4).84 Die Entscheidung darüber, wer als einkommensarm zu bezeichnen ist und wer nicht, wird hierbei anhand bestimmter Einkommensschwellen getroffen. Am geläufigsten ist hier die 50% Schwelle des arithmetischen Mittelwertes, die üblicherweise als Einkommensarmutsschwelle bezeichnet wird. Daneben werden ebenfalls die Einkommensschwellen von 60% und von 40% zur Messung von Einkommensarmut herangezogen, wobei die eine als Armutsgefährdungsschwelle („milde“ Armutsgrenze) und die andere als „strenge“ Grenze relativer Armut bezeichnet werden kann. Zur Entwicklung der Einkommensarmut in der Bundesrepublik Deutschland liegen mehrere Untersuchungen vor (vgl. z.B. Hauser/Semrau 1990, Becker 1997, Hauser 1997, Hauser 1999, Becker/Hauser 2003). Die neuere Untersuchung der Forschergruppe Becker/Hauser aus dem Jahre 2003 zeigt anhand der Einkommens- und Verbraucherstichproben für die Jahre von 1969 bis 1998, dass der Anteil derjenigen, die unterhalb der 50% Einkommensarmutsschwelle leben, in Westdeutschland seit 1978 stetig gewachsen ist, und zwar von 6,5% (1973, 83

Vgl. zu anderen Messkonzepten (Median, Modus) Semrau/Stubig 1999. Vgl. zu Gebrauch und Anwendung von Äquivalenzskalen bzw. Errechnung von Äquivalenzeinkommen z.B. Faik 1995, Merz/Faik 1995.

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1978) auf 10,9% (1998). Zu einer Verdopplung der Anzahl kam es im selben Zeitraum für diejenigen, die in strenger Armut leben (1978 nur 1,8%, im Jahre 1998 bereits 4,3%). Damit scheint sich das Armutsproblem im betrachteten Zeitraum verschärft zu haben. Ein Einwand gegen diese Diagnose könnte sein, dass die Verschärfung des Armutsproblems nur darauf zurückzuführen ist, dass eine Bewegung um die Schwellen herum stattgefunden hat. Davon ist jedoch laut den Ergebnissen von Becker/Hauser zur Armutsintensität nicht auszugehen. Hier zeigt sich, dass das Nettoäquivalenzeinkommen der Personen, die unterhalb der 40% Einkommensschwelle leben müssen, im Durchschnitt von knapp 35%, im Jahr 1973, auf 32,5%, im Jahr 1998, gefallen ist. Auch für die 50% Schwelle ist eine Verschlechterung der Situation nachweisbar (1973 noch knapp 43%, 1998 nur noch 40,4%). Für Ostdeutschland stellt sich bei einer isolierten Betrachtung bezogen auf die Jahre 1993 und 1998 das Armutsproblem insgesamt etwas besser dar. Dieser Eindruck verschwindet jedoch rasch, wenn die gesamtdeutschen Mittelwerte zugrunde gelegt werden.85 Die Betrachtung der Einkommensverteilung auf Grundlage von Querschnittsdaten bleibt aber sehr statisch. Hierbei entsteht sehr oft der Eindruck, dass es sich bei den „Armen“ immer um dieselbe Gruppe von Personen handelt. Das liegt daran, dass Bewegungen zwischen einzelnen Einkommensgruppen nicht nachgewiesen werden können. Dieses Defizit kann durch Betrachtungen der Einkommensmobilität auf Grundlage von Längsschnittdaten behoben werden. Zu dieser Frage liegt eine Anzahl von Untersuchungen vor (Deutschland z.B. Trede 1997, Hauser/Fabig 1999, Van Kerm 2002, Großbritannien z.B. Devicienti 2000, Cappellari/Jenkins 2001, Maggio 2004, USA z.B. Bane/Ellwood 1986, Stevens 1999, international vergleichend: Fabig 1999, Maasoumi/Trede 2001). In dieser Arbeit sollen aber keine Untersuchungen zu Einkommensdynamiken vorgestellt werden, und zwar deshalb, weil ihnen keine Informationen zum Wechsel von Erwerbsarbeit in Sozialleistungsbezug und vice versa und folglich auch keine Informationen zu verhaltensrelevanten Entscheidungen an der Schnittstelle zwischen Arbeitsmarkt und Sozialleistungsbezug zu entnehmen sind. Auf solche Informationen kommt es aber an, wenn erstens die Frage geklärt werden soll, ob und in welchem Umfang Anreize von Sozial- bzw. Lohnersatzleistungen ausgehen, die auf den Bezug solcher Leistungen hinauslaufen und 85

Hier zeigten sich für das Jahr 1993 Armutsquoten, die für alle drei Einkommensschwellen etwa das Doppelte der westdeutschen Werte ausmachten. Es lässt sich aber für das Jahr 1998 belegen, dass die Werte sich graduell angenähert haben.

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zweitens ob und in welchem Umfang Anreize von Erwerbsarbeit ausgehen, diese Sozialleistungsbezüge wieder zu beenden. Zunächst werden Untersuchungsergebnisse zum Stand der empirischen Forschung hinsichtlich der Entscheidungen für oder gegen den Beginn von Sozialleistungsbezügen vorgestellt (Kap. 6.3). Dann folgen Untersuchungsergebnisse zum Stand der Forschung von Entscheidungen zur Beendigung von Sozialleistungsbezug und dem Wechsel in Erwerbsarbeit (Kap. 6.4). 6.3 Die Entscheidung für oder gegen Sozialhilfe: Verdeckte Armut und Sozialhilfebezug

In der Bundesrepublik Deutschland gibt es ein erhebliches Potential an Personen, die trotz Anspruchsberechtigung keine Sozialhilfe beantragen, sich also gegen den Bezug von Sozialhilfe entscheiden. In diesem Zusammenhang wird von „verdeckter Armut“ gesprochen. Als Maß für den prozentualen Anteil der verdeckt armen Personen an der Gesamtpopulation dient die Quote der verdeckten Armut (QVA). Die Quote der Nichtinanspruchnahme86 (QNI) oder auch „Dunkelziffer“ gibt hierbei an, wieviel Prozent aller sozialhilfebedürftigen Personen (=verdeckt arme Personen und Sozialhilfebezieher) auf Sozialhilfe verzichten. Eine ältere Studie für die Bundesrepublik Deutschland auf Grundlage der Einkommens- und Verbraucherstichproben (EVS) von 1963, 1969 und 1973 belegt eine im Großen und Ganzen rückläufige QNI von 60% auf ca. 50% (vgl. Hauser u.a. 1981, vgl. hier die Diskussion dieser und weiterer Studien bis 1998 in Riphahn 2000). Diese Ergebnisse wurden durch eine weitere Studie auf Grundlage eines repräsentativen Surveys von 25.000 Haushalten für das Jahr 1979 im Wesentlichen bestätigt (QNI=48%, vgl. Hartmann 1985). Eine weitere Untersuchung der Forschergruppe Hauser, wieder auf Grundlage der EVS, zeigte für das Jahr 1983 einen neuerlichen Rückgang der QNI auf ca. 30% (vgl. Hauser/Semrau 1990). Anders in den 1990er Jahren: 1991 lebten in Deutschland nach Schätzungen des ISL87 auf Grundlage des SOEP ca. 3 Mio. Personen (QVA=3,7%) in verdeckter Armut (West: ca. 2 Mio.; Ost: ca. 0,9 Mio., vgl. Hertz/Neumann 1998: 9 f., 32 ff.). Die QNI lag damit bei 58,7% (West: 53,3%; Ost: 80%, ebenda: 55). Das Problem der verdeckten Armut hatte sich offensichtlich im Vergleich zu den 1980er Jahren verschärft. 1995 ging die Anzahl verdeckt armer Personen laut den Ergebnissen der ISL-Studie 1995 leicht auf ca. 2,8 Mio. Personen zurück 86 87

Engl.: non-take-up-rate. Institut für Sozialberichterstattung und Lebenslagenforschung (ISL)

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(QVA=3,4%; West: ca. 2 Mio.; Ost: ca. 0,7 Mio.). Die QNI sank auf 52,3% (West: 48,5%; Ost: 70%). Die Ergebnisse einer weiteren Untersuchung, bei der der Sozialhilfestatus von 3.173 Klienten von Caritas- und Diakonieeinrichtungen 1996 in Ostdeutschland ermittelt wurde, deuten auf einen weiteren Rückgang der Quote der Nichtinanspruchnahme hin (vgl. Hübinger/Neumann 1998: 114 Tabelle 8).88 Im Vergleich zu den deutschen Untersuchungen kommen US-Studien auf Grundlage des Current Population Survey (CPS) für die Jahre 1967-1990 – zu berücksichtigen sind hier jedoch unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen und damit auch eine anderen Zusammensetzung des Sozialhilfeklientels beim AFDC-Programm – zu einer QNI von ca. 25%, beim Food-Stamp-Programm von ca. 50% (vgl. die Diskussion dieser Studien in Blank/Ruggles 1996: 59 f.).89 Neuere Untersuchungen in der Bundesrepublik Deutschland auf Grundlage von Haushaltsdaten belegen weiterhin recht hohe, teilweise höhere QNI als in den genannten Studien. Beispielsweise errechnete Regina T. Riphahn, unter zusätzlicher Berücksichtigung anrechenbaren Vermögens, in ihrer Studie auf Grundlage der EVS-Daten für das Jahr 1993 eine Quote der verdeckten Armut von 2,04%. Das impliziert eine QNI von 62,7% (vgl. Riphahn 2000: 15).90 Joachim R. Frick und Hilke Kayser wiesen auf Grundlage der Daten des SOEP für das Jahr 1996 eine Quote der verdeckten Armut von 4,1% nach, wobei sie aber anrechenbares Vermögen nicht berücksichtigten (vgl. Frick/Kayser 2000: 13 f.).91 Die korrespondierende QNI betrug hier 63,1% (ebenda: Tabellen 1 und 2). Eine weitere interessante empirische Studie zur Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfe liegt mit der Arbeit der Forschergruppe Joachim Wilde und Alexander Kubis auf Basis der ersten Welle des bundesweit erhobenen Niedrigeinkommenspanels (NIEP)92 1999 vor. Dem ermittelten Bedarf an Sozialhilfe wurde 88

Bei diesen Ergebnissen ist zu berücksichtigen, dass die Studie nur Repräsentativität für die Grundgesamtheit der 38.738 Klientinnen der Einrichtungen von Diakonie und Caritas im Jahr 1996 behaupten kann. Werden die Positionen 5 und 7 (aktuell kein Sozialhilfebezug [HLU], aber aktuell verdeckt arm; weder aktuell noch früher Sozialhilfebezug [HLU]), aber aktuell verdeckt arm) in Beziehung zu Position 1 gebracht (aktuell Sozialhilfebezug [HLU]) errechnet sich eine QNI von ca. 60% (eigene Berechnung aus den Tabellenangaben). 89 Ausgewiesen werden hier nicht die Quoten der Nichtinanspruchnahme (QNI), sondern die Quoten der Inanspruchnahme (QI). 90 Ohne Berücksichtigung von Vermögen ergibt sich sogar eine QNI von 77% (ebenda: Tabelle 3). 91 Die Erfahrungen des SOEP mit der Abfrage von Vermögen im Jahre 1988 waren negativ (Gründe: unbefriedigende Zuverlässigkeit und Vollständigkeit der erhobenen Daten sowie Beeinträchtigung der Teilnahmemotivation). Über ein Jahrzehnt lang wurde Vermögen daher nicht mehr abgefragt. Erst im Jahr 2002 war Vermögen wieder Schwerpunktthema (vgl. SOEP 2002: 11). 92 Beim Niedrigeinkommenspanel handelt es sich um eine vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung in Auftrag gegebene und von Infratest Sozialforschung seit 1999 telefonisch durchgeführte Wiederholungsbefragung für den unteren Einkommensbereich.

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hier, wie bei den anderen Studien auch, das anrechenbare Haushaltsnettoeinkommen gegenübergestellt. Vermögen wurde dabei berücksichtigt. Auf Grundlage dieser Berechnung konnte eine QNI von 43,3% ermittelt werden (vgl. Wilde/Kubis 2004: 6). Wird das Vermögen vernachlässigt, kommen die Forscher auf eine QNI von 49%, was den Ergebnissen der Studien, die vor dem Jahr 2000 veröffentlicht wurden, näher kommt. Bisher wurden die Quote der verdeckten Armut und die Quote der Nichtinanspruchnahme nicht nach bestimmten soziodemographischen Merkmalen differenziert. Aber auch dazu liegen Ergebnisse vor. Was die Quote der verdeckten Armut (QVA) anbelangt, kommen verschiedene Studien zu dem Schluss, dass Paar- und Alleinerziehenden-Haushalte mit Kindern überproportional stark von Armut betroffen sind. Beispielsweise waren laut Hertz/Neumann im Jahr 1991 7,9% und im Jahr 1995 7,5% aller Alleinerziehenden in Deutschland verdeckt arm (vgl. Hertz/Neumann: 48, 70). Diese Ergebnisse lassen einen positiven Zusammenhang zwischen der Anzahl der Kinder und hoher Armuts-Betroffenheit vermuten. Wie die empirisch-deskriptive Analyse von Hertz/Neumann aber belegt, wächst die Quote der verdeckten Armut generell mit der Anzahl der in einem Haushalt lebenden Personen (ebenda: 44, 67)93, so dass es nicht überraschend ist, dass auch die größeren Haushalte von Paaren mit Kindern eine hohe QVA aufweisen. So war das Ausmaß der verdeckt Armen unter den Personen sehr hoch, die sich Paarhaushalten mit Kindern unter 16 Jahren zurechnen ließen (QVA=3,8% für das Jahr 1991 und QVA=3,0% für das Jahr 1995). Sehr gering hingegen ist das Ausmaß der verdeckten Armut bei Paaren ohne Kinder (QVA=1,9% für das Jahr 1991; QVA=0,7% für das Jahr 1995, ebenda: 48, 70). Ähnliche Aussagen lassen sich auch auf Basis der Ergebnisse der Studie von Frick/Kayser treffen, auch wenn aufgrund unterschiedlicher Untersuchungseinheiten (Haushalte statt Personen) eine direkte Vergleichbarkeit nicht gegeben ist. Demnach waren 1996 ca. 10,9% aller Alleinerziehenden-Haushalte als verdeckt arm zu bezeichnen. Haushalte ohne Kinder wiesen demgegenüber eine ziemlich geringe QVA von nur ca. 2% auf (vgl. Frick/Kayser 2000: eigene Berechnungen auf Grundlage der Angaben in Tabelle 2). Relativ hohe Quoten der verdeckten Armut können allerdings mit relativ geringen Quoten der Nichtinanspruchnahme einhergehen. Beispielsweise belegt die Studie auf Grundlage der EVS-Daten von 1993 eine eher geringe QNI für Alleinerziehenden-Haushalte (vgl. dazu Riphahn 2000, Tabelle 4). Demnach bezogen nur ca. 36% der anspruchsberechtigten Alleinerziehenden-Haushalte keine Sozialhilfe. Gemäß den Ergebnissen der Studie von Frick/Kayser ist die QNI 93

Single-Haushalte stellen hier allerdings eine Ausnahme dar (QVA=2,9% für das Jahr 1991 und QVA=4,2% für das Jahr 1995, ebenda: 44, 67).

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dieser Haushalte noch geringer (QNI=28,1%, vgl. Frick/Kayser 2000: 37, Tabelle 2). Die Studie von Wilde/Kubis weist ebenfalls eine geringere QNI von 33,5% aus, bleibt aber über den Ergebnissen von Frick/Kayser (vgl. Wilde/Kubis 2004: 8, Tabelle 2). Verheiratete Paare mit Kindern wiesen im Gegensatz zu Alleinerziehenden-Haushalten in der Studie von Riphahn eine wesentlich höhere QNI von ca. 56% auf. Die Studie von Frick/Kayser lässt ähnliche Ergebnisse vermuten.94 Noch höhere QNI lassen sich für Single-Haushalte (QNI=73,8%) und Haushalte von verheirateten Paaren ohne Kinder belegen (QNI=73,86%).95 Hier drängt sich der Eindruck auf, dass die Sozialtransfers bestimmte Sozialhilfe-Klientel trotz Anspruchsberechtigung nicht oder nur suboptimal erreichen. Das bestätigt sich auch dann, wenn nach anderen soziodemographischen Merkmalen differenziert wird. Besonders hohe QNI haben beispielsweise Haushalte mit Vorständen, die über eine Abiturausbildung verfügen, Haushalte in Ostdeutschland und in ländlichen Regionen sowie Selbstnutzer von Wohneigentum. Eine besonders geringe QNI haben dagegen Haushalte mit schwerkranken bzw. pflegebedürftigen Personen (vgl. Wilde/Kubis: 2004: 8). Der Eindruck von hohen Quoten der Nichtinanspruchnahme relativiert sich jedoch beträchtlich, wenn nach der Höhe der Sozialleistungen gefragt wird, die nicht bezogen werden. Wie die Autoren Wilde/Kubis belegen können, war die QNI in der Gruppe derjenigen, die einen Sozialhilfeanspruch bis zu 200 DM hatten, besonders hoch (QNI >80“), während sie mit zunehmender Anspruchshöhe kontinuierlich sinkt. Beispielsweise lag die QNI in der Gruppe derjenigen, die einen Anspruch von mehr als 1200 DM hatten, nur noch bei unter 10% (ebenda: 10, Abb. 1). Dieser Zusammenhang wird in ähnlicher Weise auch von den Studien der Autoren Riphahn (vgl. Riphahn 2000: 16 und Tabelle 4 im Anhang) und Frick/Kayser (vgl. Frick/Kayser 18 f., 36, Abbildung 1) bestätigt. Die umfangreichen Ergebnisse der deskriptiven Datenanalyse zur Frage der Nichtinanspruchnahme verdichten sich damit zu der Vermutung, dass nicht jeder Sozialhilfebetrag abgerufen wird, so wie es die alleinige Betrachtung des finan94

Die Forscher verwenden eine andere Gruppierung der Haushaltsvariable. Frick/Kayser schätzen für Mehr-Erwachsenen-Haushalte mit Kind(ern) eine QNI von 66,8%, Wilde/Kubis belegen für PaarHaushalte eine QNI von 51,2%, wobei sie nicht nach Paaren mit und ohne Kinder differenzieren. Falls sich jedoch Kinder unter drei Jahren nachweisen lassen, kommen sie auf eine QNI von 30,8%. 95 Aufgrund einer anderen Gruppierung der Haushaltsvariable lässt sich hier wiederum bei den beiden anderen Studien keine direkte Vergleichbarkeit herstellen. Frick/Kayser geben keine Ergebnisse für Single-Haushalte an. Für Mehr-Erwachsenen-Haushalte ohne Kind(er) errechnen sie eine QNI von 73,9%, was die Ergebnisse von Riphahn insofern bestätigt. Wilde/Kubis differenzieren nicht zwischen Paaren mit und ohne Kinder (vgl. vorherige Fußnote). Was Single-Haushalte anbelangt, ist ihr Ergebnis einer QNI von 43,6% allerdings deutlich von den Ergebnissen der Riphahn-Studie verschieden.

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ziellen Nutzens von Sozialleistungen nahe legen würde. Es drängt sich damit der Eindruck auf, dass bisherige ökonomietheoretische Einsichten zum Zusammenhang zwischen Sozialleistungsbezug und Arbeitsmotivation die Realität nicht adäquat reflektieren. Es ist somit davon auszugehen, dass die Entscheidung für den Sozialhilfebezug, oder genereller für Sozialleistungsbezug, nicht nur von der Anspruchsberechtigung abhängt, sondern auch von weiteren Faktoren. In der US-amerikanischen Literatur werden hier schon seit längerer Zeit neben dem pekuniären Nutzen des Bezugs von Sozialleistungen die Kosten des Bezuges diskutiert (vgl. z.B. Moffit 1983, Ashenfelter 1983 und die Diskussion in Riphahn 2000: 3 ff. und Frick/Kayser 2000: 7 f., sowie Currie 2003). Neben diesen ökonomietheoretischen Arbeiten widmen sich dem Entscheidungsverhalten von anspruchsberechtigten Personen bzw. Haushalten im Zusammenhang mit Nichtinanspruchnahme auch soziologische Beiträge (vgl. z.B. Craig 1991, Van Oorschot 1991, 1994, 1995, 1998, Blomberg/Peterson 1999). Seit den 1980er Jahren wird dazu auch empirisch geforscht. Verschiedenes Datenmaterial wurde mit Hilfe multivariater Verfahren ausgewertet. Aus empirischer Sicht ist hier für den Bereich der Sozialhilfe in den USA (AFDC) eine ältere Studie von Robert Moffit und eine jüngere Studie von Rebecca M. Blank und Patricia Ruggles zu erwähnen, für den Bereich der amerikanischen Arbeitslosenversicherung (UI), die Studie von Patricia M. Anderson und Bruce D. Meyer. Moffitt beispielsweise betrachtet den Beginn von und den Verbleib im Sozialleistungsbezug als Folge von Nutzenmaximierungsentscheidungen (vgl. Moffitt 1983). Der Nutzen definiert sich hierbei aus der Höhe der Sozialleistungen und der Höhe weiterer Einkommen. Dem Nutzen des Bezuges stehen Kosten des Bezugs (Stigma) gegenüber. Unter den Kosten trifft Moffitt eine Unterscheidung zwischen fixen Kosten („flat stigma“) und variablen Kosten („variable stigma“). Fixe Kosten sind direkt an den Sozialleistungsbezug gebunden. Variable Kosten sind eine Funktion der Transferhöhe. Für sich allein gesehen würden fixe Kosten mit zunehmender Transferhöhe auf eine immer stärkere Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme hinauslaufen. Variable Kosten laufen diesem Trend entgegen. Datengrundlage der Studie sind 565 weibliche Haushaltsvorstände der 1976er Welle der Panel Study of Income Dynamics (PSID). In seiner empirischen Arbeit ist Moffitt in der Lage zu zeigen, dass sowohl fixe als auch variable Kosten der Programmteilnahme existieren. Die stärkere Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme mit wachsender Anspruchshöhe als Ausdruck fixer Kosten ist kaum überraschend. Erstaunlich ist aber die Signifikanz des variablen Effektes, der den Bezug von geringen Beträgen erklärbar macht und eigentlich variables Stigma indiziert. Verantwortlich für diesen Effekt ist, laut Moffitt, aber nicht die Existenz von Stigma, welches mit der Transferhöhe zunimmt, sondern die Praxis der Vergabe von Sozialleistungen. So ist der 143

Bezug von AFDC Voraussetzung für den Bezug weiterer Sozialleistungen (z.B. Medicaid, Food Stamp). Gegenüber dem Entscheidungsmodell von Moffitt berücksichtigen Richard Blundell et al. in ihrer Untersuchung der Inanspruchnahme von Wohngeld (Housing Benefit) in Großbritannien die Kosten der Inanspruchnahme nicht in einer Nutzenfunktion, sondern in einer expliziten Kostenfunktion (vgl. Blundell et al. 1988). Bei den Kosten handelt es sich hier ausschließlich um fixe Kosten. Sozialleistungsbezug ist diesem Modell zufolge dann wahrscheinlich, wenn der Nutzen die Antrags- und Stigmakosten übersteigt. In ihrer empirischer Untersuchung des einkommensabhängig gewährten Wohngeldes auf Grundlage der Daten des Family Expenditure Surveys (FES) finden sie, als Ergebnis einer ProbitSchätzung, einen positiven Zusammenhang zwischen Anspruchshöhe und Inanspruchnahme.96 Das kann als ein Indiz für die Annahme fixer Kosten, die ausschließlich an der Entscheidung für die Aufnahme von Sozialleistungsbezug gebunden sind, gewertet werden. Die Entscheidung für den Bezug von Wohngeld ist aber ebenfalls von weiteren Faktoren abhängig. Hier sind Haushaltscharakteristika von großer Bedeutung. Beispielsweise reduziert das Vorhandensein von zusätzlichen Haushaltseinkommen die Inanspruchnahme von Wohngeld. Einen Einfluss auf die Inanspruchnahme hat ebenfalls der Status der Unterbringung. Mieter von kommunalem Wohneigentum bezogen in stärkerem Ausmaß Wohngeld als Mieter von privatem Wohneigentum. Bei den bisher diskutierten Studien handelt es sich um Studien, die die zeitliche Dimension von Entscheidungen für oder gegen Sozialleistungsbezug vernachlässigen, also rein statisch angelegt sind. Die Forscherinnen Blank und Ruggles beziehen in ihrer Studie über den Bezug von Sozialhilfe hingegen die zeitliche Dimension von Sozialleistungsbezugsentscheidungen, durch die Anwendung von Verfahren der Ereignisanalyse in vollem Umfang mit ein. Um die zeitliche Dimension berücksichtigen zu können, definieren sie die latente Neigung des Sozialleistungsbezugs als Funktion eines aktuellen aber zeitabhängigen Sozialleistungsnutzen-SozialleistungskostenVergleiches. Bei den Kosten unterscheiden sie zwischen direkten und indirekten Kosten. Bei den direkten Kosten handelt es sich um monetäre Kosten und Zeit, welche für die Beantragung und Pflege der Anspruchsberechtigung anfallen, bei indirekten Kosten um Stigma. Im Unterschied zu anderen Studien erweitern sie ihr ökonomietheoretisches Modell um Erwartungen über das zukünftig erzielbare Einkommen (vgl. Blank/Ruggles 1996: 60-62). Zur Überprüfung ihrer Hypothesen verwenden sie die Daten des Survey of Income and Program Participation (SIPP) von 1986 und 1987, welche eine Beo96

In ihrer empirischen Analyse berechnen sie zwei Modelle. Das eine Modell basiert auf dem Rentner-Sample (n=1.091), das andere auf dem Erwerbsfähigen-Sample (n=553).

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bachtung von Sozialhilfeanspruchsberechtigung und Sozialhilfebezugszeiten (AFDC, dasselbe gilt für Foodstamp) über die Zeitspanne von 28 Monaten erlauben. Aus 3.507 Episoden von 3.201 alleinerziehenden Frauen mit Kindern nicht älter als 18 Jahren, selektierten die Forscherinnen 2.375 Episoden mit Sozialhilfe-Anspruchsberechtigung. Von diesen gingen 1.224 Episoden tatsächlich mit Sozialhilfebezug einher. Bei der multivariaten Datenanalyse kamen Ereignisdatenmodelle konkurrierender Risiken zur Anwendung, die eine Differenzierung des Verbleibs nach dem Ende der Episode erlauben. Im Einzelnen handelt es sich hier um die Ereignisse „Änderung der Familienzusammensetzung“ (meistens Heirat) und „anderes“ (hauptsächlich höhere Einkommen). In einem anderen Modell wurden nur diejenigen Episoden mit Sozialhilfeanspruchberechtigung selektiert, die nicht unmittelbar, also nicht bereits im ersten Monat, mit Aufnahme der Geldtransfers einhergingen. Als alternative Abgangswege kommen hier der spätere Bezug von Sozialhilfe (ab Beginn des zweiten Monats der Anspruchsberechtigung oder später) oder das Erlöschen der Anspruchsberechtigung in Frage. Die Ergebnisse der Datenanalyse lassen sich tatsächlich gemäß den Hypothesen von Blank/Ruggles interpretieren. So scheint es sozioökonomisch begünstigten Gruppen in den USA relativ schnell zu gelingen eine Situation mit Sozialhilfeanspruchsberechtigung zu überwinden: Den Ergebnissen der Verlaufsdatenanalyse zufolge sind die Chancen weißer, nicht behinderter, älterer Personen, mit weniger Kindern, in der Zeit einer AFDC-Anspruchsberechtigung, einen nicht auf Sozialtransfers begründeten Einkommenszuwachs zu erzielen, relativ hoch (ebenda: 72, 74). Das gleiche gilt für längere Ausbildungszeiten, was die Interpretation nahe legt, dass es gerade Personen mit einer (üblicherweise) vergleichsweise besseren Einkommensentwicklung sind, welche auf Sozialhilfe verzichten. Ähnliche Schlussfolgerungen können bei Veränderung der Familienzusammensetzung (vornehmlich Heirat) gezogen werden, nur dass hier die jüngeren (weißen?) Frauen mit geringeren Ausbildungszeiten besser zum Zuge kommen. Einen ebenfalls dynamischen Ansatz verfolgen Patricia M. Anderson und Bruce D. Mayer in ihrer Studie über die Gründe von Nichtinanspruchnahme der Leistungen der US-amerikanischen Arbeitslosenversicherung (UI). Ihren Modellimplikationen bzw. Hypothesen gemäß beziehen Anspruchsberechtigte genau dann Leistungen der UI, wenn (über die zu erwartende Dauer einer Arbeitslosigkeitsepisode hinweg) die Nutzendifferenz zwischen einer Situation mit und ohne Geldtransfers die Kosten der Inanspruchnahme übersteigt. Höhere Geldtransfers, geringere Kosten der Inanspruchnahme und längere Dauer der Inanspruchnahme würden demnach die Wahrscheinlichkeit des Sozialleistungsbezugs erhöhen.

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Als Datengrundlage für den empirischen Test ihrer Hypothesen dienen administrative Daten aus sechs US-amerikanischen Bundesstaaten97, die als Teil des „Continuous Wage and Benefit History“-Projektes in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren erhoben wurden. Hier waren den Forschern zwei Arten von Daten zugänglich. Im ersten Fall handelt es sich um vierteljährlich erhobene Lohndaten, ergänzt um Firmeninformationen und Beschäftigungssektor. Über Firmen- und Personenidentifikationsnummern können diese Daten zusammengeführt werden, was die Erstellung von beruflichen Biographien und die Identifizierung der Beendigung von Beschäftigungsverhältnissen („Abgängen“) gestattet. Im zweiten Fall handelt es sich um wöchentliche Informationen über erhaltenes Arbeitslosengeld, was durch Zusammenführung mit den Lohndaten die Beantwortung der Frage ermöglicht, ob Firmenabgänge in Arbeitslosengeldbezug resultierten oder nicht. Aus den Lohndaten konnten die Forscher insgesamt 980.266 Beendigungsdaten mit einer UI-Anspruchsberechtigung identifizieren, wobei 23,6% (resp. ca. 231.350 Personen) mit nachfolgendem UI-Bezug gekoppelt waren.98 In ihrer multivariaten Datenanalyse spezifizierten Anderson/Meyer Modelle linearer Wahrscheinlichkeiten und konnten nachweisen, dass die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme von UI mit steigender Anspruchshöhe wächst. Das gleiche gilt für die zu erwartende Dauer des UI-Bezuges, die die Forscher in Abhängigkeit von früheren Arbeitsverdiensten definieren. Weiterhin wurden die Höhen der Erwerbseinkommen in Abhängigkeit von der anfallenden Einkommensteuer, und die nach Abzug von Einkommensteuer verbleibende Summe der Arbeitslosengeldbezüge, einbezogen. Hier zeigt sich im Modell tatsächlich ein Effekt, der sich so interpretieren lässt, dass höhere Erwerbseinkommen (nach Steuern) die Antragswahrscheinlichkeit reduzieren. Wie von Anderson/Meyer ebenfalls erwartet, hat die nach Steuerabzug verbleibende Höhe des Arbeitslosengeldes, genauso wie die Arbeitslosengeldhöhe vor dem Steuerabzug, einen die Antragswahrscheinlichkeit erhöhenden Einfluss. Auch die Studie von Regina T. Riphahn verwendet den dynamischen Ansatz von Anderson/Mayer, wobei sie aber die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen in der Bundesrepublik Deutschland untersucht. Allerdings basieren ihre Ergebnisse nur auf einem Jahrgang der Einkommens- und Verbraucherstichprobe (EVS 1993). Bei dieser Erhebung folgen einem Eingangsinterview 97

Im Einzelnen handelt es sich um die Bundesstaaten Georgia, Idaho, Louisiana, Missouri, New Mexico, South Carolina. 98 Zusätzlich wurden zwei kleinere Samples erstellt, wobei in einem Fall Fehlbeobachtungen („spurious transitions“, sofortige Neuanstellungen, Arbeitsmarktabgänge) ausgeschlossen wurden (n=505.808, davon 39,1% mit anschließendem UI-Bezug). Im anderen Fall wurden nur diejenigen Beobachtungen beibehalten, die sich auf Entlassungen von Firmen zurückführen lassen, die mindestens 5%, ihrer Belegschaft verloren (Massenentlassungen) bzw. mindestens fünf Beschäftigte.

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am Anfang des Jahres (1.Januar), monatliche Aktualisierungen seitens der Teilnehmer und ein Schlussinterview am Ende des Jahres (31. Dezember). Auf diese Weise umfasste die EVS im Jahre 1993 die Angaben von 40.230 Haushalten in der Bundesrepublik Deutschland. Die Ergebnisse der Probit-Schätzung basieren auf den Angaben von 740 sozialhilfeberechtigten Haushalten. Auf dieser Grundlage lässt sich nachweisen, dass höhere finanzielle Ansprüche die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme steigern (resp. die Wahrscheinlichkeit der Nichtinanspruchnahme senken). Weil die EVS 1993 nur eine sehr eingeschränkte dynamische Modellierung gestattet, wurden in die Untersuchung Proxy-Variablen einbezogen, die die Überprüfung des Zusammenhangs zwischen Bezugsdauer und (Nicht-) Inanspruchnahme gestatten. Dazu gehört der Erwerbsfähigkeitsstatus der Haushaltsvorstände (z.B. Haushaltsvorstand ist Rentner) und das Vorhandensein von Kindern unter sieben Jahren in Alleinerziehenden-Haushalten. In beiden Fällen ist, laut Riphahn, davon auszugehen, dass aufgrund längerer Bezugszeiten die Wahrscheinlichkeit der Nichtinanspruchnahme geringer ist als bei anderen Anspruchsberechtigten. Das gleiche gilt für schlecht ausgebildete Personen. Besitzer selbst genutzten Wohneigentums sollten hingegen eine höhere Wahrscheinlichkeit der Nichtinanspruchnahme aufweisen. Alle diese Hypothesen werden durch die Ergebnisse der Datenanalyse bestätigt, mit Ausnahme des Rentner-Items. Zu dieser Ausnahme passt jedoch die Betrachtung der Analyseergebnisse für die Kosten des Bezugs, welche in Form höheren Stigmas bei älteren Personen aber nicht angezeigt wird.99 Angezeigt werden hingegen höhere Stigmakosten von Haushalten in kleineren Städten und Gemeinden mit weniger als 20.000 Einwohnern100 Ebenfalls für eine höhere Wahrscheinlichkeit der Nichtinanspruchnahme sprechen höhere Kosten, die durch die Beantragung entstehen. Hierfür kommen insbesondere Haushalte mit ausländischen Haushaltsvorständen in Betracht, die vor dem Problem erschwerter Informationsbeschaffung stehen. Obwohl in diesem Fall der vermutete Effekt der Richtung nach angezeigt wird (die Wahrscheinlichkeit der Nichtinanspruchnahme [!] ist höher), kann er nicht auf signifikantem Niveau abgesichert werden.

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Tatsächlich lässt sich zwar kein Effekt speziell für Rentner belegen. Aber bei der Betrachtung des Lebensalters zeigt sich ein signifikanter Effekt, der eine geringere Nichtinanspruchnahme anzeigt und damit für die Überlegung spricht, dass die Stigmakosten älterer Personen nicht hoch genug ist, um sie von der Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen abzuhalten. 100 Erhöhte Stigmakosten werden ebenfalls für Männer und Ostdeutsche vermutet, niedrigere dagegen für Haushalte mit Kindern unter 16 Jahren und Bewohner von Großstädten. Für Männer, Ostdeutsche und Großstadtbewohner weist das Probit-Modell jedoch keine signifikanten Effekte aus, wohingegen sich der Effekt bei Vorhandensein von Kindern bestätigt.

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Eine weitere hypothesentestende Studie im Zusammenhang mit Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen liegt mit der Publikation von Joachim R. Frick und Hilke Kayser vor (vgl. Frick/Kayser 2000). Für die empirische Auswertung unter Anwendung einer Probitschätzung wurden Daten von 429 sozialhilfeanspruchsberechtigten Haushalten selektiert. In ihren Hypothesen lehnen sich die Forscher stärker an den Ansatz von Blank/Ruggles an, die die Bezugsentscheidung in Abhängigkeit eines Sozialleistungsnutzen-Sozialleistungskosten-Vergleiches unter Beachtung direkter und indirekter Kosten und der zukünftigen Einkommensentwicklung sehen. Auf Grundlage von prognostizierten Einkommen können Frick/Kayser nachweisen, dass die Erwartungen über die zukünftige Einkommensentwicklung einen Einfluss auf die Inanspruchnahmeentscheidung haben. Demnach bestätigt sich die Hypothese, dass Personen mit prognostizierten höheren Zukunftseinkommen eine geringere Inanspruchnahmewahrscheinlichkeit besitzen (vgl. hier noch einmal die Ergebnisse von Blank/Ruggles). Ebenfalls haben direkte Kosten der Beantragung einen Einfluss auf die Inanspruchnahme. Demzufolge tragen hohe Informationskosten zu einer Entscheidung gegen Sozialhilfebezug bei (z.B. Ausländer, aber nicht signifikant), während niedrige Informations- und Wegekosten (repräsentiert durch die Proxy-Variablen „Angehörige von Haushalten ohne Kinder“, signifikant; „Bewohner von Großstädten“, „Gut ausgebildete Personen“, signifikant für einige Modelle) zur Entscheidung für Sozialhilfebezug beitragen. Ebenfalls bestätigen können Frick/Kayser die Relevanz von indirekten Kosten. Demzufolge leisten hohe Stigmakosten einen Beitrag zur Entscheidung gegen Sozialhilfebezug, geringe Kosten hingegen dafür. Als Approximation für hohe Stigmakosten kommt die in das Modell aufgenommene Variable „Religiöse Bindung“ in Frage. Hier zeigt sich in klarer Weise, dass Haushalte mit religiös nicht gebundenen Haushaltsvorständen in signifikant höherem Ausmaß zu Sozialhilfebezug neigen. Das gleiche gilt für ältere Personen (signifikant für ein Modell). Allerdings reduziert sich die Wahrscheinlichkeit des Sozialhilfebezugs ab einem Alter von 50 Jahren wieder. Schließlich zur Betrachtung der Kinderanzahl: Auch diese kann als Indikator für Stigma gewertet werden und steht im erwarteten positiven Zusammenhang zum Sozialhilfebezug. Joachim Wilde und Alexander Kubis folgen ebenfalls dem Ansatz von Blank/Ruggles. Für ihr ökonometrisches Modell verwenden sie aber zwei Strukturgleichungen, womit sie über das Modell von Frick/Kayser hinausgehen. Gemäß der ersten Gleichung ist die Neigung zur Teilnahme am Sozialhilfeprogramm eine Funktion der Nutzendifferenz zwischen Teilnahme und Nichtteilnahme, abzüglich der Kosten, die durch die Teilnahme entstehen. Hier wird wieder zwischen direkten (hauptsächlich monetären) und indirekten Kosten (Stigma148

tisierung) unterschieden. Außerdem werden (z.T. objektive) Erwartungen über die Dauer der Bedürftigkeit, sowie die mögliche Unkenntnis über das Recht auf Sozialhilfe (HLU) in die Gleichung einbezogen.101 In der zweiten Gleichung wird angenommen, dass das Erwerbseinkommen selbst eine Funktion der Teilnahmeneigung ist. Unter Erwerbseinkommen summieren sich hier aber nicht ausschließlich Einkommen aus abhängiger Beschäftigung, sondern auch Transferzahlungen, deren Höhe direkt von Erwerbseinkommen abhängen (z.B. Wohngeld, Arbeitslosengeld). Den Ergebnissen der Datenanalyse zufolge haben – wie von den Forschern erwartet – der Einkommensnutzen der Sozialhilfe einen positiven, die Stigmatisierungskosten einen negativen Einfluss auf die Antragsentscheidung. Der Einfluss der monetären bzw. zeitlichen Kosten konnte hingegen nicht nachgewiesen werden. Demgegenüber zeigt sich bei den Erwartungen über die Bezugsdauer ein nachweisbarer Effekt. Das gilt aber nicht für die Gruppe der Indikatoren für das Humankapital (Qualifikationen) oder die subjektiven Erwartungen über die wirtschaftliche Lage und persönliche Arbeitsplatzaussichten, die allesamt keine Signifikanz anzeigen, sondern nur für die Restriktionen der Erwerbsfähigkeit. Demnach hat die Zugehörigkeit zu einem Haushalt mit einem schwer kranken Angehörigen einen signifikant positiven Einfluss auf die Inanspruchnahme von Sozialhilfe. Das gleiche gilt für die Zugehörigkeit zu Alleinerziehenden-Haushalten. Ein Einfluss fehlender Kenntnisse über die Bezugsberechtigung konnte demgegenüber aber nicht nachgewiesen werden.

101 Der Nutzen der Sozialhilfe wird über die Höhe des Sozialhilfebetrages und einer Dummyvariable, die die finanzielle Zufriedenheit misst, operationalisiert. Direkte monetäre Kosten und Kosten des Zeitaufwandes können nur vergleichsweise ungenau über die Größe des Wohnortes der Angehörigen eines Haushaltes berücksichtigt werden, wobei Bewohner von Großstädten tendenziell kürzere Anfahrtswege zum Sozialamt haben sollten als Bewohner ländlicher Regionen. Unter der Annahme das ausländische Haushaltsvorstände einen höheren Zeitaufwand aufgrund von Sprachproblemen und der Unkenntnis des deutschen Rechtssystem haben könnten, fällt auch dieser Umstand in die Rubrik monetäre Kosten. Stigmatisierung wird u.a. auch durch einen Großstadtdummy operationalisiert, wobei angenommen wird, dass die Bewohner ländlicher Regionen mit höheren Stigmatisierungskosten konfrontiert werden als die Bewohner von Großstädten. Für Erwartungen über die Dauer des Bezuges operationalisierten die Forscher Dummys, die in einem Verhältnis zur Dauer des Bezuges stehen könnten (z.B. optimistische Einschätzung der wirtschaftlichen Lage und der persönlichen Arbeitsplatzaussichten), das Humankapital des Haushaltsvorstandes (Hochschulabschluss, Abitur, abgeschlossene Berufsausbildung) und Restriktionen der Erwerbsfähigkeit (z.B. schwer kranke Haushaltsmitglieder oder Alleinerziehenden-Haushalte ohne erwachsene Kinder). Ein Dummy, welcher das Vorhandensein von Wohneigentum misst, steht für die mögliche Unkenntnis von Anspruchsberechtigungen, wobei davon ausgegangen wird, dass Angehörigen von Haushalte mit Wohneigentum nicht bekannt ist, dass sie unter Umständen auch dann anspruchsberechtigt sind, wenn sie Wohneigentum besitzen.

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Exkurs: Working Poor in der Bundesrepublik Deutschland Eine Betrachtung von verdeckt armen Personen wird aber noch nicht der Tatsache gerecht, dass sich darunter auch Personen befinden, die erwerbstätig sind und deren Einkommen unter einer bestimmten (Niedrig-)Einkommensschwelle102 liegt. Hier macht es Sinn von „Working Poor“ oder erwerbsarmen Personen zu sprechen. Wie die schon zitierte Forschungsarbeit von Hertz/Neumann auf Basis der SOEP-Schätzungen belegt, befinden sich unter der Population der verdeckt Armen (unter Zugrundelegung der Sozialhilfe als Einkommensschwelle) im Jahr 1991 ca. 1,1 Mio. und im Jahr 1995 ca. 0,9 Mio. erwerbstätige Personen (vgl. Hertz/Neumann 1998: 50, 71 f.). Noch differenzierter sind in dieser Frage die Arbeiten der Forschergruppe Bäcker/Hanesch (vgl. Bäcker/Hanesch 1998; Bäcker 1999). Ihre Analysen auf Basis der SOEP-Daten verzichten zwar auf die Angabe einer Anzahl der direkt von Erwerbsarmut betroffenen Personen, können aber als Meilenstein bei der Erforschung von „Armut trotz Arbeit“ betrachtet werden. Sie stützen sich auf eine Auswertung des Sozio-oekonomischen Panels der Wellen von 1987 und 1995. Forschungsleitend waren folgende Fragen: (1) In welchem Umfang existieren niedrige individuelle Erwerbseinkommen in der BRD? (2) Wie schlagen sich solche niedrigen individuellen Arbeitseinkommen im Haushaltseinkommen nieder? Zur Beantwortung von (1) betrachteten die Autoren den Anteil an Personen, die nur über einen Verdienst bis zu einer Höhe von 75% des bundesdeutschen Durchschnittsverdienstes verfügen (individuelle Ebene: Niedrigverdienstquote). Zur Beantwortung von (2) betrachteten sie den Anteil von Personen, die über ein Einkommen unter der 50% und der 75% - Schwelle des gesamtwirtschaftlichen Haushaltdurchschnittseinkommen verfügt (Haushaltsebene: Armuts- und Niedrigeinkommensquoten). Wie die Autoren anhand der Daten belegen können, entfielen 1995 auf die Einkommensklasse bis 50% des Durchschnittsverdienstes 24% der Erwerbseinkommen und auf die Einkommensklasse bis 75% weitere 24%. Das bedeutet, dass für das untersuchte Jahr 48% aller erwerbstätigen Personen der BRD den beiden untersten Verdienstklassen zuzurechnen sind (!). Nicht jeder NiedrigVerdienst setzt sich natürlich in ein niedriges Haushaltseinkommen um. Aber auch hier geben die Analyseergebnisse wenig Anlass zu Optimismus. Demnach mussten 1995 insgesamt ca. 10% (5,8 Mio.) der Mitglieder aller Erwerbstätigen102 Neben der Sozialhilfeschwelle kommt hier auch die Betrachtung der 50% und 75%-Schwelle des verfügbaren durchschnittlichen Haushaltseinkommen in Frage.

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haushalte zu den Einkommensarmen und weitere 26% (15,5 Mio.) zur Gruppe der Personen gezählt werden, die in einer Situation „prekären Wohlstands“ leben. Zwar sind die entsprechenden Quoten bei Zugrundelegung aller Privathaushalte noch höher, aber es muss darauf hingewiesen werden, dass sich der Anteil der von Einkommensarmut betroffenen Personen zwischen 1987 und 1995 sogar noch leicht erhöht hat. Die Analyse widerlegt noch eine weitere Hintergrundgewissheit: Wie Bäcker/Hanesch weiterhin belegen können, schützen selbst Normalarbeitsverhältnisse nicht in jedem Fall vor Unterversorgung. 7,8% (3 Mio.) aller Personen, die 1995 in Haushalten von Normalarbeitsbeschäftigten wohnten, waren ebenfalls als einkommensarm zu bezeichnen. Als zentrales Ergebnis des Diskussionstands über Erwerbsarmut lässt sich also festhalten, dass sich in der Bundesrepublik nicht nur ein Niedriglohnbereich fest etabliert hat, sondern auch, dass Niedriglöhne in quantitativ bedeutendem Ausmaß mit Erwerbsarmut einhergehen. Die oft beschworene These, dass Arbeit eine Garantie gegen Armut und Unterversorgung bietet, ist damit empirisch widerlegt. Trotzdem können diese ersten Ergebnisse über „Armut trotz Arbeit“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Forschungsfeld jahrelang vernachlässigt wurde. Zwar sind einige Ergebnisse der Forschungen über Sozialhilfeempfänger und Sozialhilfebezug sicher auch auf Erwerbsarme übertragbar (Genau das wurde von der Forschergruppe Andreß im Projekt „Versorgungsstrategien privater Haushalte im unteren Einkommensbereich (VuE)“ versucht). Aber diese Übertragbarkeit hat Grenzen, denn in dem einen Fall entscheiden sich Personen für wohlfahrtsstaatliche Transfers (Sozialhilfebezieher), in dem anderen Fall dagegen – zumindest jedoch nicht dafür (Erwerbsarme). 6.4 Sozialhilfe: Armutsfalle oder Durchgangsstation?

Bisher wurde der Forschungsstand zur Einkommensarmut (6.2), zur verdeckten Armut und damit zur Sozialleistungsbezugsentscheidung (6.3) und zu Erwerbsarmut (Exkurs) referiert. In diesem Abschnitt soll der nationale und internationale Forschungsstand zur Sozialhilfedynamik wiedergegeben werden. Begonnen wird mit der US-amerikanischen Forschung zu AFDC. Hier ist besonders die Studie von Mary Jo Bane und David T. Ellwood (vgl. Bane/Ellwood 1994, Kapitel 2 „Understanding Welfare Dynamics“) erwähnenswert. Die Studie stützt sich auf die Daten der Panel Study of Income Dynamics (PSID).

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Hier wurden verschiedene Teilstichproben selektiert103 und mit einem binomialen Logitmodell ausgewertet. Den Ergebnissen zufolge ist der Anteil der AFDCEpisoden, die innerhalb von drei Jahren beendet wurden sehr hoch (59,6%, ebenda: Tab. 2.1). Langzeitbezug ist vergleichsweise selten. Bane/Ellwood machen aber darauf aufmerksam, dass sich der Anteil derjenigen, die AFDC über längere Zeit beziehen im Laufe der Zeit akkumuliert und ein anderer Teil der AFDC-Bezieherinnen nach dem Abschluss einer AFDC-Episode erneut leistungsabhängig wird (ebenda: 29, 36 f.). Hauptsächlich beeinflussen fünf Variablen die Sozialhilfedynamik: Ausbildung, Familienstand, Arbeitserfahrung, Rassenzugehörigkeit und Behindertenstatus, wobei besonders die drei ersten ein hohes Gewicht besitzen. Lebensalter, Anzahl der Kinder und Lebensalter der Kinder besitzen hingegen nur einen geringen Einfluss. Fokussiert man hingegen die Dynamik des wiederholten Sozialhilfebezugs (zweite und dritte Sozialhilfeepisode), ist erstaunlich, dass die Variablen mit hohem Einfluss auf die Ausstiegsdynamik aus ersten Episoden hier keine Wirkung entfalten. Eine weitere Teilstudie beschäftigte sich im Rahmen dieser empirischen Untersuchung mit der Frage, welchen Anteil bestimmte Gruppen an der Episodenhäufigkeit, an der gegenwärtigen Fallzahl und an Langzeitbezügen (• 10 Jahre) haben. Hier erweist sich beispielsweise die starke Langzeitabhängigkeit von Frauen jünger als 22 Jahre. Sie stellen einen Anteil von 37% an der Gesamtfallzahl zu einem gegebenen Zeitpunkt. 31% dieser jungen Frauen haben eine prognostizierte Verlaufsdauer von 10 Jahren und mehr. Langzeitabhängigkeit betrifft auch Afroamerikaner (47,5%; 33,7%)104, schlecht Ausgebildete (53,5%; 31,3%) und Bezieherinnen ohne bisheriges Beschäftigungsverhältnis (29,3%; 31,9%). Andere Gruppen haben hingegen gute Chancen, nicht langzeitabhängig zu werden. Hier handelt es sich um ältere Frauen, z.B. 31-40 jährige (8,4%; 13,4%), weiße Amerikaner (48,0%; 15,0%), Personen mit Schulabschluss (46,5%; 15,2%), Verheiratete (2,5%; 0,5%), aber auch Geschiedene (17,7%; 12,5%). Soweit eine Klassifikation nach einzelnen Merkmalen. Lässt man Merkmalskombinationen zu, so stellt sich z.B. bei der gemeinsamen Betrachtung der beiden Merkmale »bisher nicht verheiratet (gewesen)« und »Abbruch der Ausbildung« heraus, dass dieser Gruppe 19% aller Personen angehören, die am Anfang einer Sozialhilfeepisode stehen. Die durchschnittliche Dauer beträgt in 103

Im Einzelnen handelt es sich hier um eine Teilstichprobe von 1000 Frauen mit einer ersten Sozialhilfeepisode, eine Teilstichprobe von 1438 Frauen, welche eine erste oder weitere Episode vollendeten und eine Teilstichprobe von 549 Frauen, die eine zweite Sozialhilfeepisode begannen. 104 Zur Interpretation der Angaben in Klammern: Die erste Prozentangabe informiert jeweils über den Anteil der Kategorie an der Gesamtfallzahl, die zweite Prozentangabe über den Anteil derjenigen mit Langzeitbezügen von 10 Jahren und mehr, innerhalb der zugrunde liegenden Kategorie (im konkreten Fall also Afroamerikaner).

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diesem Fall 10,1 Jahre. Desweiteren lassen sich zu einem gegebenen Zeitpunkt 31,2% aller Sozialhilfeempfänger dieser Bezugsgruppe zurechnen. 44,6% der Angehörigen dieser Gruppe haben Verweildauern länger als zehn Jahre. Die Studie beschäftigt sich auch mit den Eintrittsgründen. So wird festgestellt, dass 42% der Bezugsanfänge darauf zurückzuführen sind, dass Frauen Haushaltsvorstand wurden. 38% lassen sich zuvor unverheirateten Frauen zurechnen, die Kinder bekamen und ebenfalls Haushaltsvorstand wurden. Nur insgesamt 7% lassen sich auf Einkommensverluste zurückführen. Als hauptsächliche Beendigungsgründe von AFDC-Bezug fanden die Autoren: Heirat (29,4%), Verlust der Anspruchsberechtigung des Kindes (10,8%) und gestiegenes (alternatives) Transfereinkommen. Aus Sicht der Autoren ist insbesondere der geringe Prozentwert für Übergänge in Arbeit erstaunlich („erhöhtes Erwerbseinkommen“, 25%). Es ist davon auszugehen, dass dieses Ergebnis auf Methodenschwächen zurückzuführen ist (Hierarchie der Abgangsgründe, jährliche Daten), denn andere Studien kommen auf höhere Werte (z.B. die Studien von Rebecca Blank). Weitere Studien liegen für die britische Sozialhilfe vor („Income Support“). Z.B. werteten Michael Noble, Sin Yi Cheung und George Smith Verwaltungsdaten einer nordwestenglischen Stadt aus (vgl. Noble/Cheung/Smith 1998).105 Diese Daten enthalten Angaben zu Geburtsdatum, Partnern, Kindern, Einkommensquellen, Wohnung/Miete, Wohngeld und mehr. Obwohl Daten über sämtliche Haushaltstypen vorliegen, konzentrierten die Autoren die Auswertung auf alleinerziehende Mütter („lone mothers“). Hierbei wurde danach differenziert, auf welchem Weg Personen Sozialhilfe verlassen, entweder durch Arbeitsaufnahme oder durch das Ausweichen auf andere sozialstaatliche Leistungen (Housing Benefit, Council Tax Benefit, Family Credit). Wie die Autoren herausfanden, befanden sich nach drei Jahren nur noch weniger als 50% der untersuchten Alleinerziehenden im Sozialhilfebezug. 9% hatten offensichtlich Arbeit gefunden und bezogen Einkommenshilfen. 26% hatten den Datensatz gänzlich „verlassen“, was bedeutet, dass sie entweder völlig auf sozialstaatliche Leistungen verzichten konnten oder aus der Stadt weggezogen waren. Weitere 16% der erfassten Personen hatten ihren Haushaltsstatus verändert (hauptsächlich durch den Auszug ihrer Kinder). Folgende Variablen wurden in eine multivariate Datenanalyse (logistische Regression) einbezogen: Anzahl der Kinder, Vorhandensein von Kleinkindern, Wohnverhältnisse (Wohnungsbesitz, private Mietverhältnisse, Sozialwohnungen), Alter und Alter bei Geburt des Kindes. 105 Hierbei handelt es sich um Längsschnittdaten (Housing Benefit/Council Tax Benefit: HB/CTB system data of a large town in the North West of England 1988-1996).

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Die Ergebnisse der Datenanalyse belegen, dass sich die Anzahl der Kinder negativ auf die Überwindung der Sozialhilfe auswirkt, während das Vorhandensein von Kleinkindern zunächst in Richtung einer schnelleren Beendigung von Sozialhilfe weist. Dieser Effekt verschwindet allerdings, wenn das Alter der Mütter in das Regressionsmodell einbezogen wird: Je älter die Mütter, desto schwieriger gelingt es, Income Support zu beenden. Auch die Frage der Wohnverhältnisse scheint für Übergänge in Arbeit nicht unbedeutend zu sein. Inhaber von selbst genutztem Wohneigentum gelang es demnach wesentlich besser, sich von Sozialhilfe wieder unabhängig zu machen, während Mieter von Sozialwohnungen hier deutlich schlechter abschnitten. Der Einfluss von Geburten im Teenageralter konnte demgegenüber nicht nachgewiesen werden (negativ, aber nicht signifikant). In einem anderen Modell werden nur die Übergänge von Sozialhilfe in niedrigbezahlte Tätigkeiten untersucht. Hier zeigt sich ebenfalls ein negativer Zusammenhang zwischen Alter, sowie Anzahl der Kinder und den Chancen unabhängig von Sozialhilfe zu leben, während die anderen Faktoren zwar größtenteils genauso interpretiert werden können, wie im ersten Modell, aber dabei die erforderlichen Signifikanzniveaus verfehlen. Eine weitere britische Untersuchung konzentriert sich auf Einkommensdynamiken alleinerziehender Frauen (vgl. Böheim/Ermisch/Jenkins 1999). Dabei geht es nicht nur und nicht vorrangig um Sozialhilfe (Income Support), sondern auch um Unterhaltszahlungen (Maintenance), Arbeitsverdienste, Wohngeld (Housing Benefit) und Sozialleistungen, die bei Beschäftigung im Niedriglohnsektor gezahlt werden (Family Credit). Ausgewertet werden Daten des Britischen Haushaltspanels der ersten sechs Wellen (1991-1996). Zur Anwendung kommen dabei Markov-Modelle erster Ordnung mit Heterogenität. Zu den Ergebnissen: Demnach liegen die jährlichen Eintritts- und Austrittsraten für den Bezug von Sozialhilfe bei 12,4 bzw. 12,7%. Das entspricht einer mittleren Übergangsrate von 5,1 bzw. 5,2 Jahren. Allerdings weisen die Autoren darauf hin, dass durch die Verwendung von Daten auf Jahresbasis (jährliche Interviews) diese Werte nach oben verzerrt sind, weil kurze Sozialhilfeepisoden unberücksichtigt bleiben. In der multivariaten Datenanalyse (logistische Regression) zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit des Übergangs in Sozialhilfe bei Sozialwohnungsmietern höher ist als bei Personen in anderen Wohnverhältnissen. Ebenso wirkt sich eine wachsende Anzahl von Kindern aus. Der Zusammenhang zwischen Alter und Eintrittswahrscheinlichkeit ist hingegen negativ: Ältere Mütter haben diesen Ergebnissen zufolge ein geringeres Sozialhilferisiko. In der Untersuchung zeigt sich auch ein regionaler Einfluss. So ist beispielsweise die Eintrittswahrscheinlichkeit in Wales höher als in London. 154

Zum Einfluss von relevanten Faktoren auf die Wahrscheinlichkeit der Beendigung von Sozialhilfe: Nicht signifikant sind hier u.a. die Variableneinflüsse Alter und Anzahl der Kinder, auch wenn sich bei letzterem ein negativer Zusammenhang andeutet. Das trifft auch auf geschiedene Mütter zu (ebenfalls insignifikant). Höhere Qualifikationen scheinen erwartungsgemäß die Wahrscheinlichkeit der Beendigung von Sozialhilfe zu erhöhen. Zumindest legt diese Deutung die Richtung und Stärke des Variableneffektes nahe, auch wenn das erforderliche Signifikanzniveau verfehlt wird. Gleiches, wenn auch weniger erwartungsgemäß, gilt für Mietverhältnisse bei öffentlichen Trägern (Sozialwohnungen). Allerdings ist dieser Einfluss ebenfalls nicht signifikant. Demgegenüber scheint sich das Vorhandensein von weiteren erwachsenen Personen im Haushalt signifikant positiv auf die Beendigung des Transferbezugs auszuwirken. Weiterhin zeigen sich wieder regionale Besonderheiten: In Wales und in den East Midlands ist die Beendigungswahrscheinlichkeit gegenüber den Transferbeziehern in London signifikant erhöht. Die Ergebnisse zu den regionalen Besonderheiten (Wales) und den Wohnverhältnissen (Sozialwohnungen) legen die Interpretation nahe, dass ein höheres Eintrittsrisiko nicht mit einer längeren Verweildauer im Sozialhilfebezug gekoppelt sein muss, sondern ein höheres Sozialhilfeeintrittsrisiko durchaus mit kurzen Verweildauern einhergehen kann. In der Bundesrepublik Deutschland liegt eine ganze Reihe von empirischen Ergebnissen zum Sozialhilfebezug vor. Hier sind besonders die Ergebnisse des Sonderforschungsbereiches 186 „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“ zu erwähnen. Datengrundlage für die Studie von Petra Buhr bildete die 1983er Sozialhilfeantragskohorte aus der Bremer 10%-Längsschnittstichprobe von Sozialhilfeakten (LSA) (vgl. Buhr 1995). Hier handelt es sich um Daten der Sozialverwaltung der Stadt Bremen. Den 586 Personen dieser Antragskohorte konnten 1.030 Sozialhilfeepisoden zugeordnet werden. Der Median der Bezugsdauer, also der Zeitpunkt, nachdem 50% der Sozialhilfeepisoden bereits beendet waren, lag bei nur 4 Monaten. Zwei und mehr Sozialhilfeepisoden konnten bei 40% der Antragsteller nachgewiesen werden. Legt man Episodenkonzepte zugrunde, die Bezugsunterbrechungen berücksichtigen, ergeben sich höhere Mittelwerte. Bei Betrachtung der Gesamtlänge aller von einer Person verursachten Sozialhilfeepisoden (Nettodauer), ergibt sich z.B. ein Median von etwas über acht Monaten. Werden die Zeiten der Unterbrechung zwischen einzelnen Sozialhilfeepisoden noch zusätzlich berücksichtigt (Bruttodauer), ergibt sich ein Median von 17 Monaten. Die Inspektion von Survivorfunktionen der unterschiedlichen Verweildauerkonzepte belegt, dass nach sechs Jahren beispielsweise weniger als 10% der Einzel-

155

episoden noch nicht abgeschlossen waren. Unter Zugrundelegung von Bruttound Nettodauern waren aber noch ca. 20% der Personen im Bezug. Wie dieses Ergebnis zeigt, gelingt es auch in der Bundesrepublik Deutschland den meisten Personen, die Sozialhilfe relativ schnell zu verlassen. Die Übergangsrate sinkt mit zunehmender Bezugslänge, zeigt aber selbst bei längeren Bezugsdauern noch eine Ausstiegsdynamik an. Hierbei wird aber nicht zwischen unterschiedlichen Wegen aus der Sozialhilfe heraus unterschieden. Ebenso bei der multivariaten Ereignisanalyse. 106 Die Ergebnisse der Datenauswertung belegen die schlechten Ausstiegschancen von Personen mit ungünstigen Merkmalen bzw. Merkmalskombinationen. Zu den ungünstigen Merkmalen, für die ein gesicherter Zusammenhang nachgewiesen werden konnte, zählen Alter (über 50 Jahre), ohne Beruf bzw. ohne Berufsangabe, Vorhandensein jüngerer Kinder (unter sieben Jahre), multiple Problemlagen zu Beginn von Sozialhilfeepisoden und eine schlechte Arbeitsmarktsituation (Arbeitslosenquote über 13%). Für weitere Merkmale konnte kein gesicherter Zusammenhang nachgewiesen werden, aber sie deuten der Richtung nach an, dass sie bezugsverlängernd wirken. Dazu gehören Geschlecht (weiblich), Nationalität (nicht deutsch) und Alleinerziehung. Für das Warten auf vorrangige Sozialleistungen und Arbeitslosmeldung beim Arbeitsamt konnte hingegen ein bezugsverkürzender Einfluss nachgewiesen werden. Eine weitere Studie über die bundesdeutsche Sozialhilfe liegt mit der Arbeit von Katrin Golsch vor (vgl. Golsch 2000). Datenbasis bilden hier vier Antragskohorten 1980, 1983, 1986 und 1989 der Bielefelder Datenbank Sozialhilfestatistik. In einem periodenspezifischen Exponentialmodell107, in dem nicht zwischen verschiedenen Abgangsgründen differenziert wird, zeigt sich wieder die bekanntermaßen geringe Abgangsmobilität von Alleinerziehenden. Ähnlich lassen sich auch die Modellergebnisse für Ehepaare mit Kindern und alleinstehende Frauen interpretieren. Ebenfalls nimmt die Mobilität aus dem Sozialhilfebezug mit zunehmendem Alter (zum Zeitpunkt der Antragstellung) ab. Vorhandene Erwerbseinkommen oder der Bezug von Arbeitslosengeld haben hingegen eine bezugsverkürzende Wirkung. Gleiches gilt für den Bezug von Rente oder bei

106 Hierbei schätzte Buhr Weibull und log-logistische Modelle, sowie ein Exponentialmodell für in Monatsintervalle gesplittete Subepisoden (Episodensplit) auf Basis von insgesamt 974 Sozialhilfeepisoden. 107 Golsch verwendet aufgrund der Betrachtung von Netto- und Bruttodauern als abhängige Variable nicht die Hazardrate sondern die unbedingten Sterbewahrscheinlichkeiten (Wartezeiten). Für erste Sozialhilfeepisoden werden ebenfalls die Ergebnisse eines Wartezeitenmodells ausgewiesen. Allerdings gibt Golsch hier auch die Ergebnisse eines Hazardraten-Modells wieder (zu Wartezeitemodellen vgl. auch Andreß 1992: 51 ff.).

156

ausländischen Sozialhilfebeziehern, was im Zusammenhang mit erhöhten Stigmatisierungskosten dieser Bezugsgruppen gesehen werden könnte. Neben diesen Ergebnissen ist Golsch auch in der Lage, aufgrund von Kohortenvergleichen, nachzuweisen, dass die Gesamtbezugsdauern sich im Laufe der 1980er Jahre signifikant verringerten. Das bestätigt auch die Untersuchung von Petra Buhr und Andreas Weber in einem Vergleich der Antragskohorten von 1983 und 1989, auf Grundlage der Bremer 10%-Längsschnittstichprobe von Sozialhilfeakten (LSA) (vgl. Buhr/Weber 1999). Buhr/Weber sind außerdem in der Lage zu zeigen, dass Asylbewerber, sowie jüngere (bis 20 Jahre) und ältere (ab 50 Jahre) Personen signifikant länger Sozialhilfe bezogen als andere Bezugsgruppen. Mobilitätsbegünstigend (in Richtung Ausstieg aus der Sozialhilfe) war hingegen das Vorhandensein von beruflichen Qualifikationen. Im Kohortenvergleich zeigt sich für die 1989er Antragskohorte eine gestiegene Ausstiegsmobilität von Asylbewerbern, von über 50 jährigen Beziehern und alleinstehenden Männern. Eine geringere Mobilität ist hingegen für die bis 20 jährigen Sozialhilfeempfänger, für Alleinerziehende, sowie für das Vorhandensein von Kindern unter drei Jahren feststellbar. Auf Grundlage dieser erweiterten Datenbasis der Bremer 10%-Längsschnittstichprobe von Sozialhilfeakten (LSA) wurden auch von Markus Gangl Ereignisanalysen angestellt (vgl. Gangl 1997, 1998). Für die 1989er Antragskohorte konnte er für insgesamt 902 Bezugsepisoden nachweisen, dass 27,1% (20,8%)108 durch arbeitsmarktrelevante Wechsel beendet wurden (hauptsächlich Arbeitsaufnahmen, daneben erhöhte Erwerbseinkommen und „Hilfe zur Arbeit“). 32,3% (34,7%) aller Wechsel resultierten aus dem Einsetzen vorrangiger Sozialleistungen und 25,6% (28,6%) waren auf sonstige Beendigungsgründe zurückzuführen. Mit Hilfe der Life-Table-Methode in einem Mehrzustandsmodell gelang es Gangl nachzuweisen, dass die mit fortschreitender Bezugsdauer fallende Übergangsrate nicht auf eine sinkende Arbeitsmarktmobilität zurückzuführen ist, sondern auf die in den 1980er Jahren noch sehr häufige Praxis des Wartens auf den Bezug vorrangiger Sozialleistungen. In der multivariaten Ereignisanalyse (periodenspezifisches Exponentialmodell, Mehrzustandsmodell), in dem ebenfalls zwischen verschiedenen Wegen aus der Sozialhilfe heraus differenziert wird, zeigt sich für den Abgangsgrund Arbeitsmarkt, die schlechte Arbeitsmarktstellung von älteren Personen (45-59 Jahre), sowie von alleinstehenden Frauen und Alleinerziehenden109. Ebenfalls mobilitätsreduzierend sind gesundheitliche Einschränkungen und soziale Probleme. Geringe Lohnabstände haben hingegen in Gangls multivariatem Ereignismodell, 108 109

Die Werte in den Klammern beziehen sich auf die 1983er Antragskohorte. Nicht signifikant.

157

entgegen den Annahmen des Armutsfallentheorems, einen mobilitätsbegünstigenden Effekt. Vorhandene arbeitsmarktrelevante Ressourcen von Sozialhilfeempfängern begünstigen ebenfalls die Arbeitsmarktmobilität von Sozialhilfebeziehern (z.B. berufliche Qualifikationen, bestehende Erwerbstätigkeit, Meldung beim Arbeitsamt). Datengrundlage einer Forschungsarbeit von Joachim Wilde ist das Niedrigeinkommenspanel (NIEP) (vgl. Wilde 2001). Die zur Auswertung bestimmte Teilstichprobe enthält die Haushalte, die in der ersten Welle Sozialhilfe bezogen (HLU) und an der zweiten Welle noch teilnahmen. Dabei handelte es sich um insgesamt 245 Haushalte, von denen allerdings nur 193 Haushalte in einer Probitschätzung berücksichtigt werden konnten, hauptsächlich wegen nicht erhobener Werte für einzelne Fragen zur Qualität der Kommunikation und der Beziehung des Hilfeempfängers zum Sozialamt. Es wird nicht zwischen unterschiedlichen Abgangsgründen differenziert. Zu den Ergebnissen: Wie die geschätzten Regressionsmodelle belegen, hat der Lohnabstand keinen statistisch gesicherten Effekt auf die Beendigungswahrscheinlichkeit. Finanzielle Anreize den Sozialhilfebezug einzustellen, können aber dennoch bestehen. Beispielsweise wurden die Befragungsteilnehmer gebeten ihre finanzielle Lage zu bewerten. Eine schlechte finanzielle Situation korrespondiert hierbei mit einer signifikant höheren Beendigungswahrscheinlichkeit. Desweiteren indizieren die Ergebnisse wieder die Abhängigkeit der Beendigungswahrscheinlichkeiten vom Lebensalter und von vorhandenen beruflichen Qualifikationen, wobei der letztgenannte Zusammenhang statistisch nur auf einem 10% Niveau gesichert werden kann. Die Variablen zur Haushaltszusammensetzung zeigen die schon aus anderen Untersuchungen bekannten Effekte. Die besseren Ausstiegschancen von ostdeutschen Haushalten sind auf die bessere Versorgung mit Kinderbetreuungseinrichtungen zurückzuführen. Ebenfalls hat eine gute Beratungsleistung des Sozialamtes eine positive Wirkung. Langzeitarbeitslosigkeit und längere Bezugsdauern hingegen verringern die Beendigungswahrscheinlichkeiten signifikant. Ein Aufsatz von Hilmar Schneider und Arne Uhlendorff untersucht den Einfluss finanzieller Anreize auf die Arbeitsmarktmobilität von Sozialhilfeempfängern (vgl. Schneider/Uhlendorff 2005). Die Forscher operationalisieren finanzielle Anreize in Form von potentiellen Erwerbseinkommen von Haushaltsvorständen. Datengrundlage ist der Sozialhilfekalender des SOEP. Differenziert wird zwischen 199 Übergängen in Arbeit (ein Partner arbeitet Vollzeit oder beide Partner arbeiten Teilzeit oder im Falle von Single-Haushalten generell Teilzeit) und 187 anderen Übergängen auf Grundlage von insgesamt 386 unzensierten Sozialhilfeepisoden (ebenda: 54 f.). Die empirische Verteilung des Verhältnisses der potentiellen Erwerbseinkommenshöhen und des Sozialhilfetransferbetrages be158

legt, dass etwa die Hälfte der Personen kein Einkommen von über 25% über dem Sozialhilfesatz erzielen könnte. In der multivariaten Datenanalyse kommt ein Modell diskreter Hazardraten zur Anwendung, welches um einen Term für unbeobachtete Heterogenität ergänzt wird. Zu den Ergebnissen: Was das Verhältnis zwischen den Höhen der beiden Einkommensarten anbelangt, können die Forscher zeigen, dass potentielle Erwerbseinkommen, die die reale Sozialhilfehöhe übersteigen (Verhältnisse zwischen 1 und 1,5, sowie über 1,5) zu einer signifikant höheren Arbeitsmarktmobilität beitragen. Im Einzelnen finden sich in dem einen Fall (1-1,5) um 10% erhöhte Übergangsraten, im anderen (über 1,5) etwas mehr als 7%. Für die Fälle, in denen das Erwerbseinkommen niedriger als die Sozialhilfe ausfallen würde, zeigt sich zwar keine Signifikanz, aber der Zusammenhang bei Vorliegen von Signifikanz wäre fast genauso groß, wie bei Personen, die ein Verhältnis zwischen 1 und 1,5 aufweisen. Hinsichtlich von Arbeitsmarktentscheidungen schließen die Autoren aus diesen Hinweisen (schon) auf eine Verhaltensrelevanz von finanziellen Anreizen. Bestärkt fühlen sie sich hierin durch andere Indikatoren, die keine Anhaltspunkte für eine schwächere Nachfrage gering qualifizierter Arbeitskräfte liefern. Positiv signifikant ist hingegen der Ostdeutschland-Effekt, von dem die Autoren aufgrund der bekanntermaßen schlechten Arbeitsmarktsituation in den ostdeutschen Bundesländern überrascht sind. Leider können sie daraus keine Schlussfolgerungen für eine Modifizierung des von ihnen präferierten Modells finanzieller Anreize ableiten: Für die für Ostdeutschland gefundene höhere Arbeitsmarktmobilität kommen bessere Arbeitsmarktchancen in den 1990er Jahren im Niedriglohnbereich in Frage. Diese können mit einiger Plausibilität angenommen werden, weil in diesem Zeitraum die Schaffung von Arbeitsgelegenheiten auf dem zweiten Arbeitsmarkt im großen Stil praktiziert wurde. Ebenfalls bestanden bzw. bestehen bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Gerade für Personen im Niedriglohnbereich dürften Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bzw. Maßnahmen der Hilfe zur Arbeit (HzA) ausreichend attraktiv gewesen sein, um sich gegen Sozialhilfe und für Arbeit zu entscheiden. Die von Schneider/Uhlendorff behauptete Dominanz von finanziellen Anreizen auf die Arbeitsmarktentscheidung von Sozialhilfeempfängern kann daher mit ihrer empirischen Arbeit, wenn überhaupt, höchstens eingeschränkt belegt werden.

159

6.5 Nachhaltigkeit des Wechsels in Beschäftigung

Eine weitere wichtige Frage ist, ob sich Wechsel in Arbeit als nachhaltig erweisen. Hierzu liegen im Zusammenhang mit Sozialhilfe oder sozialhilfeähnlichen Sozialleistungen keine quantitativ-empirischen Untersuchungsergebnisse vor.110 Allerdings gibt es eine Studie von Markus Gangl, die sich mit der Nachhaltigkeit des Wiedereingliederungserfolges von Empfängern von Arbeitslosengeld auf dem Arbeitsmarkt beschäftigt (vgl. Gangl 2004). Zur Lösung der Frage der Nachhaltigkeit von Wechseln in Beschäftigung wurde von Gangl ein Wohlfahrtsstaatsvergleich operationalisiert: In welchem der beiden Staaten, USA oder BRD (nur alte Bundesländer), gelingt es den Arbeitnehmern besser, die mit Arbeitslosigkeit verbundenen Karrierediskontinuitäten möglichst gering zu halten? Gangls These ist, dass das insgesamt gesehen in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist, weil die wohlfahrtsstaatliche Absicherung weite Teile des Arbeitsheeres erfasst. Ausgewertet wurden die Daten des SIPP (Survey of Income and Program Participation, U.S. Bureau of the Census) und des SOEP (DIW Berlin). Datengrundlage sind im ersten Falle die Wellen 1984,1986,1988,1990,1992 und 1993, im zweiten Fall die Wellen 1984-1995 (A-M), Sample A und B (Deutsche [West] und Gastarbeiter). In die Analyse gehen nur solche Arbeitslosigkeitsepisoden ein, von denen bekannt ist, dass ihnen unmittelbar eine Beschäftigungszeit vorausging, die höchstens drei Monate vor Start der Arbeitslosigkeit endete. Datengrundlage sind damit für das SIPP 24.100 Arbeitslosigkeitsepisoden von 21.551 Personen, und für das SOEP 3.251 Episoden von 2.264 Personen. Als Übergänge werden Beschäftigung, Selbständigkeit, Qualifizierung/Training und ökonomische Inaktivität gewertet. Im Zentrum der Analyse stehen die Wiederbeschäftigungschancen und die Qualität dieser Jobs (Einkommensverluste gegenüber der vormaligen Beschäftigung, einmal generell, das andere mal über 20%; berufliche Mobilität, Statusmobilität, Dauer der Beschäftigung nach der Arbeitslosigkeit, einmal bis zu 6 Monaten, das andere mal bis zu 12 Monaten). Die Auswertung erfolgt auf Grundlage eines ambitionierten Modells, welches erlaubt, die Ergebnisse für Übergänge in Arbeit und die Jobqualität in Beziehung zu setzen. Statistisch gesehen, handelt es sich in beiden Fällen um eine Probit-Spezifikation; die Analyse beruht auf diskreter Zeit und diskretem Zustandsraum. Geschätzt wird der Einfluss von folgenden Variablen: Bezug von Arbeitslosenunterstützungen (ja/nein), Arbeitslosigkeitsdauer (Monate), Ausbildung/Qualifikation (in Jahren), Arbeitserfah110 Vgl. aber die qualitativen Studien von Buhr (1995) und Ludwig (1996), die sich mit der Kontinuität bzw. Diskontinuität von Wechseln aus der Sozialhilfe beschäftigen.

160

rung (in Jahren), Jahre im letzten Arbeitsrechtsverhältnis, Lohnniveau der letzten Beschäftigung, Jobandrangszahl, u.a. Zu den Ergebnissen: Schon die deskriptive Datenanalyse deutet auf längere Arbeitslosigkeitszeiten bei deutschen Arbeitnehmern hin. Diese längeren Arbeitslosigkeitszeiten führen aber nur im geringen Umfang zu einer längeren Unterbrechung oder zum Abbruch von Karrieren. Stattdessen zeigt sich für die Bundesrepublik Deutschland eine bemerkenswerte Karrierekontinuität trotz Unterbrechungen durch Arbeitslosigkeit. Die Wiederbeschäftigungsraten sind allerdings negativ, was bedeutet, dass die Chancen auf Wiederanstellung sich im Verlaufe der Arbeitslosigkeit doch verringern. Eine positive Beziehung findet sich hinsichtlich des Angebots an offenen Stellen (besonders Deutschland). Bessere Ausbildung, Arbeitserfahrung, früheres Lohnniveau und berufliche Weiterbildung (nur BRD) tragen zu höheren Wiederbeschäftigungschancen bei. Geringere Wiederbeschäftigungschancen ergeben sich bei langen Beschäftigungszeiten im vorherigen Arbeitsverhältnis, sowie durch traditionelle Benachteiligungsstrukturen (Frauen, Nicht-Weiße [USA] und Nicht-Deutsche [BRD]). Was die Qualität der Jobs angeht, müssen sich besonders Personen, die zuvor gut verdient haben, mit Einkommensverlusten abfinden. Gute Ausbildung und lange Arbeitserfahrung wirken hingegen finanziellen Einbußen entgegen. Demgegenüber erweist sich insbesondere bei deutschen Arbeitnehmern, dass sie tendenziell beruflich mobiler sind. Im Gegensatz zu den Wiederbeschäftigungschancen zeigt sich bei der Beschäftigungsqualität eine positive Zeitabhängigkeit. Demnach werden Arbeitslose hinsichtlich der Arbeits- und Lohnbedingungen mit der Zeit immer kompromissbereiter und geben sich mit Einkommensverlusten, berufsfremden Tätigkeiten und unsicheren Jobs zufrieden. Dies kann als Indiz für sinkende Anspruchslöhne angesehen werden. Gleichzeitig kommt dafür aber auch die nachfrageseitige Wahrnehmung langer Arbeitslosigkeit als Verfall von berufsspezifischen Erfahrungen und Know-How in Frage. Das andere und vielleicht wichtigste Ergebnis betrifft die Wirkung von Lohnersatzleistungen. Wie die Analyse hier zeigt, gibt es einen deutlichen Beleg für die karrierestabilisierende Wirkung (Einkommenssituation, Verbleib im Beruf und Sicherheit der nachfolgenden Beschäftigung) von Lohnersatzleistungen auch in den USA. Gleichzeitig zeigt sich aber die schon vermutete verlängernde Wirkung von Transfers auf die erneute Annahme einer Beschäftigung.

161

6.6 Zwischenergebnis

Wie an den umfangreichen Forschungsergebnissen der internationalen und bundesdeutschen Forschung zu Armut und Sozialleistungsbezug gesehen werden kann, verfügt die dynamische Armutsforschung inzwischen über einen hohen Kenntnisstand. Einkommensarmut ist in der Regel nicht langfristiger Natur. Das wird schon im Zusammenhang mit der Entscheidung für oder gegen Sozialleistungsbezug deutlich: So gelingt es offenbar vielen Personen für eine begrenzte Zeit ohne Sozialleistungen auszukommen, obwohl sie aufgrund ihrer finanziellen Situation anspruchsberechtigt waren. Schon an diesem Ergebnis lässt sich sehen, dass den Verhaltensannahmen des Armutsfallentheorems günstigstenfalls eine begrenzte Relevanz zukommt. Zwar – und auch das belegen die Ergebnisse – handelt es sich bei dem Verzicht auf Sozialleistungen trotz Anspruchsberechtigung häufig um geringere Geldbeträge. Aber wenn menschlichem Verhalten bzw. Handeln ausschließlich kurzfristig-ökonomische Rationalität zugrunde gelegt wird, ist ein Verzicht auf zustehende Geldleistungen nicht zu verstehen und muss als irrationales Verhalten klassifiziert werden. Wenn von einem engen Rationalitätsbegriff abgewichen wird, sind die Ergebnisse der vorgestellten empirischen Analysen aber auch im Rahmen von Rational-Choice interpretierbar. Offenbar verzichten in den meisten Fällen sozioökonomisch eher begünstigte Gruppen auf Sozialleistungen, während die Gruppen, die sowieso mit Sozialleistungsbezug in Verbindung gebracht werden, auch tatsächlich Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Für die Frage des Arbeitskraftangebots bedeutet das, dass gut Qualifizierte, für die ohnehin (relativ gut bezahlte) Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen, für eine begrenzte Zeit auf zustehende (nicht sehr hohe) Sozialtransfers verzichten und stattdessen auf eine absehbare Wiederbeschäftigung vertrauen. Dieser Vorgang ist mit einer anreiztheoretischer Perspektive, die auch mittel- und langfristigen Nutzen betrachtet, relativ gut vereinbar. Allerdings stellt sich die Frage, warum nutzenmaximierende Individuen auf den Einkommensnutzen von Sozialleistungen verzichten. Aber auch diese Frage scheint aus einer anreiztheoretischen Perspektive lösbar, wenn auf die unter Umständen hohen Informations- und Stigmakosten verwiesen wird. Anderen Gruppen, wie z.B. geringqualifizierten Arbeitskräften, gelingt der Verzicht auf Sozialleistungen aufgrund des hohen und nachhaltigen Einkommensausfalls jedoch nicht und ihnen bleibt nur die Entscheidung zwischen gering bzw. geringstbezahlten Tätigkeiten und der Sozialhilfe bzw. anderen Sozialleistungen. Auch wenn sich viele dieser Personen für den Sozialleistungsbezug entscheiden, so zeigt sich doch, dass ein quantitativ nicht unbedeutender Teil sich für die Beibehaltung bzw. Neuaufnahme von Beschäftigung entscheidet, 162

ohne Sozialleistungen zu beantragen. Die dominierende anreiztheoretische Perspektive kann diesen Tatbestand zur Zeit nur erklären, wenn sehr hohe Stigmaund Informationskosten angenommen werden. Denn mittel- und langfristige finanzielle Nutzen scheiden hier als motivationaler Antrieb aus, schlichtweg aus dem Grund, weil diese Verhaltensmodelle diese Nutzenarten nicht zulassen. Soweit zur Entscheidung für die Aufnahme von Sozialleistungsbezug. Auch zur Frage der Beendigung von Sozialleistungsbezug liegen inzwischen fundierte empirische Ergebnisse vor. In den meisten Fällen handelt es sich bei Sozialleistungsbezug, entgegen den Annahmen des Armutsfallentheorems, um relativ kurze Bezugszeiten. Trotzdem können auch mit einer anreiztheoretischen Perspektive einige wichtige Ergebnisse der vorliegenden Untersuchungen interpretiert werden. So gelingt es vor allem den gut ausgebildeten Arbeitskräften relativ schnell aus der Sozialhilfe in Arbeit zu wechseln. Hier kann darauf vertraut werden, dass hochqualifizierte Tätigkeiten auch entsprechend gut bezahlt werden, so dass in diesen Fällen auch ein ausreichender Anreiz vorliegt in Arbeit zu wechseln. Ob diese Hypothese jedoch zutrifft, bleibt weiteren empirischen Untersuchungen vorbehalten, denn ob hohe Berufsabschlüsse nach einer bestimmten Bezugszeit auch noch einen entsprechend hohen Marktwert anzeigen, bleibt zweifelhaft. Unter Umständen sind für den Wechsel in Beschäftigung ganz andere Gründe ausschlaggebend. Aus anreiztheoretischer Perspektive ist hier die Einbeziehung mittel- und langfristiger Nutzenkalküle wegweisend. Gegen eine Dominanz von kurzfristigen finanziellen Anreizen spricht auch die Untersuchung von Lohnabständen, die bisher aus anreiztheoretischer Perspektive keine interpretierbaren Ergebnisse geliefert hat.

163

7. Zusammenstellung der Stichprobe „Erwerbsfähige Personen in Sozialhilfe-Haushalten 1991-1999“ aus den Daten des Sozio-oekonomischen Panels

Die nachfolgende Darstellung baut auf einer empirischen Untersuchung von Sozialhilfedaten des Sozio-oekonomischen Panels auf. In der damaligen Untersuchung standen für eine Auswertung nur die Daten der Jahre 1991-1996 zur Verfügung (vgl. Gebauer/Petschauer/Vobruba 2002). Die Forschungsergebnisse dieser Untersuchung lassen sich wie folgt zusammenfassen: Wie schon viele anderen empirischen Untersuchungen aufzeigen konnten, ist Sozialhilfebezug vor allem ein Kurzzeitphänomen. Den Ergebnissen der deskriptiven Ereignisanalyse zufolge waren im Verlaufe eines Jahres von 100% Sozialhilfeeinsteigern bereits 59% wieder aus der Sozialhilfe ausgeschieden. Nach weiteren 3 Jahren waren es bereits 78% und nach 5 Jahren 83% (vgl. Gebauer/Petschauer/Vobruba 2002: 93 f., Gebauer/Petschauer 2002: 312 f.). Wenn zusätzlich nach Abgangswegen differenziert wird, dann wird deutlich, dass Wechsel in Erwerbstätigkeit gegenüber anderen Wechseln (Wechsel in vorgelagerte soziale Sicherungssysteme, Familieneinkommen, die sich allerdings nicht differenzieren ließen) die wichtigste Abgangsursache darstellte (vgl. Gebauer/Petschauer/Vobruba 2002: 96 ff., Gebauer/Vobruba 2003: 575 ff.). Wie die Ergebnisse damit belegen, schnappt die Armutsfalle nur bei einem geringeren Teil der Untersuchungspopulation zu. Für die Frage, welche Faktoren bezugsverkürzend oder -verlängernd wirken, wurde zusätzlich ein multivariates Verfahren der Ereignisanalyse angewendet (vgl. Gebauer/Petschauer/Vobruba 2002: 104 ff., Gebauer/Vobruba 2003: 577 ff.).111 Den Ergebnissen dieser Ereignisanalyse zufolge, gelingt es vor allem Paaren ohne Kinder, der Sozialhilfe wieder zu entkommen. Ihre Mobilität in Beschäftigung war um signifikant ca. 125% höher als die der Vergleichsgruppe alleinstehender Männer. Ebenfalls gelang ostdeutschen Sozialhilfebeziehern der

111 Hier handelte es sich um ein Piecewise Constant (periodenspezifisches) Exponentialmodell mit mehreren Zielzuständen („competing risks“)

165

(Wieder-) Einstieg in Beschäftigung deutlich besser. Für die Wirksamkeit von Lohnabständen fanden sich keine Indizien.112 Auch der Einfluss vorheriger Sozialhilfebezüge auf die Dauer nachfolgender Sozialhilfeepisoden konnte nicht bestätigt werden. Für den Wechsel in Erwerbstätigkeit wesentlich wichtiger sind hingegen Personenmerkmale, die für Arbeitgeber von größerem Interesse sind. Dazu gehören Alter und Qualifikation von Sozialhilfeempfängern. Wie die Ergebnisse der Datenanalyse belegen, sind hier ältere Sozialhilfebezieher eindeutig benachteiligt. Das gleiche gilt für Geringqualifizierte, während Gutqualifizierten (z.B. Hochschulabsolventen) der (Wieder-) Einstieg in das Erwerbsleben wesentlich besser gelang. Ebenfalls im Zusammenhang mit Familienereignissen konnten signifikante Effekte nachgewiesen werden. Männliche Sozialhilfebezieher die darüber berichteten, dass sich ihre Familiensituation nicht verändert hatte, hatten den Modellergebnissen zufolge eine um 120% höhere Mobilität in Erwerbstätigkeit gegenüber Personen, die eines der Familienereignisse „Heirat“, „Trennung bzw. Tod des Ehe- bzw. Lebenspartners“, „Scheidung“ oder „Sonstiges“, angaben, während sich bei Frauen in diesem Zusammenhang kein Effekt belegen lässt. Zusätzlich erwies sich der Auszug von erwachsenen Kindern aus dem Haushalt als mobilitätsbegünstigend (ca. 200% für Wechsel in Arbeit, sowohl für weibliche als auch für männliche Sozialhilfebezieher). Die in den folgenden Kapiteln (Kapitel 7-9) präsentierte Untersuchung kann sich auf eine um weitere drei Jahre Sozialhilfedaten erweiterte Datenbasis stützen und geht inhaltlich über die Voruntersuchung hinaus. 7.1 Das Sozialhilfekalendarium des Sozio-oekonomischen Panels

In den Jahren von 1992 bis 2000 wurde der Sozialhilfebezug von allen durch das DIW untersuchten Haushalten in Form eines Kalenders auf monatlicher Basis für das jeweils vergangene Jahr abgefragt, wodurch sich die interessante Möglichkeit ergibt, diese Daten mit den Methoden der Ereignisanalyse auszuwerten. Zunächst jedoch ein paar Angaben zur Entwicklung und Zusammensetzung der Stichprobe. Tab. 7.1 zeigt die Entwicklung der Stichprobe. Demnach wurden 112 In Ostdeutschland waren die Lohnabstände Anfang der 1990er Jahre wesentlich geringer als in Westdeutschland (vgl. Bericht der Bundesregierung 1993). Abgesehen von Ost/Westeffekten wurde der Lohnabstand auch in anderer Form operationalisiert. Als (recht grober) Indikator wurde hier die Zugehörigkeit zu großen Haushalten verwendet (Alleinerziehende oder Paare mit mehr als zwei Kindern), für die damaligen Untersuchungen zum Lohnabstand besonders geringe Lohnabstände fanden (vgl. Breuer/Engels 1993: 32, 50).

166

bis zum Jahr 1999 insgesamt 1.027 Sozialhilfeepisoden (nur HLU, Hilfe zum Lebensunterhalt) auf Haushaltsbasis erfasst. Tab. 7.1: Entwicklung der Stichprobe: Verteilung aller erfassten Sozialhilfeepisoden (nur HLU) nach Episodenzähler Jahr

Epis. 1

Epis. 2

Epis. 3

Epis. 4

Epis. 5

6

1991

114

2

–

–

–

116

1992

177

5

–

–

–

182

1993

242

21

2

–

–

265

1994

357

46

2

1

–

406

1995

421

69

6

1

–

497

1996

460

98

13

2

–

573

1997

544

124

17

2

–

687

1998

602

144

29

3

1

779

1999

804

173

41

7

2

1027

Interpretationshilfe: Vom Jahr 1991 bis zum Jahr 1996 wurden durch das SOEP insgesamt 573 Sozialhilfeepisoden erfasst. Bei 460 Episoden handelte es sich um erste Episoden. Allerdings gab es innerhalb dieses Zeitraumes nach der Beendigung einer Sozialhilfeepisode bereits erneute Bezüge von Sozialhilfe: 98-mal konnte z.B. ein zweiter Bezug, 13-mal ein dritter Bezug und zweimal ein vierter Bezug durch dieselben Haushalte nachgewiesen werden.

Diese Episoden können 804 Haushalten zugerechnet werden. Abbildung 7.1 veranschaulicht die Verteilung der erfassten Haushalts-Sozialhilfeepisoden nach dem Episodenzähler. Insgesamt wurde über 804 erste, 173 zweite, 41 dritte, 7 vierte und 2 fünfte Episoden auf Haushaltsebene berichtet. Über die Anzahl der von den einzelnen Haushalten beigetragenen Sozialhilfeepisoden informiert der Episodennenner. Er gibt darüber Auskunft, wie viele Episoden von einem Haushalt insgesamt beigesteuert wurden, und liefert damit eine Antwort auf die Frage des Mehrfachbezuges im Zeitverlauf. Abbildung 7.2 verdeutlicht das Ausmaß dieses Mehrfachbezuges.

167

Abb. 7.1: Datengrundlage auf Haushaltsebene: Verteilung der erfassten Sozialhilfeepisoden nach dem Episodenzähler 41 173

7

2

Nr. 1 Nr. 2 Nr. 3 Nr. 4 Nr. 5 804

Abb. 7.2: Mehrfachbezug von Sozialhilfe im Zeitverlauf: Verteilung der erfassten Sozialhilfeepisoden nach Episodennenner

34

5

2

132 1x 2x 3x 4x 5x 631

631 Haushalte (resp. 78,5%) berichteten über nur eine Sozialhilfeepisode. 173 Haushalte (resp. 21,5%) gaben für den Zeitraum von 1991-1999 an, nach Beendigung einer Sozialhilfeepisode erneut Sozialhilfe bezogen zu haben. 168

Auf Grundlage der hier vorgestellten Haushaltsdaten über den Sozialhilfebezug sollen Ereignisanalysen durchgeführt werden. Kein Problem stellen in diesem Zusammenhang vollständig überlieferte Episoden (unzensierte Daten) dar. Insgesamt 473 von 1.027 Episoden (resp. 42,5%) wurden vollständig erfasst (vgl. Abb. 7.3). Weil das Zeitfenster der Erhebung nicht sehr groß ist, wurden im Untersuchungszeitraum aber auch viele Sozialhilfeepisoden unvollständig überliefert (zensierte Daten). Rechtszensierte Daten, Daten bei denen Informationen über den Beginn vorliegen, aber die zu Ende des Beobachtungsfensters noch nicht abgeschlossen waren, sind für Ereignisanalysen relativ unproblematisch. Auf Haushaltsebene erfüllten dieses Kriterium 219 Episoden (resp. 21,3%). Linkszensierte Episodendaten, Daten, bei denen zwar eine Information über den Zeitpunkt der Beendigung, aber nicht über den Beginn vorliegt, sollten besser von einer Ereignisanalyse ausgeschlossen werden (vgl. Blossfeld/Rohwer 2002). Auf Haushaltsebene wurden im SOEP 160 linkszensierte Episoden erfasst (resp. 15,6%). Über weitere Episoden lagen zudem weder Informationen über den Zeitpunkt des Beginns noch über die Beendigung vor (links-rechts-zensierte Daten). Sie sollten ebenfalls von Ereignisanalysen ausgeschlossen werden. Für eine rein deskriptive Betrachtung des Datenmaterials sind diese Episoden jedoch nicht wertlos, geben sie doch einen ersten Hinweis auf lange Verweildauern in der Sozialhilfe. 175 Episoden (resp. 17%) wiesen eine Links-Rechts-Zensierung auf, erstreckten sich also offenbar mindestens über den gesamten Beobachtungszeitraum (1991-1999). Hier kann von Langzeitbezug gesprochen werden. Abb. 7.3: Zensierung der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten Sozialhilfeepisoden (Haushaltsebene)

175 473

160

unzensiert rechtszensiert linkszensiert links-rechts-zensiert

219

169

Auf Grundlage von unzensierten Daten kann ebenfalls eine erste deskriptive Auswertung zur Frage des Langzeitbezuges erfolgen (vgl. Abb. 7.4). Wie die Verteilung der gruppierten Bezugslängen belegt, ist das Ausmaß des Langzeitbezugs hier nicht als besonders groß einzuschätzen, wenn als Kriterium für Langzeitbezug eine Mindestverweildauer ab 3 Jahren angenommen wird. Nur 21 von 473 (resp. 4,4%) der unzensierten Episoden umfassten einen Zeitraum von mehr als 3 Jahren. Mittlere Bezugslängen (über ein, maximal 3 Jahre) sind hingegen schon häufiger vertreten (n=86 resp. 18,2%). In den meisten Fällen (366 von 473 Episoden resp. 77,4%) handelt es sich aber um Kurzzeitbezug bis zu einem Jahr. Damit lässt sich festhalten, dass Sozialhilfebezug in den 1990er Jahren in erster Linie ein Problem kurzfristiger Natur war. Allerdings wird zusammen mit den Ergebnissen zur Links-Rechts-Zensierung auch deutlich, dass Sozialhilfeempfänger, die länger als drei Jahre Sozialhilfe bezogen, unter Umständen sehr lange auf Sozialhilfe angewiesen waren. Abb. 7.4: Verteilung der im SOEP erfassten Sozialhilfeepisoden nach Bezugslänge (gruppiert;nur unzensierte Daten;Haushaltsebene)

86

21 bis ein Jahr > ein bis drei Jahre über drei Jahre 366

7.2 Generierung und deskriptive Auswertung der Stichprobe „Erwerbsfähige Personen in Sozialhilfe-Haushalten 1991-1999“

Mit der Erfassung von Sozialhilfebezug auf Haushaltsebene bleiben für die Datenanalyse wichtige individuelle Bezüge unberücksichtigt. Deshalb wurde im Anschluss an diese Basisauswertung eine Stichprobe erstellt, die alle 1.464 Personen umfasst, die in diesen 804 Haushalten wohnten. Werden die 1.027 Haus170

halts-Sozialhilfeepisoden den 1.464 darin wohnenden Personen zugeordnet, ergeben sich insgesamt 1.968 Sozialhilfeepisoden auf Personenebene (vgl. Abb. 7.5). Im Einzelnen handelte es sich bei diesen personenbezogenen Sozialhilfeepisoden um 1.464 erste, 376 zweite, 102 dritte, 20 vierte und 6 fünfte Episoden. Abb. 7.5: Verteilung der erfassten Sozialhilfeepisoden nach dem Episodenzähler (Individualebene)

102

20

6

376 Nr. 1 Nr. 2 Nr. 3 Nr. 4 1464

Nr. 5

Für eine Datenanalyse, die die Schnittstelle Sozialhilfe – Arbeitsmarkt fokussiert, interessieren aber nur die Sozialhilfeepisoden von erwerbsfähigen Personen. Personen, die das Kriterium der Erwerbsfähigkeit nicht erfüllen (jünger bzw. älter als 16-59 Jahre oder Angabe der Position „Rentner“ im Erwerbstätigenkalender des SOEP) wurden deshalb aus der Stichprobe entfernt. Die Stichprobe umfasst damit 1.125 Sozialhilfeepisoden von insgesamt 842 erwerbsfähigen Personen (vgl. Abb. 7.6). Konkret wurden 842 erste, 211 zweite, 56 dritte, 13 vierte und 3 fünfte Sozialhilfeepisoden erfasst. Im Zusammenhang mit Langzeitbezug von Sozialhilfe wird, wie schon erörtert, häufig auch der Frage von Mehrfachbezug im Zeitverlauf eine große Bedeutung beigemessen (vgl. z.B. Buhr 1995: 107, 112 ff., Ludwig 1996: 228 ff.). Abbildung 7.7 macht auf das Problem des Mehrfachbezuges in der Personenstichprobe aufmerksam. Wie daran gesehen werden kann, wiesen die meisten Personen nur eine Sozialhilfeepisode auf (n=631 resp. 74,9%). Insgesamt 211 (resp. 25,1%) Personen waren demgegenüber im Beobachtungszeitraum nach Beendigung einer Sozialhilfeepisode erneut sozialhilfeabhängig geworden. Diese 171

Verteilung macht deutlich, dass das Problem des Mehrfachbezuges auf einem eher moderaten, maximal mittleren, Niveau eingeschätzt werden kann. Abb. 7.6: Verteilung der erfassten Sozialhilfeepisoden nach dem Episodenzähler (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen) 56

13

3

211 Nr. 1 Nr. 2 Nr. 3 Nr. 4 842

Nr. 5

Abb. 7.7: Mehrfachbezug von Sozialhilfe im Zeitverlauf: Verteilung der erfassten Sozialhilfeepisoden nach dem Episodennenner (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen)

43

10

3

1x

155

2x 3x 4x 5x 631

172

Wie anhand der Auswertungen auf Haushaltsebene schon besprochen wurde, stellen links- bzw. links-rechtszensierte Episodendaten ein großes Problem für Ereignisanalysen dar. Sie sollten aus diesem Grund von diesen Analysen ausgeschlossen werden (n=156 resp. 13,9%, vgl. Abb. 7.8). Un- und rechtszensierte Daten sind hingegen unproblematisch (n=969 resp. 86,1%). Deskriptiv gesehen sind links-rechtszensierte Daten jedoch nicht wertlos, denn gerade hier auf der Personenebene, fokussiert auf erwerbsfähige Personen, können sie das Problem von sehr langen Bezugszeiten vermitteln. Wie an Abbildung 7.8 gesehen werden kann, ist das Problem von sehr langen Bezugszeiten in der Personenstichprobe als sehr gering einzuschätzen. Nur 22 Episoden (resp. 1,9%) wiesen eine LinksRechts-Zensierung auf, was bedeutet, dass sie mindestens über 9 Jahre anhielten (1991-1999). Damit kann das Ergebnis aus der deskriptiven Analyse der Haushaltsstichprobe schon im Wesentlichen revidiert werden. Dort wiesen 17% aller Sozialhilfeepisoden eine Links-Rechts-Zensierung auf. Das bedeutet, dass es sich bei Langzeitbezügen überwiegend um ein Problem von Nicht-Erwerbsfähigen handelt. Abb. 7.8: Zensierung der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten Sozialhilfeepisoden (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen)

134

22 unzensiert rechtszensiert

287

andere linkszensiert 682

links-rechts-zensiert

Für die unzensierten Episodendaten kann zu einer deskriptiven Einschätzung des Problems von Langzeitbezug wiederum die empirische Verteilung der Bezugslängen herangezogen werden (vgl. Abb. 7.9). Demnach ist auch hier das Problem von Langzeitbezug als gering einzuschätzen. Nur für 23 Episoden (resp. 3,4%) trifft zu, dass er länger als drei Jahre anhielt. Auch das Problem von mittleren Bezugslängen von mehr als ein, max. 3 173

Jahren ist vergleichsweise moderat (n=111 resp. 16,3%). Überwiegend handelt es sich bei den Sozialhilfeepisoden in dieser Stichprobe um kurze Bezugszeiten von bis zu einem Jahr (n=548 resp. 80,3%). Deskriptiv gesehen lässt sich damit auch für die Stichprobe der erwerbsfähigen Personen festhalten: Sozialhilfebezug von Erwerbsfähigen ist in der Regel ein Problem kurzer und mittlerer Bezugszeiten, Langzeitbezug die Ausnahme. Abb. 7.9: Verteilung der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten Sozialhilfeepisoden nach Bezugslänge (gruppiert;nur unzensierte Daten;Individualebene, nur erwerbsfähige Personen)

111

23 bis ein Jahr > ein bis drei Jahre über drei Jahre 548

Im Sozio-oekonomischen Panel werden nicht nur Sozialhilfebezugszeiten kalendarisch erfasst.113 Gleiches gilt für die Erfassung arbeitsmarktrelevanter Zeiten und Arten von Beschäftigung/Nichtbeschäftigung bzw. auch Ausbildung (Tätigkeitenkalender). In einem sehr aufwendigen Schritt der Datenaufbereitung wurde im Rahmen der vorliegenden Untersuchung für jede Sozialhilfeepisode geprüft, ob ihr im Anschluss eine Erwerbstätigkeitsepisode zugeordnet werden kann oder nicht. Damit ist es möglich in den Datenanalysemodellen zwischen verschiedenen Abgangswegen aus der Sozialhilfe zu differenzieren. Diese Differenzierung nach Abgangswegen unterscheidet die vorliegende empirische Untersuchung von den meisten anderen quantitativen Untersuchungen zur Dynamik des Sozialhilfebezuges. Gerade dadurch wird eine relativ genaue Inspektion der Schnittstelle Sozialhilfe-Arbeitsmarkt erst ermöglicht. Im Einzelnen konnte für 669 Sozialhilfeepisoden (resp. 59,5%) durch den Abgleich mit dem Tätigkeitenkalender des 113

Leider wurde die Erhebung des Sozialhilfekalendariums im Jahre 2001 eingestellt.

174

SOEP eine anschließende Erwerbstätigkeitsepisode nachgewiesen werden, wobei es sich bei 492 dieser Erwerbstätigkeitsepisoden (resp. 43,7%) sogar um eine Vollzeittätigkeit handelte. Noch ein paar Basisstatistiken der Stichprobe: Die Angaben zu 842 Personen, denen eine Sozialhilfeepisode zugeordnet werden konnte, entstammen unterschiedlichen Teilstichproben (vgl. Abb. 7.10). Hiervon können 251 Personen (resp. 29,8%) der zahlenmäßig größten Teilstichprobe A „Deutsche [West]“ zugerechnet werden. Ebenfalls stark vertreten sind zusammengenommen die Teilstichproben B „Ausländer“ mit 237 Personen (resp. 28,1%) und die Teilstichprobe D „Zuwanderer (1984-1993)“ mit 88 erfassten Personen (resp. 10,4%, zusammen n=325 Personen resp. 38,6%). Weitere 256 Personen (resp. 28%) umfasst die Teilstichprobe C („Deutsche [Ost]“). Schließlich können 30 Personen (resp. 3,6%) einer Ergänzungsteilstichprobe E, die ab 1998 erhoben wurde, zugeordnet werden („Ergänzung 1998“). Abb. 7.10: Teilstichprobenzugehörigkeit der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten erwerbsfähigen Personen in Sozialhilfe-Haushalten

30

Ergänzung 1998 Zuwanderer 1984/1993

88

Deutsche Ost

236

Ausländer

237 251

Deutsche West

0

50

100

150

200

250

300

Die in den Teilstichproben erfassten Personen trugen in unterschiedlichem Maße zu den in der Gesamtstichprobe erfassten Sozialhilfeepisoden bei. Abbildung 7.11 zeigt die Verteilung der Sozialhilfeepisoden differenziert nach Teilstichprobenzugehörigkeit. 175

Abb. 7.11: Teilstichprobenzugehörigkeit der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten Sozialhilfeepisoden (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen)

32

Ergänzung 1998 Zuwanderer 1984/1993

121

Deutsche Ost

305

Ausländer

306 361

Deutsche West 0

100

200

300

400

Demnach trug die westdeutsche Teilstichprobe zu 361 (resp. 32,1%) Sozialhilfeepisoden bei. Also: 251 Personen der Teilstichprobe West lassen sich 361 Sozialhilfeepisoden zurechnen. Die übrigen Sozialhilfeepisoden verteilen sich auf Ausländer und Zuwanderer (zusammen n=427 resp. 37,9%), Deutsche [Ost] (n=306 resp. 27,1%) und auf die Ergänzungsstichprobe (n=32 resp. 2,8%). Aus der Anzahl der Sozialhilfeepisoden und der sie verursachenden Personen kann ein Quotient ermittelt werden, der über die durchschnittliche Mehrfachbelastung informiert. Demzufolge lassen sich den erfassten erwerbsfähigen Personen im Zeitraum von 1991-1999 durchschnittlich ca. 1,3 Sozialhilfeepisoden zurechnen. Westdeutsche hatten hier durchschnittlich gesehen das größte Mehrfachbezugsrisiko (q=1,43 Sozialhilfeepisoden pro Person), gefolgt von Zuwanderern (19841993) mit durchschnittlich q=1,37 und Ostdeutschen sowie Ausländern mit jeweils q=1,29 Sozialhilfeepisoden pro Person.114

114

Am geringsten fiel die Mehrfachbelastung bei Personen der Ergänzungsstichprobe aus, die ab 1998 vom Sozio-oekonomischen Panel erhoben wird. Dieses Ergebnis sollte aber nicht interpretiert werden, weil die Mehrfachbelastung bei der hier nur zweijährigen Beobachtungsdauer stark unterschätzt sein dürfte.

176

Von den 842 Personen in Sozialhilfehaushalten waren 471 Frauen (resp. 56%) und 371 Männer (resp. 44%, vgl. Abb. 7.12). Abb. 7.12: Geschlechtszugehörigkeit der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten erwerbsfähigen Personen

371 Ƃ ƃ 471

Frauen sind nicht nur in der Stichprobe leicht überrepräsentiert, sondern es lassen sich ihnen auch die meisten Sozialhilfeepisoden zuordnen (n=650 resp. 57,8%, vgl. Abb. 7.13). Das entspricht einer durchschnittlichen Mehrfachbelastung von ca. 1,38 Sozialhilfeepisoden. Männern konnten hingegen insgesamt 475 (resp. 42,2%) Sozialhilfeepisoden zugeordnet werden, was einer durchschnittlichen Mehrfachbelastung von 1,28 Sozialhilfeepisoden entspricht. Abbildung 7.14 zeigt die Sozialhilfeepisoden differenziert nach der Haushaltsstruktur. Wie hier zu erkennen ist, sind alleinstehende Männer und Paare ohne Kinder in der Stichprobe weniger präsent. Vor allem handelt es sich um Alleinerziehende und Paare mit Kindern, die mit dem Bezug von Sozialhilfe konfrontiert werden.

177

Abb. 7.13: Verteilung der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten Sozialhilfeepisoden nach Geschlecht (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen)

475 Ƃ-Episoden ƃ-Episoden 650

Abb. 7.14: Verteilung der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten Sozialhilfeepisoden nach Haushaltsstruktur (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen)

119

P aare (Kind 6 J. u älter)

211

P aare (Kind bis 6 Jahre)

183

A lleinerz. (Kind 6 J. u älter)

165

A lleinerz. (Kind bis 6 Jahre)

138

P aare (o . Kind)

176

Frau (alleinst.)

133

M ann (alleinst.)

0

178

50

100

150

200

250

Nicht nur der Haushaltsstruktur wird häufig ein Einfluss auf die Ausstiegsdynamik zugeschrieben. Immer wieder wird berichtet, dass sich das Alter der betroffenen Personen auf die Bezugslängen auswirkt. Abbildung 7.15 zeigt die Verteilung der im Beobachtungsfenster von 1991-1999 angefallenen Sozialhilfeepisoden auf verschiedene Alterskohorten. Die meisten Sozialhilfeepisoden entfallen hierbei auf die beiden jüngsten Alterskohorten, mit jeweils n=371 (resp. 33%) für die Altersgruppe der 16-25 jährigen und n=357 (resp. 31,7%) für die Altersgruppe der 26-35 jährigen Sozialhilfeempfänger. Auf die Gruppe der älteren Sozialhilfeempfänger entfallen jeweils n=207 (resp. 18,4%) für die Kohorte der 36-45 jährigen und n=190 (resp. 16,9%) Sozialhilfeepisoden für die Kohorte der über 45 jährigen Sozialhilfeempfänger. Abb. 7.15: Verteilung der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten Sozialhilfeepisoden nach Altersgruppen (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen)

190

46-59

207

36-45

357

26-35

371

16-25 0

100

200

300

400

Abbildung 7.16 zeigt die Zusammensetzung der Stichprobe hinsichtlich der beruflichen Abschlüsse. Wie daraus leicht zu entnehmen ist, gingen die meisten Sozialhilfeepisoden, die im Zeitfenster zwischen 1991 und 1999 anfielen, mit einer geringen Qualifizierung einher (Position „kein Abschluss“ in 465 von 1.125 Episoden, resp. 41,3%). Über eine abgeschlossene Lehre wurde in 306 Episoden (resp. 27,3%) berichtet. Nur wenige Episoden (76 resp. 6,8%) fielen durch Personen mit Abschluss einer Berufsfachschule an, noch weniger durch 179

Personen mit einem Universitäts-, Hochschul-, bzw. auch Fachhochschulabschluss (22 resp. 2%). Im Fall von 70 Episoden (resp. 6,2%) rechneten sich die verursachenden Personen eine „sonstige Ausbildung“ zu. Bei 186 Episoden wurde die Frage nicht beantwortet (resp. 16,5%). Abb. 7.16: Verteilung der im Sozio-oekonomischen Panel erfassten Sozialhilfeepisoden nach Berufsabschlüssen (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen)

186

keine Antwort 70

Sonstige 22

Uni/HS, FachHS

76

Berufsfachschule

306

Lehre

465

kein Abschl. 0

100

200

300

400

500

Neben Sampleherkunft, Geschlecht, Alter, Haushaltsstruktur und beruflichen Abschlüssen kann auch davon ausgegangen werden, dass Familienereignisse Entscheidungen für oder gegen den Verbleib in Sozialhilfe beeinflussen. Im SOEP werden jährlich retrospektiv für das vergangene Jahr wichtige Familienereignisse abgefragt. Es handelt sich um folgende Ereignisse: Heirat, Zusammenzug mit dem Partner/Partnerin, Scheidung, Trennung vom Ehe- bzw. Lebenspartner, Tod des Ehe- bzw. Lebenspartners, Auszug des Sohnes oder der Tochter, Geburt eines Kindes, Sonstiges (vgl. Abb. 7.17). Insgesamt wurde zu Anfang von n=303 Sozialhilfeepisoden über mindestens eines dieser wichtigen Familienereignisse berichtet. 548-mal (resp. 48,7%) wurde eine stabile Familiensituation angegeben. Keine Angabe zu Familienereignissen bzw. über deren Abwesenheit wurde zu Beginn von 274 Sozialhilfeepisoden (resp. 24,4%) gemacht. Im Einzelnen ergibt sich folgende Verteilung der n=369 (=100%) angegebenen Familienereignisse.

180

Abb. 7.17: Eingetretene familiäre Ereignisse im Jahr des Beginns einer Sozialhilfeepisode (Individualebene, nur erwerbsfähige Personen)

160 139

140 120 100 72

80 60 40 20

43 33

31

28 16 1

So ns ti g es

eb ur t G

(K

in de r)

To d Au sz ug

H ei Zu ra t sa m m en zu g Sc he id un g Tr en nu ng

0

Am häufigsten wurde über die Ereignisse „Geburt eines Kindes“ (n=139 resp. 38,3%), „Trennung vom Ehe- bzw. Lebenspartner“ (n=72 resp. 19,8%) und „Zusammenzug mit dem Ehe- bzw. Lebenspartner“ (n=43 resp. 11,8%) berichtet. Über die anderen Ereignisse wurde seltener berichtet: „Sonstiges“ (n=33 resp. 9,1%), Auszug des Sohnes oder der Tochter (n=31 resp. 8,5%), Heirat (n=28 resp. 7,7%), Scheidung (n=16 resp. 4,4%). Über den Tod des Ehe- bzw. Lebenspartners wurde nur einmal informiert (n=1 resp. 0,3%). Soweit zu ein paar Basisstatistiken der vorliegenden Stichprobe.

181

8. Gibt es eine Armutsfalle in der bundesdeutschen Sozialhilfe?

Vor der Anwendung der statistischen Verfahren der Ereignisanalyse auf die Daten der Stichprobe, ist es wichtig, sich die Verhaltenshypothesen des Armutsfallen-Theorems noch einmal vor Augen zu halten. Wie würde eine Verbleibsfunktion aussehen, wenn die Verhaltensannahmen des Armutsfallen-Theorems (überwiegend Langzeitbezug, geringe Mobilität) voll zuträfen? Die implizit angenommenen Verbleibswahrscheinlichkeiten für Sozialhilfeepisoden würden in diesem Fall im gesamten Beobachtungszeitraum entweder nicht oder nur unwesentlich von 1 (= 100%) abweichen. D.h. der Anteil derjenigen Sozialhilfeepisoden die nicht beendet werden, an allen Sozialhilfeepisoden, läge nahezu bei 100%. Wenn sich die Verhaltensannahmen des ArmutsfallenTheorems voll bestätigen sollten, müsste also die Verbleibskurve mit Beginn des Prozesses etwa parallel zur X-Achse verlaufen. Das ist der Verlauf, der vom Armutsfallen-Theorem unterstellt wird. In der bereits erwähnten Voruntersuchung aus dem Jahr 2002 konnte diese Hypothese zurückgewiesen werden. Die damalige Untersuchung stützte sich aber nur auf die Daten von 1991-1996. Dieser Zeitraum war noch durch eine besonders starke Dynamik des Vereinigungsprozesses zwischen Ost- und Westdeutschland gekennzeichnet. Sozialhilfe wurde in Ostdeutschland in diesem Zeitraum noch relativ selten bezogen, weil die meisten ehemaligen DDR-Bürger über lange Erwerbsbiographien verfügten und somit zunächst Ansprüche auf Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe ausschöpfen konnten. Mit den Daten aus den Jahren 1997, 1998 und 1999 stehen aber jetzt zusätzliche Informationen zur Verfügung. Hier handelt es sich um Daten, die für einen Zeitraum stehen, in der der Angleichungsprozess des östlichen Landesteils an den Westen zwar immer noch eine bedeutende Rolle spielte, aber gleichzeitig auch das gesamte vereinigte Deutschland sich bereits im stärkeren Maße dem Anpassungsdruck einer globalisierten Wirtschaft stellen musste. Vor diesem Hintergrund ist es umso interessanter die Verhaltenshypothesen des Armutsfallentheorems mit dem nun um weitere drei Jahre ergänzten Sozialhilfekalendarium zu konfrontieren. Abbildung 8.1 zeigt den Graph der Wahrscheinlichkeiten für den Verbleib in Sozialhilfe, ohne dass zwischen verschiedenen Abgangswegen differenziert 183

wird. Aus Gründen der Vergleichbarkeit wurden nur die Episoden in die Untersuchung einbezogen, die vor 1996 begannen115. Wie daran ersichtlich ist, scheidet ein sehr hoher Anteil der Sozialhilfepopulation (65%) innerhalb des ersten Jahres aus dem Programm wieder aus. Anders formuliert: Nur 35% aller begonnenen Sozialhilfeepisoden hielten nach einem Jahr noch an. Danach lässt die Dynamik des Prozesses stark nach, aber kommt keineswegs zum Stillstand. Nach 2 Jahren verringert sich die Sozialhilfepopulation um weitere 11%, nach 3 Jahren um noch weitere 9%, so dass nur bei etwa 15% der dann verbliebenen Sozialhilfeepisoden von Langzeitbezug geredet werden kann. Der weitere Verlauf der Funktionskurve belegt aber, dass auch danach kein völliger Stillstand eintritt und im geringen Umfang immer noch Abgänge aus der Sozialhilfe zu verzeichnen sind. Abb. 8.1: Verbleibsfunktion der Sozialhilfeepisoden erwerbsfähiger Personen aus der Sozialhilfe S(t) 1 Survivor-Funktion (Kaplan-Meier)

0.8 Ausscheiden aus der Sozialhilfe

0.6 0.4 0.2 0 0

12

24

36

48

60

72

Dauer der Sozialhilfe in Monaten

115 Diese Auswahl beruht auf der Überlegung, dass Episoden, die gegen Ende des Beobachtungszeitraums von 1991-1999 begannen auch nur über eine entsprechend kürzere Zeit beobachtet werden konnten, als Episoden, die zu Anfang des Beobachtungszeitraumes begannen. Der jetzt erfolgten Episodenauswahl gemeinsam ist, dass alle darin enthaltenen Episoden mindestens vier Jahre lang beobachtet werden konnten, unabhängig davon zu welchem Zeitpunkt sie tatsächlich beendet wurden.

184

Der empirische Befund kann bis hierher so interpretiert werden, dass ein hoher Anteil der Personen, die Sozialhilfe bezieht, wenige Schwierigkeiten hat, die Sozialhilfe zu verlassen. Das stimmt aber nur für diejenigen, die für eine verhältnismäßig geringe Zeitdauer Sozialhilfe beziehen. Für Personen, die über eine mittlere oder längere Frist Sozialhilfe beziehen, wird es hingegen wesentlich schwieriger der Sozialhilfe zu entkommen. Soweit der erste Eindruck, der durch die Inspektion der Verbleibskurve vermittelt wird. Zur Beurteilung der Mobilität aus dem Sozialhilfebezug noch besser geeignet ist jedoch die Übergangsrate, die ebenfalls im Rahmen der deskriptiven Verfahren der Ereignisanalyse geschätzt werden kann. Sie kann als die momentane Tendenz zu einem Zustandswechsel interpretiert werden (vgl. Ludwig-Mayerhofer 1994: 127). Bezogen auf Sozialhilfe handelt es sich also um die momentane Neigung zur Einstellung des Sozialhilfebezugs. Die bisher angewendete Kaplan-Meier-Schätzung ist für eine Berechnung der Rate aber weniger geeignet.116 Stattdessen ermöglicht das robuste intervallbezogene Verfahren der Sterbetafeln („Life Table“) eine direkte Schätzung der Rate. Zur Anwendung dieses Verfahrens auf die SOEP-Daten wurden jeweils drei aufeinander folgende Monate (Quartal) zusammengefasst. Wie dann an Abbildung 8.2 gesehen werden kann, ist von einer ständigen Mobilität aus dem Sozialhilfebezug auszugehen. Die Darstellung bestätigt die Ergebnisse der KaplanMeier-Schätzung für die Verbleibsfunktion: Innerhalb eines Zeitraumes von bis zu einem Jahr ist die Ausstiegsdynamik am höchsten, wobei Sozialhilfeepisoden besonders häufig zum Ende des ersten Bezugsjahres beendet werden. Auch danach kommt die Ausstiegsdynamik nicht zum Stillstand, wobei auffällig ist, dass sich die Spitzen der Mobilität immer zum Ende von Bezugsjahren gruppieren117 und fast das Niveau der Werte im ersten Quartal des ersten Bezugsjahres erreichen. Erst nach drei Bezugsjahren fällt die Rate auf niedrigere Werte (Ausnahme 116 Hier erfolgt die Schätzung der wesentlichen Parameter strikt zeitpunktbezogen. Dadurch kann nur eine kumulierte Rate berechnet werden. Durch Anwendung von Korrekturverfahren ist zwar dennoch eine Ableitung der Rate möglich, aber es handelt sich hier nicht um eine direkte Schätzung aus den Ausgangswerten. 117 Über die Ursache dieses Phänomens liegen bisher keine Untersuchungen vor. Einerseits kann davon ausgegangen werden, dass zum Ende eines Bezugsjahres Sozialhilfebezüge tatsächlich sehr häufig beendet werden. Dafür kommen individuelle und institutionelle Ursachen in Betracht. (Leicht vorstellbar ist zum Beispiel, dass Sozialhilfe nicht über das Ende eines Jahres hinaus gewährt wurde und eine Neubeantragung nicht mehr beabsichtigt wurde, obwohl auch weiterhin Hilfebedürftigkeit vorlag.) Andererseits ist es auch nicht auszuschließen, dass das im Prinzip vorteilhafte prospektive Erhebungsdesign des SOEP (es wird bei jeder Erhebungswelle jeweils der Sozialhilfebezug des gesamten vergangenen Jahres abgefragt, im Unterschied zum retrospektiven Design, bei dem zu einem Zeitpunkt der gesamte Lebenslauf abgefragt wird) trotzdem nicht ausreichend geeignet ist Erinnerungseffekte vollständig zu unterbinden, und sich so ein Teil der sehr hohen Werte zum Ende der Bezugsjahre erklären lässt.

185

wiederum letztes Quartal des vierten Bezugsjahres), bevor sie etwa nach fünf Jahren auf einem ziemlich niedrigen Niveau verharrt. Abb. 8.2: Mobilität aus der Sozialhilfe: Geschätzte Übergangsraten auf Grundlage der Life-Table-Methode r(t) 0.2

Entwicklung der Übergangsrate (Life-Table) Ausscheiden aus der Sozialhilfe

0.15

0.1

0.05

0 0

12

24

36

48

60

72

Dauer der Sozialhilfe in Monaten

Die Ergebnisse der Untersuchung belegen bis hierhin, dass Sozialhilfeabhängigkeit von arbeitsfähigen Sozialhilfeempfängern gemessen an allen Sozialhilfeepisoden ein Problem geringen Ausmaßes ist. Allenfalls tritt dieses Problem bei sehr langen Bezugszeiten auf. Stattdessen unterstreicht der empirische Befund die hohe Dynamik aus dem Sozialhilfebezug, die seitens vieler wirtschaftswissenschaftlicher Beiträge völlig ignoriert wird. Damit ist aber noch nicht über die These von der Sozialhilfe als (Armuts-) Falle entschieden, denn es muss noch eine Differenzierung zwischen dem Abgangsweg „Wechsel in Arbeit“ und „kein Wechsel in Arbeit“ erfolgen, um sicherzustellen, dass der Abstrom aus der Sozialhilfe sich nicht einfach nur in vorgelagerte Sicherungssysteme vollzieht. Abbildung 8.3 zeigt die EinzelVerbleibswahrscheinlichkeiten für die beiden Abgangswege „Wechsel in Arbeit“ und „kein Wechsel in Arbeit“ in einem „competing risks“-Modell. Unter „Wechsel in Erwerbstätigkeit“ werden hierbei alle die Wechsel verstanden, die spätestens nach einem Jahr nach Beendigung einer Sozialhilfeepisode in Vollzeit- oder Teilzeitarbeit mündeten. Desweiteren sind darunter auch Wechsel zu zählen, die in Kurzarbeit, betriebliche Ausbildung/Erstausbildung, nebenberufliche Tätigkeit 186

oder Fortbildung/Umschulung resultierten. Bei allen anderen Wechseln aus Sozialhilfe ist davon auszugehen, dass sie sich in vorgelagerte Sozialleistungsprogramme vollzogen (z.B. Arbeitslosengeld bzw. -hilfe) und/oder in der Folge auf familienbezogene Transfers zurückgegriffen wurde. Abb. 8.3: Verbleibsfunktionen der Sozialhilfeepisoden erwerbsfähiger Personen aus der Sozialhilfe, differenziert nach Abgangswegen S(t) 1 Survivor-Funktion (Kaplan-Meier)

0.8 nicht erwerbstätig geworden wieder erwerbstätig geworden

0.6 0.4 0.2 0 0

12

24

36

48

60

72

Dauer der Sozialhilfe in Monaten

Nachteil dieser Darstellung ist, dass sie sich nicht so leicht interpretieren lässt, wie die vorherige, denn das Modell unterstellt, dass jeweils nur eine Abgangsursache existiert.118 Wie nun der Verlauf der Funktionskurven belegt, gelang es offenbar einem großen Teil der Personen die Sozialhilfe entweder durch den Wechsel in Erwerbstätigkeit oder über einen anderen Weg zu verlassen. Die Wahrscheinlichkeit der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ist über die meiste Zeit insgesamt etwas höher als die Wahrscheinlichkeit für das Verlassen der Sozialhilfe auf anderen Abgangswegen. Die Dynamik des Prozesses ist für beide Abgangswege im ersten Jahr des Sozialhilfebezuges am höchsten. Nach diesem Zeitraum lässt sie nach, aber für beide Abgangswege belegt der Funktionsverlauf, dass die Mobilität aus dem Sozialhilfebezug noch ganz beachtliche Werte annimmt. Erst nach vier Jahren 118

Die Einzel-Verbleibswahrscheinlichkeiten addieren sich nicht zur Gesamt-Verbleibswahrscheinlichkeit auf, sondern ergeben diese durch Multiplikation, vgl. dazu auch Andreß 1992: 79 f.

187

scheint die Ausstiegsdynamik zu erlahmen. Die Diagnose von der Sozialhilfe als (Armuts-)Falle trifft daher generell gesehen nicht zu. Allenfalls kann bei längeren Bezugszeiten von einer schwachen Ausstiegsdynamik gesprochen werden. Eine noch genauere Untersuchung der Abgangsdynamik erlaubt wiederum die Betrachtung der Entwicklung der Übergangsrate, welche nun ebenfalls differenziert nach Abgangswegen interpretiert werden kann. Wie die Abbildungen 8.4/8.5. belegen, können die eben auf Grundlage der Verbleibswahrscheinlichkeiten getroffenen Aussagen wieder bestätigt werden. Abb. 8.4: Mobilität aus der Sozialhilfe in Erwerbsarbeit r(t) 0.1 Entwicklung der Übergangsrate (Life-Table)

0.08 Wechsel in Erwerbstätigkeit

0.06 0.04 0.02 0 0

12

24

36

48

60

72

Dauer der Sozialhilfe in Monaten

Demnach vollzieht sich der Abstrom aus der Sozialhilfe sowohl in Erwerbstätigkeit als auch in andere Formen der finanziellen Absicherung, wobei die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit besonders im ersten Jahr andere Abgangsursachen überwiegt. Ab dem zweiten Bezugsjahr sind die Niveauunterschiede nicht mehr besonders ausgeprägt.

188

Abb. 8.5: Mobilität aus der Sozialhilfe in andere Formen der Existenzsicherung r(t) 0.1 Entwicklung der Übergangsrate (Life-Table)

0.08 kein Wechsel in Erwerbstätigkeit

0.06 0.04 0.02 0 0

12

24

36

48

60

72

Dauer der Sozialhilfe in Monaten

Gegen Ende des dritten Bezugsjahres überwiegt schließlich die Mobilität in Formen der Nicht-Erwerbstätigkeit. Später ist jedoch die Mobilität in Erwerbsarbeit wieder etwas höher, wobei sie aber, wie Abbildung 8.4 belegt, auf einem wesentlich niedrigeren Niveau liegt, als im ersten Bezugsjahr. Bisher wurden unter Erwerbstätigkeit neben Vollzeittätigkeiten auch Teilzeit, Kurzarbeit, betriebliche Ausbildung/Erstausbildung, nebenberufliche Tätigkeit oder Fortbildung/Umschulung subsumiert. Abbildungen 8.6 und 8.7 zeigen die Mobilität aus dem Sozialhilfebezug, wenn unter Wechsel in Erwerbstätigkeit nur Wechsel in Vollzeittätigkeit verstanden werden. Bei den anderen Wechseln handelt es sich dann um Wechsel in Teilzeit- u.a. vom Normalarbeitsverhältnis abweichenden Erwerbstätigkeitsformen und Wechsel in Nichterwerbstätigkeit. Wie daran gesehen werden kann, ist die Mobilität in Vollzeitbeschäftigung zu verschiedenen Zeitpunkten geringer als in andere Formen der Existenzsicherung. Das trifft besonders auf Bezugszeiten bis einem Jahr zu. Im weiteren Verlauf sind die Niveauunterschiede nicht mehr sehr ausgeprägt. Bei langen Bezugszeiten wird die verbliebene (geringe) Mobilität laut Modell maßgeblich durch den Wechsel in Vollzeiterwerbstätigkeiten bestimmt.

189

Abb. 8.6: Mobilität aus der Sozialhilfe in Vollzeiterwerbsarbeit r(t) 0.12 Entwicklung der Übergangsrate (Life-Table)

0.1

Wechsel in Erwerbstätigkeit

0.08 0.06 0.04 0.02 0 0

12

24

36

48

60

72

Dauer der Sozialhilfe in Monaten

Abb. 8.7: Mobilität aus der Sozialhilfe in alternative Existenzsicherungsformen (Teilzeiterwerbstätigkeit, andere Wechsel) r(t) 0.12 Entwicklung der Übergangsrate (Life-Table)

0.1

kein Wechsel in Erwerbstätigkeit

0.08 0.06 0.04 0.02 0 0

12

24

36

48

Dauer der Sozialhilfe in Monaten

190

60

72

Wie auch diese Betrachtung zeigt, ist es auch mit der erweiterten Datenbasis des SOEP (1991-1999) empirisch gesehen falsch, von der Sozialhilfe als „Armutsfalle“ zu sprechen. Die hohe Mobilität aus dem Sozialhilfebezug belegt stattdessen, dass die Sozialhilfe in den meisten Fällen offenbar eine Funktion als kurz- bis mittelfristige finanzielle Überbrückung hat. Langzeitbezug ist dagegen die Ausnahme. Wenn überhaupt von einer Armutsfalle gesprochen werden sollte, dann nur bei diesen Fällen und auch hier ist Vorsicht angebracht, denn die Mobilität in den Arbeitsmarkt ist selbst bei langen Verweilzeiten nicht gleich null.

191

9. Konfirmative Datenanalysen

Die Analyse der SOEP-Daten zeigt bis zu diesem Punkt, dass das den ökonomischen Mainstream und die politische Praxis bestimmende Armutsfallentheorem widerlegt ist. Allerdings ist damit noch nichts darüber ausgesagt, ob von der Sozialhilfe nicht doch finanzielle Anreize ausgehen, die sich auf die Sozialhilfe verlängernd auswirken. Um diese Frage zu klären, können zusätzlich zu den bisher eingesetzten eher beschreibenden Verfahren die konfirmativen Verfahren der Ereignisanalyse eingesetzt werden. Im Rahmen dieser Modelle kann der Einfluss von finanziellen Anreizen, aber auch einer Reihe von anderen Einflussfaktoren auf den Wechsel von Sozialhilfe in Arbeit überprüft werden. Im folgenden Analysemodell (Exponentialmodell mit periodenspezifischen Raten, „competing risks“),wird neben der Zugehörigkeit zu bestimmten Haushaltstypen, der Einfluss von Mehrfachbezug, Herkunft, Lebensalter, Qualifikation, Familienstand und Familienereignissen überprüft. Differenziert wird außerdem wieder danach, ob die Personen nach Beendigung einer Sozialhilfeepisode in Arbeit wechselten („Wechsel in Arbeit“) oder nicht („kein Wechsel in Arbeit“). 9.1 Hypothesen zum Einfluss relevanter Faktoren auf die Sozialhilfedauer

9.1.1 Arbeitskraftangebot („Rewards“) In der relevanten Arbeitsmarktliteratur wird das Zustandekommen von Beschäftigungsverhältnissen, neben der Arbeitskraftnachfrage, in Abhängigkeit vom Arbeitskraftangebot betrachtet. Ein positives Arbeitskraftangebot kann aber hier als Funktion von finanziellen Anreizen gesehen werden, die mit der Aufnahme einer Beschäftigung verbunden sind („rewards“). Eine mögliche Operationalisierung dieser finanziellen Anreize (bzw. „rewards“) kann anhand der relevanten Lohnabstände erfolgen. Tatsächlich ging das Bundessozialhilfegesetz von dieser arbeitsmotivierenden Funktion von Lohnabständen aus. Zwar können diese Abstände mit dem SOEP nicht direkt ermittelt werden, da die relevanten Informationen nicht auf Monats- sondern nur auf Jahresebene erfasst sind. Aber die Zugehörigkeit zu bestimmten Haushaltstypen ist erfasst. 193

In der Bundesrepublik Deutschland wurden seit 1993 im Zusammenhang mit der Bundessozialhilfegesetzgebung Untersuchungen zum Lohnabstand entlang verschiedener Haushaltstypen durchgeführt. Als Berechnungsgrundlage dienen hier die Einkommen von Arbeitnehmern der unteren Lohngruppen (Leistungsgruppe 3). So ergaben sich 1993 Abstände zwischen 157 und 1.114 DM für Westdeutschland und zwischen 77 und 666 DM für Ostdeutschland (vgl. Bericht der Bundesregierung 1993: 37, 40, Tabelle 21). Für beide Landesteile zeigte sich, dass die Lohnabstände mit zunehmender Haushaltsgröße immer geringer wurden. An dieser Tendenz hat sich auch in einer zweiten (1999) und dritten Untersuchung (2002) nichts geändert (vgl. Breuer/Engels 1999, 2003). Für Ostdeutschland aber zeigt sich, dass die Lohnabstände insgesamt größer geworden sind und sich den westlichen Gegebenheiten annähern. In Tabelle 9.1 und 9.2 sind die Werte für die relevanten Lohnabstände im Jahr 1999 getrennt nach den beiden Landesteilen West- und Ostdeutschland ausgewiesen (zu den Lohnabständen im Jahre 2002 vgl. Tab. A1 und A2). Die Lohnabstände verringern sich in Westdeutschland in dieser Reihenfolge: (1.) Single-Haushalte – (2.) Paare ohne Kinder – (3.) Paare mit einem Kind –(4.) Alleinerziehende mit einem Kind, (5.) Paare mit zwei Kindern – (6.) Paare mit drei Kindern - (7.) Alleinerziehende mit zwei Kindern. Sollten nur finanzielle Anreize für eine Entscheidung zur Aufnahme von Arbeit relevant sein, kann im Zusammenhang mit Lohnabständen folgende Hypothese aufgestellt werden: Hypothese I-1: Je größer der Abstand zwischen Sozialhilfe und Erwerbseinkommen ist, umso größer ist auch die Mobilität aus der Sozialhilfe in Erwerbstätigkeit. Bei einer ausschließlichen Orientierung an anreiztheoretischen Prämissen („Lohnabständen“) hinsichtlich der Verweildauern in Sozialhilfe müssten sich dann Wechsel in Arbeit nach der gleichen Reihenfolge vollziehen: Erst überwinden Singles, dann Paare ohne Kinder. Darauf folgen Paare und Alleinerziehende mit einem Kind sowie Paare mit zwei Kindern. Mit sich stark verringerndem Lohnabstand überwinden schließlich Paare mit drei Kindern und Alleinerziehende mit zwei Kindern.

194

195

429 0 9 352 117 247 31 2.425 500 0 2.925 2.556 369 12,6%

429 14 24 352 117 247 31 2.396 250 0 2.646 1.941 705 26,7%

295 0 0 419 140 294 37 3.113 800 143 4.056 3.462 594 14,6%

295 0 0 419 140 294 37 3.112 500 46 3.658 2.931 727 19,9%

295 0 13 419 140 294 37 3.100 250 0 3.350 2.421 929 27,7%

295 0 27 419 140 294 37 3.086 0 0 3.086 1.874 1.212 39,3%

419 140 294 37 2.506 0 0 2.506 1.181 1.325 52,9%

allein Erziehende ein Kind zwei Ki. <7 J. zw. 7-13 J. 3.338 3.338 273 273 3.611 3.611

787 43 71

Ehepaar mit drei Kindern 3.972 324 4.296

Ehepaar mit zwei Kindern 3.972 324 4.296

Ehepaar mit einem Ki. 3.972 324 4.296

Quelle: Breuer/Engels 1999: S. 27, Grundinformationen und Daten zur Sozialhilfe * Hilfsarbeiter im Produzierenden Gewerbe, Leistungsgruppe 3, früheres Bundesgebiet, Stand: 1. Juli 1999 (DM pro Monat)

Bruttoarbeitsentgelt Anteilig einm. Zahlungen Bruttoentgelt Steuern Lohnsteuer Solidaritätszuschlag Kirchensteuer Sozialversicherung Rentenversicherung Arbeitslosenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung Nettoentgelt Kindergeld Wohngeld verf. HH-Einkommen Bedarf an HLU Lohnabstand in DM in %

Haushaltstyp Ehepaar allein ohne lebend Kind 3.972 3.972 324 324 4.296 4.296

Tab. 9.1: Verfügbares Haushaltseinkommen und Abstand zur Hilfe zum Lebensunterhalt (früheres Bundesgebiet)*

312 104 232 27 2.014 0 0 2.014 1.025 989 49,1%

447 25 40 312 104 232 27 2.471 0 0 2.471 1.680 791 32,0%

50 0 5

312 104 232 27 2.475 250 33 2.758 2.191 567 20,6%

50 0 0

312 104 232 27 2.475 500 208 3.183 2.683 500 15,7%

50 0 0

312 104 232 27 2.475 800 283 3.558 3.154 404 11,4%

50 0 0

272 91 202 24 2.018 250 11 2.279 1.745 534 23,4%

177 0 2

272 91 202 24 2.021 500 152 2.673 2.323 350 13,1%

177 0 0

allein lebend 2.980 221 3.201

Tab. 9.2: Verfügbares Haushaltseinkommen und Abstand zur Hilfe zum Lebensunt. (neue Länder, Berlin [Ost])* Haushaltstyp Ehepaar Ehepaar Ehepaar Ehepaar allein Erziehende ohne mit ei- mit zwei mit drei ein Ki. zwei Ki. Kind nem Ki. Kindern Kindern < 7 J. zw. 7-13 J. 2.980 2.980 2.980 2.980 2.593 2.593 221 221 221 221 192 192 3.201 3.201 3.201 3.201 2.785 2.785 Bruttoarbeitsentgelt Anteilig einm. Zahlungen Bruttoentgelt Steuern Lohnsteuer Solidaritätszuschlag Kirchensteuer Sozialversicherung Rentenversicherung Arbeitslosenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung Nettoentgelt Kindergeld Wohngeld verf. HH-Einkommen Bedarf an HLU Lohnabstand in DM in %

Quelle: Breuer/Engels 1999: S. 27, Grundinformationen und Daten zur Sozialhilfe * Hilfsarbeiter im Produzierenden Gewerbe, Leistungsgruppe 3, neue Länder und Berlin (Ost), Stand: 1. Juli 1999 (DM pro Monat)

196

Hinsichtlich des Arbeitskraftangebotes kann aber neben Lohnabständen auch nach der Bedeutung von häufigen Wechseln zwischen Sozialhilfe und erwerbsabhängiger Beschäftigung gefragt werden. Hier kann angenommen werden, dass Mehrfachbezug sich auf den Übergang in Beschäftigung hemmend auswirkt. Mehrfachbezug steht aber nicht genuin für Arbeitskraftangebotsentscheidungen aufgrund von finanziellen Anreizen. Hier könnten stattdessen Lerneffekte (psychosoziales Modell, vgl. Kap. 5.4) von Bedeutung sein. Sollte sich ein solcher Zusammenhang also zeigen, ist zu diskutieren, ob er sich auf Lerneffekte zurückführen lässt. Hypothese I-2: Je häufiger bereits in der Vergangenheit Sozialhilfe bezogen wurde, umso geringer ist die Mobilität in Erwerbstätigkeit. Die bisher vorgestellten Hypothesen werden im Zusammenhang mit Restriktionen des Arbeitskraftangebotes diskutiert. Die hier verwendeten (indirekten) Indikatoren sind nur Teilaspekte des Arbeitskraftangebots. Besser wäre die direkte Erfassung der Arbeitsmotivation. Tatsächlich wird im SOEP die Arbeitsbereitschaft, z.B. mit der Frage „Wenn man Ihnen jetzt eine passende Stelle anbieten würde, könnten Sie dann gleich anfangen zu arbeiten?“ erfasst. Das erlaubt Aufstellung (und Test) von Hypothese I-3. Hypothese I-3: Je stärker die artikulierte individuelle Arbeitsmotivation umso größer ist die Mobilität in Erwerbstätigkeit. Soweit zu den Einflüssen, die als maßgebliche Faktoren für das Arbeitskraftangebot angesehen werden können. 9.1.2 Arbeitskraftnachfrage („Ressources“) Neben dem Arbeitskraftangebot wird in der Arbeitsmarktliteratur aber auch der Einfluss der Arbeitsmarktnachfrage auf den Wechsel in Erwerbstätigkeit erörtert. Hier wird neben konjunkturellen Schwankungen (Makroebene), die hier nicht diskutiert werden, angenommen, dass die Nachfrage nach bestimmten (vermuteten bzw. antizipierten) Fähigkeiten bzw. Ressourcen („ressources“) des Arbeitsplatzbewerbers (Mikroebene) bei der Entscheidung von Arbeitgebern zur Anstellung von Bedeutung sein kann. Bei der Rekrutierung von Personal können z.B. das Alter und die Qualifikation eines Bewerbers maßgebliche Selektionskriterien sein.

197

Im Zusammenhang mit dem Lebensalter wird z.B. häufig ein negativer Einfluss auf den Wechsel von Sozialhilfe oder sozialhilfeähnlichen Leistungen in erwerbsabhängige Beschäftigung angenommen. Daraus kann Hypothese II-1 abgeleitet werden. Hypothese II-1: Je älter Bewerber auf ein Stellenangebot sind, umso geringer ist ihre Mobilität in Erwerbstätigkeit. Ein positiver Einfluss auf den Abgang in Erwerbstätigkeit wird hingegen häufig beruflichen Qualifikationen zugeschrieben. Daraus folgt Hypothese II-2. Hypothese II-2: Je höher die berufliche Qualifikation von Bewerbern, umso höher ist ihre Mobilität in Erwerbstätigkeit. 9.1.3 Herkunft Das Sozio-oekonomische Panel setzt sich aus verschiedenen Teilstichproben zusammen, welche die Befragten nach ihrer Herkunft klassifizieren (vgl. auch Kap. 7.2). Von einer am ökonomischen Mainstream orientierten Sichtweise ausgehend, erscheint es relativ plausibel diese Variable der Arbeitskraftangebotsseite zuzuordnen. Das betrifft hauptsächlich die Teilstichproben A „Westdeutsche“, B „Ausländer“ und D „Zuwanderer (1984-1993)“. Allein dieses Vorgehen erscheint problematisch, weil Herkunft und Status eines potentiellen Stellenbewerbers selbst schon ein Selektionskriterium bei der Rekrutierung von Personal sein könnte, also stärker im Zusammenhang mit der Nachfrage nach Arbeitskräften gesehen werden kann: Beispielsweise können in Zeiten schwacher Konjunktur die Beschäftigungschancen von Sozialhilfeempfängern ausländischer Herkunft bei einer Reihe von Jobs sinken, weil einheimische Stellenbewerber vorgezogen werden. Natürlich ist auch der gegenteilige Effekt denkbar. Deshalb sollte die Sampleherkunft auch unter dem Gesichtspunkt der Arbeitskraftnachfrage gesehen werden. Das empfiehlt sich umso mehr, wenn in der Datenanalyse auch ostdeutsche Sozialhilfebezieher berücksichtigen werden sollen. Natürlich sind auch hier arbeitskraftangebotsseitige Besonderheiten zu beachten. Als Beispiel hierfür kann die höhere Erwerbsorientierung von Frauen angeführt werden. Gleiches gilt für die immer noch günstigere Kinderbetreuungslage, die eine bessere Vereinbarung von Beruf und Familie gewährleistet. Aber auch die Nachfrage nach Arbeitskräften gestaltete sich im Untersuchungszeitraum anders als im Westen der Bundesrepublik. 198

Zwar war die Arbeitsmarktlage nach dem Zusammenbruch der staatlichen Betriebe durch anhaltend hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet, aber durch die verbreitete Anwendung von arbeitsmarktpolitischen Instrumentarien (ABM, HzA, FuU u.a.) wurde es vielen von Arbeitslosigkeit betroffenen Personen immer wieder ermöglicht wenigstens zeitweilig eine Beschäftigung zu finden. Hypothese III: Die Herkunft von Personen, bzw. auch ihr Zugehörigkeit zu einem regionalen Arbeitsmarkt beeinflusst ihre Mobilität in Erwerbstätigkeit. 9.1.4 Familienereignisse Die exklusive Zuordnung von Variablen entweder zur Arbeitskraftangebotsoder zur Arbeitskraftnachfrageseite bleibt auch bei der Bewertung von Familienereignissen nicht unstrittig. So ist es zwar vorstellbar, dass bestimmte Familienereignisse in der Tendenz mit einer Ausweitung (resp. Schrumpfung) des individuellen Arbeitskraftangebotes einhergehen. Welche Familienereignisse das sind, lässt sich aber nicht ad hoc bestimmen. Zudem muss hier die Ausformung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Familien beachtet werden, die in besonderem Maße von gesellschaftlich weit verbreiteten Werten und geteilten Normen abhängig sind. So ist es vorstellbar, dass die frühkindliche Erziehung (Ereignis: Geburt eines Kindes) weitgehend Frauen überlassen wird, während Männer sich in dieser Zeit einer Erwerbstätigkeit widmen. Genauso gut ist aber auch vorstellbar, dass die Kindererziehung weitgehend durch private oder öffentliche Kinderbetreuung abgedeckt wird, so dass es sowohl Frauen wie auch Männern ermöglicht wird eine Beschäftigung zu suchen. Im Folgenden soll eine Auswahl von Familienereignissen, getrennt nach Geschlecht, dahingehend untersucht werden, ob sie einen Einfluss auf die Abgangschancen in Arbeit haben oder nicht. Hypothese IV: Familienereignisse haben einen Einfluss auf die Mobilität von Sozialhilfeempfängern in Erwerbstätigkeit. Im Folgenden werden die Ergebnisse der konfirmativen Datenanalyse präsentiert: Zunächst werden die gerechneten Modelle auf Basis des Likelihood-RatioSignifikanztests verglichen. Im Anschluss daran werden die Variableneinflüsse auf die Mobilität in Arbeit und in andere Formen der Existenzsicherung diskutiert. Bei allen hier präsentierten Modellen wird zwischen den Abgangswegen „Wechsel in (Vollzeit)-Arbeit“ und „kein Wechsel in (Vollzeit)-Arbeit“ unter-

199

schieden („competing risks“, bzw. Mehrzustandsmodelle). Die Modelle wurden auf Grundlage der Exponentialverteilung berechnet. 9.2 Vergleich der gerechneten Modelle auf Grundlage der Likelihood-RatioTests

Bevor eine Diskussion der Einflussstärken diverser Faktoren auf die Übergangsrate erfolgt, wird die Signifikanz von Variableneinflüssen auf Grundlage der Gesamtmodelle besprochen: Gefragt wird hier danach, ob Modelle mit einer oder mehreren Kovariaten gegenüber einem Modell ohne Kovariate (Nullmodell) signifikant zu einer Modellverbesserung beitragen oder nicht. Gleichermaßen kann danach gefragt werden, ob ein Modell mit zusätzlichen Kovariaten gegenüber einem Modell mit weniger, ansonsten aber denselben Kovariaten, einen signifikanten Beitrag zu einer Modellverbesserung leistet. Die Test-Statistik errechnet sich als das Doppelte der Differenz aus der Log-Likelihood der Einzelmodelle: 2 (Log-Likelihood (aktuelles Modell)- Log-Likelihood (Referenz-Modell). Die Likelihood-Ratio-Test-Statistik folgt annähernd einer Chi²-Verteilung mit m Freiheitsgraden, wobei die Anzahl der Freiheitsgrade identisch mit der Anzahl der zusätzlich einbezogenen Kovariaten ist. Der empirisch ermittelte Wert wird anschließend mit dem kritischen Wert der theoretischen Chi²-Verteilung verglichen. Auf dieser Grundlage kann entschieden werden, ob zusätzliche Kovariate zu einer signifikanten Modellverbesserung beigetragen haben oder nicht. Insgesamt wurden neun Exponentialmodelle getestet (vgl. Tab. 9.3): In Modell 0 wurden keine Kovariaten einbezogen. Es wird jeweils nur eine Konstante für die beiden Abgangswege geschätzt. Durch Entlogarithmierung erhält man hier konstante Übergangsraten, welche die Mobilität repräsentieren. Dazu muss aber gesagt werden, dass die Modellierung konstanter Raten der tatsächlichen Dynamik aus dem Sozialhilfebezug nicht gerecht wird. Wie anhand der Schätzungen auf Grundlage der Life-Table-Methode gesehen werden konnte, variiert die Rate mit der Zeit. Eine realitätsnähere Schätzung der Rate liefert hier Modell 1. Anstelle von konstanten Raten werden hier zeitperiodenspezifische Raten auf Quartalsebene geschätzt. Die realitätsnähere Modellierung schlägt sich kaum überraschend in einem höheren Modellfit nieder und liefert eine höchst signifikante Modellverbesserung.

200

Arbeitskraftangebot: In einem weiteren Schritt (Modelle 2a und 2b) wurden zunächst Variablen einbezogen, die gemäß Hypothesen I-1 (Lohnabstand gemäß Haushaltstyp), I-2 (Mehrfachbezug) und I-3 (erfragtes Arbeitskraftangebot) häufig als Determinanten des Arbeitskraftangebotes diskutiert werden. Variablen zum Test der Hypothese I-1 Die Unterscheidung von Haushaltstypen erfolgt hier auf Grundlage von sieben Dummy-Variablen, die nicht alle identisch mit den Haushaltstypen in der Untersuchung zum Lohnabstand sind, diesen aber trotzdem sehr nahe kommen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Haushaltstypen: Alleinstehende Frauen; alleinstehende Männer; Paare ohne Kinder; jeweils Paare und Alleinerziehende mit mindestens einem Kind jünger als 6 Jahre; schließlich Paare, bei denen das jüngste Kind 6 Jahre und älter war. Sie werden als Kovariate in Modell 2a berücksichtigt. Als Referenzkategorie dient hier die Gruppe der Alleinerziehenden, bei denen das jüngste Kind 6 Jahre und älter war. Variablen zum Test der Hypothese I-2 Zur Messung des Mehrfachbezuges diente in der Untersuchung die Anzahl der im Datenmaterial festgestellten Sozialhilfeepisoden pro Person (ebenfalls Modell 2a). Variablen zum Test der Hypothese I-3 Im SOEP wird auf jährlicher Basis die momentane Arbeitsbereitschaft abgefragt: „Wenn man Ihnen jetzt eine passende Stelle anbieten würde, könnten Sie dann gleich anfangen zu arbeiten?“ Negative Antworten stehen hier für ein negatives Arbeitskraftangebot und gehen als 0-1 Dummy in die Analyse der Variableneffekte in Modell 2b ein. Positive Antworten und Antwortverweigerungen dienen als Referenzkategorie. Wie der Log-Likelihood-Ratio-Test zeigt, schlägt sich sowohl die Einbeziehung von Haushaltstypen und Mehrfachbezug (Hypothesen I-1 und I-2) als auch die Einbeziehung des erfragten Arbeitskraftangebots (Hypothese I-3) in signifikanten Modellverbesserungen nieder. (Modell 2a vs. Modell 1 und Modell 2b vs. Modell 2a).

201

Arbeitskraftnachfrage: Wie gesehen, bringen die Erweiterungen der Modelle mit den zusätzlichen Kovariaten Haushaltstypen, Mehrfachbezug relevante Modellverbesserungen. Ob sie wirklich ausschließlich das Arbeitskraftangebot von Sozialhilfeempfängern messen, bleibt indes ungewiss, denn eine Erweiterung des Modells um das erfragte Arbeitskraftangebot liefert eine zusätzliche und ebenfalls signifikante Modellverbesserung. Es ist daher zumindest davon auszugehen, dass sich das Arbeitskraftangebot nicht nur als eine Funktion von Lohnabständen und Lerneffekten darstellt. In den Modellen 3a und 3b werden ausschließlich Variablen berücksichtigt, die sehr häufig mit der Arbeitskraftnachfrage (Hypothesen II-1 und II-2) in Verbindung gebracht werden. Im Einzelnen handelt es sich hier um die Variablen Lebensalter und berufliche Qualifikationen. Variablen zum Test der Hypothese II-1 Hier handelt es sich um gruppierte Werte des Lebensalters. Sie gehen ebenfalls als Dummyvariablen in die Datenanalyse (Modell 3a) ein. Im Einzelnen handelt es sich um die Altersgruppen 16-25 Jahre; 26-35 Jahre, schließlich 36-45 Jahre. Die Gruppe der über 45-Jährigen dient im Modell als Referenzkategorie. Variablen zum Test der Hypothese II-2 Als besonders relevant wird in der Fachliteratur häufig die Bedeutung von beruflichen Qualifikationen bei der Selektion von Arbeitskräften hervorgehoben. Hierzu wurden folgende Variablendummys in das Modell 3b einbezogen: kein Berufsabschluss; abgeschlossene Lehre; Fachschul-, Fachhochschul- oder Hochschulabschluss. Personen, die keine Angabe zu beruflichen Qualifikationen bzw. Abschlüssen machten, dienen als Referenzkategorie. Wie anhand der Testergebnisse nachvollzogen werden kann, liefert die Aufnahme von Variablen, die eher der Arbeitskraftnachfrage zugerechnet werden, wie schon die Modelle zum Arbeitskraftangebot höchst signifikante Modellverbesserungen. Variablen zum Test der Hypothese III Modell 4a nimmt alle Variablen der Modelle 2b und 3b auf. Es ergeben sich gegenüber den Referenzmodellen wiederum höchst signifikante Modellverbesserungen. In Modell 4b wird zusätzlich die Samplezugehörigkeit in die Datenana202

lyse einbezogen Zwei Dummys messen die Zugehörigkeit zu den Teilstichproben A- „Westdeutsche“ und C-„Deutsche (Ost)“. Als Referenzkategorie dient die Zugehörigkeit zu den Teilstichproben B- „Ausländer“ und D-„Zuwanderer (1984-1993)“. In diese Kategorie fällt auch die quantitativ wenig bedeutsame Zugehörigkeit zur Ergänzungsstichprobe, die erst ab 1998 erfasst wird: E- „Ergänzung 1998“. Die Prüfung durch den Likelihood-Ratio-Test liefert hier eine weitere Verbesserung des Modellfits, wenn nicht auf höchst-signifikanten, so doch auf hoch-signifikantem Niveau. Variablen zum Test der Hypothese IV Schließlich werden in Modell 5, zusätzlich zu den bereits erwähnten Variablen, der Einfluss von Familienstand und Familienereignissen überprüft. Auch diese sorgen wiederum für eine (höchst-) signifikante Verbesserung gegenüber den bisher getesteten Verlaufsdatenmodellen. Die (geschlechtsspezifische) Relevanz auf die Arbeitsmarktmobilität folgender Familienereignisse wird überprüft: „Heirat“, „Geburt eines Kindes“, „Einzug des Partners“, „Auszug eines Kindes“.119 Außerdem wird die Abwesenheit von relevanten Familienereignissen überprüft „kein Familienereignis“. Als Referenzkategorie dienen in diesem Fall die Familienereignisse „Scheidung“, „Trennung“, „Tod des Partners“, „Sonstiges“. Zusätzlich wurde ein Dummy zum Familienstand „verheiratet“ in das Modell einbezogen. Als Referenzkategorie dienen in diesem Fall die Angaben „ledig“, „geschieden“, „verwitwet“.

119 Für die Mobilität in andere Formen der Existenzsicherung wurden nur die Familienereignisse „Geburt eines Kindes“ und „kein Familienereignis“ in das Modell 5 aufgenommen.

203

Tab. 9.3: Gegenüberstellung der gerechneten Modelle auf Basis von LikelihoodRatio-Tests Modellnr. (Variablen)

LogLik

df

LR-Test

Modell 0

-3152,0266

–

Modell 1 (nur Zeitperioden)

-3024,3663

255,3206***

Modell 2a (Mehrfachbezug, Haushaltstyp) Modell 2b (zusätzl. Arbeitskraftangebot)

-2985,37 -2970,9467

14 16

333,3132*** 362,1598***

Modell 2a vs. Modell 1 Modell 2b vs. Modell 2a

-2985,37 -2970,9467

14 2

77,9926*** 28,8466***

Modell 3a (Lebensalter) Modell 3b (zusätzl. berufl. Qualifikation)

-3003,6454 -2985,5739

6 14

296,7624*** 332,9054***

Modell 3a vs. Modell 1) Modell 3b vs. Modell 3a

-3003,6454 -2985,5739

6 8

41,4418*** 36,1430***

Modell 4a (alle Var. aus Modell 2b u. 3b) Modell 4b (zusätzl. Herkunft)

-2918,0999 -2908,0958

30 36

467,8534*** 487,8616***

Modell 4a vs. Modell 2b Modell 4a vs. Modell 3b Modell 4b vs. Modell 4a

-2918,0999 -2918,0999 -2908,0958

14 16 6

105,6936*** 134,9480*** 20,0082**

Modell 5 (Modell 4b-Var.,Fam.-stand, -ereign.)

-2876,6173

52

550,8186***

Modell 5 vs. Modell 4b

-2876,6173

16

62,957***

9.3 Überprüfung der Hypothesen

Zeitabhängigkeit der Rate: Bisher wurde die Relevanz der Gesamtmodelle auf Grundlage des LikelihoodRatio-Tests bewertet. In einem weiteren Schritt der Datenanalyse stehen noch nicht die Hypothesen selbst im Fokus der Datenanalyse, sondern der Verlauf der Rate. Im Basis-Exponentialmodell (Modell 0) werden konstante Raten geschätzt. Für den Übergang in eine Vollzeittätigkeit wird dabei ein Wert von r=exp(3,8107)=0,0221 errechnet. Für den Übergang in andere Formen der Existenzsicherung errechnet sich ein Wert von r=exp(-3,4853)=0,0306. Wie schon er204

wähnt, wird die Modellierung von konstanten Raten dem realen Übergangsprozess von Sozialhilfe in verschiedene Formen der Existenzsicherung (Arbeit, sozialstaatliche Transferprogramme, Familientransfers) nicht gerecht. In Modell 1 wird das Basis-Exponentialmodell modifiziert, in der Form, dass zeitperiodenspezifische Raten geschätzt werden. Abbildung 9.1 weist die Ergebnisse der Modellschätzungen der Rate für die Übergänge in Vollzeittätigkeit des Modells 1 (vgl. auch die Werte in Tabelle 9.4, Modell 1, Spalte 3, im unteren Tabellenteil unter Zeitabhängigkeit der Rate) in grafischer Form aus.120 Im direkten Vergleich mit dem Verlauf der Rate in Abbildung 8.6 kann konstatiert werden, dass das konfirmative (erweiterte) Exponentialmodell recht gut geeignet ist, die Ergebnisse der Life-Table-Schätzung aus Kapitel 8 annähernd zu reproduzieren. Abb. 9.1: Mobilität aus der Sozialhilfe: Geschätzte Übergangsrate (Exponentialmodell 1 mit periodenspezifischen Übergangsraten, Wechsel in Vollzeiterwerbstätigkeit) r(t) 0.12 Entwicklung der Übergangsrate (PCEM)

0.1

Wechsel in Erwerbstätigkeit (Vollzeit)

0.08 0.06 0.04 0.02 0 0

12

24

36

48

60

72

Dauer der Sozialhilfe in Monaten

Das gilt insbesondere für die ersten beiden Jahre. Im Anschluss an diesen Zeitraum ergeben sich zwar zwischen beiden Schätzungen Abweichungen, die aber nicht überbewertet werden sollten, vor allen Dingen auch deshalb, weil die Einteilung der Zeiträume im Exponentialmodell bei längeren Verläufen im Ver120 Der konstante Wert für das Basis-Exponentialmodell (Modell 0) ist in Abbildung 9.2 als unterbrochene Linie erkennbar.

205

gleich zur vorgenommenen Life-Table-Schätzung variiert. Alles in allem belegt auch dieses Ergebnis wiederum die Abwesenheit einer Armutsfalle, auch wenn bei besonders langen Verläufen die Mobilität in Erwerbsarbeit ziemlich gering ausfällt. In Abbildung 9.2 werden zudem die Ergebnisse der Modellschätzungen der Rate für die anderen Übergänge (vgl. auch die Einzelwerte in Tabelle 9.5, Modell 1, Spalte 3 im unteren Tabellenteil, unter Zeitabhängigkeit der Rate) veranschaulicht.121 Auch hier ist das Exponentialmodell mit periodenspezifischen Raten gut geeignet, die Werte aus der Life-Table-Schätzung (vgl. Abb. 8.7) nahezu zu reproduzieren. Abb. 9.2: Mobilität aus der Sozialhilfe: Geschätzte Übergangsrate (Exponentialmodell 1 mit periodenspezifischen Übergangsraten, Wechsel in andere Lagen als Vollzeiterwerbstätigkeit) r(t) 0.12 Entwicklung der Übergangsrate (PCEM)

0.1

kein Wechsel in Erwerbstätigkeit (Vollzeit)

0.08 0.06 0.04 0.02 0 0

12

24

36

48

60

72

Dauer der Sozialhilfe in Monaten

Ein Vorteil der konfirmativen Verlaufsdatenmodelle ist zudem dadurch gegeben, dass die Einbeziehung von Kovariaten es ermöglicht, die Raten der Referenzgruppen zu schätzen. In Modell 5 beispielsweise wird die Rate derjenigen geschätzt, die der Gruppe der Alleinerziehenden angehören, deren jüngstes Kind 6 Jahre oder älter war, die eine Sozialhilfeepisode aufwiesen, die die Frage nach 121 Der konstante Wert für das Basis-Exponentialmodell (Modell 0) ist in Abbildung 9.3 wieder als unterbrochene Linie erkennbar.

206

der sofortigen Arbeitsbereitschaft positiv beantworteten, 46-59 Jahre alt waren, sowie keine Angabe zu beruflichen Bildungsabschlüssen machten, Ausländer waren, nicht verheiratet (ledig, geschieden oder verwitwet bzw. keine Angabe) und eines der Familienereignisse Scheidung, Trennung, Tod des Partners, oder Sonstiges angaben (vgl. auch Tabellen 9.4 und 9.5, Spalte 9 im unteren Tabellenteil, unter Zeitabhängigkeit der Rate). Ohne Zweifel sind Personen, auf die diese Merkmale zutreffen den benachteiligten Gruppen zuzurechnen. Betrachtet man nun die Übergangsraten für diese Referenzgruppen in Vollzeittätigkeit (Modell 5, grafische Präsentation in Abb. 9.3), wird klar, dass sie zum Anfang von Sozialhilfeepisoden nur ca. 1/8 (bis 3. Monat) der durchschnittlichen Werte für alle Bezugsgruppen (Modell 1) annehmen, im weiteren Verlauf sich jedoch bis auf 1/4 (ab 60. Monat) der Werte in Modell 1 annähern (Vgl. der grafischen Darstellungen in Abb. 9.1, 9.3 bzw. Tabelle 9.4, Spalte 3 im unteren Tabellenteil und Spalte 9 im unteren Tabellenteil, unter Zeitabhängigkeit der Rate). Abb. 9.3: Mobilität aus der Sozialhilfe: Geschätzte Übergangsrate (Exponentialmodell 5 mit periodenspezifischen Übergangsraten, Wechsel in Vollzeiterwerbstätigkeit) r(t) 0.012 Entwicklung der Übergangsrate (PCEM, Ref.)

0.01

Wechsel in Erwerbstätigkeit (Vollzeit)

0.008 0.006 0.004 0.002 0 0

12

24

36

48

60

72

Dauer der Sozialhilfe in Monaten

Das kann so interpretiert werden, dass sich die Arbeitsmarktmobilität der Referenzgruppen nicht insgesamt, aber im Vergleich zu den anderen Bezugsgruppen im Verlaufe des Sozialhilfebezuges etwas verbessert. 207

Für die anderen Übergänge („kein Wechsel in Vollerwerbstätigkeit“, vgl. Abb. 9.4 bzw. auch Tabelle 9.5, Spalte 9 im unteren Tabellenteil, unter Zeitabhängigkeit der Rate) hingegen, steigen die Werte der Referenzgruppen für die Übergangsrate teilweise bis zum Sechsfachen (ab 60. Monat) gegenüber den Werten für die Rate in Modell 1 (Vergleich der Grafen in Abb. 9.2 und 9.4). Dieses Ergebnis kann so interpretiert werden, dass besonders benachteiligte Personengruppen dazu neigen (bzw. sich auch dazu gezwungen sehen), anderen Formen der Existenzsicherung gegenüber der Vollerwerbstätigkeit den Vorzug zu geben. Abb. 9.4: Mobilität aus der Sozialhilfe: Geschätzte Übergangsrate (Exponentialmodell 5 mit periodenspezifischen Übergangsraten, Wechsel in andere Lagen als Vollzeiterwerbstätigkeit) r(t)

0.5 Entwicklung der Übergangsrate (PCEM, Ref.)

0.4

kein Wechsel in Erwerbstätigkeit (Vollzeit)

0.3 0.2 0.1 0 0

12

24

36

48

60

72

Dauer der Sozialhilfe in Monaten

Damit ist aber noch nicht darüber entschieden, warum sie das tun. Hierfür kommen gemäß den aufgestellten Hypothesen I-IV, neben finanziellen Anreizgesichtspunkten und Lerneffekten, auch eine schwache Arbeitskraftnachfrage und Familienereignisse in Betracht. Dazu werden die Ergebnisse der Modellschätzung in Tab. 9.4 („Wechsel in Vollerwerbstätigkeit“) und Tab. 9.5 („Wechsel in andere Lagen als Vollerwerbstätigkeit“), jeweils Modell 5, diskutiert.

208

209

-

0,3861+ 0,5903** 0,8510***

47,12 80,45 134,20

1,1347*** 1,4218*** 1,5162***

-0,8225***

Erfragtes Arbeitskraftangebot: Referenz — keine Angabe oder positives Arbeitskraftangebot negatives Arbeitsangebot -0,9222*** -60,24

Alter: Referenz — 46-59 Jahre 16-25 Jahre 26-35 Jahre 36-45 Jahre

-0,1725+

Abhängigkeit der aktuellen Sozialhilfeepisode von Vorepisoden Episodennr. -0,2055* -18,58

211,02 314,46 355,49

-56,07

-15,84

31,31 66,60

0,2724 0,5104+

in %

11,95

Coeff

0,1129

Coeff

96,91 161,48 305,52

in %

Modell 5

0,6776* 0,9612*** 1,4000***

Coeff

in % (7)

(9)

in %

Modell 3b (8)

Coeff

Modell 2b

(1) (2) (3) (4) (5) (6) Haushalt: Referenz — Alleinerziehende mit min. einem Kind (6 Jahre und älter) Alleinst. Mann 0,8107*** 124,95 Alleinst. Frau 0,3201 37,73 Paar ohne Kind 1,1407*** 212,90 Alleinerziehende: - jüngstes Kind unter 6 Jahre 0,2620 29,95 Paare mit Kindern (bis 6) - jüngstes Kind unter 6 Jahre 0,5593* 74,94 - jüngstes Kind min. 6 Jahre 0,7967*** 121,82

Variable

Modell 1

Tab. 9.4: Determinanten des Abgangs aus der Sozialhilfe (Wechsel in Vollzeitarbeit)

12,39

Tabelle 9.4 Fortsetzung (I):

Berufliche Bildungsabschlüsse: Referenz — keine Angabe Kein Berufsabschluss -0,0313 0.1309 -3,08 Abgeschl. Lehre 0,4194+ 0,2950 52,10 FS, FHS, HS 0,6823* 97,84 0,5373+ Sonstige 0,6908* 99,53 0,7327* Samplezugehörigkeit: Referenz — Ausländer u.a. (Zusammenfassung der Stichproben B,D und E) Ost 0,7310*** West 0,2576 Familienstand: Referenz — nicht verheiratet (ledig, geschieden, verwitwet, keine Antwort) verheiratet 0,1168

54,16 0,99 7,21 -62,21 134,15 37,47 -44,97 -55,65 93,15 -16,22

107,72 29,38

13,99 34,31 71,14 108,07

Familienereignis: Referenz — keine Geburt, keine Heirat, kein Einzug des Partners, kein Auszug eines Kindes kein Ereignis, männl. Bezieher 0,4328** kein Ereignis, weibl. Bezieher 0,0099 Geburt, männl. Bezieher 0,0696 Geburt, weibl. Bezieher -0,9730** Heirat, männl. Bezieher 0,8508* Heirat, weibl. Bezieher 0,3182 Einzug, männl. Bezieher -0,5973 Einzug, weibl. Bezieher -0,8131 Auszug eines Kindes, männl. 0,6583 Auszug eines Kindes, weibl. -0,1770

210

211

Coeff (2)

-3,8787*** -3,8707*** -3,8137*** -2,7308*** -4,3424*** -5,0073*** -4,4849*** -3,6775*** -5,0907*** -4,9416*** -3,6972*** -4,6052*** -5,0562*** -4,4587*** -5,5606***

Variable (1)

Zeitabhäng. bis 3. Monat 4-6. Monat 7-9. Monat 10-12. Monat 13-15. Monat 16-18. Monat 19-21. Monat 22-24. Monat 25-27. Monat 28-30. Monat 31-33. Monat 34-36. Monat 37-39. Monat 40-59. Monat Ab 60. Monat

Tabelle 9.4 Fortsetzung (II):

0,0207 0,0208 0,0221 0,0652 0,0130 0,0067 0,0113 0,0253 0,0062 0,0071 0,0248 0,0100 0,0064 0,0116 0,0038

Rate (3) -4,0837*** -4,0505*** -3,9716*** -2,8563*** -4,4134*** -5,0594*** -4,5470*** -3,7319*** -5,1318*** -4,9797*** -3,7405*** -4,6431*** -5,1258*** -4,5663*** -5,5534***

Coeff (4) 0,0168 0,0174 0,0188 0,0575 0,0121 0,0063 0,0106 0,0239 0,0059 0,0069 0,0237 0,0096 0,0059 0,0104 0,0039

Rate (5) -4,6465*** -4,6292*** -4,5598*** -3,4641*** -5,0697*** -5,7284*** -5,1856*** -4,3549*** -5,7362*** -5,5928*** -4,3625*** -5,2687*** -5,7361*** -5,1403*** -6,0849***

Coeff (6) 0,0096 0,0098 0,0105 0,0313 0,0063 0,0033 0,0056 0,0128 0,0032 0,0037 0,0127 0,0052 0,0032 0,0059 0,0023

Rate (7) -5,9876*** -5,8906*** -5,7587*** -4,5846** -6,1054*** -6,7302*** -6,2198*** -5,3717*** -6,6709*** -6,5203*** -5,2738*** -6,1105*** -6,5696*** -6,0017*** -7,0618***

Coeff (8)

0,0025 0,0028 0,0032 0,0102 0,0022 0,0012 0,0020 0,0046 0,0013 0,0015 0,0051 0,0022 0,0014 0,0025 0,0009

(9)

Rate

in %

Modell 5

Tab. 9.5: Determinanten des Abgangs aus der Sozialhilfe (Wechsel in andere Lagen als Vollzeitarbeit) Modell 3b Coeff

in %

in %

Coeff

Modell 2b

33,68 39,10 43,02

Coeff

0,2903 0,3300+ 0,3578

-10,45

in %

-0,1104

18,48 44,41

Modell 1

0,1696 0,3675

-27,96

Coeff

-0,3280***

17,41

Variable

- jüngstes Kind unter 6 Jahre 0,0021 0,21 - jüngstes Kind min. 6 Jahre 0,0287 2,91 Abhängigkeit der aktuellen Sozialhilfeepisode von Vorepisoden Episodennr. -0,2951*** -25,55

0,1605

Haushalt: Referenz — Alleinerziehende mit min. einem Kind (6 Jahre und älter) Alleinst. Mann -0,0392 -3,84 Alleinst. Frau 0,4037* 49,74 Paar ohne Kind 0,1054 11,12 Alleinerziehende: - jüngstes Kind unter 6 Jahre -0,2225 -19,95 Paare mit Kindern (bis 6)

Erfragtes Arbeitskraftangebot: Referenz — keine Angabe oder positives Arbeitskraftangebot negatives Arbeitskraftangebot 0,2862* 33,14

52,50 23,31 25,86

0,3560* 0,1141 0,1417

42,76 12,09 15,22

0,4220* 0,2095 0,2300

Alter: Referenz — 46-59 Jahre 16-25 Jahre 26-35 Jahre 36-45 Jahre

212

213

11,90

0,1124 -0,5123** 0,1026 -0,6841* 0,0706

Familienstand: Referenz — nicht verheiratet (ledig, geschieden, verwitwet, keine Antwort) Familienstand

Familienereignis1: Referenz — keine Geburt kein Ereignis, männl. Bezieher kein Ereignis, weibl. Bezieher Geburt, männl. Bezieher Geburt, weibl. Bezieher

-40,09 10,80 -49,55 7,32

8,73 -21,05

-39,47 -47,42 -59,86 -62,66

-0,3596* -30,20 -0,5020** -0,4375** -35,44 -0,6429*** -0,6980** -50,24 -0,9128*** -0,8229** -56,08 -0,9852** Samplezugehörigkeit: Referenz — Ausländer u.a. (Zusammenfassung der Stichproben B,D und E) Ost 0,0837 West -0,2364+

Berufliche Bildungsabschlüsse: Referenz — keine Angabe Kein Berufsabschluss Abgeschl. Lehre FS, FHS, HS Sonstige

Tabelle 9.5 Fortsetzung (I):

-3,5807*** -3,7401*** -3,5000*** -2,3717*** -3,8315*** -4,3141*** -4,1972*** -3,7728*** -4,1744*** -3,8430*** -3,5430*** -2,9957*** -4,3631*** -4,2356*** -5,5602***

Coeff (2) 0,0279 0,0238 0,0302 0,0933 0,0217 0,0134 0,0150 0,0230 0,0154 0,0214 0,0289 0,0500 0,0127 0,0145 0,0038

Rate (3)

Tabelle 9.5 Fortsetzung (II): Variable (1) Zeitabhäng. bis 3. Monat 4-6. Monat 7-9. Monat 10-12. Monat 13-15. Monat 16-18. Monat 19-21. Monat 22-24. Monat 25-27. Monat 28-30. Monat 31-33. Monat 34-36. Monat 37-39. Monat 40-59. Monat Ab 60. Monat

Coeff (4) -3,3036*** -3,4622*** -3,2093*** -2,0747*** -3,5318*** -4,0049*** -3,8740*** -3,4527*** -3,8765*** -3,5296*** -3,2529*** -2,7111*** -4,0736*** -3,9294*** -5,2328***

0,0368 0,0314 0,0404 0,1256 0,0293 0,0182 0,0208 0,0317 0,0207 0,0293 0,0387 0,0665 0,0170 0,0197 0,0053

Rate (5)

-3,4030*** -3,5553*** -3,3105*** -2,1832*** -3,6391*** -4,1182*** -3,9985*** -3,5680*** -3,9493*** -3,6173*** -3,3123*** -2,7419*** -4,0995*** -3,9580*** -5,2878***

Coeff (6)

0,0333 0,0286 0,0365 0,1127 0,0263 0,0163 0,0183 0,0282 0,0193 0,0269 0,0364 0,0644 0,0166 0,0191 0,0051

Rate (7)

-2,1256*** -2,2619*** -1,9932** -0,8533 -2,3055*** -2,7665*** -2,6186*** -2,1763** -2,5637*** -2,2212** -1,9418** -1,3606* -2,6992** -2,5373*** -3,7570**

Coeff (8)

0,1194 0,1042 0,1363 0,4260 0,0997 0,0629 0,0729 0,1135 0,0770 0,1085 0,1434 0,2565 0,0673 0,0791 0,0234

Rate (9)

Anmerkungen Tabelle 9.4/9.5: Modellspezifikation: competing risks, Piecewise Constant Exponentialmodell, * signifikant auf dem .05 Niveau; ** signif. auf dem .01 Niveau; *** signif. auf dem .001 Niveau, + nicht signif. .10 Niveau; 1Die Referenzkategorie für „keine Ereignisse“ bestimmt sich als Gruppe derjenigen, die keines der Familienereignisse: Geburt, Heirat, Einzug Partner, Auszug Kind, Scheidung, Trennung, Tod des Partners, Sonstiges angaben.

214

Zunächst zu den Determinanten des Arbeitskraftangebotes. In Hypothese I-1 wurde der Einfluss von finanziellen Anreizen auf die Entscheidung zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit behauptet. Der finanziellen Anreizsituation von Sozialhilfeempfängern wurde im Sozialhilfegesetz besonders große Bedeutung beigemessen, wenn von der Haushaltsgröße die Rede ist. Die Untersuchungen zu den Lohnabständen ergaben, dass unter den großen Haushalten, besonders jene eine problematische Anreizsituation aufweisen, in denen Kinder wohnen. Tatsächlich aber weist das Ereignismodell nicht bei größeren Haushalten auf eine schwierige Arbeitsmarktsituation hin, sondern im Fall von Alleinerziehenden-Haushalten. Alle anderen Haushalte wiesen gegenüber der Referenzgruppe der Alleinerziehenden, bei denen das jüngste Kind älter als 6 Jahre alt war, eine höhere Übergangsrate in Erwerbstätigkeit auf. Das ist an den durchgehend positiven Effektkoeffizienten in Tabelle 9.4, Spalte 8 erkennbar. Alleinerziehende bei denen das jüngste Kind noch nicht 6 Jahre alt war, schneiden den Analyseergebnissen zufolge kaum besser ab als die Referenzgruppe (ca. 12% höhere Übergangsrate, aber nicht signifikant, vgl. Tab. 9.4, Spalte 9). Trotz einer in etwa gleichen Anreizsituation wie bei den Alleinerziehenden (ähnliche Lohnabstände, vgl. Tabellen 9.1 und 9.2), ist die Mobilität von Paaren mit Kindern hingegen höher: Für Paare mit Kindern, bei denen das jüngste Kind noch jünger war als 6 Jahre, kann das an einer (leicht) erhöhten Rate von ca. 31%, allerdings nicht signifikant, beobachtet werden. Paare mit Kindern, deren jüngstes Kind älter als 6 Jahre alt war, weisen eine um ca. 66% erhöhte Rate auf (ebenfalls nicht signifikant). In einem Modell ohne weitere Variableneinflüsse zur Arbeitskraftnachfrage, zu Familienständen und Familienereignissen (Tabelle 9.4, Modell 2b, Spalte 4-5) ist die Arbeitsmarktmobilität von Paaren mit Kindern noch deutlich höher und signifikant (ca. 75% bzw. 122% erhöhte Übergangsraten). Diese Ergebnisse machen deutlich, dass es offensichtlich nicht nur auf Lohnabstände bzw. etwas allgemeiner auf das Arbeitskraftangebot ankommt. Dieser Eindruck verstärkt sich zudem, wenn die Analyseergebnisse für die Haushaltstypen „Alleinstehende Männer“, „alleinstehende Frauen“ und „Paare ohne Kinder“ verglichen werden. Den Annahmen zum Lohnabstand zufolge (vgl. wieder Tabellen 9.1 und 9.2), müsste sich hier die besonders hohe finanzielle Differenz zwischen Sozialhilfe und Niedriglöhnen bei alleinstehenden Personen entsprechend auch in der höchsten Mobilität in den Arbeitsmarkt ausdrücken. Aber wie die Analyseergebnisse belegen (97% bzw. 162% erhöhte Rate, vgl. Tab. 9.4, Spalte 9), gelang gerade ihnen das nicht, sondern stattdessen den Paaren ohne Kinder (305%), die den Untersuchungen zum Lohnabstand zufolge, einen geringeren Lohnabstand aufwiesen. Der Abstrom in andere Formen der Existenzsicherung (vgl. Tab. 9.5, Spalte 9) wird durch die Zugehörigkeit zu diversen Haushaltstypen hingegen, wenn 215

überhaupt (alle Ergebnisse sind insignifikant), nur geringfügig beeinflusst (1844% erhöhte Raten). Der negative Wert (ca. 11% niedrigere Rate für die Alleinerziehenden-Haushalte, mit Kindern jünger als 6 Jahre gegenüber der Referenzgruppe der Alleinerziehenden mit Kindern von 6 Jahren und älter) kann ev. darin begründet liegen, dass diese Personen im Verhältnis zu den anderen Gruppen kaum auf andere finanzielle Einkommen ausweichen konnten. Während Lohnabstände den Einfluss von finanziellen Anreizen messen und damit über die Verhaltenrelevanz der Verhaltensannahmen des Armutsfallentheorems informieren, kommen für Sozialleistungsabhängigkeit („Welfare Dependency“) auch Lern- bzw. Gewöhnungseffekte in Frage. Die Verhaltensrelevanz psychosozialer Ursachen ist Gegenstand der Hypothese I-2: Je häufiger bereits in der Vergangenheit Sozialhilfe bezogen wurde, umso geringer ist die Mobilität in Erwerbsarbeit. Wie anhand des Modells gesehen werden kann, wirkt sich Mehrfachbezug tatsächlich negativ auf die Beendigung des Sozialhilfebezugs aus. Wenn überhaupt von einer Art „Armutsfalle“ gesprochen werden kann – einer Armutsfalle, die allerdings selten endgültig zuschnappt –, dann findet sich hier der stärkste Hinweis, denn offenbar handelt es sich hier um Sozialhilfeempfänger, die zwischen Sozialhilfe und anderen sozialen und/oder familienbezogenen Transfers hin und herwechseln. Die Stärke des Effektes lässt sich in Prozent ausdrücken: Beispielsweise verringert sich die Arbeitsmarktmobilität von Personen, die nach Sozialhilfe wieder in Arbeit fanden, mit jeder weiteren Sozialhilfeepisode um ca. 16% (nicht signifikant, aber auf 0.10 Niveau, vgl. Tab. 9.5, Spalte 9). Insgesamt spricht dieser negative Effekt nicht für finanzielle Anreizgesichtspunkte, sondern eher für destruktive Lern- oder Gewöhnungseffekte, die eine ausgesprochen psychosoziale Dimension aufweisen können: Auf der einen Seite ist den Personen bekannt, dass sie einen Anspruch auf Sozialhilfe haben, den sie bei häufigerem Eintritt des Risikos „Arbeitslosigkeit“ auch wahrnehmen. Auf der anderen Seite dürfte sich der finanzielle Anreiz aus Erwerbstätigkeit jedoch kaum verändern und trotzdem nimmt die Mobilität in Erwerbstätigkeit ab! Das spricht nicht dafür, dass finanzielle Anreize motivieren, sondern für einen Entmutigungseffekt, bei dem sich diese Personen nicht mehr um eine Erwerbstätigkeit bemühen, weil sie sich dadurch keinen nachhaltigen Erfolg mehr versprechen. Diese Interpretation wird zusätzlich dadurch gestützt, dass sich diese Personen offenbar auch nicht mehr um Alternativen bemühen, denn die Abgangsmobilität in andere Formen der Existenzsicherung sinkt ebenfalls, pro zusätzlicher Sozialhilfeepisode um höchst-signifikante 28% (vgl. dazu auch noch einmal die Ausführungen zu „Welfare Dependency“ im Kontext von Expectancy-Value und Learned Helplessness“ in Kapitel 5.4).

216

Weiter zur Frage der selbst geäußerten Arbeitsbereitschaft (Hypothese I-3). Haben die Interviewpartner die Frage „Wenn man Ihnen jetzt eine passende Stelle anbieten würde, könnten Sie dann gleich anfangen zu arbeiten?“ negativ beantwortet, ist gemäß dieser Hypothese mit einer geringeren Arbeitsmarktmobilität zu rechnen, als bei positiven oder indifferenten Antworten. Wie an den Ergebnissen der Datenanalyse gesehen werden kann, drückt sich ein negatives Arbeitskraftangebot tatsächlich auch in einer um 56% verminderten Arbeitsmarktmobilität aus (höchst-signifikant, vgl. Tab. 9.4, Spalte 9). Offensichtlich handelt es sich hier aber nicht um einen Entmutigungseffekt, wie im vorherigen Fall, denn der Wert korrespondiert auch mit einer erhöhten Mobilität in andere Formen der Existenzsicherung (ca. 17%, vgl. Tab. 9.5, Spalte 9), wobei sich der korrespondierende Wert im vollständigen Modell (Modell 5) aber nicht auf signifikantem Niveau sichern lässt.122 Diese Ergebnisse lassen Zweifel an der Eignung eines simplen und ausschließlich arbeitskraftangebotsorientierten Rational-Choice-Modells aufkommen. Daher scheint es angebracht auch auf der Arbeitskraftnachfrageseite nach Einflussfaktoren für eine gute bzw. schlechte Arbeitsmarktperformanz zu suchen. Dass die Nachfrage nach Arbeitskräften bei der Interpretation der Analyseergebnisse nicht vernachlässigt werden darf, kann mit den Analyseergebnissen zum Lebensalter von Sozialhilfeempfängern belegt werden (Hypothese II-1). Hier zeigt sich die besonders gute Arbeitsmarktsituation von Personen der Alterskohorte der 36-45 jährigen, die gegenüber den über 45 jährigen Sozialhilfebeziehern eine um ca. 355% erhöhte Übergangsrate aufweisen (vgl. Tab. 9.4, Spalte 9). Die jüngeren Alterskohorten weisen hier zwar auch auf eine durchweg bessere Arbeitsmarktsituation hin (211% und 314%). Allerdings gelingt es ihnen gegenüber den Älteren auch besser, die Sozialhilfe auf andere Weise zu beenden (vgl. Tab 9.5, Spalte 9). Das trifft insbesondere auf die Gruppe der 16-25 jährigen Sozialhilfeempfänger zu, die hier gegenüber der ältesten Gruppe eine um signifikant 52% erhöhte Mobilität aufweisen. Vorstellbar ist hier, dass neben anderen Familien- und sozialstaatlichen Transfers verstärkt auch andere Formen der Erwerbstätigkeit (geringfügig, Teilzeit) oder betriebliche Ausbildung/Erstausbildung bzw. auch Fortbildung/Umschulung wahrgenommen werden. Noch etwas ist bei der Betrachtung des Lebensalters interessant: Wie ein Vergleich der Prozentwerte zwischen Modell 3b (nur arbeitsnachfrageseitige Faktoren) und Modell 5 belegt, steigt der positive Einfluss der Gruppenzugehörigkeit zu den jüngeren Altersgruppen, gegenüber der Gruppe der über 45-jährig. teilweise hinsichtlich von Wechseln in Erwerbstätigkeit bis auf das Vierfache. Das unterstreicht zunächst, dass die Einbeziehung weiterer Variablen Sinn 122 Allerdings zeigt er in einem Modell ohne Nachfrageeffekte und Familienereignisse (Modell 2b) Signifikanz auf dem .05 Niveau an.

217

macht. Beispielsweise ist hier daran zu denken, dass Interaktionseffekte zwischen Familienereignissen und dem Lebensalter auftreten könnten. Zu denken ist hierbei etwa daran, dass der Eintritt des Ereignisses „Heirat“ in einem frühen Lebensalter möglicherweise die Arbeitsmarktorientierung erleichtert, während das gleiche Ereignis in einem fortgeschrittenen Lebensalter dieselbe (möglicherweise) erschwert. Hier können also unterschiedliche Wirkungen ein und desselben Ereignisses zu unterschiedlichen Lebensaltern erwartet werden. Die Orientierung auf die Arbeitskraftnachfrageseite vereinfacht auch die Interpretation der Analyseergebnisse zum Einfluss von vorhandenen beruflichen Qualifikationen (Hypothese II-2). Am schlechtesten gelang es demnach offenbar den Personen in Arbeit zu wechseln, die keine Angaben zu einer beruflichen Qualifikation machten (Referenzkategorie).123 Im Gegensatz dazu haben es offenbar besonders die gut ausgebildeten Sozialhilfeempfänger relativ leicht, einen Wechsel in Arbeit zu vollziehen: Während sich Personen ohne Abschluss bzw. mit einem Facharbeiterabschluss aber nur undeutlich von der Referenzkategorie der Personen abhoben (14% bzw. 34%, zudem nicht signifikante Werte, vgl. Tab. 9.4, Spalte 9), die keine Angabe zu einem Berufsabschluss lieferten, gelang es Personen mit einem Fach-, Fachhochschul-, oder Hochschulabschluss und der Gruppe der sonstigen Berufsabschlüsse deutlich besser Sozialhilfe durch den Wechsel in Arbeit zu überwinden (71% bzw. 108% höhere Übergangsraten). Die Arbeitsmarktorientierung der Personen, die Angaben zu beruflichen Abschlüssen mitteilten, korrespondiert zudem mit den Prozentwerten für den Abgangsweg „kein Wechsel in Vollzeittätigkeit“ (vgl. Tab. 9.5, Spalte 9). Hier ist die Mobilität für alle Gruppen durchweg niedriger einzuschätzen als für die Referenzkategorie der Personen, die keine Angaben machten (39-63% niedrigere Übergangsraten, alle signifikant auf dem .01 oder .001 Niveau). Gegen eine Orientierung an Lohnabständen spricht auch, wenn die Herkunft der Sozialhilfebezieher in die Diskussion einbezogen wird (Hypothese III). In der hier ausgewerteten Stichprobe sind Personen der Sample A bis E enthalten, wobei sich der Herkunft nach zwischen Westdeutschen, Ausländern und Ostdeutschen differenzieren lässt. Überraschenderweise – und entgegen der desolaten Arbeitsmarktlage im Osten der Bundesrepublik – gelang im Beobachtungszeitraum nun gerade ostdeutschen Sozialhilfebeziehern der Wechsel in Erwerbstätigkeit signifikant besser als Westdeutschen und Ausländern (107% höhere Übergangsrate im Vergleich zur Referenzgruppe Ausländer, Tab. 9.4, Spalte 9) 123 Die Ursachen für Antwortverweigerungen können hier nicht geklärt werden. Etwa 1/5 der Befragten machte zu beruflichen Qualifikationen keine Angabe (vgl. auch Kap. 7.2, Abb. 7.16). Als Grund für dieses Antwortverhalten sind aber Stigmatisierungseffekte nicht auszuschließen. Vorstellbar ist die Situation, dass sich einige Sozialhilfeempfänger selbst gegenüber dem Interviewer schämen Angaben über keine oder geringe Bildungs-/Berufsabschlüsse zu geben.

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und das obwohl die Lohnabstände in Ostdeutschland durchweg geringer ausfallen als in Westdeutschland (sowohl absolut, als auch prozentual, vgl. hier noch einmal Tabellen 9.1 und 9.2). Gerade dieser ganz eindeutige Beleg unterstreicht noch einmal die empirische Schwäche der Verhaltensannahmen des Armutsfallentheorems. Wenn Wechsel in andere Existenzsicherungsformen („kein Wechsel in Vollzeittätigkeit“) betrachtet werden, fällt hingegen die geringere Mobilität von Westdeutschen auf (-21%), die jedoch das einfache Signifikanzniveau (Į =.05) nicht ganz erreicht. Der Tatbestand der höheren Arbeitsmarktmobilität von Ostdeutschen lässt sich nur im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Bedingungen auf den beiden Teilarbeitsmärkten Ost- und Westdeutschland erklären. Um diesen Sachverhalt zu verstehen, muss kurz auf die Arbeitsmarktlage in Ostdeutschland eingegangen werden: Der Zusammenbruch des realsozialistischen Staatensystems führte hier zu einer einschneidenden Veränderung auf dem Arbeitsmarkt. Durch die Übernahme westdeutscher Institutionen (z.B. Tarifrecht), den damit verbundenen Lohnerhöhungen und den Turbulenzen in den Transformationsländern konnten die ostdeutschen Industrieprodukte selbst auf den traditionellen Absatzmärkten des ehemaligen RGW nicht mehr abgesetzt werden. Der Niedergang der bis dato geschützten und wenig wettbewerbsfähigen Industrie (beschleunigt durch die den Wirtschaftsprozess blockierende Rückführung von Eigentum – Naturalrestitution) war unter diesen Rahmenbedingungen unvermeidlich, was sich in entsprechend hohen Arbeitslosenzahlen niederschlug. Das insgesamt niedrigere Lohnniveau, verbunden mit längeren Arbeitszeiten, hat aber bis heute nicht für eine nachhaltige Belebung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes gesorgt. Trotz dieser Situation wirken sozialisationsbedingte und institutionelle Faktoren aus der Spät-DDR fort, die sich verhältnismäßig positiv auf Beschäftigungsaufnahmen auswirken. Dazu gehört eine insgesamt höhere Erwerbsorientierung, die sich besonders bei Frauen erkennen lässt. Hinzu kommt eine bessere Lage bei der Kinderbetreuung, die es ermöglicht, (bei vorhandenen Arbeitsplätzen) Erwerbsarbeit und Familienaufgaben besser zu koordinieren. Was die private Wirtschaft nicht im ausreichenden Maße vermochte, nämlich die Bereitstellung von Arbeitsplätzen, wurde aber zum Teil durch umfangreiche Maßnahmen auf dem zweiten Arbeitsmarkt, gerade im hier untersuchten Beobachtungszeitraum von 1991 bis 1999, erreicht.

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Damit kann auch eine Erklärung dafür geliefert werden, warum es ostdeutschen Sozialhilfebeziehern im Beobachtungszeitraum offenbar wesentlich besser gelang den Wechsel in Erwerbstätigkeit zu vollziehen, und das trotz geringerer Lohnabstände und einer insgesamt schlechteren Arbeitsmarktsituation (auf dem ersten Arbeitsmarkt) als im Westen der Bundesrepublik. Schließlich soll im Rahmen dieser Datenanalyse noch der Einfluss von Familienereignissen auf die Arbeitsmarktmobilität erörtert werden (Hypothese IV). In die Datenanalyse wurden in einem weiteren Modell auch Variablen zu Familienereignissen einbezogen, die ebenfalls im Sozio-oekonomischen Panel jährlich abgefragt werden. Hier handelt es sich z.B. um die Ereignisse ‚keine Veränderung’, ‚Heirat’, ‚Geburt eines Kindes’, ‚Zusammenzug mit einem Partner’, ‚Auszug der Kinder’. Weil davon ausgegangen werden kann, dass sich in Reaktion auf solche Ereignisse gesellschaftlich immer noch weit verbreitete Wertorientierungen ihren Ausdruck verschaffen, wurde im Analysemodell zusätzlich das Geschlecht berücksichtigt. Zu den Ergebnissen: Zunächst zu den Personen, die im Jahr des Beginns einer Sozialhilfeepisode angaben, keine Veränderung ihrer Familiensituation erlebt zu haben: Demnach motiviert eine unveränderte Familiensituation offensichtlich besonders männliche Sozialhilfebezieher dazu, in Arbeit zu wechseln. Den Ergebnissen zufolge hatten sie in diesem Fall eine um (hochsignifikant) ca. 54% höhere Übergangsrate in Arbeit (Vollzeit, vgl. Tab. 9.4, unterer Tabellenteil, Spalte 9), als Personen, die über ein familiäres Ereignis berichteten. Dieses Ergebnis korrespondiert zudem mit der im Vergleich zu anderen Personen (hochsignifikant) niedrigeren Übergangsrate (ca. -41%), die das Modell für andere Abgangswege (kein Wechsel in Arbeit) ausweist (vgl. Tab. 9.5, unterer Tabellenteil, Spalte 9). Für Frauen hingegen lässt sich in dieser Hinsicht keine Wirkung feststellen. Wendet man sich jedoch einzelnen Familienereignissen zu, muss das eben vorgestellte Ergebnis differenzierter gesehen werden, denn es ist kaum davon auszugehen, dass Familienereignisse generell die Aufnahme von Beschäftigung ins Stocken bringen. Beispielsweise scheint Heirat im Familienzusammenhang immer noch sehr verbreitet zu einer Verstärkung traditioneller Wertemuster beizutragen: Männer haben in diesem Fall eine gegenüber der Restpopulation um 134% signifikant erhöhte Übergangsrate in Vollzeit-Arbeit, während sich für Frauen hier kein signifikanter Unterschied belegen lässt, wenngleich der Effekt auch hier schwach bis mäßig positiv ausfällt (37%). Dieses Ergebnis kann zudem als Bestätigung für die Arbeiten von Yamaguchi gesehen werden (vgl. Yamaguchi 1991). Auf die Persistenz traditioneller Werte weist auch das Ereignis „Geburt eines Kindes“ hin. In diesem Fall lässt sich für weibliche Sozialhilfebezieher eine (hochsignifikante) um ca. 62% signifikant reduzierte Übergangsrate belegen, während Männer vergleichsweise nur schwach positiv auf diese Familienveränderung durch eine Aufnahme einer Voll220

zeittätigkeit reagierten (7%), wobei dieses Ergebnis keine Signifikanz aufweist. Dennoch scheint die Geburt eines Kindes auch hier zu einer veränderten Haltung zu führen. Das belegt zumindest die im Vergleich um ca. 49% signifikant niedrigere Übergangsrate bei anderen Abgangsursachen, zu denen neben Ausbildungen, Familien- und sozialstaatlichen Transfers auch der Wechsel in Teilzeit oder andere geringfügige Formen der Erwerbsarbeit gehören. 9.4 Zusammenfassung der Ergebnisse der Verlaufsdatenanalyse

Die Ergebnisse der Datenanalyse lassen sich wie folgt zusammenfassen. An der Schnittstelle zwischen Sozialhilfe und Arbeitsmarkt kann, generell gesehen, nicht von einer Armutsfalle gesprochen werden. Die meisten Sozialhilfeepisoden sind kurz. Zwar gibt es auch lange und sehr lange Sozialhilfeverläufe, aber selbst in diesen Fällen ist die Arbeitsmarktmobilität nicht gleich 0. Tatsächlich ist aber davon auszugehen, und auch das zeigt die Datenanalyse eben auch, dass die Arbeitsmarktmobilität bei langzeitarbeitslosen Sozialhilfeempfängern deutlich abnimmt. Ein Teil der befragten Sozialhilfeempfänger gab an, dass sie sich derzeit nicht auf dem Arbeitsmarkt orientieren wollen, was sich auch in einer deutlich verringerten Mobilität in erwerbsabhängige Beschäftigung niederschlug. Ob finanzielle Anreize hierbei aber von entscheidender Relevanz sind, konnte mit der Datenanalyse anhand der Operationalisierung von Lohnabständen (gemäß der Zugehörigkeit zu verschiedenen Haushaltstypen) eben nicht belegt werden. Das beweist jedoch noch nicht, dass finanziellen Anreizen keine Bedeutung bei der Entscheidung zwischen Verbleib in Sozialhilfe oder der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zukommt. Hier ist aber wohl eher an mittel- und langfristige finanzielle Orientierungen zu denken, die im Gegensatz zu kurzfristigen finanziellen Erwägungen, die Entscheidung zur Aufnahme von geringbezahlten Tätigkeiten erleichtern (vgl. auch Gebauer/Petschauer/Vobruba 2002, besonders Kap. 5 ). Die Gründe für eine geringe Arbeitsmarktmobilität müssen daher auch woanders gesucht werden. Eine Ursache hierfür könnten Entmutigungseffekte als Ausdruck von destruktiven Lern- bzw. Gewöhnungsprozessen darstellen, die sich anhand der negativen Abhängigkeit der Arbeitsmarktperformanz von häufigen Wechseln zwischen Sozialhilfe und Erwerbsarbeit, sowie anderen Formen der Existenzsicherung andeuten und welche die psycho-soziale Dimension des Problems der geringen Arbeitsmarktmobilität von Sozialhilfeempfängern beschreiben. Hinzu kommen die schlechten Chancen von geringqualifizierten und älteren Sozialhilfeempfängern, deren Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt einfach eine zu geringe Nachfrage findet. 221

Dass auch solche Personen durchaus in der Lage sein können, sich mit einer erwerbsabhängigen Beschäftigung zu arrangieren, belegt die im Vergleich höhere Arbeitsmarktmobilität von ostdeutschen Sozialhilfeempfängern. Auch dieses Ergebnis spricht gegen eine starke Bedeutung von kurzfristigen finanziellen Anreizen in Form von Lohnabständen, weil die Lohnabstände in den ostdeutschen Bundesländern durchweg geringer ausfallen. Dieser Sachverhalt gibt Anlass danach zu fragen, warum es ostdeutschen Sozialhilfebeziehern besser gelang in Erwerbsarbeit zu wechseln. Dabei wird klar, dass die Arbeitsmarktsituation von ostdeutschen Sozialhilfeempfängern durch eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und der niedrigschwelligen Verfügbarkeit (ABM, HzA, zweiter Arbeitsmarkt) von Arbeitsplätzen gekennzeichnet ist. Genau das war in den ostdeutschen Bundesländern in den 1990 er Jahren gegeben: Einerseits war und ist die Kinderbetreuungslage durch Kindertagestätten in Ostdeutschland vergleichsweise gut. Andererseits waren durch die Maßnahmen auf dem zweiten Arbeitsmarkt (befristete) Vollzeitstellen auch für besonders benachteiligte Sozialhilfebezieher-Gruppen und trotz der hohen Arbeitslosigkeit verfügbar. Wie gesehen, scheinen auf der Arbeitskraftangebotsseite hingegen auch (vielfach traditionelle) Werte und Deutungen von Lebenssituationen eine entscheidende Rolle zu spielen, die sich auch geschlechtsspezifisch in unterschiedlicher Weise ausdrücken. Beispielsweise scheinen stabile Familiensituationen oder stabilisierende Familienereignisse (Heirat) besonders männliche Sozialhilfeempfänger dazu zu motivieren, ein Erwerbstätigkeitsverhältnis einzugehen. Auch die Geburt eines Kindes hat Konsequenzen für die Arbeitsmarktmobilität. Weibliche Sozialhilfebezieher übernehmen in diesem Fall sehr häufig die Kindererziehung und verbleiben in der Sozialhilfe. Männliche Sozialhilfebezieher wechseln in diesem Fall zum Teil in Vollzeittätigkeit oder andere Formen der Existenzsicherung.

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10. Konsequenzen der empirischen Befunde: Entwicklung und Verbesserung dynamischer Entscheidungsmodelle der Arbeitsmarktentscheidungen von Sozialleistungsbeziehern

Im Fokus der Forschungsarbeit standen bisher die Theorie und Empirie der Armutsfalle. Wie daran gesehen werden konnte, finden die pessimistischen Verhaltensannahmen des Armutsfallentheorems nur einen relativ geringen empirischen Rückhalt. Demnach verbleiben gemessen an der Gesamtzahl von Personen, die jemals Sozialhilfe bezogen nur wenige Personen länger als drei Jahre im Sozialhilfebezug. Die Verhaltensannahmen des Armutsfallentheorems können also auf keinen Fall eine allgemeine empirische Relevanz beanspruchen. Der Verhaltensautomatismus entpuppt sich als unhaltbarer Mythos. Damit aber noch nicht genug: Auch für die Verhaltensrelevanz von Lohnabständen als Ausdruck finanzieller Anreize finden sich keine empirischen Hinweise. Stattdessen wirken auf der Arbeitskraftangebotsseite (Arbeitnehmer) offenbar andere Kräfte: Personen, die angaben, dass sie bei einer entsprechenden Jobofferte nicht beabsichtigen diese anzunehmen, verbleiben auch länger in Sozialhilfe als andere Personen. Personen, die wiederholt Sozialhilfe in Anspruch nehmen, verbleiben je öfter sie erneut auf Sozialhilfe angewiesen sind, immer länger im Sozialhilfebezug und können zudem nur im geringeren Umfang auf andere Einkommensquellen ausweichen. Diese Befunde sprechen in der Frage der Ursachen für Langzeitbezüge eher für destruktive Lern- bzw. Gewöhnungseffekte als für zu geringe finanzielle Anreize. Dass finanziellen Anreizen bei Arbeitsmarktentscheidungen überhaupt keine Bedeutung zukommt, scheint indes auch nicht plausibel. Gerade bei relativ kurzen Bezugszeiten sollten sie von Relevanz sein, vorausgesetzt, dass die Chancen auf eine Anstellung relativ gut sind. Darauf deuten die besseren Arbeitsplatzchancen von Sozialhilfeempfängern mit Berufsabschlüssen hin. Allerdings wird dieser Effekt in der Fachliteratur weniger mit dem Arbeitskraftangebot (finanzielle Anreize) in Verbindung gebracht, sondern stärker mit der Arbeitskraftnachfrage: Zusätzliche Ressourcen (Qualifikationen) werden eben stärker 223

nachgefragt, was sich auch in einer vergleichsweise besseren Bezahlung niederschlägt. Vor dem Hintergrund dieser und anderer Ergebnisse der empirischen Sozialforschung können zwei Fragen gestellt werden: 1. 2.

Wie können ökonomische Theoriemodelle (Armutsfallentheorem) so verändert werden, dass sie in Einklang mit den empirischen Befunden der dynamischen Armutsforschung gebracht werden können? (Kap. 10.1) Welche Konsequenzen ergeben sich aus realitätsgetreueren Entscheidungsmodellen für gesellschaftliche Reformen? (Kap. 10.2)

10.1 Erweiterungen des Armutsfallentheorems

10.1.1 Erweiterungen des Armutsfallentheorems in der Sach- und in der Zeitdimension Die bisherige Berücksichtigung individueller Motive greift in jedem Fall zu kurz. Ökonomietheoretische Modelle zur Entscheidungen an der Schnittstelle zwischen Sozialleistungen und Arbeitsmarkt müssen mindestens in zwei Dimensionen erweitert werden. Dazu wurden bereits Vorschläge gemacht (vgl. Vobruba 2000: 87 ff., Gebauer/Petschauer/Vobruba 2002: 56 ff.), die anhand von Interviews mit Sozialhilfeempfängern in Köln und Leipzig überprüft wurden (vgl. Gebauer/Petschauer/Vobruba 2002: 133-202, Gebauer/Petschauer 2002: 317 ff.). Konkret handelt es sich um die Erweiterung des Armutsfallentheorems in der Sach- und in der Zeitdimension. Zur Erweiterung in der Sachdimension: Das Armutsfallentheorem berücksichtigt ausschließlich finanzielle Anreize, die aus institutionellen Gegebenheiten abgeleitet werden (Anrechnungsregelungen, Lohnabstände). Von diesen wird in der ökonomischen Fachliteratur tendenziell auf ein Verbleiben im Sozialleistungsbezug geschlossen. Diese Reduktion ist empirisch nicht haltbar. Vielmehr müssen alle materiellen und auch immateriellen Sachverhalte Berücksichtigung finden, die als Motive von Sozialleistungsempfängern, sowohl für ein Verbleiben im Sozialleistungsbezug als auch für den Wechsel in Erwerbsarbeit in Frage kommen. Das Entscheidungsmodell muss erweitert werden: Ein erweitertes Entscheidungsmodell darf nicht nur den materiellen und immateriellen Nutzen von Sozialleistungen (Geldleistungen, aber eben auch Eigenarbeiten) spezifizieren, sondern auch deren Kosten (Stigma, Ärger mit Sachbearbeitern etc.). Damit aber noch nicht genug. Entscheidungsrelevant können auch alle Nutzen und Kosten von Erwerbsarbeit sein (Kosten z.B. Anschaffung von PKW, Anfahrtswege; Nutzen, z.B. neben Geldlohn weitere materielle Vorteile, wie Benutzung 224

von firmeneigenen Geräten, immaterielle Vorteile, z.B. erhöhtes Selbstwertgefühl). Aber das Armutsfallentheorem bedarf nicht nur in der Sachdimension einer Erweiterung. Zur Erweiterung in der Zeitdimension: Die meisten Entscheidungen von Sozialleistungsempfängern haben eine zeitliche Komponente. Diese Komponente wird aber in den Verhaltensannahmen des Armutsfallentheorems nicht berücksichtigt, denn das Ergebnis von Arbeitsmarktentscheidungen wird als Folge von Kurzfristvergleichen von relevanten Sozial- mit Erwerbseinkommen begriffen: Basis der Vergleiche, sind diesen unzureichenden Annahmen zufolge, ausschließlich Monatseinkommen. Das deckt sich aber nicht mit der sozialen Realität. Entscheidungen für oder gegen Sozialleistungsbezug, für oder gegen Erwerbsarbeit haben sehr häufig eine mittel- und langfristige Dimension. Z.B. müssen den Verbleib in Sozialleistungsbezug betreffend häufig zeitkonsumierende Erziehungsaufgaben bedacht werden, den Übergang in Erwerbsarbeit betreffend, zusätzliche Ausbildungen und/oder Umzüge, um bessere Arbeitsplatzchancen und/oder bessere Einkommenschancen realisieren zu können. Auch das Erwerbseinkommen selbst kann Gegenstand von eher mittel- und langfristigen Überlegungen werden: Neben Einkommensvergleichen auf Monatsbasis werden häufig auch mögliche mittel- und langfristige positive Einkommensentwicklungen Bestandteil des Erwerbskalküls. Diese können dazu führen, dass sogar schlechtbezahlte Tätigkeiten angenommen werden, in der Hoffnung auf spätere Aufstiegsmöglichkeiten und Einkommensverbesserungen. Diese Ausführungen belegen, dass mit relativ wenig Aufwand das ökonomische Entscheidungsmodell „Armutsfalle“ an reale Gegebenheiten angepasst werden kann, ohne dass der Pfad herkömmlichen ökonomischen Denkens verlassen werden muss. 10.1.2 Berücksichtigung sozialstrukturellen Wandels in einem dynamischen Entscheidungsmodell von Arbeitsmarktentscheidungen im Sozialstaat Allerdings reichen diese Erweiterungen noch nicht aus. Zwar ist es jetzt möglich, Arbeitskraftangebotsentscheidungen an der Schnittstelle zwischen Sozialleistungen und Arbeitsmarkt wirklichkeitsnäher zu modellieren. Aber diese Sichtweise kann theoretisch gesehen nur für einen zeitlich und räumlich relativ eng begrenzten Korridor Gültigkeit beanspruchen: Entscheidungsrelevante Kalküle bzw. auch Motive sind nicht unveränderlich. Diese Einsicht macht darauf aufmerksam, dass die eben besprochenen Dimensionen (Sach- und Zeitdimension) nicht in der Form verstanden dürfen, dass Individuen ihre Arbeitsmarktentscheidungen bei Vorliegen formal gleicher persönlicher Merkmale bzw. Merkmalskombinati225

onen immer in der gleichen Weise treffen. Vielmehr ist eben gerade nicht davon auszugehen, dass selbst im Fall relativ ähnlicher Arbeitsmarktsituationen und beispielsweise dem Eintreffen von (formal) gleichen Familienereignissen mit gleichen Entscheidungen gerechnet werden kann. Sozialer Wandel124 kann sich hier über den laufenden Wandel der Bedeutung von Familienereignissen auch auf die Richtung und Stärke des Einflusses eines spezifischen Familienereignisses auf Arbeitsmarktentscheidungen bemerkbar machen. Als Beispiel für solche Bedeutungsverschiebungen kommt z.B. das Familienereignis „Heirat“ in Betracht. Die Ergebnisse der Datenanalyse in Kapitel 9 geben in diesem Fall einen Hinweis auf Anstrengungen der weiblichen Sozialhilfeempfänger wieder erwerbstätig (allerdings nicht signifikant) zu werden. Dieser empirische Befund lässt sich sehr gut mit zwei Haupttrends sozialstruktureller Modernisierung vereinbaren, die ihren Ausdruck in der Lockerung der Fixierung von Frauen auf Familie und der Verringerung sozialer Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern finden (vgl. z.B. Geißler 2002: 436 ff.). Diese wirken sich auch auf arbeitsmarktrelevante Sachverhalte aus. Hier ist die verstärkte Erwerbsorientierung von Frauen zu nennen, die sich auch in einer veränderten Haltung zum Verbleib oder Nichtverbleib in Sozialhilfe/Arbeitslosengeld II auswirkt. Die Folge ist, dass weibliche Sozialhilfeempfängerinnen sich verstärkt um Erwerbsarbeit bemühen. Es handelt sich um eine Reaktionsweise, die in den 1960er Jahren, als die Sozialhilfe gerade implementiert wurde, so sicher noch nicht zu erwarten war, denn damals waren die traditionellen Bindungen noch viel stärker und die familiäre Arbeitsteilung relativ strikt. Männliche Sozialhilfebezieher waren diesen Überlegungen zufolge damals sicher ebenfalls wie in den späteren 1990er Jahren verstärkt darum bemüht, eine Arbeitsgelegenheit zu finden. Aber, und davon kann ausgegangen werden, die Mobilität von verheirateten Frauen in Erwerbstätigkeit war früher viel geringer. Das ist ein deutliches Indiz dafür, dass eine veränderte Sozialstruktur – hier der Abbau von traditionellen Bindungen – zu veränderten individuellen Arbeitsmarktentscheidungen führen kann: Umstände, die heute noch ein Verbleiben in Sozialhilfe/Arbeitslosengeld II zur Folge haben, können in einem mittel bis langfristigen Rahmen eine ganz andere Arbeitsmarktentscheidung bewirken und aus Sozialhilfe bzw. Arbeitslosengeld II herausführen. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Schnittstelle zwischen Sozialleistungen und Arbeitsmarkt darf sich dieser Einsicht nicht verschließen. Insofern werden individuelle Arbeitsmarktentscheidungen an der Schnittstelle zwischen Sozialleistungsbezug und Arbeitsmarkt auch durch Prozesse des sozialen Wandels tangiert. Es handelt

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Vgl. zu Theorien sozialen Wandels z.B. Weymann 1998.

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sich hier um Prozesse, die in einem dynamischen Entscheidungsmodell unbedingt systematisch berücksichtigt werden müssen. 10.1.3 Verändertes Alltagswissen und Theorierückkopplungen Was kann daraus gelernt werden? Sozialer Wandel darf bei Arbeitsmarktentscheidungen von Sozialleistungsempfängern nicht länger vernachlässigt werden. Gesellschaftliche Modernisierung, der Abbau von traditionellen Bindungen macht sich auch und gerade auf der Seite des Sozialleistungsklientels bemerkbar und es ist nicht von vornherein auszuschließen, dass sich solche Veränderungen in einem erhöhten Arbeitskraftangebot und in vermehrten Suchanstrengungen niederschlagen. Mit der Einbeziehung von sozialem Wandel bzw. gesellschaftlicher Modernisierung ist ein dynamisches Entscheidungsmodell von Arbeitsmarktentscheidungen aber noch nicht gesättigt. Es lässt sich aber noch weiter anreichern. Die Rede ist hier von veränderten Deutungen und von Alltagstheorien, die auf Erwerbskalküle verändernd wirken. Auf der einen Seite sind veränderte Deutungen bzw. Alltagstheorien auch Folge der bereits besprochenen Haupttrends sozialen Strukturwandels (veränderte Familiensituationen, Verringerung sozialer Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern) und wurden damit implizit schon angesprochen. Auf der anderen Seite können sich veränderte Deutungen aber auch über Wissensaneignungsprozesse von im Vergleich zur Vergangenheit leichter erreichbaren Wissensbeständen ergeben. Ein weiterer wesentlicher Haupttrend sozialstruktureller Modernisierung besteht schließlich in der zunehmenden Verwissenschaftlichung und Technisierung der Gesellschaft (vgl. Geißler 2002, für den Bereich sozialwissenschaftlichen Wissens Beck/Bonß 1989): Über die immer stärker zunehmende Medialisierung können diese Prozesse für eine ebenfalls zunehmende Verbreitung von Wissen in der Bevölkerung führen. Neben langfristigen Trends (höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen), die alle Erwerbslagen erfassen, sind deshalb auch solche Effekte zu studieren, die sich direkt aus der Öffentlichkeitswirksamkeit von sozialwissenschaftlichen Theoretisierungen der Schnittstelle zwischen Sozialleistungen und Arbeitsmarkt ergeben können. Vorstellbar sind hier Wissensaneignungsprozesse, die dann über verändertes Alltagswissen handlungsrelevant werden (vgl. hier die Ausführungen zu Theorierückkopplungen in Vobruba 1991: 97 ff.). Dazu folgende Überlegungen: Aus den Expectancy-Value-Modellen und dem Learned-Helplessness-Ansatz (bzw. auch Psychosoziales Modell) ist bekannt, dass langfristiger Sozialleistungsbezug Folge von destruktiven Lern- bzw. Gewöhnungsprozessen sein kann. Indizien für diesen Effekt wurden auch im empirischen Teil dieser Forschungsarbeit in der konfirmativen Ereignisanalyse gefunden. Der Verbleib in Sozialhilfe (und damit Gewöhnungseffekte) ist aber 227

quantitativ gesehen weniger bedeutsam. Die meisten Sozialhilfebezieher fanden relativ schnell wieder aus dem Sozialhilfebezug heraus. Wie eben erwähnt, ist bei Langzeitbezügen von Sozialhilfe von destruktiven Lerneffekten die Rede. Warum sollte es aber nicht auch Lerneffekte geben, die auf eine aktive Vermeidung bzw. auch Bewältigung von langfristigem Sozialleistungsbezug hinauslaufen? Anders gefragt, warum sollten nicht auch reflexive bzw. konstruktive Lerneffekte existieren, die bereits im Vorfeld von bzw. auch während des Bezugs von Sozialleistungen einsetzen? Z.B. wie verhält es sich, wenn Sozialleistungsbeziehern die Anreizsituation „Armutsfalle“ mit ihren selbstschädigenden Konsequenzen bekannt ist und sie gerade deshalb den Wiedereinstieg in Erwerbsarbeit planen und (möglicherweise gerade dadurch) in den Stand versetzt werden ihn schließlich auch zu vollziehen? In diesem Fall verhielten sich die betroffenen Personen eben aus Kenntnis von theoretischem Wissen gerade nicht so, wie die Verhaltensannahmen des Armutsfallentheorems vorhersagen. Hier hätten wir es mit dem interessanten Fall von Theorierückkopplungseffekten zu tun, die die Theorieobjekte dazu befähigen, gerade den negativen Folgen von Sozialleistungsbezug auszuweichen, die von der Theorie prognostiziert werden. 10.2 Arbeitsmarktentscheidungen und Arbeitslosigkeit

10.2.1 Das Armutsfallentheorem und die Reformen am Arbeitsmarkt Wie gesehen, können ökonomische Verhaltensmodelle durch empirische Forschungsarbeit und interdisziplinären Austausch gewinnen. Leider ist die Offenheit innerhalb des ökonomischen Fachdiskurses gegenüber den Erkenntnissen der dynamischen Armutsforschung nicht sehr ausgeprägt (Ausnahmen z.B. Wilde 2001, Wilde/Kubis 2004, Hochmuth u.a. 1997). Stattdessen wird seit mehreren Jahren mit den (inzwischen als unzureichend erkannten, weil die soziale Realität verfehlenden) Verhaltensannahmen auf einen erheblichen Reformbedarf der Sozialsysteme geschlossen. Vielen einschlägigen Stellungnahmen kann entnommen werden, dass eine Verstärkung der Arbeitsanreize (vor allem) durch Absenkung des Sozialtransferniveaus zu Beschäftigungsgewinnen führen soll. Tatsächlich ist die Bilanz der jüngeren politischen Steuerungsversuche aber ernüchternd.125 Zwar kann durch stärkere finanzielle Anreize die Arbeitsbereit125

Trotzdem findet die Politik keinen konstruktiven Abstand von diesem Thema: Die Geltungszeit von Reformschritten sinken: Jede Reform ist nur noch eine Reform vor der Reform. Was fehlt sind Konzepte, die dem Sozialstaat eine starke Legitimation verschaffen (vgl. zu einem solchen Sozialstaats-Leitbild: Lessenich 2005).

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schaft partiell erhöht werden, aber das setzt voraus, dass diese Arbeitskräfte auch auf eine entsprechend hohe Arbeitskraftnachfrage stoßen. Davon kann aber in vielen Regionen der Bundesrepublik Deutschland keine Rede sein. Weder auf dem Arbeitsmarkt für qualifizierte noch auf dem Arbeitsmarkt für einfache Tätigkeiten (hier noch weniger) kann derzeit von einer ausreichenden Entspannung der Arbeitsmarktlage gesprochen werden, sosehr man sich auch bemüht, diese herbeizureden. Ist bei den stetig wachsenden Arbeitslosenzahlen nicht sogar das Gegenteil anzunehmen – statt Entspannung also eine Verschärfung? Geht der Arbeitsgesellschaft die Arbeit aus, wie in den Sozialwissenschaften schon seit Ende der 1950er Jahre spekuliert wird? Um es zuzuspitzen: Verliert die Arbeitsgesellschaft „die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht.“? (Arendt 1960: 12). Offenbar trifft weder das eine (Zunahme der Beschäftigung) noch das andere (Abnahme der Beschäftigtenzahlen) zu, denn die Fixierung auf wachsende Arbeitslosenzahlen unterschlägt den Fakt, dass die Gesamtbeschäftigtenzahlen in den letzten Jahrzehnten nicht im gleichen Maße abgenommen haben, wie die Arbeitslosigkeit angestiegen ist. Die Zunahme der Arbeitslosigkeit ist vor diesem Hintergrund eher damit zu erklären, dass das Angebot an Arbeitskräften schneller stieg als die Nachfrage nach ihnen. Dieser Trend ist aber nicht stabil und wird sich in den nächsten Jahren umkehren, denn mittel und langfristig werden viele ältere Arbeitnehmer aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und voraussichtlich für eine Entspannung auf dem Arbeitsmarkt sorgen (vgl. BLK 2001: 119, Rückgang in Westdeutschland um ca. 1 Mio. Erwerbspersonen bis 2015; BLK 2001: 123, Rückgang in Ostdeutschland um ca. 1 Mio. Erwerbspersonen im gleichen Zeitraum, vgl. für Ostdeutschland auch Wiekert 2002). Im gleichen Zeitraum ist besonders in den westlichen Bundesländern mit einer wachsenden Arbeitskraftnachfrage zu rechnen (vgl. BLK 2001: 87, Anstieg des Arbeitskräftebedarfs um 2,6 Mio. Erwerbstätige in Westdeutschland; BLK 2001: 99, Verbleib auf dem Stand des Jahres 2000). Eine mittel- bis langfristige Entspannung am Arbeitsmarkt ist damit sehr wahrscheinlich, denn die Anzahl der Nachrücker aus geburtenschwachen Jahrgängen ist verhältnismäßig gering. Doch auch mit dieser Entspannung wird eine Phase der Vollbeschäftigung, wie sie noch in den Jahren der Hochkonjunktur der 1950er und 1960er Jahre herrschte, nicht in greifbare Nähe rücken (vgl. zur Entwicklung der Beschäftigungsstabilität die Beiträge in Struck/Köhler 2004, Erosion des Normalarbeitsverhältnisses Vobruba 1990). Auch ökonomietheoretisch inspirierte Arbeitsmarktreformen, die sich an den Verhaltenannahmen des Armutsfallentheorems orientieren, werden daran nichts ändern.

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10.2.2 Realismus von Sozialleistungsempfängern statt Vollbeschäftigungsvorgaben Vieles spricht dafür, dass unrealistische Sollvorgaben (hohe Beschäftigungserfolge oder Vollbeschäftigung) fallengelassen werden sollten (vgl. hierzu Offe 1984, Offe/Ettrich 1997, Vobruba 2000, Lantzsch 2003). Diese Sichtweise muss dabei einer aktiven Beschäftigungspolitik nicht im Wege stehen. Wenn beschäftigungspolitische Erfolge (mit einigem Realismus) erzielbar sind, kann nur dazu ermuntert werden. Viele gesamtgesellschaftliche Aufgaben erfordern zu ihrer Bewältigung sowohl niedrig- als auch hochqualifizierte Arbeitskräfte. Gerade im ausgehenden Jahr 2005 ist wieder einmal sehr deutlich geworden, welche gigantische Dimension die Energiekrise für die weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung hat und wie viel Innovationen und Investitionen notwendig sind, um der zunehmenden Verknappung dieser Ressourcen zu begegnen. Hier entsteht ein weites Feld für Beschäftigungsgewinne, denn die Lösung dieser Aufgabe wird Jahrzehnte erfordern. Unrealistische Zielvorgaben sind indes wenig zukunftsweisend. Sie wecken falsche Erwartungen und lenken von der Bewältigung und Lösung aktueller Aufgaben ab. Das stimmt im Großen (auf Seiten der Politik) wie im Kleinen (auf Seiten der Sozialleistungsempfänger und Arbeitnehmer in prekären Beschäftigungsverhältnissen). Das legt nahe, dass der Realismus der Leute viel stärker als bisher berücksichtigt werden sollte. Gerade in dieser Weise kann das in Abschnitt 10.1 vorgestellte dynamische Entscheidungsmodell verwendet werden: Viele Sozialleistungsbezieher haben sich längst mit der prekären Arbeitsmarktlage arrangiert und widmen die Zeit, in der sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen anderen Tätigkeiten. Hier handelt es sich um (Eigen-) Arbeiten, die auf dem Arbeitsmarkt keine oder nur eine unzureichende Bezahlung finden, obwohl sie gesellschaftlich (und privat) teilweise höchst sinnvoll sind. Mit anderen Worten: Wenn kein Weg zu Vollbeschäftigung zurückführt, dann erscheint es sinnvoll die strikte Trennung zwischen Tätigkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden und Eigentätigkeiten in der Form aufzulockern, dass Eigenarbeiten in einem stärkeren Maße als bisher über Sozialtransfers abgesichert werden. Keinesfalls erscheinen Reformkonzepte sinnvoll, die die Entwicklungstrends sozialstrukturellen Wandels behindern oder blockieren. Im Gegenteil: Es ist leicht vorstellbar, dass dadurch hohe Kosten entstehen, die vermieden werden könnten.

230

11. Fazit

Den Verlust des Arbeitsplatzes verkraften die meistens Betroffenen nur schwer. Das trifft besonders auf Gesellschaften zu, in denen das Arbeitskraftangebot die Arbeitskraftnachfrage übersteigt, ganz einfach aus dem Grund, weil die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz sich hier im allgemeinen als besonders langwierig herausstellt und – häufig – mit Enttäuschungen verbunden ist. Das ist die Arbeitsmarktsituation in der Bundesrepublik Deutschland des beginnenden 21. Jahrhunderts. Wer keine Arbeit hat, fällt aber nicht ins Bodenlose. Sozial- bzw. Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II können den finanziellen Abstieg aufhalten. Dasselbe traf auch auf die frühere Sozialhilfe zu. In Politik, Öffentlichkeit und ökonomischer Theorie stehen jedoch sozialstaatliche Leistungen immer wieder im Zentrum der Kritik. Hier gelten Sozialleistungen als Inbegriff der Armutsfalle. Das lässt sich etwa so ausdrücken: Den Wechsel in Arbeit vollziehen Betroffene deshalb nicht, weil die Höhe der Sozialtransfers im Verhältnis zu relevanten Löhnen, dazu verführt, im Sozialleistungsbezug zu verbleiben. Ist es aber wirklich so? Um diese Frage zu klären, können vorhandene Datensätze ausgewertet werden, denn es handelt sich hier um eine empirische Frage. Schritte zu einer Auswertung von Datensätzen zur Beantwortung der Forschungsfrage sind aber in der ökonomischen Teildisziplin bis auf den heutigen Tag eher selten. Und das, obwohl den empirisch arbeitenden Ökonomen dieselben sozialwissenschaftlichen Auswertungsmethoden zur Verfügung stehen, wie anderen Sozialwissenschaftlern. Gleichzeitig ist auch die Rezeption der Ergebnisse anderer Teildisziplinen in den Wirtschaftswissenschaften als eher gering einzuschätzen. Das betrifft im Zusammenhang mit der Armutsfalle besonders die geringe Aufmerksamkeit gegenüber den Ergebnissen der dynamischen Armutsforschung. Folge ist, dass die Verhaltensannahmen des Armutsfallentheorems immer noch als Gewissheiten behandelt werden, die empirisch nicht weiter überprüft werden müssen. Das Ganze wäre nicht von Bedeutung, wenn die Deutungsangebote der ökonomischen Theorie ohne Einfluss auf Politik und Öffentlichkeit blieben. Tatsächlich ist das mediale und politische Gewicht ökonomietheoretischer Beiträge zu Belangen der sozialen Sicherung und des Arbeitsmarktes aber sehr hoch. Das 231

zeigt sich gerade besonders deutlich anhand der Umsetzung der neuen Arbeitsmarktreformen (Hartz IV): Aus den Verhaltensannahmen des Armutsfallentheorems (und verwandter Theoriekonzepte zu Sozialleistungsabhängigkeit) wurde auf einen erheblichen Reformbedarf für die arbeitsmarktnahen sozialen Sicherungsprogramme geschlossen, der im Wesentlichen auf das Rezept „Arbeit gegen Armut“ hinausläuft (vgl. auch die Ausführungen zum sozialen Sinn des „Förderns und Forderns“ in Lessenich 2003). Reformen die die reale Basis des Problems vernachlässigen oder aber nur ungenügend berücksichtigen, laufen aber Gefahr nichtintendierte Konsequenzen zu generieren (z.B. finanzielle Mehrausgaben) oder gänzlich fehlzuschlagen. Angesichts dieser Sachlage richtete sich die soziologische Untersuchung in dieser Arbeit deshalb zunächst auf die Frage, wie sich die Überzeugung, dass Arbeit den entscheidenden Beitrag zur Lösung der Armutsfrage („Arbeit gegen Armut“) liefern könne, historisch entwickelte (Kapitel 1). Die historischsoziologische Analyse macht dabei schnell klar, dass Arbeit und Armut auf der Ebene der Lebensverhältnisse während des größten Teils der menschlichen Geschichte eine untrennbare Einheit bildeten. Der Erwerb von Reichtum war in der Regel durch körperliche und geistige Arbeit nicht möglich. Weder die Verfallserscheinungen in der Spätantike, noch Feudalisierung und Christianisierung im Mittelalter konnten daran etwas ändern. Arbeit diente der Aufrechterhaltung der physischen Existenz. Der Armut war dadurch jedoch nicht zu entkommen. Beides wurde von den herrschenden Schichten verachtet und von der arbeitenden Bevölkerung als notwendig, weil nicht veränderbar hingenommen. Dennoch waren Entwicklungen zu verzeichnen, die die Inbezugsetzung von Arbeit gegen Armut in der Zeit kurz vor und zu Beginn der industriellen Revolution vorstrukturierten. Dazu gehört die Entwicklung des Jenseitsglaubens, der besonders gottgefälliges Leben, unabhängig von der Schichtzugehörigkeit des Gläubigen, nach dem Tod mit der Teilnahme am Paradies belohnte – eine Vorstellung, die den antiken Völkern noch nicht oder nur wenig geläufig war. Nach der Ablösung des christlichen Armutsideals im Hochmittelalter durch den Aufstieg der Arbeit zu einem zentralen gesellschaftlich anerkannten Wert begann allerdings die Erosion des Paradiesglaubens. Zwar wurden Paradiesvorstellungen von einem sorgenfreien Leben nach dem Tode für eine begrenzte Zeit zunächst auch noch durch religiös geprägte Arbeitsideale gestützt. Aber der Niedergang dieser Vorstellungen war mit dem Vordringen und dem Erfolg neuer Arbeits- und Produktionsweisen unaufhaltsam und es begann sich die Vorstellung durchzusetzen, dass ein Leben ohne Armut auch im Diesseits durch Arbeit und wissenschaftlich-technischen Fortschritt möglich ist. Gerade der Aufstieg der Arbeit, im Sinne ihrer enorm gewachsenen gesellschaftlichen Wertschätzung in der frühen Neuzeit, erweist 232

sich damit als eine notwendige (jedoch nicht hinreichende) Voraussetzung für die spätere Entgegensetzung von Arbeit und Armut ab der Zeit der sich entwickelnden Moderne. Die historisch-soziologische Untersuchung in Kapitel 1 belegt auf der einen Seite, dass die Vorstellung, Arbeit könne der Schlüssel zur Lösung der Armutsfrage sein, geschichtlich sehr voraussetzungsvoll ist. Auf der anderen Seite unterstreicht sie aber auch, dass Arbeit und Armut nicht notwendigerweise in ihrer Entgegensetzung (Arbeit gegen Armut) begriffen werden müssen. Schließlich wird durch die historisch-soziologische Untersuchung zudem verdeutlicht, wie langwierig und schwierig Transformationsprozesse der Deutung des Verhältnisses zwischen Arbeit und Existenzsicherung sein können. Einen weiteren Eindruck davon vermittelte die ebenfalls historisch angelegte Untersuchung über die Frei- oder Unfreiwilligkeit von Arbeitslosigkeit im ökonomietheoretischen Diskurs in Kapitel 2. Während hier bis in die ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts klassisch/neoklassische Vorstellungen von Arbeitslosigkeit als freiwilliger Arbeitslosigkeit dominierten, setzte sich die veränderte Sichtweise, derzufolge Arbeitslosigkeit auch unfreiwilliger Natur sein könne, erst im Gefolge der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre durch. Dieser Umschwung war aber nur von temporärer Natur. Mit dem Scheitern keynesianischer Wirtschaftskonzepte und erneuter Massenarbeitslosigkeit ab den 1970er Jahren setzten sich erneut neoklassische Vorstellungen von der Freiwilligkeit von Arbeitslosigkeit durch. Diese Vorstellungen trafen aber auf eine veränderte Realität, in der sozialstaatliche Leistungen im Fall von Arbeitslosigkeit inzwischen zur gesellschaftlichen Normalität geworden waren. Diese beiden Entwicklungen – Normalität von sozialstaatlichen Absicherungen bei Lohnausfall und neoklassische Arbeitsmarktkonzeptionen – ergeben das Substrat, auf dem sich das Armutsfallentheorem etablieren konnte. Auf der Seite der Analyse der institutionellen Gegebenheiten ist das Armutsfallentheorem dabei von bestechender Klarheit und Stringenz, denn es kann auf der Seite der sozialen Sicherungssysteme relativ einfach gezeigt werden, dass zusätzliche Arbeitsanstrengungen keinesfalls automatisch zu einem äquivalent höheren Lohn führen (Kapitel 3). Das liegt an den institutionell festgelegten Anrechnungsregeln von Erwerbs- auf Sozialeinkommen (Kapitel 4). Die Lohnabstände zwischen den unteren Einkommensgruppen und relevanten Sozialleistungen sind zudem tatsächlich eher gering. Die Interpretation von finanziellen Tatbeständen als Arbeitsanreize ist jedoch auch im Zusammenhang mit Sozialleistungsabhängigkeit alles andere als unumstritten. Das ist jedenfalls das Ergebnis der Untersuchung von schichtungstheoretischen, kulturalistischen und psychologischen Ansätzen, die Sozialleistungsabhängigkeit als Folge anderer gesellschaftlicher und individueller Prozesse 233

sehen, z.B. wie im Fall psychologischer Ansätze als Folge von destruktiven Lern- und Gewöhnungsprozessen (Kapitel 5). Zudem lassen sich den bedeutendsten internationalen und nationalen empirisch-quantitativen Untersuchungen zu Armut und Sozialleistungsbezug nur wenige Indizien entnehmen, die für die Relevanz des Verhaltensautomatismus des Armutsfallentheorems sprechen (Kapitel 6). Stattdessen zeigt sich das Gegenteil: Die Verweildauern im Sozialleistungsbezug sind überwiegend kurz, Langzeitbezug ist im Verhältnis zu kurzen und mittleren Bezugsdauern vergleichsweise von geringem Umfang. Davon, dass finanzielle Anreize für die Beendigung von Sozialleistungsbezügen überhaupt keine Rolle spielen, ist jedoch auch nicht auszugehen. Aber die empirischen Ergebnisse zu Langzeitbezug lassen sich eher so interpretieren, dass destruktiven Lerneffekten mit hoher Wahrscheinlichkeit eine größere Verhaltensrelevanz zukommt als finanziellen Gesichtspunkten. Die Ergebnisse der internationalen und bundesdeutschen empirischen Untersuchungen unterstreichen damit, dass die Befürchtungen des Armutsfallentheorems auf sehr unsicherem Grund stehen. Gleichzeitig geben sie aber keine Auskunft darüber, was Sozialleistungsempfänger nach der Beendigung des Leistungsbezuges (z.B. nach Sozialhilfe oder sozialhilfeähnlichen Leistungen) anstellen. Neben dem Wechsel in Erwerbsarbeit kommen schließlich auch das Ausweichen auf vorgelagerte soziale Sicherungssysteme und alternative Existenzsicherungsquellen (private Familienhilfen) in Betracht. Hier handelt es sich nach wie vor um ein Forschungsdesiderat, welches aber über die Auswertung von Verlaufsdaten durch fortgeschrittene Methoden der Ereignisanalyse erfüllt werden kann. Einen Beitrag dazu lieferte im Rahmen dieser Forschungsarbeit die Auswertung der Daten des Sozio-oekonomischen Panels zu Sozialhilfebezug und Erwerbsarbeit (Kapitel 7 bis 9). Die Auswertung kann sich aber auf Panelwellen stützen. Es wird deutlich, dass Sozialleistungsbezug hauptsächlich kurzfristiger Natur ist. Die Differenzierung zwischen verschiedenen Wegen aus der Sozialhilfe macht außerdem darauf aufmerksam, dass der Wechsel in Erwerbsarbeit einen wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Ausstiegsgrund darstellt. Die konfirmative Datenanalyse macht überdies klar, dass finanzielle Anreize aus Lohnabständen generell gesehen nur bedingt geeignet sind, das Arbeitskraftangebot von Sozialleistungsempfängern zu steigern: Zwar ist die Mobilität in Erwerbstätigkeit bei Gruppen mit geringen Lohnabständen recht gering. Aber das bedeutet nicht, dass hohe Lohnabstände automatisch für eine höhere Mobilität in Erwerbstätigkeit sorgen. Die Verhaltenserwartungen des Armutsfallentheorems können auch auf dieser Analyseebene nicht bestätigt werden: So ist die Wechselrate in Erwerbstätigkeit bei der Gruppe mit den höchsten Lohnabständen (Alleinstehenden-Haushalte) gerade nicht am höchsten. (Das trifft stattdessen auf 234

die Gruppe der Paare ohne Kinder zu, die über die zweithöchsten Lohnabstände verfügen.) An diesen Analyseergebnissen kann gesehen werden, dass es beim Wechsel in Erwerbstätigkeit offenbar weniger auf Faktoren ankommt, die im Zusammenhang mit finanziellen Anreizen und dem Arbeitskraftangebot diskutiert werden. Andere Faktoren scheinen für den Wechsel in Erwerbstätigkeit wichtiger zu sein. Dazu gehört die Arbeitsmotivation, die nicht eindeutig auf finanzielle Kalküle zurückzuführen ist, denn es ist – und auch das zeigen die Ereignisanalysen – wichtig, ob sich Sozialleistungsempfänger überhaupt auf dem Arbeitsmarkt orientieren. Einigen Betroffenen gelingt es aufgrund von psychosozialen Prozessen im Gefolge von Misserfolgen, Enttäuschungen oder Entmutigungen offenbar nur noch schwer, von Sozialleistungsbezug wieder loszukommen. In diesen Fällen können die vorgestellten Ergebnisse als Beleg für destruktive Lern- und Gewöhnungsprozesse interpretiert werden. Die Ergebnisse für ostdeutsche Sozialhilfeempfänger verdeutlichen zudem, dass günstigere Arbeitsmarktrandbedingungen (garantierte Kinderbetreuung) dafür sorgen, dass trotz geringer finanzieller Anreize der Wechsel in Erwerbstätigkeit kein Problem sein muss. Das trifft natürlich besonders für den Fall zu, dass genügend Arbeitsplätze vorhanden sind. Gerade Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und Hilfe zur Arbeit (HzA) trugen in Ostdeutschland offenbar wesentlich dazu bei, dass Wechsel in Erwerbstätigkeit auch für Sozialhilfeempfänger im größeren Umfang überhaupt erst ermöglicht wurden. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf die Arbeitskraftnachfrageseite. Viel wichtiger als Lohnabstände sind Faktoren, die für Arbeitgeber (bei der Auswahl von geeignetem Personal) von Bedeutung sind. Dazu gehören das Alter und die Qualifikation von Sozialleistungsempfängern, welche sich in den Analysen als die entscheidenden Mobilitätsdeterminanten herausstellten. Neben diesen Einflüssen zeigen sich aber noch andere Gewichte, die wieder stärker das persönliche Arbeitskraftangebot betreffen. Hier handelt es sich um Familienereignisse, die ganz offenbar einen starken Einfluss auf die persönliche Arbeitskraftangebotsentscheidung haben und zu verringerter oder erhöhter Mobilität in Erwerbstätigkeit beitragen. Es zeigen sich starke Differenzen zwischen weiblichen und männlichen Sozialleistungsempfängern, die im Zusammenhang mit sozialem Wandel diskutiert werden können. Alles in allem belegt die Diskussion der empirischen Ergebnisse, dass das in Wirtschaftswissenschaften, Politik und Medien gebetsmühlenartig reproduzierte Image der sozialen Hängematte überwiegend nicht der Lebenswirklichkeit von Sozialleistungsempfängern entspricht. Es ist daher wünschenswert, dass die soziale Realität Arbeitsloser ernster als bisher genommen wird.

235

Davon, dass sich die Einsichten der empirischen Armutsforschung in Politik und Öffentlichkeit aber schnell durchsetzen ist nicht notwendigerweise auszugehen. Einschlägige Vorurteile und Überzeugungen, die Sozialleistungsbezug und Arbeitsmarkt betreffen, sind außerordentlich stabil und unterliegen nur einem sehr langsamen Deutungswandel. Auch diese Realität muss zur Kenntnis genommen werden. Anlass zu etwas mehr Optimismus scheint hier aber die Situation in der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Diskussion zu bieten. Die empirischen Ergebnisse der internationalen und bundesdeutschen Forschung zur Schnittstelle zwischen dem System sozialer Sicherungen und dem Arbeitsmarkt können schließlich der Weiterentwicklung von ökonomischer und sozialwissenschaftlicher Theorie dienen (Kapitel 10). Vorstellbar ist die Weiterentwicklung einer Arbeitsmarkttheorie im Sozialstaat, die bestimmte Entwicklungen und Trends erklären kann. Um einen solchen Fortschritt handelt es sich bei der Erweiterung des Armutsfallentheorems in der Sach- und Zeitdimension. Maßgebliche Entscheidungskalküle sind nicht ausschließlich kurzfristiger und ausschließlich finanzieller Natur, sondern umfassen auch mittel- und langfristige, sowie nichtfinanzielle, immaterielle Erwägungen. Mit dieser Weiterentwicklung eines realistischeren Entscheidungsmodells ist schon viel gewonnen. In soziologischer Hinsicht ist sie jedoch längst noch nicht hinreichend. Arbeitsmarktentscheidungen von Sozialhilfeempfängern besitzen nicht nur auf der Ebene der persönlichen Entscheidungen eine zeitliche Dimension, sondern die zeitliche Dimension macht sich gleich doppelt, sowohl auf der persönlichen als auch auf der Ebene des sozialen Wandels bemerkbar. Die vorgestellten empirischen Analyseergebnisse weisen darauf hin, dass sich sozialer Wandel auch auf der Ebene der Entscheidungskalküle vollzieht. Gerade die zunehmende Erwerbsorientierung von Frauen, auch im Kontext von Sozialleistungsbezug, macht auf Prozesse sozialen Wandels aufmerksam. Sozialer Wandel steht zudem in einer komplexen Beziehung zum Wandel von Wertvorstellungen, Überzeugungen und Deutungen. Gerade durch die zunehmende Medialisierung der Gesellschaft wird es in vorher nie da gewesenem Ausmaß ermöglicht, auf vorhandene Wissensbestände zuzugreifen bzw. damit konfrontiert zu werden. Dadurch ist nicht auszuschließen, dass ein Teil der hohen Mobilität aus arbeitsmarktnahen Sozialleistungen auch dadurch zu erklären ist, dass Sozialleistungsbezieher die selbstschädigenden Konsequenzen von langfristigem Sozialhilfebezug „gelernt“ haben und sich gerade aus dieser Kenntnis heraus gegen einen längeren Sozialtransferbezug entscheiden. Überhaupt spricht vieles dafür, dass die Betroffenen mit ihrer Lebenssituation klarer umgehen, als es relativ krude Verhaltensmodelle erwarten lassen. Viele Betroffene schätzen realistisch ein, dass ein Wechsel in Erwerbstätigkeit – 236

wenn er denn erreicht wird – unter Umständen nicht dauerhaft ist. Denn Zeiten starker Arbeitskraftnachfrage, Arbeitsplatzsicherheit oder Vollbeschäftigung sind nach wie vor nicht in Sicht. Auch in dieser Hinsicht sind Betroffene viel realistischer, als ihnen gemeinhin zugestanden wird. Politische Arbeitsmarktreformen werden erfolgreicher sein, wenn sie viel stärker als bisher diesen Realismus der Menschen berücksichtigen. Das kann dadurch erreicht werden, dass Prozesse sozialen Wandels berücksichtigt, statt wie häufig immer noch blockiert werden. Gerade die jüngsten Reformen, die auf neue Zwänge und soziale Kontrolle setzen (autoritäre Gemeinwohlpraxis, vgl. Lessenich 2003) werden kaum dazu geeignet sein. Sie engen die Handlungsspielräume von Betroffenen zusätzlich ein. Die Folge sind Reformfehlschläge. Schon jetzt wird von Experten scharfe Kritik an den Hartz-Gesetzen geübt (Hartz I-III, vgl. Rademaker 2006). Bis Dezember 2006 wird auch eine erste Evaluierung des Hartz-IV-Gesetzes vorliegen (vgl. Rademaker 2006). Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die Realität der hohen Arbeitslosigkeit bis dahin kaum geändert haben wird. Trotz dieser Reformfehlschläge wird der Druck auf die sozialen Sicherungssysteme nicht nachlassen (vgl. auch Lessenich 2005). In nächster Zeit werden die Politiker aus ihrer selbst verordneten „Jede-Reform-ist-die-Reform-vorder-Reform“-Mentalität wohl kaum herausfinden. Es bleibt zu hoffen, dass sie sich in dieser Sackgasse nicht verlieren. Hierbei wird vieles davon abhängen, ob und wie die im politischen Prozess befindenden Entscheidungsträger sich im Laufe des fortschreitenden sozialen Wandels von allzu einfachen ökonomietheoretisch inspirierten Deutungen lösen können.

237

Anhang

Verbleib. Zusatzeinkommen nach Anrechnung auf ALG II (1.1.-30.09.2005) Berechnung des verbleibenden zusätzlichen Einkommens nach Anrechnung auf Arbeitslosengeld II für einen alleinstehenden Arbeitslosengeld II-Empfänger (Lohnsteuerklasse I) bei einem Bruttoverdienst von 74 €: Schritt 1: Berechnung des bereinigten Nettoeink.; relatives Verh. Netto/Brutto* -

74,00 0,00 0,00 0,00 0.00 0,00

Bruttoverdienst Lohnsteuer Arbeitslosenversicherung Rentenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung

74,00

Nettoverdienst

- 15,33 - 30,00 28,67

Werbungskostenpauschale Pauschale für private Versicherungen

Relativer Anteil des bereinigten Nettoverdienstes am Brutto: 28,67 = 0,387 74

bereinigter Nettoverdienst

Schritt 2: Unterteilung in Einkommensbereiche und Berechnung der Freibeträge 1. Einkommen bis 400 €:

74*0,387 = 28,64 davon 15% ĺ 4,30 € Gesamtfreibetrag Ȉ: 4,30 €

Schritt 3: Berechnung des Anrechnungsbetrages Bereinigter Nettoverdienst - Gesamtfreibetrag = Anrechnungsbetrag:

28,67 €-4,30 € = 24,37 € * Berechnung der Lohnsteuer nach Lohnsteuertabellen vgl. Praxislexikon (2003). Berücksichtigung aktueller Entwicklungen in „Lohnsteuer und Sozialversicherung im Personalbüro“ (2005). Arbeitnehmeranteil an Arbeitslosenvers. 3,25%, Rentenvers. 9,75%, Krankenvers. 6,7% (bei einem Beitragssatz von 13,4%), Pflegevers. (1,1% bei kinderlosen Arbeitnehmern). Bis 400 € Bruttoverdienste müssen keine Beiträge abgeführt werden, können aber (GKV) auf freiwilliger Basis erfolgen.

239

Schritt 4: Berechnung des verbleibenden Einkommens aus Erwerbsarbeit Nettoverdienst-Anrechnungsbetrag = Verbleibendes Einkommen 74,00 €-24,37 € = 49,63 € Einem alleinstehenden Arbeitslosengeld II-Empfänger verbleiben bei einem Bruttolohn von monatlich 74 € insgesamt 49,63 € zusätzlich zum Arbeitslosengeld II. Berechnung des verbleib. zus. Einkommens bei einem Bruttoverdienst von 100 €: Schritt 1: Berechnung des bereinigten Nettoeinkommens; relatives Verhältnis Netto/Brutto 100,00 -

0,00 0,00 0,00 0.00 0,00 100,00

- 15,33 - 30,00 54,67

Bruttoverdienst Lohnsteuer Arbeitslosenversicherung Rentenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung Nettoverdienst Werbungskostenpauschale Pauschale für private Versicherungen

Relativer Anteil des bereinigten Nettoverdienstes am Brutto: 54,67 = 0,547 100

bereinigter Nettoverdienst

Schritt 2: Unterteilung in Einkommensbereiche und Berechnung der Freibeträge 1. Einkommen bis 400 €:

100*0,547 = 54,70 davon 15% ĺ 8,21 € Gesamtfreibetrag Ȉ: 8,21 €

Schritt 3: Berechnung des Anrechnungsbetrages Bereinigter Nettoverdienst - Gesamtfreibetrag = Anrechnungsbetrag 54,70 €-8,21 € = 46,49 € Schritt 4: Berechnung des verbleibenden Einkommens aus Erwerbsarbeit Nettoverdienst-Anrechnungsbetrag = Verbleibendes Einkommen

100,00 €-46,49 € = 53,51 € 240

Einem alleinstehenden Arbeitslosengeld II-Empfänger verbleiben bei einem Bruttolohn von monatlich 100 € insgesamt 53,51 € zusätzlich zum Arbeitslosengeld II. Berechnung des verbleib. zus. Einkommens bei einem Bruttoverdienst von 165 €: Schritt 1: Berechnung des bereinigten Nettoeinkommens; relatives Verhältnis Netto/Brutto 165,00 -

0,00 0,00 0,00 0.00 0,00 165,00

- 15,33 - 30,00 119,67

Bruttoverdienst Lohnsteuer Arbeitslosenversicherung Rentenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung Nettoverdienst Werbungskostenpauschale Pauschale für private Versicherungen

Relativer Anteil des bereinigten Nettoverdienstes am Brutto: 119,67 = 0,725 165

bereinigter Nettoverdienst

Schritt 2: Unterteilung in Einkommensbereiche und Berechnung der Freibeträge 1. Einkommen bis 400 €:

165*0,725 = 119,62 davon 15% ĺ 17,94 € Gesamtfreibetrag Ȉ: 17,94 €

Schritt 3: Berechnung des Anrechnungsbetrages Bereinigter Nettoverdienst - Gesamtfreibetrag = Anrechnungsbetrag 119,67 €-17,94 € = 101,73 € Schritt 4: Berechnung des verbleibenden Einkommens aus Erwerbsarbeit Nettoverdienst-Anrechnungsbetrag = Verbleibendes Einkommen 165,00 €-101,73 € = 63,27 € Einem alleinstehenden Arbeitslosengeld II-Empfänger verbleiben bei einem Bruttolohn von monatlich 165 € insgesamt 63,27 € zusätzlich zum Arbeitslosengeld II.

241

Berechnung des verbleib. zus. Einkommens bei einem Bruttoverdienst von 400 €: Schritt 1: Berechnung des bereinigten Nettoeinkommens; relatives Verhältnis Netto/Brutto 400,00 -

0,00 0,00 0,00 0.00 0,00 400,00

- 15,33 - 30,00 354,67

Bruttoverdienst Lohnsteuer Arbeitslosenversicherung Rentenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung Nettoverdienst Werbungskostenpauschale Pauschale für private Versicherungen

Relativer Anteil des bereinigten Nettoverdienstes am Brutto: 354,67 = 0,887 400

bereinigter Nettoverdienst

Schritt 2: Unterteilung in Einkommensbereiche und Berechnung der Freibeträge 1. Einkommen bis 400 €:

400*0,887 = 354,80 davon 15% ĺ 53,20 € Gesamtfreibetrag Ȉ: 53,20 €

Schritt 3: Berechnung des Anrechnungsbetrages Bereinigter Nettoverdienst - Gesamtfreibetrag = Anrechnungsbetrag 354,67 €-53,20 € = 301,47 € Schritt 4: Berechnung des verbleibenden Einkommens aus Erwerbsarbeit Nettoverdienst-Anrechnungsbetrag = Verbleibendes Einkommen 400,00 €-301,47 € = 98,53 € Einem alleinstehenden Arbeitslosengeld II-Empfänger verbleiben bei einem Bruttoverdienst von monatlich 400 € insgesamt 98,53 € zusätzlich zum Arbeitslosengeld II. Bei Bruttoverdiensten, die nur die Höhe der Absetzbeträge erreichen (z.B. Werbungskostenpauschale und Pauschale für private Versicherungen, zusammen 45,33 €) wird der Verdienst nicht auf das Arbeitslosengeld angerechnet.

242

Berechnung des verbleib. zus. Einkommens bei einem Bruttoverdienst von 715,91 €: Schritt 1: Berechnung des bereinigten Nettoeinkommens; relatives Verhältnis Netto/Brutto 715,91 0,00 - 23,27 - 69,80 - 47,97 - 7,87 567,00 - 15,33 - 30,00 521,67

Bruttoverdienst Lohnsteuer Arbeitslosenversicherung Rentenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung Nettoverdienst Werbungskostenpauschale Pauschale für private Versicherungen

Relativer Anteil des bereinigten Nettoverdienstes am Brutto: 521,67 = 0,729 715,91

bereinigter Nettoverdienst

Schritt 2: Unterteilung in Einkommensbereiche und Berechnung der Freibeträge 1. Einkommen bis 400 €: 400,00*0,729 = 291,60 davon 15% ĺ 43,74 € 2. Einkommen von 400 bis 715,91 €: 315,91*0,729 = 230,30 davon 30% ĺ 69,09 € Gesamtfreibetrag Ȉ: 112,83 € Schritt 3: Berechnung des Anrechnungsbetrages Bereinigter Nettoverdienst - Gesamtfreibetrag = Anrechnungsbetrag 521,67 €-112,83 € = 408,84 € Schritt 4: Berechnung des verbleibenden Einkommens aus Erwerbsarbeit Nettoverdienst-Anrechnungsbetrag = Verbleibendes Einkommen 567 €-408,84 € = 158,16 € Einem alleinstehenden Arbeitslosengeld II-Empfänger verbleiben bei einem Bruttolohn von monatlich 715,91 € insgesamt 158,16 € zusätzlich zum Arbeitslosengeld II.

243

Berechnung des verbleib. zus. Einkommens bei einem Bruttoverdienst von 800 €: Schritt 1: Berechnung des bereinigten Nettoeinkommens; relatives Verhältnis Netto/Brutto 800,00 0,00 - 26,00 - 78,00 - 53,60 - 8,80 633,60 - 15,33 - 30,00 588,27

Bruttoverdienst Lohnsteuer Arbeitslosenversicherung Rentenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung Nettoverdienst Werbungskostenpauschale Pauschale für private Versicherungen

Relativer Anteil des bereinigten Nettoverdienstes am Brutto: 588,27 = 0,735 800

bereinigter Nettoverdienst

Schritt 2: Unterteilung in Einkommensbereiche und Berechnung der Freibeträge 1. Einkommen bis 400 €: 2. Einkommen von 400 bis 800 €:

400*0,735 = 294,00 davon 15% ĺ 44,10 € 400*0,735 = 294,00 davon 30% ĺ 88,20 € Gesamtfreibetrag Ȉ: 132,30 €

Schritt 3: Berechnung des Anrechnungsbetrages Bereinigter Nettoverdienst - Gesamtfreibetrag = Anrechnungsbetrag 588,27 €-132,30 € = 455,97 € Schritt 4: Berechnung des verbleibenden Einkommens aus Erwerbsarbeit Nettoverdienst-Anrechnungsbetrag = Verbleibendes Einkommen 633,60 €-455,97 € = 177,63 € Einem alleinstehenden Arbeitslosengeld II-Empfänger verbleiben bei einem Bruttolohn von monatlich 800 € insgesamt 177,63 € zusätzlich zum Arbeitslosengeld II.

244

Berechnung des verbleib. zus. Einkommens bei einem Bruttoverdienst von 900 €: Schritt 1: Berechnung des bereinigten Nettoeinkommens; relatives Verhältnis Netto/Brutto 900,00 0,58 - 29,25 - 87,75 - 60,30 - 9,90 712,22 - 15,33 - 30,00 666,89

Bruttoverdienst Lohnsteuer Arbeitslosenversicherung Rentenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung Nettoverdienst Werbungskostenpauschale Pauschale für private Versicherungen

Relativer Anteil des bereinigten Nettoverdienstes am Brutto: 666,89 = 0,741 900

bereinigter Nettoverdienst

Schritt 2: Unterteilung in Einkommensbereiche und Berechnung der Freibeträge 1. Einkommen bis 400 €: 2. Einkommen von 400 bis 900 €:

400*0,741 = 296,40 davon 15% ĺ 44,46 € 500*0,741 = 370,50 davon 30% ĺ111,15 € Gesamtfreibetrag Ȉ: 155,61 €

Schritt 3: Berechnung des Anrechnungsbetrages Bereinigter Nettoverdienst - Gesamtfreibetrag = Anrechnungsbetrag 666,89 €-155,61 € = 511,28 € Schritt 4: Berechnung des verbleibenden Einkommens aus Erwerbsarbeit Nettoverdienst-Anrechnungsbetrag = Verbleibendes Einkommen 712,22 €-511,28 € = 200,94 € Einem alleinstehenden Arbeitslosengeld II-Empfänger verbleiben bei einem Bruttolohn von monatlich 900 € insgesamt 200,94 € zusätzlich zum Arbeitslosengeld II.

245

Berechnung des verbleib. zus. Einkommens bei einem Bruttoverdienst von 1200 €: Schritt 1: Berechnung des bereinigten Nettoeinkommens; relatives Verhältnis Netto/Brutto 1200,00 - 49,66 - 39,00 - 117,00 - 80,40 - 13,20 900,74 - 15,33 - 30,00 855,41

Bruttoverdienst Lohnsteuer Arbeitslosenversicherung Rentenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung Nettoverdienst Werbungskostenpauschale Pauschale für private Versicherungen

Relativer Anteil des bereinigten Nettoverdienstes am Brutto: 855,41 = 0,713 1200

bereinigter Nettoverdienst

Schritt 2: Unterteilung in Einkommensbereiche und Berechnung der Freibeträge 1. Einkommen bis 400 €: 2. Einkommen von 400 bis 900 €: 3. Einkommen von 900 bis 1200 €:

400*0,713 = 285,20 davon 15% ĺ 42,78 € 500*0,713 = 356,50 davon 30% ĺ106,95 € 300*0,713 = 213,90 davon 15% ĺ 32,08 € Gesamtfreibetrag Ȉ: 155,61 €

Schritt 3: Berechnung des Anrechnungsbetrages Bereinigter Nettoverdienst - Gesamtfreibetrag = Anrechnungsbetrag 855,41 €-181,81 € = 673,60 € Schritt 4: Berechnung des verbleibenden Einkommens aus Erwerbsarbeit Nettoverdienst-Anrechnungsbetrag = Verbleibendes Einkommen 900,74 €-673,60 € = 227,14 € Einem alleinstehenden Arbeitslosengeld II-Empfänger verbleiben bei einem Bruttolohn von monatlich 1200 € insgesamt 227,14 € zusätzlich zum Arbeitslosengeld II.

246

Berechnung des verbleib. zus. Einkommens bei einem Bruttoverdienst von 1500 €: Schritt 1: Berechnung des bereinigten Nettoeinkommens; relatives Verhältnis Netto/Brutto 1500,00 -

126,33 48,75 146,25 100,50 16,50

1061,67 - 15,33 - 30,00 1016,34

Bruttoverdienst Lohnsteuer Arbeitslosenversicherung Rentenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung Nettoverdienst Werbungskostenpauschale Pauschale für private Versicherungen

Relativer Anteil des bereinigten Nettoverdienstes am Brutto: 1016,34 = 0,677 1500

bereinigter Nettoverdienst

Schritt 2: Unterteilung in Einkommensbereiche und Berechnung der Freibeträge 1. Einkommen bis 400 €: 2. Einkommen von 400 bis 900 €: 3. Einkommen von 900 bis 1500 €:

400*0,677 = 270,80 davon 15% ĺ 40,62 € 500*0,677 = 338,50 davon 30% ĺ101,55 € 600*0,677 = 406,20 davon 15% ĺ 60,93 € Gesamtfreibetrag Ȉ: 203,10 €

Schritt 3: Berechnung des Anrechnungsbetrages Bereinigter Nettoverdienst - Gesamtfreibetrag = Anrechnungsbetrag 1061,67 €-203,10 € = 813,24 € Schritt 4: Berechnung des verbleibenden Einkommens aus Erwerbsarbeit Nettoverdienst-Anrechnungsbetrag = Verbleibendes Einkommen 1061,67 €-813,43 € = 248,43 € Einem alleinstehenden Arbeitslosengeld II-Empfänger verbleiben bei einem Bruttolohn von monatlich 1500 € insgesamt 248,43 € zusätzlich zum Arbeitslosengeld II.

247

allein lebend 2.139 175 2.314 389 21 35 221 75 156 20 1.397 0 0 1.397 641 0 641 756 54,1%

Haushaltstyp Ehepaar ohne Kind 2.139 175 2.314 136 0 12 221 75 156 20 1.693 0 0 1.693 1.011 0 1.011 682 40,3% Ehepaar mit einem Ki. 2.139 175 2.314 136 0 2 221 75 156 20 1.703 154 0 1.857 1.305 10 1.315 542 29,2%

Ehepaar mit zwei Kindern 2.139 175 2.314 136 0 0 221 75 156 20 1.706 308 45 2.059 1.584 21 1.604 454 22,1%

Ehepaar mit drei Kindern 2.139 175 2.314 136 0 0 221 75 156 20 1.706 462 111 2.279 1.870 21 1.891 388 17,0%

allein Erziehende ein Ki. zwei Ki. zw. < 7 J. 7-13 J. 1.803 1.803 147 147 1.950 1.950 223 223 3 0 9 9 186 186 63 63 132 132 17 17 1.318 1.330 154 308 0 0 1.472 1.638 1.047 1.377 10 21 1.057 1.398 415 240 28,2% 14,7%

Tab. A-1: Verfügbares Haushaltseinkommen und Abstand zur Hilfe zum Lebensunterhalt (früheres Bundesgebiet)*

Bruttoarbeitsentgelt Anteilig einm. Zahlungen Bruttoentgelt Lohnsteuer Solidaritätszuschlag Kirchensteuer Rentenversicherung Arbeitslosenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung Nettoentgelt Kindergeld Wohngeld verf. HH-Einkommen Bedarf an HLU Freibetrag für 1. u. 2. Kind verf. Einkommen HLU Lohnabstand in Euro in %

Quelle: Breuer/Engels 2003: S. 28, Grundinformationen und Daten zur Sozialhilfe * Hilfsarbeiter im Produzierenden Gewerbe, Leistungsgruppe 3, früheres Bundesgebiet, Stand: 1. Juli 2002 (Euro pro Monat)

248

249

Ehepaar mit eine Kind 1.637 121 1.758 24 0 0 168 57 119 15 1.376 154 23 1.553 1.201 10 1.211 342 22,0%

Ehepaar mit zwei Kindern 1.637 121 1.758 24 0 0 168 57 119 15 1.376 308 114 1.798 1.469 21 1.490 308 17,2%

Ehepaar mit drei Kindern 1.637 121 1.758 24 0 0 168 57 119 15 1.376 462 166 2.004 1.730 21 1.751 253 12,6%

allein Erziehende ein Ki. zwei Ki. zw. < 7 J. 7-13 J. 1.431 1.431 106 106 1.537 1.537 110 110 0 0 0 0 147 147 50 50 104 104 13 13 1.114 1.114 154 308 0 67 1.268 1.489 960 1.270 10 21 970 1.291 297 198 23,5% 13,3%

Quelle: Breuer/Engels 2003: S. 28, Grundinformationen und Daten zur Sozialhilfe * Hilfsarbeiter im Produzierenden Gewerbe, Leistungsgr. 3, neue Länder und Berlin (Ost), Stand: 1. Juli 2002 (Euro pro Monat)

Bruttoarbeitsentgelt Anteilig einm. Zahlungen Bruttoentgelt Lohnsteuer Solidaritätszuschlag Kirchensteuer Rentenversicherung Arbeitslosenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung Nettoentgelt Kindergeld Wohngeld verf. HH-Einkommen Bedarf an HLU Freibetrag für 1. u. 2. Kind verf. Einkommen HLU Lohnabstand in Euro in %

Haushaltstyp Ehepaar allein ohne lebend Kind 1.637 1.637 121 121 1.758 1.758 224 24 12 0 20 2 168 168 57 57 119 119 15 15 1.144 1.374 0 0 0 0 1.144 1.379 570 925 0 0 570 925 574 449 50,2% 32,7%

Tab. A-2: Verfügbares Haushaltseinkommen und Abstand zur Hilfe zum Lebensunt. (neue Länder, Berlin [Ost])*

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